Erwin Rosen
Allen Gewalten zum Trotz
Erwin Rosen

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Zwischenspiel in England

Die Londoner Backsteinwüste. – Straßeneindrücke. – Die fünfundzwanzig Schilling-Pension. – In der weltberühmten Zeitungsstraße. – Das englische Imperium und die Zeitung. – Bei der Daily Mail. – Der Berliner Korrespondent. – Sergeant McCormack aus Amerika. – Bei den Jungens von Buffalo Bill. – Ich komme zur Galoppkanone. – Wie ich des Zirkus müde wurde. – Zurück nach Deutschland.

Die Neederland, der Verbindungsdampfer zwischen Vlissingen und Queenboro, näherte sich der englischen Küste. Es regnete. Aber ich konnte es nicht aushalten in der Kajüte unter den vielen Menschen. Auf und ab ging ich auf dem menschenleeren Deck, und es tat mir wohl, wenn mich die Regenschauer grob ins Gesicht schlugen oder brutal im Rücken faßten. Das kühlte. Es fehlte nur noch, daß mir da einer feindselig in den Weg trat, dem ich die Faust zwischen die Augen hätte schlagen können; das hätte noch mehr gekühlt. So ging es nun einmal zu auf dieser Welt; man schlug oder wurde geschlagen. Hätte ich nur zugeschlagen in Berlin, würde ich nur frech mich hingestellt haben und dreist gefordert, dann führe ich jetzt nicht in die Welt hinaus, auf Gedeih und Verderb. Der Regen peitschte. In meinem Schädel wirbelte es. Was zum Teufel hatte ich nun eigentlich falsch gemacht, wo steckte der Fehler, worin bestand der Vorwurf? Was! Falsches, Fehler, Vorwurf – das mir, der ich in diesem ganzen Jahr fast alle Stunden des Tages und der Nacht der Zeitung hingegeben hatte und noch im Schlafe von der Zeitung geträumt? Auf und ab lief ich –

Ich stellte mich ganz vorne hin aufs Vorderdeck und ließ mich noch mehr vom Regen schlagen. Das tat gut; Roheit brauchte ich.

»Ich schlage mich jetzt durch in England. Dann geh' ich wieder nach Amerika. Da weiß ich wenigstens, wie ich stehe. Da geht es hart und simpel auf Ja und Ja und Nein und Nein.«

Dort drüben fuhr weit weg ein Dampfer. Ich sah nur die schwarze Masse und die schweren Rauchwolken. Für mich fuhr der Dampfer nach Amerika. Ich hätte die Hände ausstrecken mögen:

»Nimm mich doch mit! Führe mich doch wieder in den alten schweren Kampf ums nackte Leben!«

Doch man mußte Geduld haben. Auch in London bekam man sicher nichts geschenkt; und auch in London konnte man dreinschlagen – mit der Faust – mitten zwischen die beiden Augen hinein ...


Wir kamen in Queenboro an. Der Eisenbahnzug fuhr los. Ich sah kaum aus dem Fenster hinaus. Was zum Kuckuck scherten mich satte Felder, strotzende Wiesen, wohlgepflegte Baumgruppen, stille Dörfer, weißschimmernde Landhäuser? Aber auf einmal richtete ich mich auf. Da wuchs es heraus zu beiden Seiten des Eisenbahnzuges wie ein ungeheures Gebilde von Hunderttausenden von Millionen von Backsteinen: braunen, roten, gelben, grauen. Das war anzusehen wie eine fürchterliche Wüste von Backstein, das Rot, das Gelb, das Braun, das Grau; wie zusammengetragen aus allen Ziegeleien der Welt. Es war ein Wohnhaufen ohne Sinn und Verstand: ein hingeschmissener Wirrwarr von entsetzlicher Bedeutungslosigkeit. Das war wirklich roh; da konnte nicht einmal New York mit. Sie war Labsal, diese Backsteinwüste, für einen, der sich nach Roheit sehnte und ehrlicher Häßlichkeit. Der Zug fuhr durch die Vorstädte Londons. Zu Hunderten sausten die Backsteinhäuser vorbei, kleinere, größere Häuser, alte Häuser, neuere Häuser; aber eins war häßlicher wie das andere. Sie waren alle zusammengedrängt wie Schafe in einem Pferch; sie standen Rücken an Rücken, Seite an Seite, Dach an Dach. Die Straßen, die vorbeihuschten, waren keine Erlösung für das Auge. Sogar die Straßen sahen backsteinern aus. Diese Dreckhäuser hätten eigentlich einstürzen müssen und die Straßen ausfüllen. Dann wäre es erst das richtige Bild gewesen – der wirklichen Backsteinwüste. In der Ferne ragten größere Backsteinklötze auf, in noch weiterer Ferne überragt von noch riesigeren Steinmassen. Es ging über eiserne Brücken. Schmutzige Häuserhinterseiten drängten sich dicht heran an das Geleise –


Holborn Station.

Ich drängte mich breitschulterig durch das Gewühl beim Aussteigen, als hätte ich gottweißwelche Eile. Auf meinen Koffer warf der Zollbeamte nur einen Blick: er war ihm nicht der Mühe wert. Thank you, sagte er. Was zum Teufel hatte der Mann mir zu danken? Am Gepäckschalter gab ich den Koffer ab und bekam dafür eine Messingmarke. Thank you, sagte der Mann am Schalter. Nun bedankte sich der schon wieder; es war idiotisch. Es fiel mir ein, daß Kipling in einer seiner Geschichten erzählte, die wahrhaft knechtischen Knechte gäbe es nur in England. Da brauchte man nur zu kommen mit einem dicken fetten Scheckbuch, und die Knechte strömten herbei. Sie nähmen einem als Haussklaven alle Sorgen ab und alle Mühen, wie in keinem anderen Lande der Welt, und arbeiteten still und lautlos, mit einer knechtischen Hingebung, wie kein anderes Land der Welt sie dem Inhaber des Scheckbuchs hätte bieten können. Ja, und in diesem England war der Lord verpflichtet, dem Straßenfeger einen Schilling zuzuwerfen. Der Straßenfeger zog daher die Mütze, wenn der Lord kam. Doch wenn der Lord zum Teufel gegangen war und den Schilling nicht mehr spenden konnte, dann drehte sich der Straßenfeger verachtungsvoll um und war ein freier englischer Bürger, der sich den Kuckuck scherte um verarmte Lords und solches Gelichter. Das fiel mir so ein und das freute mich.

Und dann war ich auf einmal draußen vor dem Bahnhof. Ich drehte mich aber gleich wieder herum. Bei Gott, die Berliner mochte zwar der Teufel holen, aber so geschmacklos mit ihren Reklamen waren sie denn doch noch nicht; auch die New Yorker hätten sich aus reinen Geschäftsgründen dafür bedankt, solch einen Reklamemisthaufen zu errichten. Denn auf diesem Misthaufen schlug der eine Gestank den anderen tot. »Oxo – Oxo – Oxo ...« »Ihre Leber ist nicht in Ordnung!« Gleich darunter: »Warum nehmen Sie nicht Carter's Leberpillen?« Plakat reihte sich an Plakat; eins hockte auf dem anderen; in Gelb und Weiß und Rot und Blau. »Kauft nur bei Myers auf dem Strand!« »Indische Zigarren sind besser und billiger als die teuren Holländer – man kauft sie am besten bei Robertson in Piccadilly!« – »Hast du die Tänze in der Alhambra gesehen? – Nein? Dann bist du zu bedauern!« »Der elektrische Ofen Hot and Clean macht deine Frau glücklich und veranlaßt dein Dienstmädchen zum Bleiben!« – Gegen die Einzelheiten war nichts einzuwenden. Aber all das Zeug war so idiotisch nebeneinander hingestellt, oder vielmehr hingenagelt, ohne alle Rücksicht auf Wirkung und Herausheben, daß ich trotz meines Hasses gegen Berlin an einen jungen Menschen denken mußte, der mir einmal, dort in Berlin, seine gescheiten Ideen über das moderne Plakat und die Ausnutzung von Flächen durch dieses Plakat entwickelt hatte. Der Mann hätte es hier zu etwas bringen können ...

Ich lief darauf los. Ich zündete mir eine Zigarette an. Na ja. die Straße da sah so ungefähr aus wie eine billige Ausgabe vom Broadway in New York. Sie dehnte sich endlos. Sie mußte Kilometer und Kilometer lang sein. An der Ecke, vor dem nächsten Querstraßenübergang, stand Holborn Street geschrieben auf dem Emailschild, und drüben auf der anderen Seite Oxford Street. Aber es war die gleiche Straße. Das Straßentempo war flott. Die Leute gingen schneller als in Berlin; beinahe so schnell wie in New York. Laden lag an Laden. An der Fensterscheibe da klopfte mit aufdringlichem Pochen ein elektrisches Hämmerchen, weil der Geschäftsmann, dem das Ladenfenster gehörte, brav und treu glaubte, das Geklopfe würde das Erstaunen der Großstadtnerven erregen und die Leute veranlassen, sich sein Ladenfenster anzusehen. Ein alter Trick; den hatte ich zum letztenmal in San Franzisko gesehen. Aber das Getümmel roch gut; nach Menschen, nach Asphalt, nach Pferdemist. Wagen fuhr hinter Wagen, Automobile schlängelten sich durch das Gewirr, Kutscher versuchten, einander zu überholen. Und da kam gravitätisch auf der Linie des Rinnsteins eine Prozession geschritten. Zehn alte Männer waren es. Wandelnde Holzgestelle. Jeder trug auf dem Bauch und auf dem Rücken ein Riesenplakat, aus dem grellrote Buchstaben brüllten: »Geh' in die Alhambra! Hast du gesehen, wie Annie Nordan tanzt? Das mußt du gesehen haben!!« Ich blieb stehen. Bei Gott, den Alten da waren alle Laster der Erde ins Gesicht gegraben. Sie hatten die Säcke unter den Augen, die gelben Flecke im weißen Bart, die fürchterlichen Kratzlinien um die Mundwinkel; sie trugen zerfranzte Hosen, und Kittel, die schlotternd um dürre Leiber hingen. Pfui Teufel – war das schön!

Es wimmelte von Menschen. Jetzt kam eine Straßenkreuzung. Ein unabsehbarer Strom von Fahrzeugen ergoß sich die eine Straße entlang, kam im Gegenstrom die andere Straße herauf. Es hätte eigentlich einen prachtvollen Kuddelmuddel geben müssen; mit schönstem Gefluche, unlösbar knäueligem Wirrwarr, und einer herrlichen Rauferei zwischen rasenden Fahrzeuglenkern. Aber da stand ganz genau in der Mitte des Kreuzungspunktes ein Mann in blauer Uniform mit einem helmartigen Gebilde auf dem Schädel; ein Hüne, von großer Seelenruhe. Seine Stiefel waren von den vorbeirollenden Wagenrädern keine fünf Zentimeter weit entfernt. Aber das bekümmerte ihn gar nicht. Er sah wie versteinert aus. Nur manchmal hob er den Arm hoch und wackelte ein ganz klein bißchen mit dem erhobenen Zeigefinger. Dann blieb wie durch Zauberschlag alles stehen, was Räder hatte. Die eine Straße erstarrte in Ruhe, während auf der anderen Straße der Strom noch schneller floß. Dann ließ der Zauberer den Arm sinken, und siehe da, die andere Straße erstarrte, und die erste strömte. Als Waffe hatte der Hüne einen kleinen Gummiknüppel; keinen Säbel, keine Pistole.

An der nächsten Ecke war eine Bar. Sie hatte zwei Eingänge. Einer war »öffentlich« und der andere »privat«. Durch die großen Schiebefenster, mit denen der Schankraum in sich abgeschlossen war, konnte man hinübersehen in die »öffentliche Bar«. Ich sah ein hageres Weib mit unordentlichem Haar stehen, das gierig eine kleine Flasche mit goldbraunem Inhalt an sich riß und umständlich mit hervorgesuchten Kupfermünzen bezahlte. Ich trank einen Whisky und Soda. Thank you, sir, sagte die Gans von Barmädchen.

Jawohl – was wollte ich denn eigentlich in England; in diesem London?

»Ich will verdammt sein,« gab ich mir zur Antwort, »wenn ich das selber weiß!«

Darauf trank ich einen zweiten Whiskysoda. Ich wollte doch etwas in London? Ich mußte mir doch irgend etwas gedacht haben dabei! Aber das hatte ich vergessen – Ja. natürlich, ich wollte doch wieder nach Amerika – und dazu hatte ich nur nicht genügend Geld – und London war erstmal Ersatz für New York, weil hier auch schönes rohes Englisch gesprochen wurde. Prost, London! Man wird irgendwelchen Mist für deine Zeitungen schreiben oder sonst 'was Schönes machen. Nicht wahr? Die Sache wird sich in ihrer ganzen Roheit sehr schnell und sehr folgerichtig entwickeln. Und dann fahren wir nach Amerika! Na, noch einen Whiskysoda!

»Thank you, sir!« sagte die Gans.

Und ich verließ die Bar durch den Privateingang und schlenderte weiter. An irgend einer Ecke der endlosen Straße schrie ein Schild: Lodging! Board! Ach ja! Man mußte ja auch schlafen und essen. Ich ging in das Haus.

Das Zimmer kostete fünfundzwanzig Schillinge in der Woche, mit voller Verpflegung. Es sah verräuchert aus, verstaubt, ungepflegt. Aber das war alles gleichgültig. Ich ordnete an, daß mein Koffer geholt werden solle, wusch mir die Hände, bürstete mein Haar, und dachte in Wurstigkeit daran, daß unter diesen Umständen mein Geld, rund gerechnet, etwa sechs Wochen langen würde. Für zwei weitere Wochen waren Koffer und Inhalt gut. Dann mußte sich etwas materialisieren. Was das nun sein würde, darauf war ich direkt neugierig ... Ich ging hinunter in den diningroom. An der Wand hingen gräßliche Öldrucke in entsetzlichen Goldrahmen. Das Tischtuch hatte nicht nur Löcher sondern Flecke. Die zwanzig und etlichen Stühle gehörten mindestens sieben Stilarten an. Es gab Tee, kaltes Fleisch, geröstetes Weißbrot, und Eier. Ich hieb gewaltig ein; das gehörte zu diesem Leben. Um die Anwesenden mich zu kümmern, hatte ich keine Lust. Es waren lauter Frauen, mit zwei Ausnahmen, einem alten Herrn und einem jungen Menschen, der nach kleinem Geschäftsmann aussah. Die Dame, die neben mir saß. sie hatte peroxydblondes Haar, beugte sich zu mir herüber und erklärte mir flüsternd, daß hier viel Deutsch gesprochen würde. Sie spräche auch deutsch. Ob ich zum ersten Male in London sei? Ja? Dann solle ich mich vor der Dame in Schwarz, der da drüben mit der dünnen goldenen Kette um den Hals, doch hüten. Die sei immer in abscheulicher Weise hinter Männern her. Sie würde so etwas nie tun. Ob ich auch im zweiten Stock wohnte? Ja? Ach, wie nett! Sie wohne ebenfalls im zweiten Stock. Nach dem Essen fragte mich die Dame des Hauses, ob es mir gut geschmeckt hätte. Ja? Das freue sie sehr! Aber mit den Damen müßte ich mich in Acht nehmen, meinte sie scherzhaft. Ich sei doch so jung und so gut aussehend. Leider aber wüßten die meisten jungen Leute gute Frauen nicht zu schätzen, sondern fielen auf wischelwaschige junge Dinger herein. Ach ja! Gleich darauf erzählte mir die Dame in Schwarz – das war die mit der dünnen goldenen Kette – sie sei auch eine Deutsche und freue sich furchtbar, endlich einmal wieder einen Landsmann zu sehen. Einem Landsmann müsse man doch einen guten Rat geben. Ich solle mich doch um Gotteswillen vor der Blonden hüten –

»Wissen Sie, die neben Ihnen gesessen ist! Das ist ein ganz skrupelloses Geschöpf! Wenn ich da erzählen wollte – aber so etwas erzähle ich nicht ... Wohnen Sie auch im dritten Stock? Ich wohne im dritten!«

Da ging ich 'raus. Und ich murrte vor mich hin:

»Jetzt will ich aber verdammt sein! Das ist eine nette Gegend! Das sind liebe Menschen! So ist die Welt! Das ist prachtvoll!«

Und ich ging außerordentlich zufrieden ins Bett.


Am nächsten Morgen lachte ich über die knalligen Überschriften der Zeitung, die mir auf den Frühstückstisch hingelegt wurde, der Daily Mail – so 'ne gerissene Bande! Bei Gott, die waren direkt unanständig schlau! – Ich mußte mir doch die Fleetstreet ansehen, die weltberühmte Londoner Zeitungsstraße. Vielleicht konnte man da auch gleich ein Geschäft machen ... Ich fragte mich zurecht. Von der Oxfordstreet aus bog ich links ab in Chancery Lane hinein und lief lange bis zu der großen Straßenkreuzung, von der rechts der Strand abzweigte und links die Fleetstreet. Also, das war die weltberühmte Zeitungsstraße.

Hastendes Menschengewirre und endloses Rädergerolle schwirrte in dem grauen Raum zwischen den schwarzen Häusermauern. Uralt sah die Straße aus und doch wieder neu. Alte, schwarze, winkelige Gebilde von sonderbaren Formen aus einer vergessenen Zeit standen da, und protzige Paläste daneben mit nagelneuen Marmorfronten. Dann kamen braune zusammengedrückte Häuser, kaum ein paar Meter breit, hinter deren staubschmutzigen Fenstern man vergilbte Zeitungsstöße sah und das Stahlglänzen von Maschinen. Da überkam mich die Ehrfurcht des Zeitungsmannes. Geschicke von Völkern waren entschieden worden in diesen alten grauen Häusern. In dieser wirbeligen ruhelosen Straße hasteten die Männer dahin, die auf tausend krummen und geraden Wegen ihrem Land und der ganzen Welt ihren Willen aufzwangen. Auf den Pflasterstein da, der ausgehöhlt und abgetreten war von Millionen von schreitenden Füßen, war der Fuß eines Kipling getreten. Hinter diesen Fenstern hatten die Männer gesessen, die Indiens Schicksal entschieden, Ägypten unterjochten, den Sudan erschlossen. Aus diesen alten braunen Türen waren die Männer geschritten, die hinausgingen in alle Welt für ihre Zeitung; nach Afrika, nach Australien, nach China, nach Indien, nach den heimlichsten Winkeln der Erde; schlicht, mit wenig Geld, stark, fanatisch, getragen und geschoben von dem einen Gedanken, dem Ruhm ihrer Zeitung zu dienen. Und die Zeitung diente der Macht Englands.

Denn England herrschte durch die Zeitung. Alle diese Zeitungen erblickten ihre wirkliche Aufgabe in der Stärkung des Imperiumgedankens. Sie waren letzten Endes nicht nur nationaler Nachrichtendienst sondern nationale Nachrichtenfabrik für die Weltsuggestion. Englisch waren sie und nichts als englisch. Amerika herrschte durch seine Börsenstraße, die Wall Street: England herrschte durch seine Zeitungsstraße, die Fleet Street.

Warum zum Teufel hatten wir Deutsche nicht solche Zeitungen und solche Zeitungsmänner?

Über den Dächern glitzerten in der Frühlingssonne Hunderte und Aberhunderte von Drähten. Das kreuzte quer über die Straße, kletterte empor an schwindeligen Gerüsten, klammerte sich an kleine weißglänzende Kügelchen, streckte sich starr und stolz in massigem Gefäde über die Dächer. Es waren nur Kupferfädchen, aber in ihnen huschten unsichtbare Wellen, und in den Wellen pulsierte eine nimmerruhende Kraft, die hastig die Neuigkeiten herbeijagte aus allen Winkeln und Ecken der Welt. Aus gitterigem Maschenwerk standen schwarz verrostete Buchstaben hervor – Times! Über einem Marmorpalast glitzerten meterhoch goldene Schriftzeichen – Daily Telegraph! – Jedes Dach hatte sein Schild, das von irgend einer Zeitung erzählte; jedes Haus seine wichtige Legende in messingnen oder eisernen Schriftzeichen. Da schien es mir, als sei diese lärmende Straße mit ihren brüllenden Zeitungsnamen eine der ganz großen Pulsadern der Welt. Und mein Herz ging aus zu den alten Häusern.


Aber der Mensch muß praktisch sein, wenn er so herunter ist, daß er überall nur die Roheit zu sehen vermag. Zeit war Geld! Unsereiner ging in der Fleetstreet doch nicht zum Vergnügen spazieren! Da wollen wir doch 'mal die Daily Mail probieren:

Donnerwetter, war die Daily Mail vornehm; diese Daily Mail mit den gemeinen Überschriften! Es strotzte da nur so von Marmorpfeilern und es protzte überall mit bronzenen Gittern. Ich packte die Sache amerikanisch an:

»Bringen Sie diese Karte dem managing editor,« sagte ich zu einem boy. »Aber schnell!«

»Yes, sir – thank you, sir.«

Es war die Berliner Karte mit meinem Namen und dem Namen meiner verflossenen Berliner Zeitung. Auf die Karte hatte ich geschrieben: »Mit der Bitte um eine kurze Besprechung in einer persönlichen Angelegenheit.« Der boy kam nach einigen Minuten wieder.

»Yes, sir – diese Treppe, sir – bitte mir zu folgen, sir.«

Aus dem Ledersessel vor dem ungeheuren Schreibtisch stand ein Mann auf. Er hatte ein schmales blasses rassiges Gesicht.

»Bitte?« sagte er.

Ich setzte kurz auseinander, daß ich reiche Erfahrung bei Hearst-Zeitungen und anderen in Amerika erworben hätte, deutscher Journalist sei, und einen Weg zur englischen Presse suche.

»Weshalb kommen Sie gerade nach England?«

»Ich will London kennen lernen.«

»Sehr interessant. Referenzen?«

»Sind drahtlich zu beschaffen.«

»Gut. Unser Interesse ist begrenzt. Schicken Sie uns Manuskript. Dann werden wir sehen. Wahrscheinlich werden uns Ihre Ansichten über deutsche Verhältnisse interessieren. Soldatenmißhandlungen? Eh? Vielleicht ist das interessant.«

»Soldatenmißhandlungen?« sagte ich. »Das ist Unsinn! Sie sollten doch eigentlich wissen –«

»Wir wissen viel! Es hat mich aber wirklich gefreut, Sie kennen zu lernen. Im übrigen brauche ich Sie kaum darauf aufmerksam zu machen, daß eine englische Zeitung von Engländern geschrieben wird und nicht von Deutschen oder Amerikanern oder Deutsch- Amerikanern. Es hat mich trotzdem sehr gefreut, Sie kennen zu lernen!«

»Guten Morgen!« sagte ich.

»Guten Morgen!« sagte er.

Ich stand auf der Straße. Wie widerwärtig sah doch diese Fleet Street auf einmal aus; dieses Gemengsel von alten Häusern, aus denen üble Gerüche kamen! Ja! Pfui Teufel! Übrigens hatte der kaltschnäuzige Engländer da droben ganz recht: Was hätte er auch wohl sagen sollen, als da auf einmal ein wildfremder Mensch zu ihm hereingeschneit kam, ein Deutscher auch noch, und die verblüffende Erklärung abgab, er suche einen Weg zur englischen Presse? Ich wußte noch nicht, daß dieser glückselige, wundervolle, entsetzliche, jammervolle Beruf des Zeitungsmannes nicht der geheimnisvolle Freimaurerbund war, zu dem Arbeit und Begeisterung die Pforten erschlossen, wie ich mir das wieder erträumte, sondern ein Engländer ein Engländer bleiben mußte und ein Deutscher ein Deutscher –

Diese Grenzen konnten sich nur in Amerika verwischen. Ich suchte Amerika in London. Ich war ein Narr –

»Das ist alles Unsinn!« murmelte ich vor mich hin. »So geht es ganz bestimmt nicht! Ach was – Hol's der Teufel!«


Auf einmal fiel mir ein:

Die Berliner Zeitung hatte doch einen Mann in London! Mit dem hatte ich doch so manchen Brief gewechselt! Zu dem ging ich hin: Wenn einem selber nichts einfällt, frägt man am besten einen anderen! – Das Gesicht des Londoner Korrespondenten bestand aus lauter Fragezeichen, als er mir Platz anbot. Aber in fünf Minuten hatte ich schon viel erzählt. Da sprang wirklich der Funke über von Zeitungsmann zu Zeitungsmann. Kaum eine halbe Stunde war vergangen, als ich schon neben ihm saß vor der zweiten Schreibmaschine und für ihn einen Bericht herunterhämmerte an die Berliner Zeitung. Er hämmerte auf einer Oliver; ich auf einer Remington. Der Eilbrief nach Berlin mußte fort. Sonst hatte er nachher keine Zeit zum Plaudern –

Ich erzählte schlankweg.

Er lachte, bis ihm die Tränen in den Augen standen.


In diesem lieben Haus verlebte ich glückliche Stunden. Die quecksilberige Dame des Hauses war fast noch mehr Journalist als ihr Mann. Eine reizende Tochter, eine Malerin von großer Begabung, sprudelte über von Lachen und Übermut. Aus New York war ein Schwiegersohn auf Besuch da; ein rassiger, blitzschneller, unaufhörlich Pläne schmiedender New Yorker. Mir kam er vor, wie ein Sendbote aus dem Lande Gottes. Und alle diese lieben Menschen steckten die Köpfe zusammen und berieten, was mit mir Unglückswurm anzufangen sei. Mit großer Schläue und unter sorgfältiger Berechnung aller Einzelheiten wurde ein Abend veranstaltet, an dem ich einen einflußreichen Londoner Journalisten kennen lernen sollte. Es war ein Mr. Gardiner von der Westminster Gazette.

Als wir endlich in einer Ecke saßen, der Korrespondent, Mr. Gardiner, und ich, und der Korrespondent andächtig holländische Liköre gemischt hatte, legte er dem Engländer kurz und klar die Frage vor:

»Was ist da zu machen? Daß er etwas kann, weiß ich.«

Dann zu mir:

»So, nun reden Sie!«

Und ich redete.

Der Engländer biß auf die Zigarre.

»Great Scott!« sagte er und schlürfte andächtig den gelben Wundertrank »Ich fürchte, ich kann Ihnen nichts Gescheites antworten. Wir sind im alten England und nicht in Amerika. Mein Gott, Sie wissen nicht, daß unser unfähigster Reporter mindestens einen Onkel im Parlament haben mußte, ehe er überhaupt nur die leiseste Aussicht hatte, bei einer Zeitung angestellt zu werden. Wir sind doch Engländer. Außerdem stehe ich selbst auf dem Standpunkt, daß für eine englische Zeitung nur englische Federn schreiben sollten. Aber selbst wenn ich mein Bestes tun würde, könnte ich Ihnen kaum helfen. Für Sie gibt es nur einen Rat: Mit dem nächsten Schiff nach Amerika. So schnell als möglich. Das ist das richtige Land auf der Erdkugel für Sie. Davon verstehen Sie etwas. Man hat da auch – nun, man hat dort auch nicht diesen – sagen wir, eng umgrenzten Nationalbegriff. Habe ich recht?«

»Wohl, wohl –« sagte langsam der alte Herr.

Und er mischte gedankenvoll Liköre.

Aber ich wurde von Mr. Gardiner eingeladen in eine Journalistenkneipe in der Fleet Street. Dort lernte ich nette Engländer kennen. Die Westminster Gazette nahm sogar eine Plauderei von mir über Berliner Straßenleben ... Dieser junge Gardiner von damals ist jetzt ein berühmter Mann und Eigentümer des Manchester Guardian. Auf seine Stimme horcht Europa.


Das Honorar der Westminster Gazette half erheblich. Es war Protektionshonorar: es bestand aus fünf goldenen sovereigns.

»Sie müssen unbedingt nach Amerika!« sagte der Korrespondent.

»Ich bleibe noch vier volle Monate hier,« sagte der New Yorker Schwiegersohn. »Sonst ließe es sich vielleicht arrangieren, daß –«

Das hatte einen häßlichen Beiklang für mich. Denn in diesem lieben Haus war Geld wichtig und Geld rar. Das war offenbar. Und am siebenten oder achten Abend hatte ich einmal das Gefühl, als würden meine Sorgen diesen lieben Menschen lästig, die genug der eigenen Sorgen hatten. Und da ging ich nicht mehr hin.


Von morgens früh bis abends spät lief ich durch die Straßen Londons. Ich wartete auf etwas. Auf was, das wußte ich selbst nicht. Und ich forschte auch nicht etwa verzweifelt – zum Teufel, die Roheit kam schon ganz von selber! Noch steckten Goldstücke in dem alten Geldtäschchen –


Eines Tages schlenderte ich den Strand entlang und war stehen geblieben, um mir eine Zigarette anzuzünden. Ein Herr sah mir ins Gesicht und blieb auch stehen. Amerikaner, der Kleidung nach. Er hatte große braune Augen und ein wettergebräuntes Gesicht. Er kam mir fabelhaft bekannt vor. Er trat auf mich zu:

»Bist du's oder bist du's nicht?«

»Ich bin's!« sagte ich lachend. Die Erinnerung war da. »Bist du's auch?«

»Ich bin's auch! Jetzt will ich aber dreimal verdammt sein!«

Der Herr auf dem Strand war weiland Sergeant McCormack, von B-Schwadron der sechsten U. S. Cavalry; von einem fieberigen Sumpfloch irgendwo vor Santiago de Cuba, schlafend unter einer Decke mit mir; von Fort Myer bei Washington, von so manchem vergnügten Pokerspiel in der alten Fortkantine.

»Mann, aber die Welt ist klein!« sagte McCormack mit dem lustigen Jungenslachen, das die ganze Vergangenheit blitzschnell heraufbeschwor: »Herrgott, – wo ist in dieser feinen Stadt die allernächste feine Kneipe, damit wir einen feinen Schluck trinken können – Donnerwetter – jetzt will ich aber wirklich verdammt sein!«

Die Kneipe wurde bald gefunden.

»Was machst du hier?« fragte er.

»Nichts!« antwortete ich verdrossen.

»So? Komisch! Nich'?«

»Was machst du hier?«

»Was ich mache? Halt' dich fest! Also, das war sehr einfach: Dienstzeit war abgelaufen – Hals voll gehabt vom Soldatenspielen – Geld verjuxt – Chicago – ziemlich dreckig daran – lernte Mann kennen von der Wild West Show – Buffalo Bill – kennst du ja – die brauchte gute Reiter – Sache wurde abgemacht – ich holte noch einige von den alten Jungens heran, von denen ich wußte, wo sie sich herumtrieben – und war der Führer der Rauhen Reiter von Buffalo Bill. Gute Bezahlung – gutes Essen – und wenn wir wieder im Lande Gottes sind nach der europäischen Tournee, dann bringe ich einen Berg erspartes Geld mit. Jetzt sind wir in London. In der Olympia. Und was machst du?«

»M – m – m –« machte ich.

»Mensch – spuck's heraus!«

Und ich spuckte es heraus.

»Vierunddreißig Schillinge habe ich noch, so ungefähr!« schloß ich.

»Es ist komisch, wie unsereiner durch die Welt kugelt,« sagte McCormack, »und doch immer wieder auf die Beine zu stehen kommt. Dein Fall aber ist kinderleicht: für den Augenblick wenigstens. Wo wohnst du?«

»Oxford Street – boardinghouse – in der Nähe von Tottenham Court Road.«

»Schön. Da gehen wir hin. Wir holen deinen Koffer. Wir bezahlen die betreffende alte Schachtel. Und dann kommst du mit mir nach der Olympia. Wir stellen noch ein Bett in mein Zimmer. Und die anderen Jungens freuen sich diebisch darüber; darauf kannst du dich hängen lassen. Du bist doch 'n alter Kubakämpfer – das wär' ja noch schöner ...«

Wir gingen hin.

Als mir die Treppe hinunterstiegen, kam von unten die Peroxydblonde herauf. Sie schoß mir einen giftigen Blick zu.

»Dummer Deutscher!« besagte dieser Blick. »Trottel!«


Eine Stunde später war ich in einer neuen Welt, die mit London so wenig zu tun hatte wie der australische Busch mit den Pfirsichgärten Kaliforniens. Am Ende der ewig langen Kensington Road hob sich ein mächtiges graues Zirkusgebäude heraus. Wir traten durch einen breiten Torweg, an einem nickenden Türhüter vorbei. Ein Siouxindianer kam mit großen Sprüngen die Treppe hinunter auf uns zu.

» Howdy, Blackeye!« sagte McCormack. »Wie geht's?«

» Washti – washti,« grinste der Indianer.

Das hieß gut – richtig – alles in Ordnung. Daß ich noch einmal im Leben das Sioux-Wort hören würde, hätte ich auch nicht gedacht ...

Das Riesengebäude barg Zimmerchen und Gänge und Treppen wie ein Bienenstock Zellen. Da begegnete einem ein Kosack mit der Lammfellmütze, dort ein arabischer Gaukler, hier ein Kubaner, dort ein Cowboy im roten Flanellhemd und silberbandgeschmücktem Sombrero. Wir landeten in einem netten Zimmerchen, dessen Fenster auf die Straße hinaus gingen. An einem großen Tisch saßen Männer in blauen amerikanischen Soldatenhosen und dunkelblauen Flanellhemden. In den Ecken standen drei Betten. Und, bei Gott, auf diesen Betten lagen die alten, regulären, graubraunen Wolldecken der Armee Onkel Sams –

»Hört mal zu, Jungens!« sagte McCormack. »Dies ist Sergeant Carlé, U. S. Signal Corps. Kuba-Mann. Freund von mir. Er bleibt da. Ihr haltet den Mund. Ich weiß noch nicht genau, wie ich die Geschichte deichseln werde, aber sie wird gedeichselt, und ihr müßt mithelfen. Sabe?«

Und im nächsten Augenblick saß ich am Tisch, ein Whisky Soda wurde mir hingeschoben, und Zigaretten angeboten, und eine Pokerkarte gegeben. Nach einer Viertelstunde waren die vierunddreißig Schillinge weg – halloh – halloh –

»Was bedeutet in dieser großen Welt ein bißchen kleines Geld?« meinte McCormack tiefsinnig. »Mann, wir werden schon sorgen. Aber der Mensch muß kleines Geld haben. Mann – du hast ja Geld! Wozu in aller Welt gebrauchst du im blanken Frühjahr einen seidengefütterten Wintermantel? Wir machen eine Versteigerung. Das macht den Jungens Spaß!«

Seine Stimme gellte. Er riß die Türe auf. » Oyez – oyez – eine Versteigerung! Ein kostbarer Wintermantel aus graugrünem Friestuch – ganz mit Seide gefüttert – gentlemen, die Chance Ihres Lebens! Kommen Sie herein – kommen Sie frei herein – der Eintritt kostet nichts – und wer sich nicht wie ein richtiger gentleman benimmt, wird prompt hinausgeschmissen ...«

Im Handumdrehen war das kleine Zimmer knallvoll.

Und jetzt noch in der Erinnerung kommen mir Tränen des Lachens. Am diesen Mantel tobte eine Schlacht. Es wurde wahnsinnig geboten hin und her. Der Sieger war ein baumlanger, scheußlicher Indianer. Der zog mit der Schöpfung eines Berliner Schneiders glückselig ab. Der Berliner Schneider hatte sein Geld noch nicht bekommen. Ich aber hatte sechs blanke Pfund in der Tasche: »Kleingeld« – so ist das Leben! Worauf die Jungens lärmten und tobten und sich schleunigst wieder zum Pokerspiel hinsetzten. Bei diesem Pokerspiel knöpfte ich ihnen die vorher verlorenen vierunddreißig Schillinge wieder ab und noch einige Schillinge dazu –

» You're allright!« sagte vergnügt McCormack.

Und Logan sagte – das war einer von den Boys, rechter Galoppreiter beim »Todesrasen« – »well, sergeant – Sie bleiben hoffentlich immer bei uns und spielen noch manches liebe Spiel Poker mit den alten Jungens von der sechsten Cavalry –«

Ich war wieder einer von den Jungens.

Da fuhr mir ein großer Schwamm über die Lebenstafel. Wieder einmal! Lieber guter Zufall, so wünschte es in mir, laß mich doch wirklich einer von den Jungens sein und schenk' mir das Vergessen! Löse mich los von Vergangenheit und Zukunft! Verhülle mir Ziele. Zwecke, Notwendigkeiten. Laß mich nur leben – mit den Jungens ... mit meinen alten Jungens aus Amerika!

»Komm' mit!« sagte McCormack.

Es ging über Gänge und Treppen hinunter und durch einen langen Gang zu einer großen Türe. An der standen zwei Männer. McCormack nickte ihnen zu und deutete auf mich.

»Freund von mir!« sagte er.

»In Ordnung!« nickte der eine Mann.

Und dann waren wir im Speisesaal der Show. Der Raum war ein großer Saal. An ewig langen Tischen saßen die Wild West Männer; Hunderte, getrennt nach Nationen. An einem Tisch saßen Sioux, Cheyennes, Blackfeet, Apachen; in farbigen Decken, befranzten leggins, mit scharf geschnittenen, kupferroten Gesichtern. Am anderen Tisch Cowboys. Rote, blaue, rohseidene Hemden; bunte Halstücher. Dort, abgesondert, Kosaken; in Schafpelzen, als ob sie fröre. Hier englische Ulanen – dort mexikanische Vaqueros – im Hintergrund in einer abgesonderten Ecke Neger – neben ihnen Araber in weißen Burnussen. Kellner mit aufgekrempelten Hemdsärmeln rasten umher. Auf den Tischen türmten sich Berge von weißem Brot, in Scheiben geschnitten; und alle paar Meter stand ein Riesenteller da, hoch gehäuft mit goldgelber Butter. Ein Kellner raste vorbei, mit affenartiger Geschwindigkeit eine Pyramide von Dutzenden von Tellern und Platten balancierend, und ließ mit kräftigem Schwung die Fleischplatten über den Tisch gleiten. Beefsteaks gab es, und Kartoffeln, und Riesenschüsseln mit gekochten Eiern, und Käse, und die richtigen amerikanischen pies; die Butterteigkuchen mit Fruchtfüllung.

Man meint oft, das Essen sei belanglos im Leben. Das ist nicht wahr. Ich hatte nicht gehungert: schon lange nicht mehr. Aber diese Essensstunde steht in meiner Lebenserinnerung so scharf umrissen und so wichtig da, als sei sie ein großes Erlebnis.

Eine Zigarette kam dann – und nun ein Gehaste, ein Gerenne zu den Ankleideräumen. Die Vorstellung begann. Ich blieb an der Seite von McCormack. Hinter einem ungeheuren braunen Vorhang drängten sich Hunderte von Menschen und Hunderte von Pferden. Dann und wann tönte in das unterdrückte Gemurmel der vielen Stimmen ein scharfer Befehlslaut –

»Sioux – fertigmachen – aufpassen jetzt – Gäule zusammengenommen – Rauf den Vorhang – los!«

»Johnny Baker!« flüsterte McCormack. »Der Manager!«

» Rough Riders!« befahl die Stimme. »Fertig machen!«

McCormack sprang auf einen prachtvollen Rapphengst – und da war auch Logan – und die Pferdebeine trippelten nervös – und Pferdekörper spannten Muskeln – wurden kleiner, geduckt wie zum Sprung –

»Los!«

Mit gellendem Schrei sauste McCormack als erster in das grelle Licht da draußen. Hinter ihm eine dahinjagende Mauer von Pferdeleibern. Mir klopfte das Herz.


Am vierten oder fünften Tag kam abends McCormack in das Zimmerchen und brachte Johnny Baker mit.

»Das ist der sergeant!« sagte er.

» Glad to meet you. Der eine Kanonier der Galoppkanone ist verletzt worden. Er hat sich ungeschickt angestellt. Wollen Sie uns aushelfen?«

»Natürlich!« sagte ich.

»Gut! Das meinte McCormack auch. Es gehört Schneid dazu – aber die sollen Sie ja haben. Wir wollen gleich hinuntergehen und die Sache ausprobieren.«

Wir gingen hinunter.

»Jenkins – die Batterie 'raus – los – schnell! – Also, der Witz ist: Die Lafette hat sehr hohe Räder, wie Sie sehen. Wir fahren hinaus und jagen im schärfsten Galopp die Längsseite entlang. In der Kurve biegen wir so scharf um, dah das Geschütz kippt, und reißen gleichzeitig die Pferde zurück. Das gibt einen hübschen Knäuel. Sieht sehr gefährlich aus. Ist aber gar nicht gefährlich. Sie müssen nur den Kopf oben behalten. Sie sitzen nämlich als Kanonier auf dem Lafettensitz. Wenn das Ding kippt, dann halten Sie sich ruhig an dem Eisengriff links und rechts vom Sitz fest. Sie werden durch den Sturz einfach umgedreht, und kommen zwischen die Räder zu liegen. Es ist ganz einfach. Wenn Sie sich festhalten, kann gar nichts passieren –«

Das Geschütz kam herangefahren.

Ich setzte mich auf den einen Lafettensitz, und Johnny Baker auf den anderen; denn er riskierte mit Vorliebe selber den Hals, wenn es galt, einem anderen etwas zu zeigen. Und los ging es in einem Höllentempo. Ich kümmerte mich den Kuckuck um irgend etwas, sondern dachte nur daran, daß der Witz das Festhalten war. Staub wirbelte auf. Ein Gepoltere, ein gewaltiger Ruck – und das Geschütz schlug um. Ich lag im Sand, sprang auf und griff in die Speichen, um das Ding wieder aufzurichten –

» And that's allright,« sagte Johnny Baker. »Fünfzig Schillinge die Woche. Alles frei. McCormack, Sie sorgen bitte dafür, daß der sergeant die Artilleristenuniform bekommt ...«

So war ich Zirkuskanonier geworden. Bei Buffalo Bill. Und ich riskierte mit großem Vergnügen täglich zweimal meinen Hals.


Es dauerte vier Wochen oder fünf, bis der Rückschlag kam. Ein verflucht inhaltsloses Leben war es doch! Das grelle Licht der Scheinwerfer wurde bald unerträglich langweilig. Sousa's lärmender El Capitan Marsch, unter dessen Klängen die aufgeregten sechs Schimmel des Geschützes in die Arena jagten, tat den Ohren weh. Drei Minuten im weißen Licht – ein Umhergeschleudertwerden – ein elastisches Aufspringen – und der graue Alltag war wieder da. Dann kam nimmerendendes Pokergespiele und dumpf brütendes auf dem Bett Hocken mit der ewigen Zigarette zwischen den Zähnen.

Die Show war von London nach Manchester gezogen. Auf einem riesigen grünen Rasenplatz erhoben sich die ungeheuren Zelte. Draußen vor den Eingangspfosten und den Holzmauern mit den kleinen Kassenfenstern standen immer wartend die widerlichen Weiber, die mit frechen Blicken nach einem cowboy spähten oder lieber noch nach einem Indianer oder gar einem Neger.

»Eines Abends, als ich mit Logan aus dem Eingangstor schritt, drängte sich ein blutjunges Ding heran.

»Willst du einen trinken?« fragte sie Logan.

»Nein!« sagte er.

Da zuckte das Geschöpf die Achseln und brach mein schrilles Gelächter aus.

»Oh, geh zum Teufel!« sagte Logan gleichgültig.

Ich sah dem Geschöpf nach –

»Entschuldige, Logan,« sagte ich auf einmal, »ich fühle mich nicht wohl. Ich gehe wieder ins Zelt und lege mich hin.«

»Krank?« fragte Logan.

»Ich weiß es nicht. Schlapp bin ich –«

»Nimm Chinin. Das ist immer das Richtige. Dann bist du morgen wieder allright. WelI, so long!«

Aber ich brauchte kein Chinin.

Ich warf mich auf mein Feldbett. Es war mir zumute, als wäre irgend etwas zerrissen, als sei irgend etwas aufgeplatzt. Das war widerlich gewesen eben. Gehörte ich wirklich in diesen tollen Zirkus? War ich dazu da, ein paar Minuten lang jeden Abend auf einer wahnsinnigen Lafette herumzusausen und mein Brot nur damit zu verdienen, daß ich geistesgegenwärtig genug war, um geschickt und richtig hinzufallen? Dieser Weg fühlte schnurgerade in die Hölle. Auf solchem Weg schritt man nur Tage lang oder höchstens Wochen. Jetzt mußte es aus sein damit. – Ich sah das kleine Stübchen im alten Ulm; ich sah mich selbst am Tisch sitzen und meine Geschichten schreiben: meine lieben Geschichten ...

Geschichten mußte ich wieder schreiben!

Nach Deutschland mußte ich, wo ich hingehörte; in mein Land. Nur fort, irgendwo hin in eine deutsche Stadt und dort hingesetzt und gearbeitet, bis das Geld langte zur Fahrt ins alte Ulm. Die nächste deutsche Stadt war Hamburg. Wie kam man nach Hamburg? Am besten von Hull aus. Auf einem billigen Dampfer. HuII war nicht weit.

»Ich gehe weg!« sagte ich eine Stunde später zu McCormack.

»Wohin?«

»Nach Deutschland. Es hat mich gepackt.«

Er nickte weise. »Ich kenne das. Weißt du es genau?«

»Ja.«

»Dann mußt du weg!«

»Willst du alles für mich in Ordnung bringen? Damit ich morgen schon fort kann?«

»Selbstverständlich. Ist gar nichts dabei. Johnny Baker kennt das Leben.«

»Na, auf Wiedersehen, Jack. Und vielen Dank –«

»Dank – Blödsinn. Auf Wiedersehen, irgendwo. Die Welt ist klein.«


Am nächsten Morgen fuhr ich nach Hull.

Am Abend schon schwamm der englische Hamburgdampfer, zu dessen Passagieren zweiter Kajüte ich zählte, auf dem Kanal.


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