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Wilhelm Heinrich Riehl wurde am 6. Mai 1822 zu Biebrich am Rhein geboren, wo er sorglose Jugendjahre verbrachte und von wo aus er später täglich die fünf Viertelstunden entfernte Lateinschule in Wiesbaden besuchte, bis er auf das Gymnasium in Weilburg an der Lahn übersiedelte.
Das Erlebnis der heimatlichen Landschaft gehört für Riehl zu den unverlierbarsten und eindringlichsten seiner Lebenserfahrungen überhaupt. Obwohl er später jahrzehntelang in München gelebt hat, spielen doch die allermeisten und – was wichtiger ist – die schönsten und innerlichsten seiner Novellen in der ihm von Kindheit an vertrauten Landschaft: in Biebrich und Mainz, in Wetzlar und Weilburg, im Taunus und Westerwald, am Rhein und an der Lahn. Es ist darüber hinaus für diesen heimatverbundenen Menschen charakteristisch, daß er überhaupt in keiner seiner Erzählungen den Volksdeutschen Boden verläßt, ja daß selbst die räumlich fernsten, volksmäßig fremdesten Schauplätze seiner Novellen (»Wanda Zaluska« und »Trost um Trost«) doch noch im auslanddeutschen Baltikum gelegen sind. Wie wenig dem Dichter dabei die Landschaft jemals bloß Hintergrund für seine jeweilige Erzählung gewesen ist, sondern wie sehr sie ihm immer Atmosphäre und seelisches Erleben bedeutet, beweist wohl am besten die Novelle »Abendfrieden«, in der die Biebrich-Wiesbadener Landstraße gewissermaßen als lebendige, mithandelnde Person auftritt. Obwohl Riehl während seiner Studentenzeit im Gegensatz zu manchem seiner Kommilitonen nie über die Mittel zu großen Reisen verfügte, hat er sich doch durch zahllose Wanderungen in der näheren Umgebung der Universitätsstädte Marburg, Tübingen und Bonn schadlos gehalten und durch Eindringlichkeit und Innerlichkeit seiner Beobachtungen genügend Anregungen empfangen, die für sein späteres Schaffen von größter Bedeutung waren. So geht auf eine Erinnerung an eine Wanderung von Bonn aus heimwärts die packende Schilderung der großen Rheinüberschwemmung zwischen Andernach und Koblenz im »Meister Martin Hildebrand« zurück. Neben der als Jugend- und Heimaterlebnis bewahrten Landschaft tritt in den Novellen Riehls nur einmal eine erst in den Mannesjahren erfahrene Umwelt in Erscheinung: im »Verlorenen Paradies« schildert Riehl aus der Perspektive des Gasthofs und des Vortragssaales eine der durch Industrie, Ruß und Übervölkerung unruhigen und unschönen Städte des westdeutschen Kohlen- und Eisengebiets. Wir wissen, daß Riehl in zahlreichen deutschen Städten Hunderte von Wandervorträgen gehalten hat, so daß die Anschaulichkeit der Schilderung auch in dieser Novelle verständlich wird. Und doch ist es bezeichnend, daß der Dichter in diesem besonderen Falle, wo er nicht aus dem Erlebnis der Jugend schöpft, uns eine widerspruchsvolle, durch die Technik entartete Natur vorführt, gewissermaßen die Kontrastlandschaft zu dem Paradies seiner Heimat.
Wenn schon die unbelebte Natur mit solcher Erlebnisstärke im Werke Riehls wiedergegeben ist, um wieviel nachhaltiger muß erst der Eindruck menschlicher Persönlichkeiten auf den Dichter sich ausgewirkt haben. Zwei Männer haben auf den Knaben den stärksten Einfluß ausgeübt: sein Großvater mütterlicherseits, Johann Philipp Giesen, und Riehls eigener Vater. Jener, ursprünglich ein Schulmeister, dann herzoglich-nassauischer Haushofmeister in Biebrich, war ein streng-religiöser, naturliebender Mann, der dem Enkel durch zahllose Spaziergänge in der Umgebung Biebrichs und durch den sonntäglichen Besuch des Gottesdienstes in der Dorfkirche zu Mosbach die Liebe zur Natur, eine ausgeprägte Wanderlust und innerliche Religiosität eingepflanzt hat. Noch entscheidender hat jedoch der Vater den Sohn beeinflußt. Dieser war ein begabter, vielseitiger, aufgeschlossener Mann, der zwar das Weilburger Gymnasium bis zur Abschlußprüfung besuchte, wegen der Armut seiner Eltern aber doch nur das Tapeziererhandwerk erlernen konnte. Der Beruf, der ihn nicht befriedigt, weite Reisen und die weltanschaulichen Nachwirkungen der Französischen Revolution machen ihn zu einem kenntnisreichen und strebsamen, aber eigenwilligen und innerlich rastlosen Menschen. Daran vermag auch seine Ernennung zum Schloßverwalter des Herzogs von Nassau in Biebrich nichts zu ändern. War er auch jahrelang der einflußreichste und vielleicht sogar der gebildetste Mann an dem kleinen Hofe, so vermochte er sich doch auf die Dauer nicht genügend anzupassen und wurde nach mancherlei Reibungen mit anderen Hofbeamten schließlich durch die Ernennung zum Verwalter des – unbewohnten – Weilburger Schlosses kaltgestellt. Hier hat der tief verwundete Mann dann durch Selbstmord geendet. Die Persönlichkeit des Vaters ist zweifellos von stärkstem Einfluß auf den Menschen und auch auf den Dichter Riehl gewesen. Geerbt hat er vom Vater die musikalische Begabung, das Verständnis für die Kunst, den Sinn für große Zusammenhänge, kurz alles, was ihn später zum Gelehrten und Kultur-Historiker werden ließ. Darüber hinaus hat ihn aber das Verhältnis zu seinem Vater innerlich immer wieder beschäftigt und zu dichterischer Gestaltung gedrängt Es ist kein Zufall, daß bei Riehl so oft Väter geschildert werden, die, innerlich unbefriedigt, ihr unerreichtes Lebensziel in ihren Söhnen verwirklicht sehen möchten; erinnert sei an die Novellen »Der Stadtpfeifer« und »Seines Vaters Sohn«. Ja, vielleicht wirkt sich das Erbe dieser unausgeglichenen Zwiespältigkeit des Vaters noch aus in der so wundervoll ausgeglichenen Zwiespältigkeit des Sohnes: in dem berühmten antithetischen Wort- und Gedankenspiel seiner Novellen.
Abgesehen von den Beziehungen zu Blutsverwandten hat Riehl auch eine starke Empfänglichkeit für menschliche Begegnungen mit ihm bis dahin ganz Fremden bewiesen. Es läßt sich heute das lebendige Urbild so mancher seiner Novellengestalten nicht mehr nachweisen; vorhanden ist ein solches gewiß häufig. Denkwürdig ist vor allem das Zusammentreffen des Knaben Riehl mit dem greisen Walter Scott, wie es im »Abendfrieden« so anmutig geschildert ist. Hier berühren sich nicht nur zwei literargeschichtliche Epochen, sondern hier wird darüber hinaus unmittelbar und überaus liebenswürdig die sehr spezielle literarische Beeinflussung eines noch ganz jugendlichen Dichters durch das große Beispiel eines Meisters gezeigt: wie der wahllos-üppige, noch durchaus kindliche Fabuliertrieb des einen sich läutert zur bewußt an dem großen Vorbild des anderen sich schulenden Nachahmung.
Weniger für den Dichter als für den Kulturhistoriker bedeutsam ist der Einfluß Ernst Moritz Arndts und Dahlmanns gewesen, die er beide in Bonn als Student gehört hat. Bis zu einem gewissen Grade wird es auf den Einfluß dieser Männer zurückzuführen sein, daß Riehl nach einem sechssemestrigen Studium (1844) sich innerlich unbefriedigt von der Theologie abwandte, um sich vielmehr »dem Studium des deutschen Volkes und seiner Gesittung« zu widmen, womit er seinem Leben die entscheidende Richtung gab. Dieser Entschluß bedeutete gleichzeitig für den ziemlich mittellosen Studenten die Aufgabe der wirtschaftlich gesicherten Berufslaufbahn als Pfarrer und die Hinwendung zu dem gewagten Dasein eines freien Schriftstellers.
Endlich muß noch eines Kreises von Männern gedacht werden, die vor allem auf Riehls Entwicklung als Dichter von entscheidendem Einfluß gewesen sind und denen er im Vorwort zu seinem Novellenbande »Aus der Ecke« so warme Worte der Erinnerung gewidmet hat: Paul Heyse, Emanuel Geibel und Adolf von Schack, mit denen er lange Jahre in München in engstem geistigem Austausch gestanden hat. Er bekennt, hierbei erst das »Wesen und Kunstgeheimnis der Novelle« erfaßt zu haben. Man darf dieses Bekenntnis jedoch nicht in dem Sinne auslegen, daß Riehl auf diese Weise etwa eine fertige Doktrin über die Theorie der Novelle übernommen habe, sondern es geht vielmehr für ihn aus dem persönlichen, menschlich-fruchtbaren Verkehr mit Gleichgesinnten eben auch eine neue praktische Erkenntnis über allgemeine Fragen und Zusammenhänge des Lebens und der Kunst hervor. Das »zufällige« Ereignis des Zusammentreffens mit Heyse und Geibel ist für ihn zu einem »Erlebnis« geworden, indem es seine produktiven Kräfte geweckt hat.
Nicht nur die landschaftliche Herkunft und die Menschen unseres Umgangs entwickeln unseren Charakter; mehr noch formen uns die Geburtsstunde und die Weltereignisse, in die wir durch diese hineinwachsen. Für Wilhelm Heinrich Riehl bedeuten diese Zeitumstände weder im kulturellen noch im politischen Sinne etwas Umwälzendes. Es ist das Europa der Restauration und des Biedermeiertums, in dem er aufwächst, und die einschneidendsten politischen Ereignisse seiner Jugendjahre bestehen in den Besuchen auswärtiger Fürstlichkeiten an dem kleinen Hofe in Biebrich (wie dem der Großfürstin Helene, der in »Seines Vaters Sohn« erwähnt wird). Aus diesem von Jugend auf gewohnten Anschauungskreis mag die besondere Vorliebe des Dichters für die Schilderung des Lebens an den kleinen Höfen deutscher Duodezfürsten stammen (»Die zweite Bitte«, »Fürst und Kanzler«, »Ovid bei Hofe«, »Der Leibmedikus« u. a.). Der Jüngling hatte selbst seine innere Revolution bereits überwunden – die Aufgabe des Theologiestudiums 1844 –, war selbst bereits zu festen Lebenszielen und einer ausgeprägten Weltanschauung herangereift, als eine äußere Revolution in Deutschland alles Bestehende von Grund auf zu wandeln schien: die deutsche Erhebung von 1848. In zwei Novellen finden wir den dichterischen Nachklang dieser bewegenden Zeit: im »Theaterkind« und im »Märzminister«. In jener Novelle, die in allem, was Riehl selbst betrifft, durchaus autobiographische Gültigkeit besitzt (Riehl hat tatsächlich drei Jahre lang das Wiesbadener Hoftheater ehrenamtlich mitgeleitet), bekennt sich der Dichter als konservativ und als Gegner der Revolution aus innerster Überzeugung; im »Märzminister« dagegen verspüren wir die gleiche Gesinnung aus der feinen Ironie, mit der die »Volksmänner« und »Aufrührer« so liebenswürdig geschildert sind. Trotzdem ist Riehl durchaus nicht etwa ein »Reaktionär« gewesen, kein Mensch also, der aus Sturheit des Geistes oder gar zur Wahrung eigenen Vorteils an dem Vergangenen festhält und das Neugeschaffene haßt. Riehl besitzt – wie alle Menschen mit der Fähigkeit, intensiv zu erleben – die Gabe, organisch denken zu können. Er weiß, daß alles Bestehende notwendig sich wandelt, aber dieser Wandel muß natürliches Wachstum bedeuten, nicht gewaltsamen Umsturz. So ist die Einstellung Riehls zur Französischen Revolution von 1789 sehr bezeichnend. In jenen Novellen aus der »Rokokozeit«, in denen in irgendeiner Weise auf die bevorstehende Revolution angespielt wird, betont der Dichter die historische Notwendigkeit dieser Wandlung (am deutlichsten in der Lebensgeschichte des Hunde-Adam in »Ovid bei Hofe«); in allen Novellen dagegen, welche die »Revolutionszeit« selbst zum Hintergrunde haben, lehnt er die tatsächlich vollzogene Wandlung als gewaltsam und gekünstelt ab, am überzeugendsten wohl im »Zopf des Herrn Guillemain«, einer der tiefsinnigsten deutschen Novellen überhaupt. Riehl kennt von seiner historisch-volkskundlichen Forschung her nur zu genau die ewigen blutmäßigen und naturverbundenen Grundlagen für das Dasein jeder menschlichen Gemeinschaft, wie auch der »Staat« eine darstellt, als daß ihm das Experimentieren mit nicht-lebensfähigen, wenn auch noch so schönen Utopien zusagen könnte. Riehl ist in keiner Weise das, wozu gerade die Idealisten und Theoretiker seiner Zeit so stark neigten: er ist nicht Liberalist. Dieser Umstand hat gewiß seine literarische Nachwirkung beeinträchtigt; denn weltanschaulich, wenn auch nicht politisch, hat eben doch damals der Liberalismus gesiegt und sich fast drei Generationen hindurch behauptet. Wohl deshalb hat der »liberalere« Gustav Freytag einen so viel merkbareren Nachruhm geerntet, wohl deshalb ist Riehl so lange nahezu totgeschwiegen worden: jener entsprach der herrschenden politischen Strömung, dieser war »unzeitgemäß«.
Trotzdem ist auch Riehl kein »Romantiker« mehr. Gewiß ist er weltanschaulich zutiefst der deutschen Romantik verpflichtet, wie übrigens immer wieder gerade die besten Kräfte des 19. Jahrhunderts von dieser großen Tradition zehren. Seine Werke aber sind frei von den Übersteigerungen des romantischen Unendlichkeitssehnens, das nur allzuoft an der Vollendung hinderte: sie sind alle so in sich geschlossen und abgerundet, so handwerklich-sauber, daß Riehl hier durchaus als »Realist« erscheint, d.h. als Mensch, der die Welt und also auch die Welt seiner Kunst als Tatsache hinnimmt und meistert. In Riehl vereinigt sich die romantisch-intuitive Weltschau mit einer durchaus realistisch-sachlichen Gestaltungskraft.
Ähnlich wie die landschaftliche Umgebung des Mannesalters sich im dichterischen Schaffen Riehls so viel weniger spiegelt als die der Jugend, ähnlich sind auch die Zeitereignisse der späteren Lebensjahre auf die innere Gestaltung seiner Novellen fast ohne jeden Einfluß geblieben. Nach jahrelangem Wirken als freier Schriftsteller übersiedelte Riehl 1854 auf einen Ruf König Maximilians II. nach München, wo ihm eine Honorarprofessur für »Staatswissenschaft, Staatskunst, Gesellschaftswissenschaft, Volkswirtschaft und Kultur und Staatengeschichte« übertragen wurde. Gleichzeitig übernahm er erst die teilweise, dann die gesamte Redaktion der »Neuen Münchener Zeitung«. Seitdem ist er München treu geblieben. Hier wurde er 1859 ordentlicher Professor der Kulturgeschichte und Statistik, hier erhielt er das Amt eines Direktors des Bayrischen Nationalmuseums und Generalkonservators der Kunstdenkmäler und Altertümer Bayerns; hier ist er am 16. November 1897 gestorben.
Wenn man das Leben Riehls von rückwärts her gewissermaßen als ein abgeschlossenes Kunstwerk betrachtet, so erscheint nichts darin überflüssig, zufällig oder besser gesagt: – unverwertet geblieben. Die Heimat, aus der er stammt, die Menschen, denen er begegnet, die Zeitumstände, in die er gestellt ist, dies alles wird ihm zu wirkender, anspornender, schöpferischer Kraft.
Es gibt Menschen, die – rein quantitativ gesehen – ungeheuer viel erlebt haben, die halbe Welt bereist, an den aufregendsten Zeitereignissen teilgenommen, die bedeutendsten Mitlebenden gesprochen haben und die dennoch in Wahrheit nichts von alledem erlebnismäßig verarbeitet, die nichts aus alledem für ihr eigenes Reifen gewonnen haben. Umgekehrt findet man Menschen, deren Lebensschicksale sich in einem äußerlich bescheidenen Rahmen abgespielt haben und denen dennoch jede unbedeutendste Ortsveränderung, jede geringfügigste Tagesneuigkeit, jede zufälligste Begegnung zu einem innerlich fruchtbaren, weiterwirkenden Erlebnis geworden ist; denn als Erlebnis gilt uns stets dann ein äußeres Ereignis, wenn es unsere eigenen produktiven Kräfte weckt. Wilhelm Heinrich Riehl gehört zu jenen Menschen, die weder ihrem Geburtsort noch ihrer Geburtsstunde noch ihrem ganzen Lebenslaufe nach irgendwie durch eine besondere Fülle farbenreicher, aufregender oder erschütternder äußerer Geschehnisse begünstigt waren. Er gehört aber gleichzeitig zu jenen Menschen, die auch aus dem scheinbar Kleinsten und Zufälligsten etwas für ihre eigene seelische Entwicklung Entscheidendes herauszuholen gewußt haben, was vor allem für die Erlebnisse seiner Jugendzeit gilt, die ihn am nachhaltigsten beeinflußt haben.
Es kommt nicht auf die Menge, die Unterschiedlichkeit, die Bedeutsamkeit des objektiven Geschehens an, in das ein Mensch gestellt ist, sondern es kommt allein auf die innere Kraft des Individuums an, ob es aus allem, was ihm als Ereignis entgegentritt, den letzten Rest an erlebbarem, fruchttragendem Inhalt herauszuholen versteht. Dies aber hat Riehl vermocht; darin besteht seine menschliche und dichterische Schöpferkraft.
Wenn wir bisher die Stärke der Persönlichkeit Riehls in der besonderen Fähigkeit erblickten, äußere Ereignisse in fruchtbare innere Erlebnisse zu verwandeln, so müssen wir nunmehr unseren Blick auf eine ganz andere Fähigkeit dieses Dichters richten: auf die Fähigkeit nämlich, alle seine Erlebnisse von einem einheitlichen Mittelpunkte aus aufzunehmen und zu verarbeiten. Was auch immer Riehl dachte, empfand, durchlebte, nie berührte es einen Teilbezirk seines Wesens, sondern stets erfaßte es die ganze, ungeteilte Kraft seiner Seele. Es ist deshalb irreführend, wenn man – wie es übrigens auch oben geschehen ist – von dem »Wissenschaftler« Riehl, von dem »Dichter« Riehl und wohl gar von dem »Musiker« Riehl zu sprechen unternimmt, gleich als ob man den einheitlichen Menschen gewissermaßen in drei Teilfunktionen seiner innersten Welterkenntnis zerlegen könnte. Wir haben uns leider seit der Mitte des 19. Jahrhunderts infolge der zunehmenden Spezialisierung und Technisierung unserer Welt nur allzusehr an diese Auseinandergliederung des einheitlichen Mensch-Seins in Einzeltätigkeiten und Einzelbegabtheiten gewöhnt. Wir finden seitdem immer mehr Menschen, bei denen Privatleben und Beruf, Liebhaberei und Lebensaufgabe, Leidenschaft und Pflicht streng getrennte Gebiete darstellen, die einander vielleicht insofern ergänzen, als man das eine zur »Entspannung« von den Mühen des anderen benötigt, die aber auf alle Fälle zueinander in ausgesprochenem Gegensatze stehen. Wir haben uns daran gewöhnt, daß ein berühmter Arzt »nebenbei« meisterhaft Klavier spielt oder daß ein bekannter Jurist mit feinster Kennerschaft Kunstwerke sammelt, ohne daß wir irgendwie erwarten, daß diese Liebhabereien etwas mit den sonstigen beruflichen Aufgaben des betreffenden Mannes zu tun haben. Ja, es erscheint uns beinahe unerlaubt, aus der genießerischen Muße einer Liebhaberei einen erwerbsmäßigen Nutzen ziehen zu wollen. Und doch befinden wir uns dabei auf gefährlichem Wege, denn wir betrügen uns damit gerade um das Köstlichste im Leben: um die Einheitlichkeit der Welterfassung! Was wir nicht mit der vollsten Hingabe unserer Seele treiben, bleibt doch nur Stümperei, so pflichtgemäß es auch erfüllt werden mag, und eine Leidenschaft, die nicht im tiefsten Grunde einer höheren Verpflichtung unseres Daseins untergeordnet ist, käme doch nur unerlaubter Ausschweifung gleich.
Die Kunst, seine Liebhabereien zu einem Lebensberufe zu machen, aus Leidenschaft heraus seine Pflicht zu erfüllen, hat selten jemand so gut verstanden wie Wilhelm Heinrich Riehl. Es gibt ein berühmtes Wort von ihm, das wohl in jeder seiner Lebensbeschreibungen auftaucht. Er hat einmal gesagt: »Ein jeder Mensch reitet seine Steckenpferde; ich habe deren drei: Musik machen, Novellen schreiben und große Fußmärsche unternehmen.« Die eigentliche Bedeutung dieses Wortes erkennt man jedoch erst dann, wenn man weiß, daß in diesen »Steckenpferden« sich der tiefste Lebensdrang und Erkenntnistrieb Riehls ausgewirkt hat, daß sie als gleichwertig neben seiner wissenschaftlichen Lebensaufgabe zu stehen haben, ja daß sein Beruf als Kulturhistoriker sich erst aus diesen Liebhabereien herleitet.
Riehl ist von Jugend auf ein großer Fußwanderer gewesen, ja er bedeutet in der Tradition des deutschen Reisens wohl einen der mächtigsten Verbindungspfeiler zwischen der »romantischen Reise« des beginnenden 19. Jahrhunderts und den »Fahrten« des »Wandervogels« vom Beginne des 20. Das dichterische Selbstzeugnis finden wir – sehr andeutungsweise – in den »Glücklichen Freunden«, besser noch in der »Dichterprobe«. Für Riehl ebenso wie für die Romantik und die Jugendbewegung ist das Reisen das ursprünglichste und wichtigste Mittel zur Welteroberung und Lebens»erfahrung« (im eigentlichsten Wortsinn), ja er selbst bekennt einmal, er habe sich sein ganzes kulturhistorisches und volkskundliches Wissen im wesentlichen »erwandert«. Wie groß aber dieses Wissen gewesen ist, geht aus dem Zeugnis Wolfgang Menzels hervor: »Niemand war volkskundiger als Riehl.«
Ebenso ist die Musik für Riehl nicht Liebhaberei müßiger Stunden, sondern tiefstes Grundelement seines Wesens. So dringt ihm das Musikalische ganz unvermerkt auch in das Literarische: nicht nur, daß er eine große Anzahl von Musikernovellen geschrieben hat, in denen die Musik rein stofflich die gesamte Handlung beherrscht (Amphion, Demophoon von Vogel, Das Quartett, Gradus ad Parnassum u.a.); auch ihrem innersten Aufbau nach sind seine Novellen vom Geiste der Musik durchtränkt, sie sind »sonatenhaft knapp und gedrungen gehalten«, sie sind »architektonisch-musikalisch« gebaut, »als ob es Tonsätze wären«, »am liebsten auf zwei thematische Motive, im doppelten Kontrapunkt«. Ja, er hat versucht, in einem seiner Novellenbände (»Am Feierabend«) für jede Erzählung ein eigenes musikalisches »Lesetempo« anzugeben.
So ist ihm auch seine dichterische Arbeit nicht eine spielerische Liebhaberei, die er zur Entspannung von ernster Berufsarbeit »nebenher« betreibt, sondern sie gilt ihm durchaus als »ernste Lebensaufgabe«, als völlig gleichwertig seiner kulturhistorischen Forschung. Immer wieder verwahrt er sich gegen die falsche Einschätzung seiner dichterischen Arbeit; noch im Vorwort zum letzten seiner Novellenbände, den »Lebensrätseln«, sagt er: »Als Novellist muß ich nämlich immer versichern, daß ich kein Professor bin, und als Professor, daß ich kein Novellist bin. Zu Schillers Zeiten wären dergleichen Verwahrungen noch überflüssig gewesen.« Nichts ist charakteristischer für jenes einem unfruchtbaren Spezialistentum verfallene 19. Jahrhundert als dieser Stoßseufzer, der so wehmütig der großen klassischen Zeit des deutschen Geistes gedenkt, da der Fachmann noch nicht den weltoffenen Sinn des allseitig Beschlagenen unterdrückt hatte! Ähnlich ist auch die ausgesprochene Geringschätzung und Verspottung des einseitigen, alleswissenden und doch weltanschaulich und charakterlich ungefestigten Fachmannes zu verstehen, wie er uns in der Gestalt des »Lords« im »Theaterkind« entgegentritt.
W. H. Riehl ist in allem, was er tut, ein durchaus intuitiver Geist. Er läßt sich nicht leiten von logischen Gedankenketten oder intellektuellen Grübeleien, sondern er folgt dem ursprünglichen und unreflektierten Antrieb seiner Stimmung und seines Gefühls. Gerade dadurch dringt er auf dem Gebiete des Irrationalen besonders tief, denn gerade hier würde ihn die bloße Verstandesanwendung doch nicht zum Ziele führen. So hat Riehl als Kulturhistoriker und Volkskundler Zusammenhänge erkannt und neue Gebiete erschlossen, die sonst vielleicht noch heute im Dunkeln lägen. Dieselbe Intuition aber, derselbe ursprüngliche Antrieb ist es, der ihn zur Dichtung führt. Für Riehl sind wissenschaftliche Prosa und Novelle durchaus gleichwertige und doch durchaus verschiedene, völlig selbständige Mittel zur Erfassung der Welt. Riehl weiß, daß die Novelle an ein durchaus eigenes Formgesetz gebunden ist, daß er in der Novelle durchaus anderes mit durchaus anderen Mitteln sagen muß als in seiner wissenschaftlichen Forschung und daß doch seine Novelle als gleichberechtigt und gleich wertvoll neben seiner Wissenschaft bestehen wird.
Diese Erkenntnis hat ihn davor bewahrt, dem literarischen »Professorenroman« des 19. Jahrhunderts zu verfallen. Riehl hat sich nicht wie so mancher seiner Zeitgenossen dazu verführen lassen, einen angehäuften Wust historischen »Materials« neben dem rein fachlichen Verwendungszweck nun auch noch literarisch auszuschlachten; davor bewahrte ihn schon seine durchaus lebendige und gegenwartsnahe Geschichtsauffassung: »Das Volk ist niemals bloß Gegenwart; es lebt und webt unablässig im Werden und Vergehen der Geschichte, und wer sein Volk als lebendiges Ganze erfassen will, der wird ebenso fest auf die entschwundenen Geschlechter blicken wie auf das lebende; er wird selbst in der Gegenwart immer zugleich die Vergangenheit und Zukunft sehen.« So lehnt er mit sicherem Instinkt für das dichterisch Echte jene Hauptsünde seiner schriftstellernden Zeitgenossen bewußt ab: die berüchtigte Butzenscheibennovellistik. Er sagt selbst darüber: »Man suchte in meinen Novellen Kleinmalerei alter Sitten und Bräuche, Schilderung geschichtstreuester Szenerie, echtesten Kostüms, ein Museum von Privataltertümern – und gerade das alles hatte ich nach Kräften geflohen oder doch nur ganz leise angedeutet und in den Hintergrund gedrängt. Ich wollte ja erzählen, nicht schildern, und der historische Geist der Menschen war mir wichtiger als ihr Rock. Ich habe viel gesündigt, allein in der Manier der ›Butzenscheibennovellistik‹ sündigte ich niemals, obwohl ich kraft meines Berufes hier die schönsten Sünden mühelos hätte aus dem Ärmel schütteln können.«
So geht man auch völlig fehl, wenn man annimmt, daß Riehl seinen Novellen eine bestimmte, etwa durch eine alte Chronik überlieferte historische Begebenheit zugrunde gelegt habe, vielmehr hat der Dichter die Motive seiner Erzählungen fast durchweg selbst erfunden. Er wendet sich in dem Vorwort eines Novellenbandes ausdrücklich gegen diejenigen, die »wohl gar einen Anhang von Quellenbelegen wünschten, indes doch die meisten und besten Quellen nur in meinem Kopf zu suchen waren«. An anderer Stelle erzählt er: »So bat mich ein gelehrter Freund um Angabe jener (vielleicht bloß handschriftlichen?) Wetzlarer Chronik, woraus die Novelle vom ›stummen Ratsherrn‹ geschöpft sei, die Geschichte jenes Hundes, der seinen Herrn erzogen hat. Ich mußte ihm antworten, daß jener Hund kein anderer gewesen als mein eigener ungezogener Rattenfänger, mit dessen Dressur ich mich entsetzlich geplagt habe. Ich fand aber zuletzt, daß der Hund mich vielmehr bändigte als ich den Hund.« Absichtlich »schlug Riehl nicht erst Chroniken nach, denn wer die Chronik nicht im Kopfe trägt, wer nicht lebt in den fernen Räumen der Geschichte, der kann nur hölzerne historische Novellen schreiben«.
Die Novelle ist also keineswegs für Riehl eine Art historischer Hilfswissenschaft, sie folgt vielmehr als selbständige Kunstform ihrem eigenen Gesetz. Worin aber besteht dies? Auch für Riehl ist das Grundelement der Novelle die »ungeheure Begebenheit«. Eine Novelle besteht für ihn aus Handlung. Diese aber – und das ist das entscheidendste Merkmal der Riehlschen Novelle – muß in der knappsten, zielstrebigsten Weise gefaßt sein. Am eindeutigsten spricht er sich darüber in einer seiner eigenen Novellen aus, im »Hausbau«: »Es ging in ihrem Verkehre zu wie in einer echten Novelle: Es ward nur schlechtweg erzählt, sie wühlten nicht in Gefühlen, grübelten und predigten nicht ...« Oder an anderer Stelle: »Die ›Geschichte‹ mahnt nämlich, daß fort und fort etwas geschehe, daß nicht die Reflexion, sondern die Tat den Knoten schlinge und löse und daß die Lust am Erzählen nicht von der verführerischen Lust des Grübelns und Schilderns überwuchert werde.« Diese Erkenntnis hat Riehl vor mancher Weitschweifigkeit und mancher Gefühlszerfaserung bewahrt, wie sie uns bei Gustav Freytag begegnet, der die Romanform bevorzugte. Auf der anderen Seite zwang diese Erkenntnis Riehl zur schärfsten Selbstzucht und zur äußersten Sammlung: Es ist bei weitem schwerer, mit wenigen Worten viel als mit vielen Worten wenig zu sagen. Riehl hat diese Kunst auch nicht von Anfang an vollständig beherrscht. Er neigt in seinen beiden frühesten Novellen, die er in seine Sammlung aufgenommen hat, dem »Stadtpfeifer« und »Meister Martin Hildebrand« (beide 1847), noch zur romanhaften Entwicklungsgeschichte, aber schließlich bricht doch auch in ihnen die »ungeheure Begebenheit« immer wieder beherrschend durch (Das Konzert in Hemdärmeln, die Rheinüberschwemmung); – Riehl war eben ein geborener Novellist.
Was hat aber Riehl zu einem Meister der Novelle gemacht? Das ist zunächst sein Reichtum an »Motiven«. Nur die wenigsten Dichter sind groß im Erfinden von Stoff und Handlung; gar häufig übernehmen sie ihre Motive von anderen, nur allzuoft wiederholen sie sich selbst, – ein Vorwurf, von dem selbst ein Dichter vom Range Theodor Storms nicht ganz freizusprechen ist. Riehl hat die Grundmotive der Handlung in nahezu seinen sämtlichen fünfzig Novellen selbständig entworfen, und dabei wiederholt er sich kaum einmal, sondern ist immer wieder überraschend neu. Originalität der Erfindung ist die unübertroffene Stärke dieses Dichters, der damit einer der ursprünglichsten Fabulierer in der deutschen Dichtung überhaupt genannt werden kann. Nur ein durchaus geistvoller und dabei sehr eigenwilliger Kopf konnte diese erstaunliche Fülle spannungsgeladener Motive ersinnen, die uns – immer wieder neu, immer wieder überraschend – entgegentreten. Selbstverständlich kann man auch in den Riehlschen Novellen – und dies scheint eine Einschränkung des eben Gesagten – die Wiederkehr urewiger weltliterarischer Motive feststellen und daß insbesondere aus den ältesten Urformen der Dichtung, aus Sage, Märchen, Rätsel, manche dort beheimatete Motivstellung in Riehlsche Novellen hinübergegangen zu sein scheint (etwa im »Fluch der Schönheit«, im »Leibmedikus« und im »Zopf des Herrn Guillemain«). Gerade dies aber scheint mir nicht eine Einschränkung der dichterischen Selbständigkeit Riehls zu bedeuten, sondern vielmehr den Beweis dafür, daß er besonders tief mit dem zeitlos-irrationalen Strom der Weltdichtung verbunden ist. Gewiß könnte man die »Lügenhaftigkeit« des »Leibmedikus« vielleicht über Grillparzers »Weh' dem, der lügt« bis auf Gregor von Tours, ja bis in die Antike hinein zurückverfolgen; gewiß ist der »Fluch der Schönheit« nur das Spiegelbild des alten Märchenmotivs vom Segen der Häßlichkeit; gewiß könnte man sich beim »Zopf des Herrn Guillemain« an den Mönch von Heisterbach erinnert fühlen; – trotzdem wird uns die selbstschöpferische Arbeit Riehls, die Umwandlung und Neugestaltung des Motivs durch ihn, stets wesentlicher erscheinen als das Übernommene, denn nirgends verarbeitet er einen schon inhaltlich abgerundeten fremden Stoff.
Worin besteht nun die eigentlich schöpferische Arbeit Riehls an seinen Motiven? Fast jeder Riehlschen Novelle liegt eine gewaltige Antithese zugrunde. Es ist das jene Wesensart seiner Novellen, die er selbst als den »architektonisch-musikalischen Gesamtplan auf zwei thematischen Motiven, im doppelten Kontrapunkt« bezeichnet hat. Auf dieser Antithese beruht der besondere Spannungsreiz, häufig auch der echte Humor der Riehlschen Novellen. Als Musterbeispiele solcher antithetisch gebauten Novellen können gelten »Der stumme Ratsherr« (nicht der Ratsherr erzieht den Hund, sondern der Hund den Ratsherrn), »Jörg Muckenhuber« (Jörg, der sich schuldig bekennt, soll nicht gehenkt, die angebliche Hexe, die ihre Unschuld beteuert, soll verbrannt werden), »Der Leibmedikus« (er gilt als Vertrauter des Fürsten, solange er keinen Einfluß besitzt, als er diesen gewonnen, glaubt man nicht mehr daran), »Der Zopf des Herrn Guillemain« (vor der Revolution wünscht er den Umsturz, nach der Revolution ist er dagegen); aber auch in sämtlichen anderen Novellen Riehls herrscht der antithetische Aufbau, oft sogar bis in einzelne Wortspiele und nebensächliche Charakteristiken hinein (etwa in »Vergelt's Gott«: »Hans war ein natürlicher und Veit ein künstlicher Krüppel, Veit dagegen ein natürlicher und Hans ein künstlicher Augsburger«).
Unübertroffen aber ist der Dichter darin, wie er den jeweiligen Gegensatz – meist völlig unerwartet, ja verblüffend – zur Auflösung bringt. Das, was uns zwingt, einen guten Witz anzuhören, was uns dabei mit Erwartung erfüllt, bis zuletzt spannt, dann doch überrascht, aber auch versöhnt und mit echtester Heiterkeit belohnt, das begegnet uns beim Lesen der Novellen Riehls als immerwährende Spannung, als letzte Lösung und Befriedigung. Man erlebt dabei eine bis ins Innerste beruhigende, befreiende Wirkung, die Wirkung wahrsten Humors, wie sie uns Riehl auch nach einem Selbstzeugnis hat vermitteln wollen: »Im ernsten Tagewerke scheue ich den Kampf nicht; in der Novelle suche ich den rein und heiter abgeschlossenen Stoff, das still anregende, nicht das wild auflegende Spiel des Lebens, und mir dünkt, eben wenn die Kämpfe des Menschenherzens vor den Sinnen des Hörers am heißesten entbrennen, dann soll er doch in Ton und Stimme des Erzählers schon die kommende Versöhnung ahnen.« So gibt er einem seiner Novellenbände den Titel »Am Feierabend«, denn »er erzählt alle seine Novellen in Feierabendstimmung« und wünscht, daß sie diese Stimmung beim Leser erwecken möchten; huldigt er doch der »seltsamen Ansicht, daß die Kunst nicht berufen sei, uns niederzudrücken, indem sie uns quält, sondern uns zu erheben, indem sie uns erfreut«. Im gleichen Sinne schrieb Riehl 1862 in der Widmung seiner »Geschichten aus alter Zeit« an Ludwig Richter: »Gute Menschen zu erheben, indem wir sie erheitern, bleibt doch die erquickendste und liebenswürdigste Aufgabe des schaffenden Mannes in der Schrift sowohl wie in der Kunst.« Heiterkeit, Lebensbejahung und unbesieglicher Glaube an die Güte des Menschen sind innerste Wesenszüge der Kunst Richters und Riehls. Es mag nach alledem erstaunlich erscheinen, daß Riehls Novellen, die er selbst als ein »Gesamtwerk« bezeichnet, »das eine ernste Lebensaufgabe umschließt«, und mit dem er »als Novellist einen Gang durch tausend Jahre der deutschen Kulturgeschichte« machen wollte, »vom 9. Jahrhundert bis ins 19.«, daß diese Novellen erst volle 40 Jahre nach seinem Tode zum erstenmal in der vorliegenden Ausgabe dem letzten Willen des Dichters entsprechend erscheinen, der gesagt hat: »Vielleicht erlebe ich es noch, die sämtlichen fünfzig Novellen als ein einheitliches Werk gedruckt zu sehen unter dem Titel: ›Durch tausend Jahre‹. Dann werden sie vielleicht auch als ein Ganzes beurteilt werden.« Von Riehl selbst stammt auch die Einteilung der sämtlichen Novellen in sieben Zeitepochen, die in den Seitenüberschriften unserer Ausgabe beibehalten worden ist; nur für das farblose Wort »Neuzeit« wurde »Das 19. Jahrhundert« eingesetzt. Die Reihenfolge der einzelnen Novellen wurde freilich hier und da abweichend von Riehls Entwurf festgesetzt, da der Dichter in seinem Vorwort zu den »Lebensrätseln« wohl nur die Gruppeneinteilung, nicht aber die endgültige Aufeinanderfolge der Novellen im einzelnen angeben wollte. In unserer Ausgabe ist besonderer Bedacht darauf genommen, die einzelnen Novellen in ihrer Anordnung auch ihren Motiven nach in Zusammenklang zu bringen. So schien es z. B. notwendig, nebeneinander zu stellen die thematisch so verwandten Novellen »Der Dachs auf Lichtmeß« und »Der stumme Ratsherr« (Ritter gegen Reichsstädter), »Ungeschriebene Briefe« und »Rheingauer Deutsch« (Ludwig XIV. und Deutschland), »Der Leibmedikus« und »Ovid bei Hofe« (kleine deutsche Höfe im Zeitalter des Absolutismus). Endlich wurden »Die vierzehn Nothelfer« – obwohl im Anfang des 16. Jahrhunderts spielend – noch dem »Romantischen Mittelalter« angegliedert, weil die Novelle ihrer innerlichen Gesamthaltung nach zur »Renaissance und Reformation« gar keine Beziehungen aufweist.
Möge es dieser Neuausgabe vergönnt sein, die langjährige Vernachlässigung eines unserer ursprünglichsten Novellisten wiedergutzumachen und sein Gesamtwerk aufs neue ins Bewußtsein der deutschen Leserschaft zurückzuführen; denn, um mit einem Worte Riehls zu schließen: »Eine Novelle, die man nicht zweimal lesen mag, verdient auch nicht, daß man sie einmal lese.«