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(1901)
Fräulein Pautzing, die Arme, floh bei Nacht und Nebel. In einem zurückgelassenen Brief schrieb sie, das Grausen vor mir hätte sie vertrieben.
Ich kriegte eine Miß Fergusson. Sie war sehr streng gegen mich – blieb sechs Wochen und wäre wohl noch länger geblieben, wenn Papa nicht zufällig erfahren hätte, daß sie früher in einer wandernden Menagerie Dompteuse gewesen war. Da mußte auch sie gehen – so zufrieden Papa mit ihren Unterrichtserfolgen war.
Die vierte Gouvernante hieß Fräulein Wagemund.
Na, ich hatte mir im Lauf der Zeit eine gewisse Erfahrung im Gouvernantenwesen erworben. Wenn ich nun sage: Fräulein Wagemund war ein Unikum von einer Gouvernante, so war sies auch. Jede andre Lehrerin geht an das Klavier widerwillig oder doch wenigstens gleichgültig heran. Fräulein Wagemund aber liebte das Klavier, und die abgehackten, widerlichen Töne einer Unterrichtsstunde, die jeden rasend machen, waren ihr eine Quelle melodischen Genusses.
Ich bin nicht engherzig und phantasielos. Ich begreife, daß sich eskimotische Schleckermäuler am Lebertran gütlich tun. Ich verstehe auch die Botokuden, die sich Korke in die Nase stecken und das für nett und praktisch erklären. – Nur die Europäer fasse ich nicht, die Freude an der Musik haben. Musik ist von allen denkbaren Geräuschen das weitaus unangenehmste.
So viel ich auch Papa anflehte, er möge mir das Klavierspielen erlassen – er blieb unerbittlich.
»Mein Sohn muß musizieren können,« sagte er. »Alle jungen Leute von Schliff und Bildung spielen wenigstens ein Instrument.«
»Aber du, Papa – warum kannst dus nicht?« fragte ich bescheiden.
»Weil mein Vater auf sein Kind nicht so bedacht war wie deiner.«
Da rief Fräulein Wagemund, und ich mußte zur Stunde.
Wie immer, wenn mich etwas drückte, ritt ich auf die bestockte Heide zu meinem Freund, Schweinehirts kleinem Stefan, um ihm mein Leid zu klagen.
Ich traf ihn beim Hutausbessern: er spannte seinen schadhaften Filz über einen halben Flaschenkürbis und nähte ihn am Rand fest. – Er lud mich in eine hohle Weide ein, die er als Villa eingerichtet hatte, und gab mir gebratene Ameiseneier zu essen. – Was aber das Klavierspielen angeht, da wußte er mir keinen Rat.
Betrübt, um eine Hoffnung ärmer, wandte ich meinen Jani nach Haus. In träumerisch-wiegendem Paß gings die Linie entlang vorbei am Ziegelschlag.
» Bon giorno, bon giorno, signorina – come sta?« rief Giuseppe, der Partieführer der Ziegelschläger, und deutete nach hinten. Aus der Lehmgrube tönte eine Klarinette, dazwischen eine Trommel, eine Geige, ein Schellenbaum und Tschinellen.
Giuseppe hielt galant mein Pferdchen und lachte mir freundlich zu – ich sprang ab und lief an den Rand der Lehmeskarpe.
Unten stand ein Italiener mit einer Messingtüte auf dem Kopf und einer Trommel auf dem Rücken, die er mit dem Unterarm schlug. Er blies Klarinette, und wenn er mit dem Fuß aufstampfte, klirrten oben auf der Trommel die Tschinellen. Zu alldem spielte Awram, der alte Zigeuner, die Violine, und die andern sangen mit hellen Stimmen.
Ich konnte mich über den Italiener nicht genug wundern. Wie – dieser geniale Mann macht mit Händen und Füßen Musik auf vier Instrumenten zugleich – und ich – ich konnte nicht ein einziges erlernen?
»Awram,« bat ich den Zigeuner – er kochte jetzt täglich für die Ziegelschläger und hatte von ihnen Italienisch erlernt – »Awram, frag doch diesen Herrn, wie er das alles eingeübt hat. Ich möchte das auch gern können.«
»Eh, meine Rubinblume, du wirst es nie erlernen, und es wär dir auch nichts nütze. Denn sieh: wenn dus auch könntest – wo nimmst du die kostbaren Geräte alle her, die man dazu braucht? Hast du Geld, dir solch eine goldne Mütze zu kaufen – die goldnen Teller – die große silberne Trommel? Von der Pfeife rede ich nicht, die könnte ich dir schnitzen.«
»Ach, Awram, du hast recht. Ich kann nicht einmal Klavierspielen erlernen, wo man doch nur zwei Hände dazu braucht – geschweige denn das da.«
»Klavierspielen ist schwer,« sagte mein alter Freund verständnisvoll. »Ich kenn das. Da lob ich mir die Geige. Jeder, der sie anfaßt, kann sie schon halb.«
»Wie das, Onkel Awram?« fragte ich interessiert und zärtlich.
»Je nun, adlige Tochter, was die rechte Hand beim Geigen tut – so – mit dem Bogen hin und her fahren – das triffst du gleich, wenn du das Ding nur in die Hand zu nehmen geruhst. Es ist grade wie mit einer Baumsäge. Bleibt dir nur noch eine Kleinigkeit mit der Linken zu lernen, und du bist eine fertige Primgeigerin.«
Am nächsten Sonntag saß ich vom Morgen bis zum Abend auf dem warmen Ziegelofen und fiedelte unverdrossen:
»Hör mich, du – du, Mädel mitm kurzen Röckel.«
Neben mir richtete Onkel Awram eine Geige her, die seit Menschengedenken unbenutzt in Papas Spiegelschrank gelegen hatte. Papa soll sie einst von einem Großoheim geerbt haben. Gestern hatte ich mich ihrer erinnert und sie heimlich mit hinaus in den Ziegelschlag genommen.
Ich wollte durchaus geigen lernen. Mir schiens leichter, viel leichter als das Klavierspielen. Hatte es doch sogar der dumme Ilia begriffen. – Papa, dachte ich mir, wird mir dann das Klavier erlassen.
Am Abend des zweiten Sonntags sagte Awram:
»Sproß am herzoglichen Stamm, du hast nun gründlich ausgelernt. Ich will noch ein übriges tun und schenke dir die schöne, gelbe Violine, die du in der Hand hältst. Das alte, schwarze Ding aber, das du mitgebracht hast, will ich behalten. Für den armen Zigeuner wirds gut genug sein.«
Als er so sprach, standen ihm die Tränen in den Augen. – Auch ich war gerührt von so viel Güte, dankte ihm tausendmal und fuhr nach Haus.
Papa saß auf der Veranda. – Ich blieb außerhalb des Gartens, langte meine Geige vor und fing an:
»Hör mich, du – du, Mädel mitm kurzen Röckel.«
Ich wollte sehen, welches Almosen mir Papa wohl geben würde.
Kaum hatte ich begonnen, da rief Papa nach dem Kutscher.
»Matthes! Geh hinaus und spalt dem Kerl, der da draußen spielt, auf meine Kosten den Schädel!«
»Ich bins, Papa,« rief ich nun, »ich – Marius!«
Er wollts zuerst nicht glauben und kam sich persönlich überzeugen. – Dann hieß er mich noch einmal spielen. – Ich tats.
Da legte Papa ernst und schwer seine Hand auf meinen Scheitel und sagte:
»Mein Sohn, ich enthebe dich hiemit des Musizierens auf ewige Zeiten. Wirf alle Noten und wirf auch deine Violine ins Feuer. Aus dem Klavier werde ich eine Hühnersteige machen lassen.«
Am nächsten Tag kam die Sprache zufällig auf Papas alte Geige. Ich erwähnte des guten Tausches, den ich mit Onkel Awram abgeschlossen hatte. Papa setzte sich sofort aufs Pferd und jagte nach dem Ziegelschlag. Aber von Onkel Awram fand er keine Spur mehr.