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Ein Jahr ums andere verstrich. – Da war's in einer stürmischen Mondnacht.
Jakob Steinreuter, der Reuthofer, ging von Sandeben her gegen sein Altenmoos. Er ging den steilen Fußsteig über die Waldhöhen, den die Altenmooser vor Zeiten gewandelt, als der Fahrweg unten an der Sandach noch nicht angelegt war. So wie dieser Fahrweg damals nicht gewesen, so ist er nun wieder nicht. Die wilden Wässer haben ihn zerstört, und über lange Strecken, wo früher die Räder der Kohlen- und Haferwägen gegangen, rinnt jetzt die Sandach. Lange hatten sich die wenigen Ansässigen, die in Altenmoos zurückgeblieben waren, tapfer gewehrt gegen das Wasser und den Fahrweg mit Schutzbauten verteidigt. Als das nicht mehr vorhielt, mußten sie mit ihrem Wege an die Lehnen hinauf, über Runsen neue Brücken legen und Geländer schlagen. Doch, wie von unten das Wasser drohte und wühlte, so warf von oben der Berg Lawinen herab und vernichtete den Weg immer und immer wieder.
Heute war der Jakob draußen im Freisingtal gewesen, bei dem Verwalter der Kampelherrischen Besitzungen. Da der größte Teil von Altenmoos nunmehr dem Kampelherrn gehörte, so hatte der Reuthofer gebeten um eine Beisteuer von Holzstämmen und Arbeitskraft zur Wiederherstellung des Fahrwegs. Da war er arg angekommen. Wieso käme die Herrschaft dazu, diesen Weg herzustellen? Sie brauche keinen Weg. Die Altenmooser Bauern sollten sich ihren Weg selber halten.
Aber, hatte der Jakob bescheiden eingewendet, einen Gemeindeweg in gutem Zustande zu erhalten, das könnten die wenigen Bauern nicht, dazu sei die ganze Gemeinde verpflichtet. Weil der Herr die meisten Altenmooser Bauernhöfe angekauft habe und demnach vielfaches Gemeindemitglied geworden wäre, so sei er damit in die Pflichten der Gemeinde getreten, die auf jedem seiner angekauften Höfe lasteten.
Der Verwalter antwortete: Ein Gemeindemitglied sei nur darum verpflichtet, Wege und Stege, Schule und Kirche imstande halten zu helfen, weil es aus den genannten Dingen Vorteil zöge. Nun brauche aber der Kampelherr keinen Weg an der Sandach, und wenn er einen solchen in noch ferner Zeit der Waldreife einmal brauche, so würde er ihn auch bauen, ohne fremde Beihilfe zu beanspruchen. Soviel den Altenmoosern zur Darnachachtung.
Mit diesem Bescheide kehrte der Jakob heim. Zur Zeit der Waldreife! Wenn die Wildnis großgewuchert sein wird! Die Altenmooser! Wie viele waren ihrer denn noch? In diesem Sommer fährt sich's das zehntemal, seit der Guldeisner seinen großen Besitz verkauft und so viele mitgerissen hatte. Von den mehreren zwanzig Bauern, die dazumal noch das Altenmoos belebt und bewirtschaftet hatten, waren ihrer, abgesehen von ein paar Kleinhäuslern, nur drei geblieben: Der Hüttenmauser, der Harschhanns, der auch schon ins Rutschen kam, und der Reuthofer. Im Steppenhof war noch eine Stube bewohnt, wo man zu Zeiten Branntwein haben konnte. In der Lunselkeusche, sowie im Hause auf dem Nock kümmerten arme Familien, deren Männer im Solde der Herrschaft standen, deren Weiber und Kinder in der Gegend umherbettelten, bei Tag im Walde Beeren sammelten, bei der Nacht auf den Äckern der Bauern Erdäpfel oder Korngarben ernteten. Diese neuen zweifelhaften Bewohnerschaften waren aus der Fremde hereingekommen; manches zerlumpte Weib zeterte mit seiner halbnackt umhergeisternden Brut in einer stockfremden Sprache. So war's geworden.
Als der Jakob nun auf die Hochblöße kam, wo man in die Gräben des Altenmoos hinabsieht, stand er still. Über ihm rauschten die Bäume und über den Baumwipfeln flogen Wolkenfetzen hin, die manchmal an die Gipfel, manchmal an die Erde strichen, so daß der Wanderer für Augenblicke im Nebel stand, durch welchen der Vollmond gar nicht oder als eine kupferfarbige Scheibe zu sehen war. Plötzlich wieder heiterer Himmel, blitzartig blinkte das Licht, scharfe Schatten werfend, bis der Mond neuerdings hinter Wolken flog. Und so war es bei diesem vom Winde getriebenen Licht- und Schattenspiel, daß über die dunkeln Berge und Talgründe milchige Tafeln flogen, und wo sie einen Fels trafen, oder ein reifes Kornäckerlein, oder ein Wasser, dort blitzte es auf, bis wieder die Nacht der Wolken lag in der Sommernacht.
Der Jakob stieg durch Lärchenanwachs hinab; wo dieser junge Wald stand, war einst des Sandlers bestes Kornfeld gewesen. Der alte Sandler ist gestorben draußen zu Krebsau in einem Bretterschuppen. Seine Kinder? Man hört nichts mehr von ihnen.
Vom Berge her leuchtete ein weißer Punkt. Das war die Ofenmauer, die als letzter Überrest vom Guldeisnerhof stehengeblieben. Dem Guldeisner soll es freilich gut ergehen draußen auf seinem Herrensitz. Der Jakob kam an die Stelle, wo das Wegererhaus gestanden, hier lagen noch einige modernde Zimmerbäume, die in der Nacht einen bläulichen Schimmer gaben. Der Wegerer hatte sein Gut um ein Geringes verschleudert und sich damit getröstet, daß es ihm halt so aufgesetzt gewesen. Jetzt war er zur Sommerszeit Almhalter oben im Rabenbergischen, im Winter litt er Hunger. Er tut es seufzend, »es ist ihm halt so aufgesetzt«. – Jakob stolperte über einen mit Hollerbusch und Brennesseln bewucherten Steinhaufen. Da war des Nachbars Knatschel Haus gestanden. – So war's in Altenmoos, junger Anwachs, wo Felder und Wiesen gewesen; Steinhaufen, wo die Höfe gestanden. Der Jakob schritt über einen großen Friedhof.
Als er endlich zu seinem Hause kam, war es schier Mitternacht. Es war ihm auf einmal fast märchenhaft, daß dieses Haus noch unversehrt dastand, wie vor zwanzig Jahren, als er es von seinem Vater überkommen hatte. Der Kettenhund bellte. Der Jakob wunderte sich darüber, denn das Tier erkannte ihn sonst schon von ferne. Als er um die Hausecke bog, sah er, daß an der Wand der Kammer, in der seine Tochter, die Angerl, schlief, ein schwarzer Schatten stand. Der Jakob blickte um sich, welcher Baumstrunk denn diesen Schatten werfen konnte, doch dieser Schatten bedurfte keines Baumstammes, jetzt huschte er vom Fenster weg und davon. – Es gibt nicht zu wenig, es gibt am Ende noch zuviel Leute in Altenmoos, dachte sich der Bauer, trat ins Haus, verriegelte diesmal die Tür und ging in die Knechtekammer. Der Luschelpeterl saß noch auf seinem Bette und besserte bei einer Kerze ein Kleid aus; seine Gicht im Bein, meinte er, sei ihm nun auch schon ans Beinkleid gekommen. Der andere Knecht lag lang hingestreckt auf dem Strohsack und schnarchte. Nur das wollte der Jakob wissen, dann ging er in seine Stube.
Am nächsten Morgen früh erschien er in der Schlafkammer seiner Tochter. Diese war ein liebliches, eben aufblühendes Wesen. Just im Begriffe aufzustehen, zog sie nochmals die Decke bis an den Hals heran, strich die dichten schwarzen Haarsträhne aus dem Gesichtel und blickte mit ihren großen klaren Augen den Vater befremdet an.
»Vor mir brauchst du dich nicht zu fürchten«, sagte der Jakob, »ich will nur einmal nachsehen, ob du nicht Zugluft hast vom Fenster her. Nichts ungesunder bei Nacht, als Fensterluft! Werden auch ein Gitter machen lassen müssen.«
»Die Zugluft geht ja auch durchs Gitter!« lachte das Mädchen.
»Aber der Dieb nicht«, setzte der Vater rasch dazu.
»Ich fürchte mich gar nicht«, versicherte die Angerl.
»'s ist nicht mehr so wie früher zu Altenmoos«, sagte der Vater und tat harmlos, »vor Zeiten haben wir freilich kein Fenstergitter gebraucht, oder eher fürs Hinaus-, als fürs Hereinsteigen.«
Die schlaue Angerl tat auch harmlos und sagte: »Wenn ich im Stübel bin, wer kann denn was stehlen?«
Der Jakob sagte nichts mehr. Er hielt dafür, daß man in solchen Dingen mit den jungen Leuten eher zu wenig als zuviel rede. Er hatte um seine zwei wohlgearteten Kinder manch heimliche Sorge. Das Mädel ist allzu sauber geworden, man kann's keinem verübeln, wenn's ihm gefällt. Und der Friedel! Schlank und frisch, wie der aufwächst! Der wächst schnurgerade in des Kaisers Rock hinein. Des Kaisers Rock wäre ja keine Schande und das Heimatland muß Soldaten haben, daß es sich hüten kann. Aber fortmüssen! So höllisch weit in die Fremde fortmüssen! Den Gedanken konnte der Jakob nicht ertragen; immer hatte er ihn sonst mit einer raschen Handbewegung verscheucht: Dauert noch lange drauf, wer weiß, ob wir's erleben. – Nun war die Zeit knapp vor der Tür und schon rief sie gleichsam: Reuthofer, du erlebst mich. Da bin ich, deinen Friedel will ich haben!
Viel mutiger hatte die Bäuerin, die Maria, dieser Zeit entgegengesehen, denn es war ihr unmöglich zu denken, daß es je so weit kommen könne: ihr blonder Friedel im fremden Land unter den martialischen Soldaten! Wenn's aber so weit kommen sollte, so geht sie – das hat sie sich vorgenommen – zum Kaiser und kniet vor ihm nieder und steht nicht früher auf, als bis er ihr den einzigen Sohn freigegeben hat.
Daß es außer der größten Macht im Reiche auch noch andere und gefährlichere Mächte gibt, den Sohn der Mutter abspenstig zu machen, daran hatte das Weib freilich nicht gedacht.
Eines Tages – an einem kleinen Bauernfeiertage – war der Friedel nach Sandeben geschickt worden, um im Gemeindeamt die Jahresgrundsteuer zu hinterlegen; denn der Jakob hielt auch in dieser Sache Ordnung, obwohl in letzterer Zeit her die Ordnung schwer wahrzunehmen war, denn die Steuer wuchs von Jahr zu Jahr, wurde unregelmäßig vorgeschrieben und die Posten hatten allerhand neue Namen. Es waren an diesem Tage auch andere Personen aus Altenmoos auf dem Wege, Manns- und Weibsleute, aber der Bursche hatte sich ihnen nicht angeschlossen, er ging lieber allein. Die Leute neckten ihn gern, der Dirndeln wegen, wie das schon so Brauch ist, wenn ein Bauernsohn in die Jahre kommt, wo er an Liebschaften, ja vielleicht gar ans Heiraten denken kann. Dem Friedel waren solche Neckereien zuwider und er war auch nicht schlagfertig genug, um die Hänseleien gesalzen zurückzugeben, und einen Tappel (einfältigen Menschen) wollte er nicht vorstellen.
Heute aber hatte er mit seiner Einsamkeit kein Glück. Als er sich auf den Heimweg machte und unterwegs an einem abgepflückten Steinnelkenstiel kaute, was ihm lieber war, als Tabakrauchen und Schwatzen, wurde er von hinten her angerufen. Die Furchenbauerntochter aus Sandeben. Ein Mädel, frisch wie der Fisch im Wasser und lustig wie das Vöglein in den Lüften. Gar groß war sie nicht, aber fein rundlich; jener Zimmermann mit dem losen Maul hatte nicht unrecht, wenn er sagte: »Bei der Furchenbäuerischen ist alles mit dem Zirkel gezogen: Das Gesichterl, das Äugerl, das Göscherl, das Armerl, das Buserl.« »Wenn nur das Herzerl nicht allzu kugelrund ist«, meinten andere, »daß es nicht etwa von einem zum anderen rollt!« Es wird sich ja zeigen, ob diese Befürchtung gerechtfertigt ist. Der Name, den sie trug, war auch rund – Iderl hieß sie. – Ein feines Mädel!
Sie hatte einen weißen Strohhut auf und trug einen Handkorb. Als der Reuthoferfriedel vor ihr seine Schritte beschleunigen wollte, rief sie ihn an: Was er denn gestohlen habe zu Sandeben, daß er so laufe?
Da blieb er stehen und schaute freundlich auf das Mädchen her. Insgeheim war ihm: daß es gerade die sein muß! mit der weiß ich schon am allerwenigsten was zu reden.
»Was sagst?« fragte sie ihm zu. Ihre Stimme war hell wie ein Glöckel.
»Ich habe nichts gesagt«, antwortete er.
»Jetzt habe ich geglaubt, du hast was gesagt«, lachte sie, »na also gehen wir zwei einmal miteinander.«
»Wo gehst denn hin?« fragte er sie bescheidentlich.
»Nach Altenmoos, wenn ich kunnt«, beschied sie.
»In Altenmoos ist's halt nicht mehr lustig«, sagte er und kaute an seinem Blumenstiel, daß dieser vor der Nase langsam hin und her schlug.
»Muß sein, weil mehr Leut' heraus- als hineingehen«, entgegnete das Mädel. »Mußt dich aber nicht fürchten, daß ich weit mit dir geh'. Nur bis zum Rechensteg, dort tut mein Vater holzen und dem trag' ich das Mittagsmahl nach.«
Dem Friedel war's recht, daher schwieg er.
Sie ging keck neben ihm her.
»Ist recht«, sagte er nach einer Weile.
»Na, wenn's nur recht ist«, gab sie zurück.
Er schielte auf ihren Korb und fragte: »Was hast denn drinnen?«
»Ein Guterl«, antwortete sie, »ein gutes Guterl! Ja, heute bring' ich dem Vater sein Lieblingsessen, Schwammsuppe und gesottene Krebsen. Wir haben eine böhmische Teichgräberin und die kann Krebsen sieden.«
Dem Friedel war auch das recht, daher schwieg er.
»Was hast denn du für ein Guterl (Lieblingsspeise)?« fragte sie den Burschen.
»Ich?« fragte der Bursche entgegen. »Weiß nicht.« Und schlug mit den Lippen den Blumenstiel in die Höhe.
»In Altenmoos muß es ja viel Krebsen geben«, sagte das Dirndel, »in Altenmoos gefällt's mir. Dort sollen noch lustige Leut' sein, gelt ja! In Altenmoos möchte ich Bäuerin sein. Aber einen munteren Bauern müßt' ich haben, der kein Stummerl ist. Sonst tät' mir die Zeit lang werden. Gelt, du meinst auch so?«
In der Weise plauderte sie heiter neben dem schweigsamen Burschen dahin und er dachte: Wenn sie nur immer so fortplaudern möchte, man hört ihr gern zu. Hört sie auf, so muß ich anfangen und ich weiß nichts. Daß ich bei den Weibsbildern doch gar so dumm bin.
Endlich waren sie am Rechensteg, wo ein paar Arbeiter mit langen Stangen die Holzscheiter losstießen, die vom Gebirge hergeflößt sich in den Rechen geklemmt hatten und ihn gefährdeten.
»Deinen Vater suchst du?« rief einer der Arbeiter dem Mädel zu, »der ist nicht mehr da, ist mit einem Holzhändler über den Lärchensteig nach Haus gegangen. Dich mögen wir aber schon.«
»Wenn ich euch nur auch möchte!« gab sie zurück. Dann blieb sie stehen, schaute den Friedel an und sagte: »Der Vater ist nicht da. Jetzt, was tu' ich mit der Schwammsuppe und mit den Krebsen?«
»Die Krebsen gehen eh gern rückwärts«, schalkte der Friedel.
»Wieder heimtragen? Nein, da wird alles kalt und kalter ist's nimmer gut. Ich weiß was. Komm, Friedel, essen wir's miteinander. Jetzt ist's noch hübsch warm.«
Sie gingen noch eine Strecke fürbaß und dort, wo unter einer senkrecht aufspringenden Felswand der grüne Rasenplatz ist und ein schöner Ahornbaumschatten, dort setzten sie sich nieder und das Mädel packte den Korb aus.
»Du hast eh gewiß noch nicht Mittag gegessen, greif' zu!« so lud sie den Friedel ein.
»Ah na«, sagte dieser gedehnt, »werd' schon daheim was kriegen.«
»Laß dich nicht ehren und ißt« sagte sie, »jetzt da ist einmal der Schwammsuppentopf, wart', ich halt' ihn auf dem Schoß und klemm' ihn ein, daß er nicht umkippt. So, Friedel, da ist der Löffel.«
»Nachher hast ja du keinen Löffel«, bemerkte er artig.
»Das macht nichts, wenn du genug hast, nachher lang' ich zu.«
»Wenn ich dir aber nichts übriglass'«, sagte der Bursche und blies endlich einmal seinen Blumenstiel von sich.
»Ist dir wohl vergunnt. Du brauchst Stärkung auf den weiten Weg.«
Der Friedel aß, erst nach einem Weilchen entgegnete er: »Stark wär' ich eh.«
»Und schmecken tut's auch«, setzte sie bei.
Er leckte den Löffel säuberlich mit der Zunge ab, gab ihn dem Mädel und sagte: »Jetzt iß aber auch du.«
Als sie solchergestalt mit der Schwammsuppe fertig geworden waren, tat sie den Teller aus dem Korb, der mit einem weißen Tuche verhüllt war.
»Jetzt pass' auf«, sagte sie, »jetzt kommt die verdeckte Speis.«
Er machte erwartungsvolle Augen und als sie den Teller enthüllte, rief er: »Hundsrote Krebsen!«
»Pack' an!« sagte sie.
»Ah na, so Krebsen, die mag ich nicht.«
»Hast ihrer schon einmal gegessen?«
»Na, ich mag' sie nicht.«
»Lapperl du, wenn du ihrer noch nie gegessen hast, wie weißt es denn, ob du sie magst oder nicht! Geh', probier's, zwick' drein, sonst zwicken sie drein.«
Sie hatte ihm eine Schere losgelöst, er biß wacker drein. »Je!« rief er, »das Zeug ist ja steinhart!«
Sie gab ihm die Anweisung, wie man Krebsen ißt. Mit den Fingernägeln zerbrach sie die Schale, nahm ein Stück Mark zwischen die Finger, hielt es dem Friedel an den Mund: »Da, Vogel, schnapp' oder stirb!«
»Ah na, sterben nit«, schmunzelte der Friedel und schnappte.
»Was sagst?« fragte das Iderl.
»Gut ist's«, sagte er.
Hierauf aßen sie miteinander das Krebsenpaar.
Als sie damit fertig waren und nur mehr die zerrissenen Schalen herumlagen, wischte sich. das Mädel mit der Schürze den Mund und rief: »So, jetzt hab' ich einmal mit dem Reuthoferfriedel aus Altenmoos Krebsen gegessen.«
»Vergelt's Gott!« sagte der Bursche.
Sie blinzelte ihn an. »Vergelt's Gott sagst gleich und fragst nicht, was du schuldig bist?«
»Ich zahl's auch, wenn du willst!« sprach der Friedel und griff in seine Tasche.
»Wirst doch einen Spaß verstehen, Tschapperl!« rief sie und zog seine Hand von der Tasche zurück. »Das heutige Krebsenessen wirst mir ganz anders bezahlen, mein Lieber. Heiraten mußt mich.«
Sie lachte bei diesen Worten, aber er wurde so rot, wie die umherliegenden Schalen waren. Allmählich neigte sich sein Haupt gegen sie und er flüsterte: »Iderl, dich mag ich schon.«
»Nachher ist's recht«, sagte sie und stand auf. Er wollte es auch tun, blieb aber in kniender Stellung vor ihr und schaute mit halbgeschlossenen zuckenden Augen zu ihr empor.
»Heb' dich, Büberl!« rief sie schneidig, »heb' dich und merk' dir's, mit kecken Dirndeln ist's nicht gut Krebsen essen.« Dann wurde sie ernsthafter und fuhr fort: »Mußt aber nicht glauben, Friedel, daß ich jedem Burschen so nachlauf', wie dir. Ich weiß recht gut, was ich wert bin, aber du gefallst mir und hast mir schon lang' gefallen. Du hättest mich nicht angesprochen, bis zum Jüngsten Tag nicht. So lang' mag ich nicht warten. Ich sag' dir's trutz, Friedel, ich hab' dich gern.«
Der Friedel – der sanfte Friedel – sprang auf und riß sie stürmisch an seine Brust.
»Oho!« rief sie und schob ihn kräftig zurück. »Ich bin stark genug, daß ich mich vertraue und bin stark genug, daß ich mich erwehre. Ein Bussel für diesmal und gut ist's.«
Und gut war's.
Es ist nicht zu beschreiben, mit welchen Empfindungen der Friedel seines Weges ging, nachdem die Furchenbauerntochter mit ihrem Korbe umgekehrt war. Hundertmal war er stehengeblieben und hatte nach ihr umgeschaut und sie war doch längst nicht mehr zu sehen. Er schlug sich die Faust auf die Brust und sagte mit unerhörtem Nachdruck: »Die wird mein Weib!«
Dann ging er ruhig die rauschende Sandach entlang, kletterte dort, wo der Weg zerrissen war, flink an den Hängen hin, kam stillvergnügt heim und das frohe Leuchten seiner Augen beglückte Vater und Mutter. –
Wie sehr tat dem bekümmerten Jakob das Glück der Kinder wohl! Er dachte nicht allein an die seinen erwachsenen, sondern auch an die fremden kleinen, die völlig aussichtslos in der Gegend umherliefen.
Im Altenleuthäusel des Grubbauernhofes, dort, wo der Donnersgrabenbach zur Sandach stößt, war früher die Schule gewesen. Die Bauern hatten den Schullehrer – der war in Ermangelung eines besseren ein ausgedienter Feldwebel gewesen – selbst versorgen müssen, sie hatten ihm kein Geld gegeben, sondern ihn mit Lebensmitteln ausgerüstet. Die Auswanderungspest hatte auch diesen Feldwebel hinweggerafft. Er verdingte sich in eine Eisenhütte als Kohlenschlepper, da gab es Geld. Zwar mußte er es wieder ausgeben und mehr als er hatte, so daß aus dem Gelde Schulden wurden. Aber Bargeld in die Hand kriegen und mit Bargeld umherwerfen, Kleider nach der Mode tragen und Sonntags mit silbernen Uhrketten den feinen Herrn spielen, für diesen Krämerspaß und solches Geckengeflunker opferten sie ihre frische freie Luft, ihre Kraft, ja ihr Leben. – Um die Altenmooser Schule kümmerte sich keine Behörde. Die Bergbauern leisteten zwar ihre Steuer auch für die Schule; doch um des Bauern Geld erbaut man in den Städten Schulpaläste, Bildersäle, Komödienhäuser. In den Gebirgen oft weit und breit keine Schule. Dann wirft man dem Bauer vor, daß er roh und ungeschult ist, spottet seiner und benachteilt ihn! Bauer! Wenn du dir selbst nicht mehr helfen kannst, dann ist es aus mit dir.
Jetzt, da es so stand zu Altenmoos, war der Pechölbrennernatz herfürgegangen aus seinem Donnersgraben und hatte dargetan, daß er die Buchstaben kenne, ja viele derselben sogar mit Kreide an die Wand zu schreiben wisse, auch die Ziffern, und ob er diese merkwürdigen Künste nicht den kleinen Leuten beibringen dürfe, solange sie noch zu schwach wären, andere Arbeiten zu betreiben.
So hatten die wenigen Altenmooser Kinder wieder einen Schullehrer, und einen gar lustigen! Er saß mit ihnen an Sommertagen gerne unter dem Ahornbaum, der vor dem verfallenen Wegererhause stand, oder er ging mit den Kindern am Bache entlang, am Waldrain hin und sprach zu ihnen über Bäume und Blumen und Wasser und Stein und Tiere, und erzählte alles, was er von solchen Dingen wußte. Der alte Natz war auf einem Ohr schwerhörig. Er höre – sagte er zu den Kindern gern – mit demselben Ohr nur der Leute Reden nicht immer ganz genau, besonders das Zischeln und Munkeln und Tratschen nicht, gottlob! Hingegen hörte er etwas ganz anderes. Sein Ohr – es war das rechte – habe wunderlicherweise die Gabe, Tiersprachen zu verstehen, die von anderen Leuten nur für Bellen oder Blöken oder Zwitschern gehalten würden. Wenn die Menschen wüßten, was der Zugochs, oder der Kettenhund, oder andere über sie sprächen! Zum Herzabdrücken wär's!
Eines Tages führten mehrere Knaben den Natz hinab zu den Bacheschen. Dort hatten sie Vogelfanghäuseln aufgestellt und der Natz sollte auch mittun. Da hatten sie aus Stäben viereckige Häuschen so gezimmert, daß zwischen den Stäben Fugen blieben, durch die man ins Innere sehen konnte. Das kaum einen Geviertfuß weite und einen halben Fuß hohe Häuschen hatte über sich einen Falldeckel, der durch ein Stänglein zur Hälfte aufgespreizt werden konnte. Dann ruhte diese Spreize mit dem unteren Ende auf einem sehr leicht beweglichen Querbrettchen, das mitten im Häuschen wagrecht gespannt war. Auf dieses Querbrettchen waren Hanfkörner oder Brotkrümchen oder anderer Köder gelegt. So war die Vorrichtung nun ins Gebüsch oder auf den Baum gestellt. Kam der Vogel geflogen, um den Köder zu picken, so mußte er sich auf das Querbrettlein setzen, in demselben Augenblick fiel die Spreize, der Deckel klappte zu und der Vogel war gefangen.
Als sie nun zu den Eschen kamen, erhoben die Knaben ein Freudengeschrei, in einem der Fanghäuschen flatterte ein herziges Rotkehlchen.
»Wie es lustig hüpft und singt!« rief einer der Knaben, denn das Tier flatterte angstvoll hin und her im engen Raum und zwitscherte erbärmlich.
Der Natz kletterte auf den Stamm. »Muß ich doch wissen, warum du gar so lustig bist!« sagte er und hielt sein rechtes Ohr an das Häuschen. Mit dem Zeigefinger winkte er: Pst! sie sollten ruhig sein! – Und tat, als horche er dem Tiere.
»Das ist jetzt eine schöne Geschichte!« sagte er. »Dem Vogel ist's nicht recht da drinnen.« Dann horchte er wieder. – »Armer Kerl!« rief er endlich, und zu den Knaben gewendet: »Er klagt und weint, daß sich ein Stein kunnt erbarmen. Sein Weibchen, sagt er, sitze im Nest bei den Jungen, er sei ausgeflogen, Körner und Käfer zu suchen, um seine lieben Leute zu speisen. Und jetzt sei er in dieses Unglück geraten und die Seinen müßten verhungern und verderben.«
»Auslassen, auslassen!« schrie einer der Knaben.
»Siehst du!« rief der Natz, gegen den Vogel gewendet, »siehst du, wie du Glück hast! Sie wollen dich auslassen. Sind ja lauter brave Jungen, die ein Herz im Leib haben für ein armes liebes Vögerl.«
»Auslassen, auslassen!« schrien jetzt alle. Der Natz hob den Deckel und der Vogel flog wie ein Pfeil in die freie Luft.
So trieb er's. Und einmal kam's besonders seltsamlich. Er ging mit mehreren Kindern über den Reuthofer Grund. Und als sie am Schachenraine waren, hörten sie, wie eine Wachtel ihr: »Ziziwit! Ziziwit!« schrie. Die Knaben lauschten und riefen: Hörst du? Der Vogel sagt: Siehst mich nit! Juch, jetzt verstehen auch wir den Vogel.«
Bald darauf zwitscherte eine Schwalbe. »Was sagt sie?« fragten die Kinder den Natz. Bevor dieser noch den Mund auftat, trillerte die Schwalbe frisch und klar: »Tut's sparen! Tut's sparen! Als ich fortzog im Herbst, sind alle Kisten und Kästen voll g'west; im Lenz, als ich wiederum komm, ist alles vertritschelt, vertratschelt!«
Der Natz war verblüfft, denn er hörte die deutlichen Worte des Vogels nicht allein mit dem rechten, sondern auch mit dem linken Ohr, und was er den Kindern sonst nur vorgefabelt, das hörte er jetzt selbst, ihm ward der Vögel Sprache kund! – Im Haselgebüsch schlug eine Amsel, sie schlug hell und munter, daß es weithin gellte in der sonnigen Luft, und ihr Sang ging plötzlich in die Worte über: »Folgt's ihm, Kinder, folgt's ihm, folgt's ihm! Der Natz ist ein braver Mann! Ist ein braver Mann!«
Freilich ging dem Natz jetzt ein Licht auf, er erkannte die Schelmenkunst des Luschelpeterl, der im Gesträuche verborgen war, hütete sich aber, die Kinder darüber aufzuklären. Diese erzählten es daheim, die Vögel täten singen: Der Natz ist ein braver Mann!
Auf solche Weise wurde der Pechölnatz immer mehr der Mittelpunkt der kleinen armen Kinderwelt zu Altenmoos. Manchmal, wenn das behendige Männlein auf einem Steine oder auf dem grünen Rasen saß und die Kleinen sich im Kreise versammelten, erzählte es alte Geschichten, und wie es vor Zeiten zugegangen war in Altenmoos, wie die Leute gelebt und gearbeitet hatten und für einander eingestanden waren in aller Freud und Not; sang unter Zitherbegleitung sogar Lieder, wie sie die Vorfahren gesungen, und die Kinder sangen mit und waren voller Fröhlichkeit.
Da geschah es auch, daß der Jakob – der schon etwelche graue Haare auf dem Haupte trug – mitten unter den Kindern saß und horchte und mittat und dann brütend in sich versank. Wie dieser Mann, schwerer Sorgen voll, zu altern begann, so ward der Pechölnatz wieder jung. Hatte er doch lauter frische, frohe Jugend um sich, und Jugend auch in der Erinnerung an sonnige Zeiten. Er war immer arm und verborgen gewesen, und wie sein Ohr taub war gegen schlimme Red', hingegen der Vögel Sang verstand, so war sein Auge stets blind gewesen für das Elend der Welt und hatte nur das Anmutige und Erfreuliche gesehen. Er sah auch jetzt den Untergang nicht, er sah das Aufleben. An den Ruinen der Häuser ging er gedankenlos vorüber, an den jungen Lärchen- und Fichtenbeständen freute er sich und sagte: Das wird einmal ein schöner Wald! Je weniger Menschen sich fanden in Altenmoos, je mehr sah und hörte er Gevögel, Hasen und Rehe, im Wasser Forellen, in den Höhlen Füchse, Marder und anderes Getier. Das kam ihm lustig vor. Der Natz behauptete gelegentlich zu Nachbarn, daß vor Jahren eines seiner Weiber ihm schon einmal graue Haare ausgezupft hätte, jetzt aber wären alle wieder schier schwarz. Wenn es so fortginge, so müsse er nochmals an eine Paarung denken, aber an eine klügere, als die früheren gewesen; es frage sich jedoch, ob es unter den zwanzigjährigen Mädeln eines gebe, das für ihn munter genug wäre.