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(17. November.) Der Saal ist womöglich noch mehr überfüllt wie gestern. Der Sicherheitsdienst ist verstärkt worden.
Landru erzählt über den Verkehr mit seinen »Klientinnen«: Nie habe ich einer von ihnen gesagt: »Was wünschen Sie zu verkaufen?« sondern immer nur: »Was wünschen Sie zu behalten?« –
Der Fall Jaume kommt zur Sprache.
Mme. Jaume wurde im Jahre 1878 zu Nîmes geboren. Sie wurde streng religiös erzogen. Ihre Familie (Barthélemy) war mit ihrer Heirat nicht einverstanden. Zudem geriet das Ehepaar zufolge ungenügender Mittel in Not. Der Gatte wurde bald wegen verschiedener »Unregelmäßigkeiten« verfolgt und daher war seine Frau über Landrus Vorgehen nicht so sehr überrascht. Als Landru auftauchte, befand sich M. Jaume auf der Flucht. Der Bewohner der Villa Tric sah mit Kennerblick, daß ihm hier eine sichere Beute zufallen würde.
In Landrus Buch findet sich der Vermerk: »Jaume, Berthélemy, Lyanes und Chine«. Mme. Jaume wohnte in der rue de Lyanes und arbeitete in der rue de Chine. Man vermutet, da Landru sich darüber nicht geäußert hat, daß ein Heiratsvermittler ihn mit seiner neuen »Braut« oder »Klientin«, je nachdem man der Anklage oder Landru Glauben schenken will, zusammengeführt hat.
Am 11. März 1917 liest man die Eintragung: »Barthélemy métro Martin-Nadaud, 30 Centimes«. Am 11. März dürfte also die Zusammenkunft stattgefunden haben.
Landru: »Das ist sehr unwahrscheinlich. Der 11. März? Ich kann mich daran nicht erinnern, und Sie wissen ganz gut, Herr Präsident, daß ich nichts behaupte, was ich nicht auch beweisen kann.«
Weiter schrieb er: »26, rue de Chine, Barthélemy. Sieht jünger aus, als sie ist . . . Provinzlerisch, lebt getrennt von ihrem Gatten, mit dem sie rein freundschaftlich gelebt hat, fromme Katholikin, fürchtet die Scheidung« etc.
Rat Gilbert gibt zu, daß das Gedächtnis Landrus zeitweilig versagen konnte, nachdem dieser zuviel zu bedenken hatte und findet es auch begreiflich, daß er zu einem bestimmten Zeitpunkt die Eroberung der Frau Jaume vernachlässigen mußte, da er damals beim Krankenbett der Mme. Paulet, Schwester der Mme. Buisson, zu finden war.
Aber nein! antwortete Landru. Dabei ist doch weiter nichts. Mme. Jaume konnte sich damals nicht entschließen, ihre Möbel zu verkaufen, da sie Angst hatte, betrogen zu werden.
Präsident: »Haben Sie denn nicht mit Mme. Jaume von einem Eheprojekt gesprochen, sobald Ihre Ehe geschieden sein würde?«
Landru: »Frau Jaume war unentschlossen, da sie religiöse Skrupel hatte.«
Präsident: »Sie sprachen ihr von Möbeln und sie sprach Ihnen von Heirat.«
Landru: »Das waren zwei verschiedene Gespräche. Wenn sie von ihrer eigenen Heirat sprach, stimmte ich ihr bei. Sprach sie dagegen von einer Heirat zwischen uns Beiden . . .« (Heiterkeit.)
Präsident: »Landru, all die Frauen haben von Ehe gesprochen. Wenn Sie diesbezüglich leugnen, so müßte zwischen allen diesen ein Einverständnis bestanden haben, was doch unmöglich sein dürfte.«
Landru: »Mir gegenüber haben sie dergleichen nie geäußert.«
Im September 1917 reiste Landru zum erstenmale mit Mme. Jaume nach Gambais. Das Frühstück kostete 8,50 Francs. Landru hat es so notiert. Er ist entrüstet, wie man ihm vorhält, daß er Mme. Jaume überredet hat, in Gambais zu übernachten. Doch gibt die Anklage zu, daß sie nicht seine Geliebte war.
Er kam, sprach, wurde erhört und Frau Jaume übersiedelte wie die anderen es getan hatten, verließ die Wohnung von »Lyanes«.
Frage: »Wohin ging sie, nachdem sie Gambais verlassen hatte?«
Landru: »Ich weiß es nicht. Man beschuldigt mich. Es ist Sache der Anklage, gegen mich Beweise zu erbringen.«
Präsident: »Ich bestehe auf Beantwortung dieser Frage.«
Landru: »Sie kam nur für einige Tage nach Gambais.«
Frage: »Vorher hatte sie kein Zimmer genommen?«
Landru: »Wahrscheinlich ja, da sie nicht mit mir gelebt hat.«
Präsident: »Wollen Sie es nicht sagen?«
Landru: »Nehmen wir an, daß ich es nicht sagen kann, so geht es schneller.«
Kurzum, am 24. November 1917 übersiedelte Mme. Jaume und ihre Möbel wurden in der Garage der rue Maurice eingestellt.
Landru erinnert sich nicht mehr an den Preis, den er dafür bezahlt hat.
Darauf folgt ein kurzes Verhör mit Landru, welches seine »zweite Kasse«, die sogenannte »Reservekasse« betrifft. Eigentlich handelt es sich um nichts als seine Tasche. Über seine »Spezialkasse« pflegte Landru nicht tägliche Aufzeichnungen einzutragen.
Am 28. November kehrte er laut Eintragung von Gambais über Houdan zurück. Reiste er allein nach Paris?
Präsident: »Sie behaupten, daß die Jaume sich einige Tage in Gambais aufhielt. Zugegeben. Nun steht im Buche: 26. November, 5 Uhr. Ich ziehe keine Schlußfolgerungen aus diesen Angaben der Stunden. Von diesem Tage an jedoch blieb Mme. Jaume verschwunden.«
Landru: »Im Gegenteil. Man hat sie nach dem 26. November wieder gesehen. Drei Zeugen werden es, wie ich hoffe, bei Gericht bestätigen können.«
Er wiederholt sein Ersuchen, man möge ihm außerhalb der Verhandlungen sein Buch lassen.
Präsident: »Man hat es Ihnen gelegentlich der Voruntersuchung gegeben und doch haben Sie keine Auskunft zu geben gewußt.«
Landru hat folgendermaßen eingetragen: »Rekapitulation Lyanes, 274.60«. Der Staatsanwalt drängt ihn, sich zu äußern, aber Landru hat es jetzt weniger eilig, sein Buch zu Rate zu ziehen, das man ihm ausgefolgt hat. Endlich sagt er:
»Das ist doch ganz klar. Mme. Jaume hatte ihren Arbeitgeber M. Masson, Spielzeugfabrikanten, verlassen. Sie verdiente sehr wenig und hatte Schulden in der Nachbarschaft. Das Geld wurde ihr für die täglichen Ausgaben zu wenig. Ich habe ihr dafür ungefähr 250 Francs vorgestreckt.«
Präsident: »Ist auch eingetragen, daß Sie ihr diesen Betrag geliehen haben?«
Diese Frage wird überhaupt nicht mehr beantwortet. Dagegen ruft er etwas später mit sonorer Stimme: »Oh, welchen Kummer bereitet es mir, so keinen Glauben zu finden.«
Man hat bei der Untersuchung die Eintragung »5 Francs für ein Zimmer« belastend ausgelegt.
Landru: »Das hätte doch nur ein Hotelzimmer sein können. Ich hätte also eine Frau bei mir haben müssen. Dabei war es nur eine Luftkammer für mein Rad.«
Darauf verlangte er wieder sein Buch, »das er seit drei Jahren nicht mehr gehabt hat.«
Moro-Giafferi ergreift das Wort, um dem Vorsitzenden vorzuhalten, wie wichtig es ist, dem Angeklagten sein Buch, wäre es auch nur für zwei Stunden, zu überlassen.
Am 30. November hat Landru unter dem Namen Frémyet der Bank [unleserlich] für 1.383 Francs Wertpapiere, die der Frau Jaume gehörten, verkauft. Ebenso hat er über den Besitz Buisson verfügt.
Landru: »Stimmt vollkommen.«
Es taucht die Frage auf: Weshalb hat denn Frau Jaume ihre Papiere nicht selbst verkauft?
Landru verfällt wieder in seine Gemeinplätze: »Ganz richtig . . . das ist wahr . . . zweifellos.«
Landru will den Eindruck hervorrufen, als hätte Mme. Jaume nach dem 26. November noch gelebt. Sie hatte mit Rücksicht auf die Ehescheidung Rechtsbeistand in Anspruch genommen. Am 26. Dezember erhielt der Rechtsanwalt diesbezüglich einen günstigen Bescheid. Mme. Jaume hat jedoch mit ihm keine Besprechungen mehr abgehalten. Ebensowenig sah man sie mehr bei den Damen Lhérault welchen die Scheidungsdokumente anvertraut worden waren. Man hat bei Landru verschiedene Gegenstände, die der Mme. Jaume gehören, gefunden, so ein Mieder, Photographien, Spitzen, Wertpapiere und – neunte Wiederholung derselben Tatsache – ihre gesamten Personaldokumente.
Landru: »Ich sage nichts darauf, weil ich kein Recht dazu habe, ich bestätige es nur, um Klarheit in die Angelegenheit zu bringen.«
Sowohl der Vorsitzende wie der Staatsanwalt bestürmen ihn mit Fragen, aber vergeblich. Plötzlich gibt er eine sensationelle Erklärung ab, die das Publikum alarmiert. »Ich suche um einen Aufschub von 24 Stunden an, Herr Staatsanwalt da ich Ihnen den Aufenthaltsort einer der Verschwundenen sagen will«.
Ohne sich irgendwie beirren zu lassen kommt der Staatsanwalt auf das zurück, was er für die Hauptsache hält: Die Stundenangaben belasten Sie schwer und was die in Ihrem Buche eingetragenen 274 Francs betrifft, sage ich: Landru hat sich in den Besitz dieser Summe gesetzt die er der Leiche der von ihm ermordeten Frau Jaume abgenommen hat.
M. Columeau, der Vertrauensmann der Frau Jaume hat sie, nachdem sie wegen ihrer Ehescheidung seinen Rechtsbeistand in Anspruch genommen hatte, vergeblich erwartet. Dies war am 26. Dezember 1917.
Die 76jährige Mme. Geoffroy war durch neun Jahre Hausmeisterin des Hauses in der rue du Lyanes. Ihre Mieterin hatte ihr anvertraut, daß »ein sehr sympathischer Herr« sie heiraten wolle. Als Mme. Jaume anfangs November die rue des Lyanes verließ, bat sie, man möge ihre Korrespondenzen in die rue de la Chine an Mlle. Lhérault adressieren. Zwei Briefe wurden entsprechend von Frau Geoffroy weiterbefördert.
Mme. Labure, Tochter der vorigen Zeugin, äußerte einiges Befremden darüber, daß eine Person, »die so einfach wie Mme. Jaume war, sich von Landru hatte beschwatzen lassen.«
Man verzichtet auf die Aussage der Mme. Galette, Leiterin eines Heiratsbüros. Mme. Jaume hatte sie gebeten, ihr eine Verbindung zu verschaffen, die womöglich legitim sein sollte.
Nacheinander sagen die Damen Eugénie und Louise Lhérault, Freundinnen der Verschwundenen aus. Eugénie Lhérault schildert »Landru am Land und Landru in der Stadt«, wie sie es von der Vermißten gehört hatte.
»Er hat so drollige Gewohnheiten«, sagte sie zu mir, »er sammelt das abgefallene Laub.« Da fragte ich sie, ob sie ihn heiraten würde. »Ja«, sagte sie zu mir, »er ist aber ein großer Stubenhocker« und bevor die Zeugin abgeht, meint sie: »Ich werde Ihnen etwas sagen, Herr Präsident: Nachdem die Frau Jaume nicht da ist, befindet sie sich an einem Ort von dem es keine Rückkehr mehr gibt . . .«
Die Sitzung wird aufgehoben.