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Als die deutsche Einwanderungswelle um die Mitte des vorigen Jahrhunderts an das jenseitige Ufer des Atlants spülte, traf sie auf ein Amerika der äußersten Ausdehnung. Beinahe kann man sagen: auf ein Amerika, das der vollen Auflösung entgegenging, derart maßlos war dies Streben, den besiedelten Raum auszudehnen und ins Grenzenlose zu erweitern.
Wir Heutigen, insbesondere wir Menschen des mitteleuropäischen Raums, für die Begrenzung und Enge zum Schicksal wurde, können uns wohl kaum eine rechte Vorstellung von der unermeßlichen Weite jener Zeit machen. In Amerika jedenfalls gab es noch keine Grenzen, wenigstens keine, die man nicht nach Belieben jeden Tag weiter vorrücken konnte.
Tatsächlich wurden sie vorgerückt. Tag für Tag, immer rascher. Dem schwerfällig über die Prärie rollenden Planwagen begann die Eisenbahn zu folgen. Die langsam Ohio und Mississippi hinabgleitenden Flachboote wurden von stampfenden, stöhnenden Flußdampfern überholt, deren ersten ein Deutscher erbaute, ein Deutscher lenkte. Die Mächte, die sich bisher dem amerikanischen Vordringen in den Weg gestellt hatten, gaben Raum. Im Norden war England endlich gewichen und hatte das lange umstrittene Oregon aufgegeben, im Süden war die spanische Macht zusammengebrochen. Nach Westen, Norden und Süden schien der Weg endgültig frei.
Die Indianer wurden über den Mississippi zurückgedrängt. Jenseits des großen Flusses begann sich ein neuer Staat nach dem andern aus Prärie und Felsengebirge heraus zu formen. Texas wurde von seinem Stammland abgetrennt, dann einverleibt. Der Krieg mit Mexiko folgte. Die Hälfte seines Besitzes wurde ihm entrissen. Ja, eine starke Partei, insbesondere im siegreichen Heer, wollte ganz Mexiko besetzen und für immer der Union einverleiben.
In den Südstaaten ging man nach weiter. Da wollte man Kuba, ganz Mittelamerika, bis an die Meerenge von Panama, ja darüber hinaus Kolumbien und Venezuela. Damals war ja eine Wirtschaftsblüte, wie sie vielleicht nie wieder erreicht wurde, wie wir sie uns kaum vorstellen können. Seitdem man den »Cotton Gin« erfunden hatte, die Maschine zum Entkörnen der Baumwolle, die jedes Kind bedienen konnte, war Baumwollanbau das beste Geschäft geworden. Der Bedarf der sich industrialisierenden Welt an den weißen Flocken schien unbegrenzt. Man konnte gar nicht genug Land haben, um immer mehr Baumwolle anzubauen, gar nicht genug Menschen, um sie zu ernten.
Deshalb hielt man in den Südstaaten auch so unerbittlich an der Sklaverei fest, die man zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung wenigstens in der Theorie langsam aufzugeben bereit gewesen war. Deshalb dachte man im Süden an die Wiedereinführung des afrikanischen Sklavenhandels. Da dies nicht so ohne weiteres möglich war, besonders weil England sich von einem Sklavenhandel treibenden Volk zu seinem schärfsten Gegner entwickelt hatte, so schmuggelte man wenigstens nach Möglichkeit die schwarze Ware ein. Es gab ein »bootlegging« für Neger, wie zur Zeit der Prohibition für Alkohol.
Aber auch die Nordstaaten hatten den Land- und Menschenhunger, schon um mit dem Süden Schritt zu halten, oder vielmehr um ihn zu überflügeln; denn bisher hatte ja der Süden geherrscht. Seit Washington lenkte – mit Unterbrechungen – die kleine, aber reiche, entschlossene und einflußreiche Pflanzeraristokratie des Südens die Geschicke der Union. Dank der Bestimmung der Verfassung, daß im Senat die einzelnen Staaten unabhängig von ihrer Bevölkerungsziffer gleichmäßig durch je zwei Senatoren vertreten sein sollten, hielten die Südstaaten den Nordstaaten im Senat die Waage, obgleich die weiße Bevölkerung des Südens noch nicht ein Drittel der des Nordens betrug. Im Kongreß aber, der aus allgemeinen Wahlen hervorging, herrschten die Sklavenbarone durch das Mittel, das in der amerikanischen Politik fast legalen Charakter besitzt: durch Geld und Bestechung.
Darum war ja auch der Wettlauf nach Westen so erbittert. Für jeden neuen freien Staat des Nordens wollte der Süden gleichzeitig einen, in dem die Sklaverei galt. Man trieb die reinsten Handelsgeschäfte mit Staaten, indem beispielsweise für den freien Staat Maine gleichzeitig Missouri als neuer Sklavenstaat zur Union zugelassen werden mußte. Jetzt erwies sich erst, wie verhängnisvoll es gewesen war, daß nach Erklärung der Unabhängigkeit die nördlichen Staaten die Sklaverei aufhoben, die südlichen sie beibehielten. Gewiß entwickelte sich der Gegensatz zwischen Süd und Nord nicht lediglich aus der verschiedenen Haltung in der Sklavenfrage heraus. Gewiß ist der Unabhängigkeitskrieg schließlich nicht um Beibehaltung oder Abschaffung der Sklaverei willen geführt worden, sondern um die Vorherrschaft, aber die Sklavenfrage war doch das Feuer, an dem die Gemüter sich erhitzten, sie wurde zur Sturmfahne, unter der man die Massen in Marsch setzte, genau wie ein Menschenalter später die angeblich gefährdete Demokratie.
Um dem Süden endlich den Rang abzulaufen, hatte der Norden die Tore den Einwanderern aus aller Welt weit geöffnet. An Mitteln waren die Südstaaten nie zu schlagen, da blieben sie dank der Baumwolle, dank der Plantagenkultur und des Sklavenbetriebes unbesiegbar. Aber mit Menschen konnte man dem Süden den Rang ablaufen; denn Klima wie Existenzmöglichkeiten lenkten den Einwandererstrom in die Nordstaaten. Hielt er auch nur noch ein paar Jahrzehnte an, ja, nur noch ein paar Jahre, so waren die Staaten südlich der Mason- und Dixonlinie trotz aller ihrer Mittel und Sklaven, trotz der geistigen und politischen Überlegenheit ihrer Führer hoffnungslos ins Hintertreffen geraten.
Aber der Norden brauchte auch aus rein wirtschaftlichen Gründen Menschen. Die vorhandene Bevölkerung reichte nicht im entferntesten aus, die riesigen Gebiete, die beinahe jeden Tag neu gewonnen wurden, zu erschließen, ja auch nur zu sichern; denn völlig waren die immer weiter nach Westen gedrängten Indianer noch nicht erledigt. Deutsche Einwanderer waren es, die die während des Bürgerkrieges vorbrechenden Sioux auffingen. An dem rein deutschen Städtchen Neu-Ulm in Minnesota brach sich ihr Ansturm. Siebenhundert deutsche Kolonisten gaben ihr Leben hin, um die weiter östlich liegenden amerikanischen Siedlungen zu schützen. Noch im Jahre 1876 waren die gleichen Sioux stark genug, eine reguläre Truppe der amerikanischen Armee restlos zu vernichten. Der Mann, der sich damals den plündernden Indianern in den Weg stellte und mit seiner gesamten Mannschaft bis zum letzten Blutstropfen standhielt, war der berühmte Reitergeneral Custer, auch er deutschen Blutes. Sein Großvater hatte noch Küster geheißen. Der war als hessischer Soldat nach Amerika gekommen, bei Burgoynes Übergabe gefangen und später freigelassen worden. Er hatte sich in Pennsylvanien angesiedelt und seinen Namen in Custer umgewandelt. Sein Sohn war auf dem Zug nach Westen nach Ohio gekommen, und der Enkel wurde der berühmte Reitergeneral. Das Bild von »The last stand of General Custer«, der letzte Widerstand General Küsters, hängt in jeder Schenke des Westens, aber daß der Mann, der sich im Bürger- wie in den Indianerkriegen gleicherweise auszeichnete, deutscher Abstammung war, das weiß kaum jemand.
Es ist gerade heute nicht unwichtig, darauf hinzuweisen, daß die großen Einwanderungswellen niemals unwillkommen und niemals ungerufen nach Amerika kamen. In den Vereinigten Staaten ist man heute vielfach der Ansicht, daß die Masseneinwanderung einen Nachteil für Amerika bedeutete. Die Einwanderer sollen das Blut der amerikanischen Rasse verdorben haben. Sie sollen schuld sein an allen schlechten Eigenschaften wie Einrichtungen, die es in Amerika gibt, und alle Gangster und Verbrecher sind selbstverständlich »Einwanderer«. Überdies hat man neuerdings herausgefunden, daß nicht einmal das eine einzige Verdienst, das man bisher den Einwanderern ließ, auf ihr Konto kommt: die große Bevölkerungszahl. Man will berechnet haben, daß die Vereinigten Staaten heute genau so viele Einwohner hätten, auch wenn nach der Unabhängigkeitserklärung nicht ein einziger Europäer mehr eingewandert wäre. Dann hätte eben der »native stock«, der eingesessene Stamm der Kolonialzeit, sich entsprechend stärker vermehrt!
Dem muß man als Europäer entgegenhalten, daß schließlich alle Amerikaner blutmäßig Europäer sind, wenn man von Negern und Negermischlingen, wie den zahlenmäßig wenig in Betracht kommenden roten Ureinwohnern und asiatischen Einwanderern absieht. Alle Amerikaner sind im Grunde mehr oder weniger amerikanisierte Europäer, und es ist durchaus die Frage, ob der höhere Grad von Amerikanisierung nun auch ohne weiteres eine rassenmäßige Höherwertigkeit bedeutet oder auch nur ein besseres »Amerikanertum«.
Es ist ganz selbstverständlich, daß heute von altamerikanischer Seite der Bevölkerungsstamm der Kolonialzeit idealisiert und als Urquell des eigentlichen und wahren Amerikas gefeiert wird. Die gleichen Werke, die dies tun, führen jedoch an anderer Stelle Klage darüber, daß England in der Kolonialzeit seinen »ganzen Mist« nach Amerika ablud, Sträflinge, Verbrecher, Arbeitslose, kurz alles Unerwünschte, was man in der Heimat gern los sein wollte. Unter den Kindern, die man auf den Straßen Londons aufgriff, um sie als Arbeitssklaven nach der Kolonie zu verkaufen, werden auch nicht die rassenmäßig höheren Elemente vorherrschend gewesen sein.
Gewiß war es auf der andern Seite auch wieder ein ganz hervorragendes Menschenmaterial, das nach Amerika auswanderte. Schon die Überfahrt und anschließend daran das harte Leben an der Grenze bedeutete eine unerbittliche Auslese. Allein wir Deutschen haben ein gewisses Recht zu betonen, daß dieses ausgezeichnete »Menschenmaterial« nicht nur auf der Mayflower in die Neue Welt gelangte. Weder floß in den Adern der Pilgerväter das unverfälschte »amerikanische« Blut, noch trugen sie die Idee und das Ideal »Amerika« in der Tasche. Beides ist erst später entstanden, beziehungsweise ist heute noch im Entstehen. Und wenn diese Schrift auch ausschließlich die deutschen Rechte gegenüber den angelsächsischen Ausschließlichkeitsansprüchen verteidigt, so müssen wir gerade vom deutschen Standpunkt aus anerkennen, daß auch die Polen, die Italiener, Ungarn, Ruthenen, Griechen und all die andern Völker, die nach uns Deutschen nach Amerika kamen, ihre gerechten Ansprüche haben und mit ihr Teil leisten, im Guten wie im Bösen, an diesem im Entstehen begriffenen Neuen, Ungeheuren und Ungewissen zu schaffen, was wir Amerika nennen.
Die Amerikaner haben die Einwanderer nicht nur hereingelassen, sondern hereingerufen, und zwar nicht aus Menschlichkeitsgründen, sondern aus sehr realen Erwägungen und um rein materieller Vorteile willen, weil sie Arme für die Erschließung des Westens und billige Arbeitskräfte für ihre Industrie brauchten.
Wenn den Vereinigten Staaten die Einwanderung nicht mehr paßte, wenn sie ihnen unerwünscht oder gar gefährlich dünkte, waren sie jederzeit rasch bei der Hand, sie zu sperren, und zwar ohne Rücksicht auf kurz vorher verkündete Ideale. Nicht lange nach Erringung der Unabhängigkeit wurde ein Antifremdengesetz erlassen, das die Aufenthaltsdauer für die Naturalisation von fünf auf vierzehn Jahre erhöhte. Dieses Gesetz ermächtigte gleichzeitig den Präsidenten, jeden unerwünscht oder verdächtig erscheinenden Ausländer ohne Verhandlung oder Angabe von Gründen auszuweisen.
Dieses Gesetz wurde erlassen, als die französische Revolution einen der herrschenden Federalen Partei unerwünschten Verlauf nahm. Es wurde dann allerdings nicht angewandt, einmal, weil die republikanische Opposition sich dagegen richtete, zum andern, weil es sich erübrigte; denn die in den Vereinigten Staaten lebenden Franzosen, gegen die es in erster Linie gedacht war, enthielten sich der ihnen unterstellten gefährlichen Propaganda.
Vom Beginn des Unabhängigkeitskrieges bis etwa 183o kamen keine Einwanderer nach Amerika, weil infolge der Revolutions- und Kriegswirren auf beiden Seiten des Atlants, infolge der Koalitions- und Napoleonischen Kriege keine Europa verließen. Manche Regierungen hatten geradezu Auswanderungsverbote erlassen. Im übrigen war, was man von drüben hörte, auch nach Abschluß des Unabhängigkeitskrieges keineswegs danach angetan, jemanden zur Einwanderung zu verlocken. Als sich dann mit dem europäischen Wiederaufbau die Verhältnisse in Europa verschlechterten und gleichzeitig in Amerika verbesserten, setzte auch der Auswandererstrom wieder ein. Die Kartoffelkrankheit hatte einem erheblichen Teil der europäischen Landbevölkerung ihr Hauptnahrungsmittel entzogen. Das galt vor allem von Irland, wo die Einwohnerzahl durch Seuchen innerhalb weniger Jahre von sechs auf vier Millionen sank. Auch von Deutschland wanderten zahlreiche Bauern aus reiner Not aus. Die Haupttriebfeder hier aber war ideell, der Wunsch nach Freiheit. Dementsprechend haben die »Achtundvierziger« eine entscheidende Rolle in der amerikanischen Politik gespielt. Was vergessen, vielmehr nie richtig betont wurde, ist jedoch, daß diese Neuankömmlinge bessere Amerikaner waren als ein großer Teil der Alteingesessenen. Sie trugen die Idee Amerika, die in Europa geboren wurde – keineswegs am Plymouth Rock oder in Jamestown –, mindestens so rein und klar mit sich herüber wie die Pilgerväter. Um dieser Idee des einigen, großen und freien Amerikas willen warfen sie sich drüben, kaum daß sie amerikanischen Boden betreten hatten, erst in den politischen Kampf und bald darauf in den mit den Waffen. Hunderttausende von ihnen fochten, Zehntausende von ihnen fielen für die Ideen und Ziele, die den Vätern der Verfassung vorgeschwebt hatten.
Wie das Meer in dem urewigen Wechsel von Ebbe und Flut bald den Strand hoch hinaufspült, bald ihn weithin freilegt, so wirken Europa und Amerika aufeinander. Mag das eine sich auch zurückziehen und sich scheinbar ganz auf sich selbst besinnen, es muß doch wiederkehren, um mit seinen Menschen, seinen Gedanken, seinen Vorstellungsbildern und Wunschträumen den Strand des andern zu benetzen.
Amerika und Europa sind heute etwas Ähnliches wie im Altertum das Land diesseits und jenseits des Hellesponts, zwei Gebiete, die in engster Wechselwirkung stehen, die aufeinander angewiesen sind und aufeinander wirken, mögen sie sich nun befehden oder befreunden. Ja, die Berührung zwischen uns und den Menschen jenseits des Atlants ist viel enger als einst die zwischen den Ländern des östlichen und des westlichen Mittelmeeres. Damals griffen wohl die Kolonien des einen in den Bereich des andern über, aber es gab überall eine fremdrassige angestammte Bevölkerung, Amerika aber ist eine Kolonie Europas, oder sagen wir lieber, um das leicht Herabsetzende und Verletzende dieses Wortes zu vermeiden: Amerika ist der Sohneskontinent Europas.
Diese Bezeichnung gilt freilich nicht für jenen Teil der Neuen Welt, der indianisch geblieben ist oder wieder indianisch zu werden sucht, noch für jene Gebiete, die wahrscheinlich endgültig an die schwarze Rasse verloren sind, wie Westindien und vielleicht sogar Randgebiete des Golfs von Mexiko und des Karibischen Meers. Mit diesem farbigen Amerika, das vom mexikanischen bis zum bolivianischen Hochland im Entstehen begriffen ist und dessen Gestaltung sich immer deutlicher abzeichnet, wird sich das weiße Amerika nördlich wie südlich dieses farbigen Mittelpunktes einmal auseinandersetzen müssen. Ähnliche Spannungen, fruchtbare wie feindliche, sind hier im Entstehen begriffen wie zwischen Europa und Asien. Die beiderseitigen Gebiete gehen genau so ohne scharfe Abgrenzung ineinander über wie die beiden Teile der Alten Welt. Deshalb läßt sich heute noch nicht übersehen, ob das »weiße Amerika«, das von europäischen Gedanken geprägte, das von Menschen europäischen Bluts geformte einmal vom Pol bis Panama reichen wird, ob es am Golf von Tehuantepec haltmachen muß, oder gar über den Rio Grande vor dem wieder erwachenden Roten Mann und den Nachkommen der einst unbedacht und gewissenlos von Afrika herübergebrachten Sklaven wird zurückweichen müssen.
Das alles geht auch uns an; denn das Land nördlich des Flusses, der heute die politische Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko bildet, ist »Unser Amerika«. Wir haben es geschaffen, wir Europäer, in erster Linie Angelsachsen, Deutsche und Skandinavier. Amerika mag sich noch so leidenschaftlich als ein Eigenes fühlen und sich gegen Europa wenden, es bleibt doch seine Schöpfung. Es ist von uns abhängig wie wir von ihm. Es ist etwas Neues, Eigenes, Selbständiges und doch uns verbunden, genau wie ein Kind den Eltern. Das mag sich auch mit Gleichgültigkeit, ja selbst in Feindschaft und Haß von seinen Erzeugern abwenden, es kann trotzdem nicht das Band lösen, das es mit ihnen verbindet, genau wie ein Vater an sein Kind gebunden bleibt, mag er es auch verstoßen.
Amerika ist unser Kind, nicht nur blutmäßig. Es ist unser Wunschkind. All unsere Wünsche und Hoffnungen, all unsere Träume von einer neuen besseren Welt haben wir lange genug auf die Gestade jenseits des Atlants gehäuft. Daher rührt die seltsame Mischung von Erfüllung und Enttäuschung, von Liebe und Haß, mit denen Amerika auf jeden europäischen Neuankömmling wirkt.
Man mag als Deutscher nach England oder Frankreich kommen, nach Spanien oder Italien, Land und Volk dort mag einem gefallen oder mißfallen, man mag es selbst lieben oder hassen, niemals werden diese Gefühle die gleiche Stärke erreichen wie beim Besuch Amerikas, und vor allem nicht diese seltsame Mischung der widerstreitenden Empfindungen. Amerika muß man als Deutscher, als Europäer gleichzeitig lieben und hassen, weil es ein Stück von einem selber ist. Weder seinen Vorzügen noch seinen Fehlern gegenüber kann man gleichgültig bleiben, genau sowenig wie bei einem eigenen Kind.
Die meisten Europäer, die nach Amerika auswanderten, haben sich schließlich nach Begeisterung wie Enttäuschung mit ihm abgefunden. Es war nicht ganz so schön, wie man es erhofft hatte, und nicht ganz so schlimm, wie es dann schien. Man blieb, weil man keine andere Wahl hatte, und weil man nicht als »Amerikamüder« enttäuscht in die alte Heimat zurückkehren wollte. Mit der Zeit aber wirkten das neue Land, die fremde Sonne, die andern Gedanken und Empfindungen, die einen umgaben. So wurden die meisten Europäer Amerikaner, von der »Mayflower« und der »Concord« an bis auf den heutigen Tag.
Aber auf dem Grund, unter wie hinter aller Amerikanisierung blieben doch das europäische Blut, die europäischen Gedanken, die europäischen Träume und Hoffnungen. Da diese ihrerseits durch all die Jahrhunderte hindurch in ihrer amerikanischen Form auf Europa zurückwirkten, so ist Gleichklang und Wechselwirkung noch stärker.
Man kann sich als Deutscher in England oder in Mexiko naturalisieren lassen. Ich vermag mir aber nicht vorzustellen, daß man in noch so vielen Jahren ein hundertprozentiger Engländer oder Mexikaner werden könnte, nicht einmal die im fremden Land geborenen Kinder. Aber ein Amerikaner, ein wirklich wahrer und echter Amerikaner kann man in kürzester Frist werden, ja beinahe bereits im Augenblick der Landung. All das, was deutsch ist an und in den Vereinigten Staaten, nicht nur dem Blut nach, sondern auch ideenmäßig, das stürzt sofort auf einen ein. Gerade weil es so verschoben und verzerrt ist, packt es mit doppelter Wucht. Nicht nur die Puritaner haben ja ihre Wunschträume mit in die Neue Welt hinübergenommen und haben sie dort zu verwirklichen gesucht, sondern auch die deutschen Pietisten, die deutschen religiösen wie politischen Flüchtlinge, all die Deutschen, die in ihrem Herzen ein Bild von einer besseren Welt mit über das Meer trugen.
An diesem Bild messen wir die Vereinigten Staaten. Das mag zu grenzenloser Enttäuschung, ja Erbitterung führen, wie bei Nikolaus Lenau, der auf der Überfahrt Amerika in begeisterten Oden andichtete, um es auf der Heimreise in der schlimmsten Weise zu schmähen. Aber das kann auch nach Überwindung der ersten Enttäuschung zu einer um so stärkeren und leidenschaftlicheren Liebe führen. So kann es kommen, daß Einwanderer in entscheidender Zeit sich als bessere Amerikaner erweisen als im Land Geborene, ja selbst als die Abkömmlinge altamerikanischer Familien aus der Kolonialzeit.
Es ist durchaus verständlich, wenn sich in den Vereinigten Staaten in bestimmten Abständen der »Nativismus« erhebt, das Bemühen, Amerika für die Amerikaner zu sichern, nur die geborenen Amerikaner, ja womöglich nur die Nachkommen der alten angelsächsischen Familien als Amerikaner gelten zu lassen. Es ist auch nur natürlich, wenn dieses Gefühl gerade heute wieder mächtig aufflammt, wo die amerikanische Union sich in einer derart schweren Krise befindet.
Man vergißt dabei nur, daß die Begriffe Einheimischer und Fremder nicht so eindeutig feststehen wie in andern Ländern. Jeder Amerikaner war einmal ein Einwanderer, und jeder Einwanderer wird einmal ein Amerikaner. Wo soll man da die Grenze ziehen? Bei der Geburt? Bei dem Nachweis von vier in Amerika geborenen Großeltern, wie es die »Know-nothing«-Bewegung forderte? Oder beim Vorweis einer Schiffskarte der »Mayflower«?
Jede dieser Begrenzungen ist willkürlich. Wie gesagt, es kann einer, der noch nicht einmal die Bürgerpapiere besitzt, ein besserer »Amerikaner« sein als einer, dessen Vorfahren bereits Gott weiß, wie lang auf amerikanischem Boden sitzen. Man darf ja nicht vergessen: Amerika läßt sich nicht ohne weiteres mit unsern Maßen messen. Die Amerikaner sind keineswegs ein Volk im europäischen Sinne, kaum eine Nation. Amerika ist noch in hohem Grade eine in der Formung begriffene Idee, ein Ideal. Idee wie Ideal aber, sollen sie nicht zum Dogma erstarren, wandeln sich in ihren Formen, verjüngen und erneuern sich von Epoche zu Epoche.
Das »amerikanische Ideal«, das sich in Gestalt und Form dauernd wandelt, ist das der besseren Welt. Das bestand bereits fast zwei Jahrhunderte vor der Unabhängigkeitserklärung. Diese selbst gab ihm lediglich eine Form: die der parlamentarischen Demokratie. In der Folge sind die Amerikaner immer wieder in Gefahr gewesen, die Form mit dem Inhalt zu verwechseln.«
Es ist das Wesen dieses Ideals, daß es sich nie restlos erfüllen kann, daß äußerster Einsatz und Hingabe höchstens in seine Nähe zu führen vermögen, ja, daß es sich in sein Gegenteil verzerren, ein Hohn auf das Erträumte werden mag.
In dieser Gefahr der Erstarrung und Verzerrung hat sich die amerikanische Idee mehr als einmal befunden, vielleicht niemals so stark wie in der Zeit, als die deutschen Freiheitskämpfer und Idealisten der vierziger Jahre in Massen nach Amerika auswanderten.
Das freie einige Amerika! Was war zwischen 1850 und 1860 aus ihm geworden! Frei? – Noch nie ward das Grundgesetz alles amerikanischen Lebens, der Satz, daß alle Menschen frei und gleich geboren sind, derart in den Staub getreten. Dieser Satz stand zu Beginn der Verfassung eines Landes, das als einziges unter allen zivilisierten Völkern die Sklaverei noch offiziell beibehielt! Ja, mehr als das. Man behielt die Sklaverei nicht nur bei, sondern man verschärfte sie noch; man suchte sie immer weiter auszudehnen. Als Mexiko seine Unabhängigkeit von Spanien erkämpft hatte, schaffte es gleichzeitig die Sklaverei ab. Als es dann, von den Vereinigten Staaten besiegt, die Hälfte seines Landes verlor, bat es, daß in den abgetretenen Gebieten wenigstens die Sklaverei nicht wieder eingeführt würde. Doch der amerikanische Unterhändler weigerte sich, diese Bitte auch nur an seine Regierung weiterzuleiten. Selbstverständlich zogen in Texas, in Neu-Mexiko, in Arizona mit dem Sternenbanner, das angeblich die Freiheit bedeutete, auch Sklavenketten und Peitsche für alle Menschen afrikanischen Bluts wieder ein. Dafür hatte man ja den Krieg geführt, um mehr Sklavenland für Baumwollanbau zu haben. Nur Kalifornien blieb von der Sklaverei verschont, weil die Neuankömmlinge, aus denen seine Bevölkerung fast ausschließlich bestand, sich dagegen wehrten.
Ebenso waren es Neueinwanderer, und zwar vor allem deutsche, die im Mittelwesten dagegen aufstanden, als die Sklavenhalter des Südens die Aufhebung des Missourikompromisses durchsetzten, der bisher wenigstens alles Land nördlich von 36 Grad und 30 Minuten für alle Zeit als freie Erde für freie Menschen hatte sichern wollen.
Die Deutschen in Amerika waren von Anfang an gegen die Versklavung anderer Menschen, einerlei welcher Hautfarbe, gewesen. Als sie in die Neue Welt kamen, fanden sie die Sklaverei als gesellschaftliche Einrichtung bereits vor; denn die ersten Sklaven waren noch vor den Pilgervätern auf amerikanischem Boden gelandet.
Im Jahre 1619, zwölf Jahre, nachdem die ersten Siedler den Fuß auf virginischen Boden gesetzt hatten, liefen zwei Schiffe den Hafen von Jamestown an, die beide eine gleicherweise bemerkenswerte Fracht enthielten. Mit dem einen trafen neunzig weiße Mädchen ein, mit dem andern zwanzig schwarze Afrikaner.
Beide Ladungen standen zum Verkauf, und nach beiden war große Nachfrage. Die Schwarzen kamen auf den Sklaven-, die Mädchen auf den Heiratsmarkt. Die Mädchen kosteten je 120 Pfund Tabak, womit die Reisekosten als abgedeckt galten. Die Käufer mußten außerdem die Zustimmung der Mädchen einholen, was bei den Schwarzen, die man zum Verkauf stellte, nicht nötig war. Die Preise, die für diese erzielt wurden, sind nicht überliefert, es muß aber ein gutes Geschäft gewesen sein; denn noch im gleichen Jahre langte ein zweiter Segler mit einer weit größeren Zahl von Negern an.
Das erste Sklavenschiff war ein Holländer, das zweite ein Engländer. Von da ab wurde der Sklavenhandel mit Amerika fast ein britisches Monopol. Das englische Volk hat sich später viel auf den Kampf zugute getan, den es in der ganzen Welt gegen die Sklaverei führte. Damals aber war man in England sehr für Sklaverei, und die britische Krone trat allen, allerdings nur schüchternen Versuchen ihrer Kolonien, den Sklavenhandel einzuschränken, sehr energisch entgegen. Der Handel mit schwarzem Elfenbein war ein viel zu gutes Geschäft, als daß England daran hätte rühren lassen.
Daß die Briten diesseits wie jenseits des Atlants auf dieses gute Geschäft nicht verzichten wollten, hat sich freilich furchtbar gerächt. Ihm verdanken die Vereinigten Staaten den blutigsten Krieg ihrer Geschichte und eine unlösbare Bevölkerungsfrage. Es ist der Ruhm der Deutschen in Amerika, daß sie in der ganzen Farbigenfrage reine Hände haben. Unter den Sklavenhändlern war kein Deutscher, ebensowenig – von vereinzelten Ausnahmen vielleicht abgesehen – unter den Sklavenhaltern. Den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen, den ihre angloamerikanischen Mitbürger nur mit dem Mund bekannten, haben die Amerikaner deutschen Bluts auch in der Praxis befolgt. Ja, die Deutschen waren es, die den ersten Protest gegen die Sklaverei in Amerika erhoben. Bereits im Jahre 1688, also nur ein Jahrfünft nach der Landung der ersten Deutschen in Pennsylvanien, legten sie eine feierliche Verwahrung gegen Kauf und Halten von Sklaven ein. Die deutsche Denkschrift war an die Quäker gerichtet, die ja die Kolonie Pennsylvanien verwalteten. Die Quäker aber konnten sich nicht entschließen, Stellung zu nehmen. Die Monatsversammlung überwies das heikle Schriftstück an die Vierteljahrsversammlung, diese wieder an die Jahresversammlung, die es zu den Akten legte, in denen es volle hundertfünfundfünfzig Jahre ruhte, bis der Geschichtsforscher Nathan Kite das wichtige Dokument ausgrub.
Es läßt sich gar nicht absehen, welches Unheil von Amerika abgewendet worden wäre, wären die Deutschen mit ihrem Protest durchgedrungen, und wäre es gelungen, das pennsylvanische Beispiel auch auf die andern Kolonien auszudehnen. Aber hierin liegt die deutsche Schuld. Die Deutschen begnügten sich mit dem Protest, und als die Quäker ihm nicht stattgaben, waren sie es auch zufrieden.
Nun hatten die Deutschstämmigen in der Folge freilich nichts mit der Sklaverei zu tun, ja, sie kamen kaum mit ihr in Berührung. Der ersten deutschen Auswanderung nach Virginien und den beiden Karolinas fehlte der Nachschub. Die Deutschen, die in der Folge nach Amerika kamen, siedelten sich in der Hauptsache in den Nordstaaten an. In denen hatte die Sklaverei nie eine große Rolle gespielt, und mit der Gründung der Union wurde sie dort überhaupt aufgehoben. Auch die deutschen Siedler in Virginien und Karolina zogen mit der Erschließung des Westens nach dem Norden; denn sie waren Bauern und keine Sklavenhalter.
Erst als in Missouri die Sklaverei eingeführt wurde und auf Betreiben der Südstaaten hin der ganze ehemals freie Nordwesten Sklavenland zu werden drohte, sahen sich deutsche Siedler der Frage der Sklaverei gegenüber. Sehr anschaulich schildert der »Deutsche Pionier«, wie im Juli 1833 eine größere Gesellschaft von deutschen Einwanderern, die auf ihrer Reise nach St. Louis einen Tag in Louisville zubringen mußten, der Sklaverei begegneten. Die schwarze und farbige Bevölkerung überwog dort die weiße bedeutend. »Man sah ganze Trupps aneinandergekettet durch die Straßen ziehen. Selbst junge Mädchen, welche Wasser aus dem Fluß schöpften, waren an den Füßen zusammengekettet, andere wurden vor unsern Augen mit Reitpeitschen blutig geschlagen. Am Gerichtshaus wurden Männer, Frauen und Kinder versteigert. Am Negerprügellokal, einer Privatanstalt, die aber jedem Sklavenbesitzer zum Gebrauch offenstand, konnte man nicht vorbeigehen, ohne den Schmerzensschrei gezüchtigter Sklaven zu hören.« Die deutschen Einwanderer hatten um der Freiheit willen ihre Heimat verlassen. »Um so weniger waren sie willens, in einem Staat zu leben, dessen Verfassung noch diese roheste Form menschlicher Unterdrückung sanktionierte!«
Vor die Notwendigkeit gestellt, zu der Frage Stellung zu nehmen, die damals gerade anfing, Amerika in zwei Lager zu teilen, besannen sich die Deutschen daher nicht lange. Da gab es überhaupt kein Überlegen und Abwägen wie für so viele alteingesessene Amerikaner. Geschlossen traten sie für die Männer und die Partei ein, die sich der weiteren Ausbreitung der Sklaverei in den Weg stellten.
Die Deutschen gaben damit den Ausschlag; denn bisher war – von den nicht sehr zahlreichen Abolitionisten abgesehen – die Haltung der Nordstaaten in der Sklavereifrage keineswegs einheitlich. Weite Kreise im Norden billigten zwar die Sklaverei im Norden nicht, aber sie war im Süden immerhin eine alte Einrichtung der Baumwollstaaten, und ihretwegen wollte man sich schon aus geschäftlichen Gründen nicht mit ihnen überwerfen: der Süden war ein guter Kunde des sich industrialisierenden Ostens und des Lebensmittel liefernden Westens.
Die Deutschen aber, die seit 1820 während der europäischen Restaurationsperiode nach Amerika ausgewandert waren, hatten dies nicht getan, um Geschäfte zu machen, sondern um der Freiheit willen. So erhoben sie sich wie ein Mann für den Freiheitsgedanken, der durch die Sklaverei bedroht war. Mancher angelsächsische Amerikaner schüttelte allerdings den Kopf, als er sah, daß diese »eingewanderten Deutschen« eine derartige Macht darstellten, und daß die Frage der Sklavenhaltung mancherorts beinahe als Prestigefrage des angelsächsischen Einflusses gegenüber dem deutschen galt, geht aus dem Ausspruch Henry Sewards hervor, des alten Führers der Republikanischen Partei, der mit Lincoln zusammen um die Aufstellung als Präsidentschaftsanwärter kandidierte: »Wenn Missouri keine andere Wahl hat, als unfrei zu bleiben oder germanisiert zu werden, dann in Gottes Namen laßt es germanisch werden!«
»Missouri ist frei geworden«, schreibt der »Deutsche Pionier« vom Jahre 1869 – »und wenn die deutsche Einwanderung dahin keine Unterbrechung erleidet, wird sich die ›schreckliche Alternative‹ erfüllen, die ihm Seward gestellt.« – Aber es kam anders.
Im Jahre 1820 hatten die Vereinigten Staaten 9,5 Millionen Einwohner; bis 1860, also bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs, war diese Zahl auf 31,5 Millionen angestiegen. Diese annähernde Vervierfachung in vierzig Jahren kam zu einem erheblichen Teil auf Konto der Einwanderung, die, mit dem Jahre 1820 einsetzend, sich von Jahr zu Jahr steigerte und zuletzt bereits über 2,5 Millionen je Jahrzehnt betrug.
Im Augenblick des Ausbruchs der größten und gefährlichsten Krise der amerikanischen Geschichte befanden sich also viele Millionen erst seit kurzem eingewanderter Fremder im Lande. Die Einwanderer waren fast ausschließlich aus Deutschland und Irland gekommen. Da sich die deutschen Einwanderer fast restlos in den neuen Staaten des Westens angesiedelt hatten, in denen sie noch vor der Naturalisation das Wahlrecht erhielten – in Wisconsin zum Beispiel nach nur einjährigem Aufenthalt –, so spielte das »German Vote«, die deutschen Stimmen, bei den dem Ausbruch des Bürgerkrieges vorhergehenden politischen Kämpfen eine entscheidende Rolle, ja, man kann ohne Übertreibung sagen: sie bildeten das Zünglein an der Waage.
Wie verhielt sich nun dieses fremdbürtige, nach nationalistischer Ansicht »unamerikanische Element«? Wie benützte es die ausschlaggebende Macht, die ihm die Umstände in den Schoß geworfen hatten?
Dazu ist zunächst zu sagen, daß das »fremde, unamerikanische« Element, die in Deutschland Geborenen wie die von deutschen Eltern Abstammenden, an Ausbruch wie Entstehung des Konfliktes, der die Union in ihrem Lebensnerv bedrohte, völlig unbeteiligt war. Der Bürgerkrieg ist eine rein angloamerikanische Angelegenheit, in die amerikanische Deutsche und die Amerikaner deutschen Bluts erst eingriffen, als Freiheit und Einheit Amerikas in Gefahr waren. In den Adern der südstaatlichen Pflanzer und Sklavenhalter, die den Austritt der von ihnen beherrschten Staaten aus der Union erklärten, floß kaum ein Tropfen deutsches Blut, ebensowenig in den puritanischen Abolitionisten, die durch ihren Radikalismus die Herbeiführung des Bruchs beschleunigten.
Wenn also heute so viel davon die Rede ist, daß der Bestand und wahrhaft amerikanische Charakter der Vereinigten Staaten durch die allzu große Einwanderung nicht angelsächsischen Bluts in Gefahr ist, so muß daran erinnert werden, daß die größte Gefahr, die wahrhafte Lebensgefahr, lediglich durch das rein angloamerikanische Element, durch die »hundertprozentigen Amerikaner« heraufbeschworen wurde. Aber nicht nur, daß die Amerikaner deutschen Bluts völlig unbeteiligt an der Heraufführung der Katastrophe waren, sie haben darüber hinaus Bestand und Einheit der amerikanischen Union gerettet. Sie taten dies, ohne einen Preis auszubedingen oder nachträglich zu fordern, wie sie es leicht hätten tun können.
Es wäre besser gewesen, sie hätten es getan, auch für Gesamtamerika; denn dann wären ihm die ebenso unnötigen wie unsinnigen Blut- und Geldopfer seiner Teilnahme am Weltkrieg wahrscheinlich erspart geblieben!
Die deutschen Einwanderer der dreißiger und vierziger Jahre waren in dem Glauben nach Amerika gekommen, dort das Land der Freiheit zu finden. Sie waren zum größten Teil Kämpfer aus dem mißlungenen nationalen Freiheitskampfe. Sie hatten von einem großen einigen nationalen Deutschland geträumt, sie hatten dafür geblutet und gelitten. Ihr Kampf war vergeblich gewesen, nun wollten sie ihr Ideal wenigstens in Amerika verwirklicht sehen. Sie kamen mit bereiten, hingegebenen Herzen. Sie hatten sich Amerika als neue Heimat erwählt, sie gelobten ihr Treue, ehe sie noch ihren Boden betraten.
Bezeichnend für diese Einstellung der »Achtundvierziger« sind die Worte von Carl Schurz. Er schreibt in seinen Lebenserinnerungen: »Da ich beschlossen hatte, die Vereinigten Staaten zu meiner bleibenden Heimat zu machen, nahm ich mir vor, alles von der günstigsten Seite zu betrachten und mich von keiner Enttäuschung entmutigen zu lassen.«
Carl Schurz und seine Miteinwanderer konnten einen derartigen festen Vorsatz wohl brauchen; denn es gab einen Haufen Enttäuschungen, die sie zu überwinden hatten. Das Land der Freiheit sah wesentlich anders aus, als sie es sich erträumt hatten. Der deutsche Freiheitskämpfer und Idealist war reichlich entsetzt, als er einen Einblick in das politische Leben von Washington erhielt, von dem schamlosen Stellenschacher, der dort betrieben wurde. Allein er war entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Seine Idee wie sein Ideal von Amerika konnte ihm niemand rauben, das trug er fest im Herzen, und wenn nicht alles so war, wie er es sich erträumt, wenn Amerika nicht das große einige Land der Freiheit war, nun so war er doch nach Amerika gekommen, war Amerikaner geworden, um seinen Teil dazu beizutragen, es zu verwirklichen.
Carl Schurz hat in einer seiner politischen Reden einmal erklärt: »Es mag unwahrscheinlich und fast lächerlich anmaßend klingen, daß fremdgeborene amerikanische Bürger feuriger und aufrichtiger in ihrem amerikanischen Patriotismus sein können, als viele Eingeborene es sind, und doch haben meine Erfahrungen mir das bestätigt.«
Er sagte damit ungefähr das gleiche, was Theodore Roosevelt ein Menschenalter später in die Worte kleidete: »Amerikanertum ist eine Frage der Begeisterung, der Überzeugung und des Strebens und hat mit Religion und Abstammung nichts zu tun.«
Carl Schurz hat den Beweis für seine Worte geliefert; nicht nur er, sondern alle Deutschen und Amerikaner deutschen Bluts jener Zeit haben dies getan. Die Achtundvierziger waren nicht nur fanatische Freiheitsfreunde, sondern ebenso glühende Deutsche. Um Deutschlands willen waren sie auf die Barrikade gestiegen. Wenn sie sich nun in voller Loyalität für ihr neues Vaterland in Amerika ansiedelten, so hofften sie, daß sie ihr Deutschtum in Sprache und Sitte bewahren könnten. Ihr geheimer Traum blieb ein oder einige deutschsprachige Staaten im Rahmen der Union.
Der anhebende Streit zwischen Anhängern und Gegnern der Sklaverei, zwischen den Wirtschaftsinteressen von Nord und Süd, zwischen den Gruppen, die um die Vorherrschaft in der Union rangen, bot eine seltene Gelegenheit zur Verwirklichung dieses Traums. Die Deutschen hätten nur die im politischen Leben Amerikas üblichen Grundsätze anzunehmen und keine Leistung ohne Gegenleistung zu gewähren brauchen.
Die Zuspitzung, die die Sklavereifrage erfuhr, brachte einen allgemeinen Umbruch der Parteien. Die Demokraten spalteten sich, die Whigs lösten sich auf, neue Parteien entstanden.
Die eingewanderten Deutschen hatten sich überwiegend den Demokraten angeschlossen, da diese die einwanderungsfreundlichste Politik trieben. Aber die Demokraten waren in erster Linie die Partei des Südens und für Erhaltung und Ausdehnung der Sklaverei, wofür die Deutschstämmigen nicht zu haben waren. So traten sie aus und schlossen sich den Parteien an, die gegen die Sklaverei waren, ungeachtet ihrer wenig freundlichen Haltung gegenüber den Einwanderern.
Dabei waren gerade zwei nativistische Parteien gegründet worden, die die Deutschen hätten stutzig machen müssen: die »Native American« und die »Know-nothing-Party«. Beide forderten eine Wartezeit bis zur Naturalisation von einundzwanzig Jahren sowie die Bestimmung, daß nur geborene Amerikaner als Beamte eingestellt werden dürften.
Ähnliche Bestrebungen, wenn auch nicht so ausgesprochen, herrschten in der neugegründeten Republikanischen Partei. Diese war in dem Kampf um die Macht, den sie gegen die Demokraten führte, in einer ganzen Reihe von Staaten auf die deutschen Wahlstimmen angewiesen, so in Neuyork, in Ohio, Illinois und Wisconsin. Die Deutschen gaben den Republikanern ihre Stimme, weil diese für ein einiges, freies Amerika fochten.
In diesem Kampf, der Abraham Lincoln auf den Präsidentenstuhl brachte und damit die Spitze der Staatsgewalt den Sklavereigegnern sicherte, kämpfte Carl Schurz mit in den ersten Reihen. Aber auch er, der sich so leidenschaftlich für Lincoln und die Republikanische Partei einsetzte, hatte unter dem nativistischen Geist zu leiden. Die alteingesessenen angelsächsischen Amerikaner lohnten die blinde Hingabe des erst seit kurzem eingewanderten Deutschen schlecht. Carl Schurz war 1857 auf dem »Ticket«, der Kandidatenliste der Republikanischen Partei, als Vizegouverneur für Wisconsin aufgestellt worden. Das gesamte republikanische »Ticket« wurde gewählt mit Ausnahme von Schurz. Das erwies die unbedingte Überlegenheit der Republikaner über die Demokraten. Mit Hilfe der deutschen Stimmen konnten sie alle ihre Kandidaten durchbringen. Aber für Carl Schurz selber hatten in der Hauptsache nur seine Landsleute gestimmt; die angelsächsischen Amerikaner versagten dem deutschen Kandidaten ihrer eigenen Partei die Stimme. Bei den nächsten Wahlen sollte Schurz als Gouverneur aufgestellt werden, aber auch das wurde hintertrieben.
Carl Schurz ließ sich durch die kleinliche Mißgunst seiner angelsächsischen Parteigenossen nicht abhalten, weiter für die große Sache zu kämpfen, der er sich verschrieben hatte: die Einheit und Freiheit Amerikas. Nicht anders die übrigen Deutschen, ihre Stimme fiel restlos Abraham Lincoln zu.
Ohne die Deutschen wäre Lincoln nie gewählt worden. Selbst mit ihrer Hilfe blieb er mit einer Million Stimmen hinter seinem Gegner zurück. Daß er trotzdem siegte, beruhte auf der Eigenart des amerikanischen Wahlmännersystems und der Spaltung der Demokratischen Partei.
Es läßt sich heute nicht absehen, was geworden wäre, hätten die Deutschen die Wahl des entschiedenen Kämpfers für die Einheit der Union nicht durchgedrückt. Bei der im Norden herrschenden unentschlossenen Stimmung wäre es durchaus möglich gewesen, daß unter einem demokratischen Präsidenten der Abfall des Südens gelungen wäre.
Es gibt eine Theorie, nach welcher der mit Hilfe der Deutschen gewählte Präsident des Nordens, der im Bürgerkrieg den Süden schlug und die Einheit der Union bewahrte, selber deutscher Abstammung gewesen sei. Diese Theorie stützt sich auf die Tatsache, daß in verschiedenen amtlichen Papieren der Name von Abraham Lincolns Großvater Linkhorn geschrieben ist. Von englischer Seite hat man begreiflicherweise heftig dagegen Stellung genommen und nachzuweisen versucht, daß Linkhorn eine häufige Abweichung und lediglich andere Schreibweise von Lincoln sei.
Dabei muß man es bewenden lassen. In seinem Aussehen hatte Lincoln wohl keinerlei deutsche Züge, in seinem Charakter manche. Aber wie es auch sei, der Name Abraham Lincoln ist mit dem Amerikanertum deutschen Bluts untrennbar verknüpft. In Deutschland geborene und von Deutschland abstammende Amerikaner haben seine Wahl ermöglicht und während der ganzen schweren Zeit seiner Präsidentschaft treu zu ihm gehalten.
Eins aber sollte nie vergessen werden: Neben Lincoln, dem Amerikaner von Geburt, waren es in erster Linie eingewanderte »Amerikaner aus Begeisterung und Überzeugung«, die bedingungslos Gut und Blut für die Einheit und Freiheit ihres Wahlvaterlands hingaben. Hätten die Deutschstämmigen nur einen geringen Teil der Einigkeit, der Hingabe, des Opfermuts, den sie für ein einiges, freies Amerika an den Tag legten, für ein einiges, freies Deutschtum in Amerika aufgebracht, es stünde heute nicht nur besser um sie, sondern auch um die Vereinigten Staaten.
Die Deutschen traten mit den Waffen genau so einheitlich und entschlossen für ihre Ideale ein wie mit dem Stimmzettel, als die Sklavenstaaten aus der Union austraten und Lincoln zur Erhaltung der Einheit Amerikas Freiwillige aufrief.
So unrichtig es im allgemeinen ist, von Deutschen in Amerika zu reden – denn es handelt sich bei ihnen, auch, wenn sie deutsche Sprache und Sitte beibehalten haben, um Amerikaner –, in diesem Fall ist es zutreffend. Die vielen Zehntausende, die ohne Bedenken und ohne Rücksicht auf persönliche Interessen sofort zu den Fahnen eilten, waren überwiegend Männer, die erst seit kurzem aus Deutschland herübergekommen waren.
Die Zahl der Deutschbürtigen, die auf Seite der Union gegen die Konföderation der abtrünnigen Südstaaten gefochten haben, läßt sich statistisch nicht ganz einwandfrei feststellen, da anfangs nicht bei allen Regimentern die volkliche Zugehörigkeit der Freiwilligen und späteren Konskribenten festgestellt wurde. Aber nach sehr sorgfältigen Berechnungen und Schätzungen darf man die Zahl von 216 000 Deutschbürtigen annehmen.
216 000 in Deutschland Geborene als Kämpfer für die Einheit der Vereinigten Staaten! Das ist eine ungeheuere Ziffer, einmal im Verhältnis zu der Größe der Heere im Sezessionskrieg, dann aber vor allem in bezug auf die Stärke des deutschen Volkstums in Amerika. Zur Zeit des Sezessionskrieges kann man die Zahl der in Europa geborenen Deutschstämmigen auf etwa 1 600 000 veranschlagen. Wenn hiervon 216 000 ins Feld zogen, so war das nur möglich, weil unter den deutschen Einwanderern eben viel mehr Männer waren als Frauen, und unter den Männern wieder weniger Knaben und Greise als bei den Einheimischen auf die gleiche Ziffer gekommen wären. Außerdem aber zog jeder waffenfähige Deutsche ins Feld, einerlei auf welchem Posten er stand.
Ein Beispiel dafür ist wiederum Carl Schurz. Dieser war von Lincoln zum Gesandten in Madrid ernannt worden. Noch vor seiner Abreise beschossen die Konföderierten das Bundesfort Sumter, und Lincoln forderte 75 000 Kriegsfreiwillige an. Sofort eilte Schurz zum Präsidenten, bat von seiner Entsendung Abstand zu nehmen und erbot sich, in Neuyork ein deutsches Kavallerieregiment aufzustellen. Die der Union verbliebenen Teile des Bundesheeres hatten so gut wie keine Reiterei. Schurz aber sagte sich, daß es unter den deutschen Einwanderern genügend gediente Kavalleristen wie Kavallerieoffiziere geben müsse, um diesem Mangel abzuhelfen. Er war mitten in der Aufstellung eines Regiments, als er ein Telegramm aus Washington erhielt, die sofortige Übernahme seines Postens in Madrid läge im Staatsinteresse. Schweren Herzens mußte er die Aufstellung des Regiments einem andern überlassen und nach Europa reisen.
Als Schurz jedoch seine Aufgabe in Europa erfüllt glaubte, bat er um Urlaub und erneuerte, nach Washington zurückgekehrt, seine Bitte um Entlassung aus dem diplomatischen Dienst und Eintritt ins Heer. Lincoln willfahrte und gab ihm ein Brigadekommando.
Carl Schurz hatte eine gewisse militärische Erfahrung aus den Revolutionskämpfen von 1848. Er wie auch die übrigen Achtundvierziger, wie Sigl und Herker, zeichneten sich im Sezessionskrieg aus. Da die beiderseitigen Heere reine Freiwilligenarmeen waren, bedeutete jeder Mann mit kriegerischer Erfahrung und militärischer Schulung einen außerordentlichen Vorteil. Dies fiel für die Nordstaaten um so mehr ins Gewicht, als ein erheblicher Teil der Berufsoffiziere der kleinen Bundesarmee, und zwar gerade die befähigtsten sich für die Sache des Südens entschieden hatten. Im ganzen haben sich etwa fünfhundert in Deutschland Geborene als Generale und Stabsoffiziere im Unionsheer ausgezeichnet; sechsundneunzig davon fielen vor dem Feind.
Zu dieser großen Zahl von gebürtigen Deutschen kam nun noch eine nicht geringere von Amerikanern deutscher Eltern. Man hat berechnet, daß etwa 300 000 Amerikaner deutschen Bluts zweiter Generation unter dem Sternenbanner fochten und ungefähr 234 000, die seit drei oder mehr Generationen in den Vereinigten Staaten ansässig waren. Im ganzen also war von der Gesamtheit der von der Union während des vierjährigen Krieges aufgebotenen Mannschaft jeder dritte deutschen Stammes. General Lee, der geniale Führer der Konföderation, hatte unzweifelhaft recht, wenn er meinte: »Ohne die Deutschen wäre es eine Kleinigkeit, die Yankees zu schlagen.«
Was die militärische Hilfe der deutschen Einwanderer und deutschstämmigen Amerikaner jedoch entscheidend machte, war, daß sie so rasch und bedingungslos einsetzte, sobald die Kriegsgefahr drohte. Die Lage war ja keineswegs so klar und übersichtlich, wie sie die vereinfachende und auf das Wesentliche zusammendrängende historische Legende heute erscheinen läßt. Zunächst handelte es sich nicht lediglich um die Sklavereifrage, ja nicht einmal in erster Linie. Politische Propaganda hat den Sezessionskrieg in der gleichen Weise zu einem um ein ideales Ziel geführten abgestempelt wie später den Weltkrieg. In Wirklichkeit wurde der erstere ebensowenig für die Befreiung der Sklaven geführt wie der letztere für die Weltdemokratie, sondern in beiden Fällen handelte es sich um sehr reale politische und wirtschaftliche Ziele. Die Yankees in den Nordstaaten empörten sich wohl mal, wenn sie mit ansehen mußten, wie aus ihrer Mitte heraus ein entlaufener Sklave in brutaler Weise eingefangen und zu seinem Herrn geschafft wurde, wo ihn grausame Strafe erwartete. Vor allem paßte ihnen nicht, daß auf Grund des Sklavenfluchtgesetzes jedermann auf Aufforderung beim Einfangen eines entlaufenen Sklaven behilflich sein mußte. Aber im großen ganzen war es ihnen doch ziemlich einerlei, wie die Pflanzer der Baumwollstaaten ihre Neger behandelten. Am Baumwollanbau und der Wirtschaftsblüte des Südens war ein großer Teil der Kaufleute und Fabrikanten der Nordstaaten erheblich interessiert.
Diese Verflechtung der wirtschaftlichen Belange war in dem Streifen der Grenzstaaten, der sich zwischen Süd und Nord schob, besonders groß. In diesen Grenzstaaten Delaware, Maryland, Kentucky und Missouri herrschte Sklaverei. Der Einfluß der kleinen Farmer und Gewerbetreibenden, die aus wirtschaftlichen Gründen die Sklavenhaltung bekämpften, war hier jedoch so stark, daß diese Staaten sich nicht so ohne weiteres der Konföderation anschließen konnten. Immerhin war die Gefahr sehr groß: denn die Regierung befand sich ja größtenteils in Händen von Anhängern der Sklaverei.
Diese Staaten, vor allem Missouri, wurden nur durch das rasche und entschlossene Eintreten der Deutschen für die Sache des Nordens gesichert. In jener ungewissen Übergangszeit von der Wahl Lincolns im November 1860 bis zu seinem Amtsantritt im März des folgenden Jahrs, in der niemand so recht wußte, woran man war, schlossen sich die deutschen Einwanderer von Missouri zu einer Truppe zusammen, um den Staat und vor allem St. Louis für das Sternenbanner und die große Sache der amerikanischen Einheit zu retten.
St. Louis war wichtig. Es bildete den Eckturm der Union im Westen. Von hier war es möglich, den Mississippi hinab in das Herz der Konföderation vorzustoßen, was später nicht wenig zum endlichen Sieg beitrug. In St. Louis befand sich vor allem aber auch das große Unionsarsenal, in dem Waffen und Ausrüstung für dreißigtausend Mann lagerten.
Auf dieses Arsenal hatten es die Sezessionisten abgesehen. An sich waren sie in der Überzahl. Mit Ausnahme der deutschen Siedler stand die Bevölkerung auf seiten der Konföderierten. Aber was den Deutschen an Zahl abging, ersetzten sie durch Entschlossenheit. Die Bevölkerung von St. Louis zählte im Jahre 1860 rund 170 000 Einwohner, darunter 60 000 Deutsche. Diese standen so gut wie restlos auf seiten der Union, die übrigen, Angloamerikaner, Iren und Franzosen auf der Gegenseite.
Die Deutschen hatten, als die Lage sich zuspitzte, Freiwilligenregimenter aufgestellt, darunter die »Schwarzen Jäger«. Sie exerzierten fleißig, waren aber noch so gut wie waffenlos, da Lincoln noch zögerte, sie aus dem staatlichen Arsenal zu bewaffnen. Daher wäre es den Sezessionisten beinahe gelungen, sich des Arsenals zu bemächtigen. Aber auf dem Weg dorthin mußten sie durch den deutschen Stadtteil, und die Deutschen warfen ihnen buchstäblich ihre bloßen Leiber entgegen. Eine nach vielen Tausenden zählende Menschenmenge füllte die Straßen und sperrte den Sezessionisten den Weg. Plötzlich ertönten laute Rufe: »Die Schwarzen Jäger kommen!« Wirklich ließen die Konföderierten sich abschrecken und zogen ab. Außerhalb der Stadt errichteten sie ein befestigtes Lager, um Verstärkungen abzuwarten und den Versuch mit größeren Kräften zu erneuern.
Aber dazu kam es nicht; denn jetzt endlich überwand Lincoln, der die Sezessionisten nicht hatte reizen wollen, seine Bedenken und gestattete den deutschen Freiwilligen, sich aus dem Arsenal zu bewaffnen. Vier Regimenter und eine Artillerieabteilung standen daraufhin marschbereit. Die Pferde für die letztere mußten die Deutschen sich allerdings erst aus Leihställen mieten, als sie nunmehr gegen das befestigte Lager der Konföderierten vorzugehen beschlossen.
Durch diese eigenartige Art und Weise der Pferdebeschaffung für einen Angriff wurde die Absicht der deutschen Freiwilligen den Gegnern vorzeitig bekannt. Die Folge war jedoch lediglich, daß über fünfhundert Mann während der Nacht desertierten. Daraufhin ergab sich der Führer der Sezessionisten den Deutschen, die zwölfhundert Mann gefangen abführen konnten.
Auch an anderer Stelle entschieden die zum großen Teil aus gedienten Soldaten festgefügten deutschen Verbände. Washington, das in den ersten Monaten des Kriegs jedem Handstreich der Sezessionisten offen lag, wurde durch den Einmarsch der deutschen Freiwilligen gerettet. In der ersten Schlacht des Sezessionskriegs, dem für die Nordstaaten so unrühmlich verlaufenen Gefecht vom Bull Run, war es allein die deutsche Brigade Blenker, die sich nicht mit in die allgemeine wilde Flucht reißen ließ.
Die deutsche Brigade gehörte der Reservedivision von Miles an. Miles verlor den Kopf, als die Panik an der Front ausbrach, und befahl den Rückzug der Reserve. Blenker aber kehrte sich nicht an den Befehl, sondern rückte vor und bezog eine Stellung, an der sich der konföderistische Angriff brach. Oder vielmehr die Konföderierten wagten gar nicht anzugreifen, als sie auf die tadellos aufmarschierten deutschen Regimenter stießen. Nach einem kurzen Scharmützel gaben sie die Verfolgung der fliehenden Bundestruppen auf und zogen sich zurück. Washington war gerettet. Die Brigade Blenker blieb bis zum nächsten Morgen auf dem Schlachtfeld. Dann räumte sie befehlsgemäß die Stellung und zog mit wehenden Fahnen und klingendem Spiel in strammer Haltung in die Bundeshauptstadt ein. Dort atmete man auf; denn man hatte bisher nur den Einzug demoralisierter Flüchtlingshaufen erlebt.
Das Vorstehende sind nur Einzelheiten des Sezessionskriegs, der bald das Ungeordnete, ja Operettenhafte verlor, das ihm anfangs anhaftete, und zu einem der blutigsten und erbittertsten Kriege der Weltgeschichte wurde. Es soll auch nicht behauptet werden, daß die deutschen Einwanderer im Unionsheer sich besser geschlagen hätten als die Amerikaner angelsächsischer Abkunft. Die Amerikaner sind durchweg, welcher Herkunft sie auch immer sein mögen, ganz ausgezeichnete und vor allem tapfere Soldaten, wenn sie sich erst etwas eingewöhnt haben; das haben wir ja auch im Weltkrieg zu unserm Schaden erlebt. Die für die Nordstaaten so wenig rühmliche Episode von Bull Run ist überhaupt nur erwähnt worden, weil man im Verlauf des Feldzuges mehrfach versuchte, bei Mißerfolgen alle Schuld auf die Eingewanderten, besonders die nicht angelsächsischen Kämpfer abzuschieben. Bei Bull Run konnte man das beim besten Willen nicht tun. Aber als später in der Schlacht bei Chancellorsville auch eine deutsche Division in den Rückzug verwickelt wurde, da war man sofort dabei, alle Schuld auf die Deutschen abzuwälzen. Die angloamerikanische Presse hallte wider von Schmähungen der »Dutch Cowards«, der »deutschen Feiglinge«.
Bei Chancellorsville wurden 125 000 Unionssoldaten von 62 000 Südstaatlern schmählich geschlagen. Die Schuld lag ausschließlich an dem völligen Versagen des Oberkommandos, das in angloamerikanischen Händen lag; auch das berühmte, oder vielmehr berüchtigte 11. Korps wurde von einem geborenen Amerikaner englischer Abkunft befehligt. Unter ihm standen unter andern auch die deutschen Truppen, darunter die Division Carl Schurz. Schurz war der einzige, der die Gefahr erkannte, die durch das Umgehungsmanöver Lees drohte. Verzweifelt bemühte er sich, den Kommandierenden zu Gegenmaßnahmen zu bewegen. Als der Überfall der Konföderierten losbrach, wurde die angloamerikanische Division Devens völlig überrumpelt. Die Division Schurz fing den Stoß auf, so gut es ging, und leistete einer zehnfachen Übermacht so lange heldenmütigen Widerstand, bis Schurz den Rückzug befehlen mußte, um einer völligen Umfassung zu entgehen.
Carl Schurz hat später vergeblich versucht, für sich und seine Truppe Genugtuung für die ungerechtfertigten Angriffe zu erhalten. Er beantragte dazu sogar eine kriegsgerichtliche Untersuchung, die ihm jedoch nicht bewilligt wurde. In der Folge zeichnete sich dann das 11. Korps bei Gettysburg so aus, daß die Angelegenheit in Vergessenheit geriet.
Heute ist der ganze Sezessionskrieg vergessen. Im Norden wie im Süden stehen Denkmäler, die an ihn erinnern. Auf den Schlachtfeldern erheben sich Monumente; an den Gedenktagen versammeln sich die paar noch überlebenden uralten Veteranen, aber das alles ist seltsam unlebendig und ohne alle Beziehung zu dem Amerika von heute. Es ist, als sei die ganze Tragödie und Katastrophe des Bürgerkriegs dem Bewußtsein des amerikanischen Volkes völlig entfallen.
Es ist möglich, daß hier eine psychische Reaktion vorliegt. Das Durchgemachte war so furchtbar, daß man nicht daran erinnert sein will. Besonders fiel mir das in den Südstaaten auf. Es ist ein völlig neuer Süden entstanden, der mit dem alten scheinbar nichts mehr zu tun hat. Aber auch die heutige Generation im Norden weiß nichts mehr vom Krieg, und damit sind auch die Taten der Deutschen vergessen. Als der Weltkrieg ausbrach, da war es, als hätte es nie eine Sezession und nie einen Unabhängigkeitskrieg gegeben, und kein Mensch dachte mehr daran, daß einmal 216 000 in Deutschland geborene und 534 000 von Deutschen abstammende Amerikaner für die Einheit Amerikas fochten, bluteten und fielen. Die Kriegserklärung an Deutschland und die Unterdrückung und Verfolgung alles Deutschen in Amerika waren ein bitterer Dank für alles, was deutsches Blut ein Menschenalter vorher für Amerika getan.