Egon Roland
Der Fall Landru
Egon Roland

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Der achte Tag.

(Der Fall Babelay.)

(15. November.) Heute kommt der Fall Babelay zur Sprache. Der Zuschauerraum ist gedrängt voll, angesichts der dramatischen Entwicklung, die sich mit jedem neuen Tag des Prozesses steigert.

Während die bisherigen »Bräute« Landrus alle »Damen in einem gewissen Alter« waren, wie sich der Präsident ausdrückt, macht Andrée Babelay eine entschiedene Ausnahme von dieser Regel.

19 Jahre alt, Dienstmädchen bei einer Kartenaufschlägerin, hat sie eine kleine Liaison mit einem Soldaten. Eines Tages trifft sie auf Landru, »wie das Rotkäppchen auf den Wolf« meint Rat Gilbert. Von einem ersten Rendezvous kommt die Kleine, die übrigens Landru für einen Mann von 35 hielt, verspätet nach Hause; sie wird von ihrer Herrin, der Hellseherin, gescholten. Als Antwort kündigt sie dieser ihren Austritt an und eilt, um sich in die Arme ihres »monsieur Guillet« zu werfen. Währenddem erwartet die Mutter Andrées, die zum zweitenmal verheiratete Mme. Collin, vergeblich ihre Tochter, an dem Ort, den sie für ihre Zusammenkünfte bestimmt hatten. Dies ereignete sich am 11. März 1917; Landru hatte damals eine Wohnung in der rue Maubeuge unter dem Namen Guillet gemietet. Das Notizbuch enthält unter anderem eine detaillierte Rechnung der Spesen, welche den Aufenthalt in der rue Maubeuge und nachher in Gambais, und zwar den Aufenthalt Landrus und des Mädchens umfassen, die für die Nichte des M. Guillet galt.

Landru erwähnt: »Kindlich, wie sie ja noch war, äußerte Andrée den Wunsch, aufs Land zu fahren.« Tatsächlich notiert er am 29. März den Preis für ein einfaches Billet und den Preis für ein Tour- und Retourbillet.

Landru: »Aus einer sehr einfachen Ursache.«

Präsident: »Geben Sie noch immer dieselbe an.«

Landru: »Man sucht immer etwas Verdächtiges, um zu beschuldigen, während die Wahrheit doch so einfach ist. Andrée begann sich nicht wohl zu fühlen. Es war schönes Wetter. Ich nahm ein einfaches Billet für sie, um Frl. Babelay die gute Luft genießen zu lassen.«

Der Aufenthalt derjenigen, die von Landru »Andrée« genannt wurde und die ihn »Lulu« (Lucien Guillet) rief, indem sie ihn für ihren Vater ausgab, zu Gambais ist nicht zu bestreiten. Zeugen bestätigen, daß sie das Mädchen sahen, so z. B., als sie auf dem Rad durch das Dorf fuhr.

Landru behauptet, daß sein Aufenthalt in Gambais am 12. April nicht möglich gewesen sei. Man hatte ihm aus seinem Hangar Kohle gestohlen und er mußte Holz kaufen gehen.

Präsident: »Nun wohl – war Andrée Babelay am 12. April in Gambais?«

Landru: »Es ist schade, daß man das Stellungsvermittlungsbüro, wo sie sich einschreiben hatte lassen, nicht auffinden kann.«

Präsident: »Wir finden unter dem Datum des 12. April wieder die Ziffer 4 und den Buchstaben H. wie in der Affaire Collomb. Was bedeutet dieses Zeichen? Das gleiche, was wir auch bei den anderen Verbrechen herausgefunden haben.«

Landru: »Aber das behauptet die Anklage. Es handelt sich hier um die Stunde der Post, die von Gambais noch Houdan geht.«

Präsident: »Was ist aus Andrée Babelay seither geworden? Unter dem 11. April befindet sich in Ihrem Notizbuch die Aufzeichnung über Fleischankäufe.«

Landru: »Was beweist, daß es sich hier um einen Fleischer in Paris handelt, viel eher als um einen Fleischer in Gambais.«

Präsident: »Sie sagen, daß die Einkäufe in Paris gemacht wurden?«

Landru: »Wir suchen die Wahrheit, Herr Präsident.«

(Allgemeines Gelächter.)

Präsident: »Sie hatten Fräulein Babelay in die rue Maubeuge zurückgeführt.«

Landru: »Vorher.«

Präsident: »Was ist aus ihr geworden?«

Landru: »Sie ist in das Stellenvermittlungsbüro zurückgekehrt.«

Frage: »In welches?«

Landru: »In dasselbe, in dem sie Mme. Vidal fand.«

Frage: »Wie kommt es, daß sie weder ihre Kleidungsstücke, noch ihre Photographie im rumänischen Kostüm, auf welche sie so große Stücke hielt, holen kam und all das, was in Ihrer Garage gefunden wurde, ihr Geburtszeugnis, ihre Zeugnisse, das schwarze Büchelchen, das ihre Schwester angefertigt hatte?«

Landru: »Andrée wollte nicht, daß ihre persönlichen Dokumente dritten Personen bekannt würden.«

Landru spricht von Babelay als »Andrée«, »dieses Kind«, »dieses kleine Mädchen.«

Also, »diese kleine Andrée« hatte den Einfall dieses »geheiligten Depots«, als sie zufällig einmal eine große Anzahl von Akten im Besitze Landrus sah. Diese waren in einem kleinen Koffer eingesperrt. (Bewegung.)

Präsident: »Sagen Sie, Landru – Es handelt sich diesmal nicht mehr um ein Möbelgeschäft?«

Landru: »Hm – einige Möbelstücke . . .«

Staatsanwalt: »Ach was, es war nichts da. Es war eine Unglückliche.«

Landru: »Ganz gewiß.«

Staatsanwalt: »Schweigen Sie doch.«

Landru: »Man tötet nicht um einiger Franken willen.«

Präsident: »Nicht im Hinblick auf eine Bereicherung konnten Sie Andrée Babelay töten, aber der Staatsanwalt wird vielleicht die Neugier des jungen Mädchens im Auge behalten, die sie früher auch erwähnt haben und die ihr zum Unglücke werden konnte. Und endlich, wieso fanden sich alle ihre Papiere, die ihr doch nützlich sein konnten, eine Stelle zu bekommen, in Ihrem Besitz?«

Landru: »Sie hatte ja wieder einen Platz.«

Präsident: »Bekamen Sie Nachricht von ihr?«

Landru ist nicht sicher. Er vermutet. Er kann nichts zugestehen.

Wortwechsel zwischen dem Angeklagten, der, die Augen halb geschlossen, mit gestrecktem Halse und mit flach auf dem Holze der Loge aufgestemmten Händen dasteht, und dem Chef der Geschworenen, welcher ihn fragt, aus welchem Grunde er ein junges Mädchen, die er als anständig bezeichnet, bei sich einführt?

Landru: »Ich tat ein gutes Werk.«

Präsident: »Aber sie war doch untergebracht. Nichts in ihrer Situation war begründend für Ihre Anteilnahme.«

Staatsanwalt: »Ich füge hinzu . . .«

Landru: »Aber . . .«

Staatsanwalt: ». . . Gestatten Sie, Landru. Ich füge hinzu, daß Sie ihrer Hausbesorgerin angezeigt hatten, daß ihre junge Nichte ankommen würde.«

Landru: »Sie war sehr wenig befriedigt von ihrem Platze. Sie war niedergeschlagen, weil ihre Mutter ihr den Verkehr mit ihrem Freund, dem Soldaten, verboten hatte.«

Die Beschuldigungen werden schärfer. Landru setzt ihnen eine seiner ständigen Wiederholungen entgegen: »Man darf nichts verwechseln!« Gleich darauf einlenkend, meint er: »Das ist richtig.«

Der Obmann der Geschworenen kann nicht annehmen, daß Landru, als er sich von der kleinen Babelay trennte, ihre Adresse nicht verlangt hätte.

Staatsanwalt: »Sie gaben ihr eine sehr ausgedehnte Gastfreundschaft.«

Landru: »Oh, ein Zimmer von 2 Meter 50 Ausdehnung.«

Staatsanwalt: »Andrée Babelay hat die Papiere der Anderen in der Kassette gefunden. Mme. Cuchet war auch indiskret . . . Landru, ist das nicht der Grund, warum sie gestorben ist?«

Landru: »Ah, daß Sie endlich darauf kommen. Nehmen Sie an, daß ich darauf gewartet hätte?«

Staatsanwalt: »Sie mußten die Familie auf den Gedanken des Verschwindens vorbereiten. Ich greife außerdem die Frage des Herrn Vorsitzenden auf.«

Landru: »Wollen Sie mir meinerseits gestatten, zu fragen, wieso die Polizei und der Untersuchungsrichter das Stellenbüro nicht auffinden konnten?«

Staatsanwalt: »Das Stellenbüro? Das sollen Sie uns doch angeben. Wollen Sie einem Ihrer Richter antworten, wenn Sie mir schon nicht antworten wollen, der ich die Beweise beizubringen habe. Sie schweigen? Das ist sehr schwerwiegend, Landru!« –

Nun erscheint Mme. Collin, Schneiderin, die Mutter der Verschwundenen. Sie ist in tiefer Trauer.

Mme. Collin: »Sicherlich, meine Tochter ist nicht mehr am Leben.«

Landru schweigt.

Zeugin: »Ich möchte eine Frage stellen. Wo hat er meine Tochter getroffen?«

Präsident: »Sie kam, sagt er, von Ihnen. Sie war betrübt. Er beherbergte sie. Hatten Sie ihr nicht Ihre Türe verschlossen?«

Zeugin: »Ich hatte für sie die allergrößte Nachsicht. Überdies wäre sie schon ihrer kleinen Schwester wegen wieder gekommen. Andrée wurde ermordet.«

Landru sieht die Zeugin nicht mehr an.

Nächste Zeugin, Mme. Alexandrine Vidal, Dienstgeberin der Andrée Babelay, von Beruf Hellseherin, »Kartenaufschlägerin«. Leider – schrieben die Pariser Zeitungen – hatte sie es übersehen, die Karten oder den Kaffeesatz rechtzeitig über das Schicksal der armen Andrée zu befragen.

Sie erzählt stockend, was sie über die Affaire weiß. Man muß Sie mit Fragen bestürmen. Von ihren Karten getrennt, verliert Mme. Vidal ihre Beredsamkeit.

Zeugin: »Andrée Babelay schilderte Landru als einen ›Herrn von 35 Jahren.‹«

Präsident: »Um wieviel Uhr kam sie am 11. März nach Hause?«

Zeugin: »Um 8 Uhr. Sie hatte mir zwei oder drei Tage vorher von der Begegnung gesprochen. Am 11. März kündigte sie mir ihren Austritt für den nächsten Morgen an. Ein Herr hatte ihr die Tasche geliehen, welche sie trug.«

Nun sagt der Brigadier Riboulet über diesen Fall aus. Landru zwinkert mit den Augenlidern, während er ihm zuhört. Man vernimmt keine neuen Tatsachen. Landru setzt seine Brillen auf, entfaltet seine Aufzeichnungen und ruht sich aus.

Staatsanwalt: »Mme. Collomb hatte ehemals einen Freund, der Bernard hieß. Wurden Nachforschungen angestellt?«

Riboulet: »M. Bernard sollte Weinhändler in Paris gewesen sein; man findet davon keine Spur. Was die Tochter anbelangt, angeblich Obsthändlerin in Poissy, haben wir vergeblich unter allen Obsthändlerinnen von Poissy nachgeforscht. Man kommt zur Vermutung, ob Bernard nicht ein Vorname gewesen sein kann.«

Staatsanwalt: »Haben Sie nicht nach einem kleinen Mädchen geforscht, Bernadette, geboren in Marseille, welches der Oberin eines Klosters in San-Remo anvertraut war?«

Riboulet: »Man hat nichts gefunden trotz einer Nachforschung bei der Notariatskammer, da ja das Kind eine kleine Mitgabe bekommen haben sollte.«

Man kommt wieder auf das Haus 45, Avenue des Ternes.

de Moro-Giafferi; »Die Hausbesorgerin ist gestorben. Haben Sie Kenntnis von einem Sohne, der die Behausung bewohnt?«

Zeuge: »Nein.«

de Moro-Giafferi: »Nun wohl! – Dieser Sohn der Hausbesorgerin nennt sich Isaac Cappelle – und wir kommen zu einer etwas unerwarteten Komik – dieser Cappelle ist Brigadier des Sicherheitsdienstes und Direktor des gerichtlichen Identitätsbüros. Es bleibt nichts übrig, als daraus entsprechende Schlüsse zu ziehen.«

Zeuge: »Er ist nicht Direktor.« –

Nun verhört man Mme. Faucher, Hausbesorgerin in der rue de Maubeuge. Sie hat festgestellt, daß Andrée Babelay mehrere Nächte bei ihrem Mieter zugebracht hat. Sie ist unsicher, zaudert; aufgefordert, präzise Angaben zu machen, antwortet sie: »Nach meiner Ansicht.« –

Nun kommt ein junges Mädchen, Denise Héon, 15 Jahre alt, und ziemlich ängstlich. Auch ihre Angaben sind ungenau. Ihre Mutter, Mme. Héon, Wächterin des Friedhofes, nahe der Villa Tric, sagt aus, daß sie Andrée Babelay oftmals im Garten sah, desgleichen auch andere Frauen, die mit Gartenarbeit beschäftigt waren.

M. Lecocq, Jagdwächter, hat auf der Straße »den Angeklagten mit einer jungen Frauensperson« spazierengehen gesehen; er sah sie in der Nachbarschaft des Teiches von Bruyères.

Um 16 Uhr wird die Sitzung aufgehoben.


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