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Der Professor führte immer dreierlei Visitenkarten in seiner Brieftasche. Die feinste Sorte zeigte, elegant gestochen, die Schrift: »Dr. Alcuin Walter, o. ö. Professor der klassischen Philologie an der Universität ***, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu – usw. usw.«
Diese stolze Karte pflegte er abzugeben, wenn er recht demütig und bescheiden gesinnt war und sich sagte: Ich bin ein unbekannter Mann, die Leute wissen nicht, wer vor sie treten wird, außer sie haben meine sämtlichen Titel gestochen gelesen.
Die zweite bescheidenere Sorte war gedruckt und trug bloß die Aufschrift: »Dr. Alcuin Walter.« Er benützte sie, wenn er sich mit einigem Selbstgefühl als den bekannten Gelehrten einzuführen hoffte, dessen Namen die gebildete Welt wenigstens kennt, obgleich sie seine Schriften noch nicht gelesen hat.
Erwartete er aber, daß der Empfänger ihn als berühmten Mann oder als Freund begrüßen werde, setzte er Verehrung für seine Person und seine Werke voraus, dann überreichte er mit berechtigtem Stolze die dritte, schlichteste Karte. Eigenhändig, mit groß und kühn ausgreifendem Federzuge hatte er den bloßen Namen ohne Doktor auf die Karte mehr geblitzt als geschrieben. Sie konnte vom Empfänger zugleich für seine Autographensammlung aufgehoben werden.
Der richtige Universitätsprofessor ist der Weltmann unter den Gelehrten; warum soll er sich nicht auch mit seinen Visitenkarten weltmännisch einrichten?
Unser Freund stand eben vor dem Pförtnerhäuschen des reizenden Parks, der die »Villa Bechen« bei Trier umschließt, und besann sich einen Augenblick, nach welcher Karte er greifen solle. Rasch entschieden, nahm er die dritte, gab sie dem Pförtner und sprach sehr fest: »Die gnädige Frau wird mich erwarten.«
Etwas überrascht maß der Pförtner den völlig Unbekannten und entfernte sich dann, ihn anzumelden.
Besuche kamen nämlich in dieser Villa gar nicht vor. Frau von Bechen, eine norddeutsche Dame, hatte vor mehreren Jahren das reizende Besitztum gekauft, welches nun ihren Namen führte; aber sie war und blieb eine Fremde, sie verkehrte mit niemand in dem so geselligen und gastfreien Trier. Man wußte nur, daß sie von ihrem Manne getrennt und fabelhaft reich sei, dazu schön, geistvoll, gebildet, liebenswürdig, vierunddreißig Jahre alt, kinderlos und so gesund, daß sie nicht einmal eine interessante Migräne hatte. Trotzdem hatte sie den berühmtesten Arzt der Stadt als Hausarzt angenommen, der dann alle vierzehn Tage in der verzauberten Villa erschien, um eine Patientin zu behandeln, welcher nichts fehlte. »Andere Leute«, so pflegte der würdige Geheime Sanitätsrat zu sagen, »konsultieren mich über ihre Krankheiten, Frau von Bechen konsultiert mich über ihre Gesundheit, und das ist alleweil die angenehmste Praxis.«
Übrigens gehört ein Hausarzt in jedes vornehme Haus, und Frau von Bechen war sehr vornehm.
Der Geheime Rat brachte die einzige Kunde von der rätselhaften Frau in die Stadt, und so charakterisierte er denn auch, ein ebenso scharfer Beobachter der Seele wie des Leibes, ihr aristokratisches Wesen unter Freunden folgendermaßen:
»Es gibt plumpe und feine Aristokraten. Die plumpen wollen herrschen, imponieren, sie fordern Huldigung, Bevorzugung, sie wollen als ganz besondere Menschen beneidet und schüchtern von unten angeblickt werden. Das sind die männlicheren Naturen, gleichviel ob sonst Mann oder Frau. Der feine Aristokrat, mehr weiblichen Wesens, begehrt dies alles nicht. Er will nur unabhängig, er will sein eigener Herr sein, unberührt von allem fremdartig Aufdringlichen, Unfeinen, Gemeinen. Imperare – schreibt der eine über sein Wappenschild, Noli me tangere – der andere. Wird der plumpe Aristokrat verrückt, dann verfällt er dem Größenwahn, wird es der feine, dann verfällt er dem Einsamkeits- und Reinlichkeitswahnsinn. Eine Aristokratin dieser zweiten Klasse ist Frau von Bechen. Verhüte Gott, daß ich die treffliche Frau für verrückt erklärte; aber wenn ihrem Gemüte ja einmal Gefahr drohen sollte, so wäre es doch von dieser Seite.«
So sprach der Arzt und tat sein möglichstes, dieser Gefahr vorzubauen, indem er bei seinen Besuchen die kleine Chronik der Trierer Gesellschaft höchst artig und verlockend berichtete, damit die einsame Dame doch auch einmal Lust bekomme, diesen interessanten Verhältnissen und Personen nahezutreten. Allein Frau von Bechen hörte mit dem einen Ohre halb zu und mit dem anderen gar nicht und blieb gegen die ganze Welt im allgemeinen und die Triersche im besonderen so gleichgültig wie zuvor.
Als jedoch der Arzt unlängst nebenbei eines fremden, jungen Professors, des bekannten Alcuin Walter, gedachte, der durch sein heiter anregendes Wesen die gelehrten Häupter der Stadt entzücke, da horchte Frau von Bechen auf, als wecke sie der Name aus einem Traum, und fragte den Erzähler, ob er Herrn Walter kenne, und der Doktor, höchst erstaunt, fragte ebenso rasch, ob die gnädige Frau ihn denn kenne. Und sie wollte geschwind wissen, was den jungen Mann nach Trier geführt und ob er schon länger hier sei und bleiben werde. Und kaum hatte der Gefragte Zeit zu antworten, daß Walter auf einer Ferienreise in Trier seit mehreren Wochen Rast gemacht habe, weil ihm Stadt und Leute so überaus gefielen, so fragte sie auch schon nach der Adresse des Professors; denn sie wolle ihn bitten, daß er sie besuche, sie wolle ihn kennenlernen –
»Also kennen Sie ihn noch gar nicht?« fiel der Doktor ein.
»Persönlich nicht.«
»Erstaunlich!« rief jener.
»Aber was ist es denn Erstaunliches«, fragte die Dame, anmutig aufgeregt, »wenn ich einen berühmten Gelehrten kennenlernen will, der das ganze gelehrte Trier entzückt?«
»In der Tat, das ist nichts Erstaunliches, – und ich erstaune nur über mich selbst, gnädige Frau, weil ich Sie zu kennen glaubte und plötzlich einsehe, daß auch ich Sie erst kennenlernen muß.«
Noch am selben Tage erhielt Professor Walter ein Billett folgenden Inhalts: »Es würde mich freuen, Sie in nächster Zeit auf meiner Villa zu sehen. Meine Empfangsstunde ist nachmittags fünf Uhr. Ada von Bechen.«
Der Professor, welcher sich nur dunkler Reden entsann, die seine Trierer Freunde über die unnahbare Dame hatten fallen lassen, und der außerdem in seinem Leben nichts von einer Frau von Bechen gehört, dachte bei sich: »Die vornehmen Leute haben doch ein unschätzbares Privileg: je resoluter sie ohne Umstände tun und sagen, was sie wollen, für desto vornehmer gelten sie. Nicht einmal drei entschuldigende Worte über den Raub an meiner kostbaren Zeit, keine Zeile, weshalb sie mich zu sehen wünscht: – ich soll nur einfach kommen! Und ich werde kommen.«
So war also Professor Walter schon am nächsten Tage Punkt fünf Uhr vor dem Pförtnerhäuschen der Villa erschienen, und wir begreifen nun auch, weshalb er die bescheidenste und stolzeste, die geschriebene Visitenkarte abgab. Denn wenn Frau von Bechen ihn einzig und allein von allen Menschen sehen wollte, so mußte sie auch wissen, was er ohne Titel wert sei.
Eine Frau, die wahrhaft schön ist, ohne daß sie daran denkt, duldet eine schöne Gesellschafterin neben sich; nur wer schön sein möchte, sucht die Folie des Unbedeutenden und Häßlichen.
Dieser Gedanke fuhr wie ein Blitz durch die Seele des Professors, als ihn Frau von Bechen begrüßte, denn er hatte eine schöne Frau zu sehen erwartet und sah nun zwei auf einmal, die Herrin und ihre Gesellschaftsdame, Miß Morlan.
Allein Miß Morlan blieb eine stumme Person; sie sprach nur englisch. Und fast wäre Frau von Bechen an den ersten Worten des Empfangs gleichfalls eine stumme Person geworden, da sie beim Anblick des Fremden augenscheinlich mehr von Ideen erfaßt wurde, die sie nicht aussprach, als von solchen, die sie hatte aussprechen wollen.
Doch sammelte sie sich rasch und entschuldigte sich, daß sie es gewagt habe, Herrn Walter auf eine Stunde seinen Studien und seinen Freunden zu entziehen. Allein sie hoffe ihn einigermaßen zu entschädigen durch den Anblick des antiken Mosaikbodens, der hier auf der Villa gefunden worden sei und der ihn ohne Zweifel interessieren werde.
»Eines Mosaikbodens?« fragte der Professor mit der Miene vollkommenster Unwissenheit.
»Meines Mosaikbodens«, wiederholte Frau von Bechen, »ich habe das volle Eigentumsrecht dieses seltenen Fundes erworben. Und Sie haben noch nichts von dieser Mosaik gehört?«
Der Professor blieb stumm und schüttelte nur ein wenig mit dem Kopfe. Als ehrlicher Mann wollte er nämlich nicht geradeaus mit Worten lügen, aber mit Schweigen darf man's schon eher, namentlich wenn man eine schöne Dame ein klein wenig ärgern will. Und das wollte er. Denn er hatte genug von der merkwürdigen Mosaik vernommen, aber auch, daß die Besitzerin den kostbaren Fund vor den Augen aller Altertumsfreunde verschlossen und dadurch das ganze gelehrte Trier verstimmt und das ganze neugierige Trier entrüstet hatte.
Jetzt war auch sie merkbar verstimmt über seine Gleichgültigkeit und Unwissenheit. Ach, das war so echt weiblich, oder richtiger: so echt menschlich. Erst ärgerte sie's, daß alle Welt sich um ihren Schatz kümmere, und nun ärgerte sie sich, daß der erste Mensch, den sie darauf ansprach, sich noch gar nicht um ihren Schatz gekümmert habe. Professor Walter aber verharrte im Schweigen, um sich noch eine Weile an ihrer reizenden Schwäche zu weiden. Und das war wieder so echt menschlich! Anfangs fand er die Dame sehr liebenswürdig, weil sie ihm wie ein ganz vollkommenes Wesen erschien, und jetzt dünkte sie ihm noch viel liebenswürdiger, weil sie eine kleine Schwäche zeigte.
Nach kurzer Pause nahm Frau von Bechen wieder das Wort: »Ich bin gespannt auf die Deutung, welche Sie dem Bildwerk meiner Mosaik geben werden, vorab aber möchte ich über das Alter und den Kunstwert derselben durch den Ausspruch eines so gewiegten und berühmten Kunstarchäologen belehrt sein.«
Nun war die Reihe der beschämten Verwunderung an dem Professor. Die schöne Frau hielt ihn für einen Archäologen! Also hätte er wohl die gestochene Karte mit dem vollen Titel und nicht die titellos geschriebene abgeben sollen. Er hatte sich ebenso irrtümlich eingebildet, daß Frau von Bechen seine Schriften kenne, wie sie, daß er von ihrer Mosaik gehört habe.
»Ich bin Philolog«, erwiderte er, freundlich belehrend. »Kunstarchäolog bin ich leider nicht, – leider in diesem Falle; denn sonst pflege ich zu sagen: Gottlob!«
»Und ich glaubte, beides sei ein und dasselbe!« sagte sie lächelnd.
»Reizende Unwissenheit!« dachte der Gelehrte, »reizender noch als ihr Lächeln«, und fand sie wieder um ein Stück liebenswürdiger.
»Aber ist es denn ein Unglück, Archäolog zu sein, da Sie – gottlob! – keiner zu sein behaupten?«
»Ein Unglück in der Tat! Die Kunstarchäologie ist eine überaus notwendige Wissenschaft, wir Philologen können ihrer Hilfsarbeit nicht entbehren, wir schätzen die Archäologen als Brüder, aber wir bedauern sie zugleich. Der Archäolog übt die Kunst, da etwas zu sehen, wo andere Leute nichts sehen, und etwas zu finden, wo nichts ist. Er erbaut sich eine Welt auf Trümmern und auf Luft. Den meisten antiken Marmorbildern fehlt Hand und Fuß, nicht wenigen auch Arm und Bein, sehr vielen der Kopf, allen aber die Nase. So sind diese höchsten Kunstwerke selber das wahre Symbol der Kunstarchäologie, die überdies noch viel zu jung ist, zu gärend, zu unreif, um ihre Jünger beglücken zu können. Wir Philologen dagegen stehen auf altgefestetem Boden. Die griechische Sprache ist ein schönes, gerundetes Ganze, das harmonischste Ganze in dieser unharmonischen Welt. Beklagen gleich auch wir viele Lücken und Trümmer der Literatur, so ist uns doch des Besten genug erhalten, und etwas Sehnsucht nach dem Verlorenen gehört überall zum vollen Glück. Die Gesetze der Grammatik sind unantastbar wie die Gesetze der Logik und Mathematik, und diese Gewißheit gibt ein beseligendes Gefühl in all den Wirbeln und Strudeln unseres Dichtens und Trachtens. Die Archäologen fangen erst an, wir Philologen aber sind beinahe fertig; denn die griechische Sprache und Literatur liegt fertig vor, und man kann doch nicht immer wieder von vorn anfangen mit Textkritik und Exegese und Grammatik einer toten Sprache. Aber in diesem Tode waltet zugleich das ewige Leben, in diesem Altertume blüht die ewige Jugend. Ein jeder Mensch muß einen Glauben haben, und wir glauben an die unantastbare Vollendung der griechischen Sprache als der edelsten aller Sprachen, an die nie zu erreichende Meisterschaft der griechischen Poesie als der höchst klassischen, ewig mustergültigen. Der Geschmack wechselt, die Wissenschaft schreitet rastlos fort. Gerade deshalb bedürfen wir eines festen Punktes, von dem alle Wissenschaft ausgeht und auf den sie immer wieder zurückgreift, – das sind die klassischen Sprachen, – und einer Kunst, die über allem Wechsel des Geschmackes steht, und diese finde ich in Homer und Sophokles. Aber nicht bloß der Gelehrte, auch der Mensch findet Befriedigung und Glück in der Weihe des attischen Geistes. Die Jugend sehnt sich nach einem Paradiese der Zukunft; sind wir aber einmal über die Mittagsstunde des Lebens hinausgeschritten, dann sehnen wir uns wieder zurück nach einem verlorenen Paradiese, nach dem Paradies der Jugend. Das gilt vom Leben des einzelnen, das gilt vom Leben der Völker. Und das verlorene Paradies der modernen Kulturvölker ist das klassische Altertum, das herrliche Jünglingsalter der Menschheit – –«
Der Professor unterbrach sich; er merkte, daß er allein spreche, daß er doziere, und es ist geschmacklos, in Gesellschaft zu dozieren, vorab bei schönen Frauen.
Frau von Bechen hatte während der ganzen Rede vor sich hin auf den Tisch geblickt, wo seine Visitenkarte lag. Hatte sie zugehört? hatte sie ihn verstanden?
Als er schwieg, sah sie ihn mit großen Augen an, nahm die Karte und sprach: »Ihr Namenszug gleicht der Handschrift Ihres seligen Bruders Hugo zum Verwechseln. Es ist die Waltersche Familienhand. Ihr Bruder sagte mir, daß er seine Schriftzüge trotz aller Gegenbemühungen des Schreiblehrers der derben altmodischen Feder seines Vaters nachgebildet, so widerstandslos habe der gestrenge alte Herr überall sein Haus beherrscht und bestimmt.«
»Sie kannten meinen Bruder?«
»Ich kannte ihn nicht bloß: er war mein bester Freund, und ich bin ihm zu unauslöschlichem Danke verpflichtet. Als darum mein Arzt gestern Ihren Namen nannte, als ich erfuhr, daß Sie in Trier weilten, beschloß ich sofort. Sie zu sehen; ich lud Sie ein, obgleich ich sonst jeden Besuch ablehne, weil ich in meinem köstlichsten Besitz, in meiner Einsamkeit, nicht gestört sein will.«
Nun ging dem Professor ein Licht auf über das Entgegenkommen der unnahbaren Dame, und er verzieh ihr, daß sie von seinem philologischen Ruhme offenbar gar nichts wußte.
Sie fuhr fort: »So sehr Ihre Schrift der brüderlichen gleicht, finde ich doch in Gesicht und Gestalt nur geringe Ähnlichkeit.«
»Auch andere bemerken das gleiche«, entgegnete jener. »Hugo schlug in die väterliche Art, ich dagegen in die mütterliche.«
»Aber mehr noch als Ihre Handschrift gemahnen mich die Gedanken, welche Sie vorhin so beredt entwickelten, an Ihren verstorbenen Bruder. Und doch ist auch da wieder ein großer Unterschied. Genau wie Sie von Ihren griechischen Büchern sprach er, der Pastor, von seiner Bibel und tröstete sich und uns damit, daß uns hier in allem Wandel des Wissens und Lebens ein unwandelbar und ewig Festes gegeben sei. Doch hat Ihnen der Bruder niemals von seinem Verkehr mit meiner Familie, von seinen Besuchen auf Schloß Laubenstein erzählt?«
»Ich habe Hugo leider nur wenig gekannt. Fünfzehn Jahre älter als ich, verließ er das Elternhaus und bezog die Universität, da ich erst drei Jahre zählte; dann kam er rasch ins Amt auf weit entlegene Ortschaften und starb als Pastor zu Schönau, als ich eben in Leipzig studierte.«
»Meine väterlichen Güter«, bemerkte Frau von Bechen, »liegen bei Schönau, und Schloß Laubenstein gehörte zu seiner Pfarrei. Es sind nun zehn Jahre seit Ihres Bruders Tod – – doch, warum rede ich von diesen Dingen! Ich wollte Ihnen ja den antiken Mosaikboden zeigen.«
Sie erhob sich und schwieg, als scheue sie vor Erinnerungen zurück, zu denen sie sich doch sichtbar hingezogen fühlte.
Der Professor bat sie fortzufahren, und sie setzte sich zögernd nieder und sprach leise vor sich hin: »Sei es denn! Es ist eine kurze und traurige Geschichte. In meinen letzten Mädchenjahren wohnte ich mit meinem Vater und Bruder auf Laubenstein. Meine Mutter war schon lange tot, mein Bruder der einzige männliche Sproß unseres Hauses, ein reich begabter Jüngling, der Stolz und die Hoffnung des alternden Vaters. Da geschah es eines Tages, es war am Hubertustage 1863, daß mein Vater und Bruder zur Teilnahme an einem großen Treibjagen auszogen, und am Abend kam der verzweifelnde Vater mit der Leiche des Sohnes wieder heim. Eine verirrte Kugel hatte Karl getötet; man konnte nicht feststellen, von welchem Schützen sie gekommen, allein mein Vater behauptete, er selbst sei der unselige Schütze gewesen, und während sämtliche Jagdgenossen erhärteten, daß der arme Karl durch seine eigene Unvorsichtigkeit plötzlich in die Schußlinie geraten, war mein Vater nicht von dem Glauben abzubringen, daß er vielmehr den eigenen Sohn erschossen habe. Er verfiel in Tiefsinn und kränkelte und hat sich nie wieder erholt. Ach, das war eine entsetzliche Zeit, und wir wären vergangen vor Jammer, wenn Ihr Bruder nicht die einzige Stütze meines unglücklichen Vaters gewesen wäre. Er besuchte ihn fast täglich, nicht um ihn mit Trostgründen zu beruhigen, die doch nur vielmehr das Trostlose unseres Jammers immer neu hätten erscheinen lassen, sondern um seinen brütend sich zermarternden Geist auf andere Dinge abzulenken. Ihr Bruder war kein Pietist, aber man nannte ihn einen Mystiker, weil ihm die religiöse Erkenntnis nicht ein Vorschreiten von Licht zu Licht, sondern von Geheimnis zu Geheimnis war und ihr letztes Ziel nicht die Fülle des Besitzes, sondern die Kraft der Entsagung. Und denken Sie! – Ihr Bruder erleichterte meines Vaters Leiden, indem er denselben Ton anschlug, den Sie vorhin angeschlagen, nur in weit volleren Akkorden: – er erzählte ihm vom verlorenen Paradies! Er sprach von dem seligen Frieden, der anfangs zwischen dem Menschen und der übrigen Welt gewaltet, von der ursprünglichen Reinheit und dem angeborenen Adel unserer Natur, er flocht die ältesten Sagen der Völker, die davon reden und träumen, mit der Hand des Dichters zum wunderschönen Kranze, die Sagen vom Paradies, dessen Ort und Zeit man überall sucht und nirgends findet, weil es niemals außer uns gewesen ist, sondern immer – verschleiert und unerkannt – in uns selber. Dann lasen wir gemeinsam Miltons ›Verlorenes Paradies‹, und über den kühnen Bildern und den scharfen Gedanken, die so mächtig aus der dämmernden, ungestalten Sagenwelt des Poeten aufblitzen, vergaß mein Vater stundenlang seine Seelenmarter. Als wir aber mit dem ›Verlorenen Paradiese‹ des großen Briten zu Ende gekommen waren, fuhr Ihr Bruder nicht fort, nun auch das ›Wiedergewonnene Paradies‹ vorzulesen, denn er behauptete, hier sei die Kraft des Dichters erlahmt, wie ja überhaupt der zauberhafte Mondstrahl jeglicher Poesie nur in der Dämmerung leuchte. Und so meinte er, es gebe nur ein echtes und unvergängliches Buch vom wiedergewonnenen Paradiese, welches eben darum kein Gedicht sei: – das Evangelium. Mit der ganzen Gewalt seines dichterischen Geistes zeichnete er uns dann die reine Lichtgestalt Christi in dessen eigenen Worten, daß wir gleichsam mit Augen den Sonnenschein des Paradieses sahen, wie er während der kurzen Jahre, die der Herr auf Erden wandelte, diese dunkle Welt bestrahlt hat. Aber dieses wiedergewonnene Paradies – so meinte Ihr seliger Bruder – gehe uns auch täglich wieder verloren, und wir müßten es fort und fort wieder zu gewinnen trachten, denn Gott schenke uns gar nichts, nicht einmal den Traum eines Paradieses; und so möge der Mensch immerhin mit den Tieren den Kampf ums Dasein kämpfen, aber für sich allein kämpfe er den Kampf um das verlorene Paradies – – – das waren die einzigen Gedanken, welche die Nacht des Trübsinns meines Vaters zeitweilig zu erhellen vermochten, und so wurde ihm zuletzt auch der Todeskampf leicht, weil er im Rückschauen auf das verlorene und wiedergewonnene Paradies hinüberschlummerte.«
Mit halblauter Stimme, den Blick zu Boden gesenkt, hatte Frau von Bechen das alles so vor sich hin gesprochen. Sie fuhr plötzlich empor, wie aus einem Traum erwachend, und sagte lächelnd, den Gast hell anblickend: »War es nicht ein seltsames Zusammentreffen, daß das erste Wort, welches Sie an mich richteten, gleichfalls dem verlorenen Paradiese galt? Und daran war die Archäologie schuld und mein Mosaikboden. Und diese Mosaik will ich Ihnen jetzt zeigen.«
Der Weg zu dem Fundorte des alten Kunstwerkes führte fast durch den ganzen Park.
Alcuin Walter ging schweigend neben der Dame, die gleichfalls kein Wort redete. Wenn man sich recht tief ausgesprochen hat, dann muß man sich eine Weile ausschweigen. Allein obgleich der Professor so ganz in Gedanken dahinging, bemerkte er doch nebenbei, wie sorgsam und geschmackvoll der ganze Garten gepflegt war. Nirgends eine leere oder verwilderte Stelle, kein welkes Blatt, das die reinen Pfade verunziert hätte, jede Pflanzengruppe am rechten Ort, kein Vordrängen, Überwuchern und doch auch kein steifer Zwang: – das anmutige, maßvolle Wesen der feinsinnigen Besitzerin schien sich hier auch der Natur mitgeteilt zu haben.
Desto schneidender war der Kontrast, als sie am Ende des Parks anlangten. Mitten im Gebüsch erhob sich ein roher Bretterzaun. Die Türe war verschlossen und konnte vom Gärtner nur mit großer Mühe geöffnet werden, denn das Schloß fand sich ganz verrostet.
Der Innenraum zeigte einen verlassenen Bauplatz; es lagen noch Bausteine gehäuft, zwischen denen bereits Gras wucherte, und die ausgeworfenen Erdhaufen überspann garstiges Unkraut. In der Mitte stand eine große Bretterhütte – zum Schutze des antiken Mosaikbodens.
»Ich muß mich entschuldigen über diese Verwahrlosung«, sprach sie zu dem erstaunten Professor; – »ich will Ihnen die kurze Geschichte meiner Mosaik erzählen, das wird meine Entschuldigung sein. Voriges Jahr wollte ich hier ein Häuschen bauen lassen, eine Einsiedelei für meine stillsten Stunden. Beim Ausgraben des Fundaments stießen die Arbeiter auf altes Mauerwerk, und bei weiterem Nachforschen fand sich der trefflich erhaltene Mosaikboden. Ich ließ den Bau sofort einstellen, um die Mosaik nicht zu zerstören, und sie liegt noch in der Erde, wo sie lag. Oder richtiger, dieser Fund war mir ein angenehmer Vorwand, den ganzen Bau aufzugeben. Ach, das war ein Staub und Schmutz, ein ewiges Kommen und Gehen der Maurer, ein rohes Reden und Schreien. Und alles Unfertige, Unreinliche, alles Tumultuarische ist mir so qualvoll! Als aber die Maurer fortblieben, wollten die Gelehrten eindringen, und ich glaube, die würden mir zuletzt noch mehr Tumult gemacht haben als die Maurer. Ich erwarb das volle Eigentum des unterirdischen Fundes, ich ließ ihn bedecken und den Platz absperren, um meine Ruhe zu haben. Ich meide diese Stätte der Unordnung: wäre ich nicht so überaus ordentlich, so würde es hier ordentlicher aussehen. Und wären Sie nicht Ihres Bruders Bruder und hätte ich Sie nicht für einen Archäologen gehalten, dem ich Artigkeit mit Artigkeit lohnen wollte, so würden auch Sie niemals diese Wüstenei gesehen haben.«
Der Professor trat unter das Schutzdach und stieg hinab in die Grube, wo nun die Mosaik, schlecht genug beleuchtet, vor ihm lag. Ein kunstreicher Doppelrahmen, außen mit Mäandern, innen mit Palmetten geschmückt, umschloß die Bildfläche, welche einen Meergott darstellte, auf einer Muschel blasend. Ein anderes, nur fragmentarisches Quadrat zeigte zwei menschliche Figuren, die im Zwielichte nicht genau zu erkennen waren.
Obgleich Professor Walter das selbstvergessene Sichversenken ins klassische Altertum eben erst als das höchste Glück gepriesen, so blickte er doch jetzt, wo ihm die Antike leibhaftig gegenüberstand, nur mit sehr zerstreutem Auge auf dieses Fragment seines verlorenen Paradieses. Seine Gedanken waren vielmehr bei der schönen Begleiterin, und die Rätsel ihrer Seele schienen ihm zur Zeit lockender als alle Bilderrätsel der alten Welt.
»Was ist nun Ihr Urteil?« fragte Frau von Bechen endlich, nachdem sie lange genug auf ein Wort aus dem Munde des Gelehrten gewartet hatte.
»Mein Urteil? worüber?« fragte dieser, seinerseits verwirrt.
»Nun, ich denke, über den Mosaikboden, der da vor uns liegt.«
»Verzeihung, gnädige Frau, wenn ich diesen alten Boden bis jetzt noch sehr unaufmerksam betrachtet habe, – es ist ohne Zweifel ein merkwürdiger Fund; – Sie würdigten mich vorhin Ihres Vertrauens, – Sie erzählten mir einiges aus Ihrem Leben, – so viel und so wenig, daß ich in wärmster Teilnahme noch weit mehr zu erfahren wünschte, – ein merkwürdiger Fund! Diese Doppelmäander schlingen sich so anmutig ineinander, ein Sinnbild des ohne Anfang und Ende in geheimnisvoller Verflechtung dahinschwebenden Seins und Werdens, und dieser Meergott – –«
Er hielt inne, das Bild genauer untersuchend und offenbar jetzt plötzlich ganz von diesem Gegenstande gepackt. Seine Augen glänzten mit einemmal begeistert, und er rief mit erschreckendem Ungestüm: »Wunderbar! herrlich! welch ein Glück!«
Frau von Bechen sah ihn erstaunt an; sie wußte gar nicht, was plötzlich so Herrliches und Wunderbares aus dem alten Fußboden geworden sei, der dem Professor vor fünf Minuten noch kaum eines Blickes wert geschienen.
»Diese Mosaik«, so fuhr er etwas ruhiger fort, »hat hohen kunstgeschichtlichen Wert, sie ergänzt eine schmerzlich empfundene Lücke, wofern mich mein Auge nicht trügt, mein Gedächtnis nicht täuscht und wofern die Hypothese richtig ist, die mir eben durch den Kopf fährt.«
Da der Professor wiederum schwieg, so nahm die Dame das Wort: »Sie sagten vorhin, der Archäolog übe die Kunst, da etwas zu finden, wo nichts ist, und etwas zu sehen, wo andere Leute nichts sehen. Ich gehöre zu den anderen Leuten, und Sie selbst sind, wie mir scheint, mit einemmal Archäolog geworden!«
»Nein! ich gehöre auch zu den anderen Leuten, und eben darum halte ich noch zurück mit meiner Hypothese. Aber die Archäologie ist eine ansteckende Krankheit. Es lockt mich mit dämonischer Gewalt, den Text dieser Steine zu entziffern. Sagte ich nicht: die Archäologie hat etwas ewig Beunruhigendes? Sie reizt und befriedigt nicht, und seit Sie mich zum Archäologen gemacht, hat auch mich diese Unruhe erfaßt. Vielleicht täusche ich mich über den Wert Ihrer Mosaik, das einzig Gewisse in der Welt bleibt zuletzt doch immer – ein Buch, – hat das nicht mein Bruder auch so gesagt? – ich meine freilich zunächst ein Quellenbuch oder ein Gesetzbuch der Kritik. Ich muß Bücher nachschlagen, um meiner Vermutung gewiß zu werden, und das kann ich nur morgen früh auf der Trierer Stadtbibliothek. Gestatten Sie mir darum abzubrechen – an der Pforte des Quellenstudiums.«
Frau von Bechen gestattete dies gern, bat aber den Professor, morgen nachmittag wiederzukommen und ihr vom Ergebnis seiner Studien zu berichten. Er hatte diese Bitte im voraus gewünscht und versprach also auch sehr gerne, sie zu erfüllen.
So schieden sie.
Beim Nachhausegehen sprangen die Gedanken des Gelehrten fortwährend herüber und hinüber von der alten Mosaik zu der jungen Frau und von der jungen Frau zur alten Mosaik. In der Besitzerin der unnahbaren Villa hatte er eine Sonderlingsnatur erwartet, die er leicht übersehen, an deren Launen er sich vielleicht belustigen könnte, und statt dessen fand er eine Frau von so sicherem Wesen, so feinem Takt, so reichem Gemüt, deren eigenartiger Charakter von Geheimnissen umhüllt war, die ihn ernst und tief bewegten und zur wärmsten Teilnahme zwangen. Und es dünkte ihm, als sei die Ergründung einer Menschenseele und eines Menschenschicksals fast noch dämonischer bestrickend wie die Probleme der Kunstarchäologie, jedenfalls aber mehr archäologisch aufregend als philologisch beruhigend.
Am anderen Morgen konnte er kaum die Bibliothekstunde erwarten und trat voller Spannung in das Direktionszimmer der berühmten städtischen Bücherei.
Es war ein angenehm frischer Tag, ein Nachtgewitter hatte die gestrige Augusthitze erquickend abgekühlt. Aber in dem Zimmer brütete eine Glut, daß Walter an der Türe zurückprallte: 23 Grad Reaumur – der Bibliothekar hatte eingeheizt! Der treffliche Mann hatte nämlich lange Zeit in Batavia gelebt, bevor er diesen Ruheposten fand; sein verlorenes Paradies lag unter den Palmen der ostindischen Inseln, und er träumte sich erst dann recht warm in das selige Behagen seiner Bücherherrschaft, wenn andere Leute einen Schlaganfall fürchteten.
Ein frischer Greis, das glühend rote Gesicht von lang herabwallendem schneeweißem Haar und mächtigem weißem Bart umrahmt, fragte er den Professor artig nach seinem Begehren.
In etwas zweifelndem Tone fragte dieser wiederum, ob etwa der französische Bericht über die Expédition scientifique de la Morée von 1831 hier zu finden sei.
Der Alte gab gar keine Antwort, sondern deutete nur durch Blick und Miene an, daß es beleidigend sei, bei einer so ausgezeichneten Bibliothek überhaupt an dem Vorhandensein irgendeines Buches zu zweifeln, schlug flugs den richtigen Band des Katalogs auf, rief dem Diener zu: »Artes 3524!« Der Diener flog davon, und in wenigen Minuten lag das gewünschte Buch auf dem Tische.
»Es ist mein Stolz, daß man hier nach einem Buche nur selten vergebens fragt«, sagte der Bibliothekar, »und es ist meine Freude, wenn ein vorhandenes Buch nicht ausgeliehen ist, so daß ich die Leute befriedigen kann; wäre das Buch aber ausgeliehen, so würde mich dies gleichfalls freuen, denn es ist der Beweis, daß meine Bibliothek fleißig benützt wird.«
Der Professor empfahl sich dankend und sprach vor der Türe zu sich selbst: »Mag kommen, was da will, so freut es diesen Mann; das ist der echte Optimismus, den man nur im täglichen Umgang mit hunderttausend Büchern gewinnt. Wenn ich noch einmal zur Welt komme, so möchte ich als Bibliothekar geboren werden. Der glücklichste König auf Erden ist doch so ein Blbliothekbeherrscher. Seine Untertanen stehen wohlgeordnet in Reih und Glied, sie räsonieren und rebellieren nicht und sind allezeit seine treuen Freunde; er möchte keinen vermissen, er liebt sie alle und ist verliebt in viele. Die besten schätzt er, weil sie so selten gut, die schlechtesten, weil sie so selten schlecht sind, und bei den mittelmäßigen entzückt ihn die ungeheure Masse.«
Im stillen Hof des Bibliothekgebäudes angelangt, durchblätterte der Professor rasch sein Buch, fand die richtige Stelle und ging nun lesend weiter durch die Straßen, und als er – der Weg ist nicht weit – in das Tor seines Gasthofs, des »Roten Hauses«, trat, hatte er bereits alle Belege gefunden, er war fertig, seine Hypothese stand mauerfest. Seelenvergnügt eilte er auf sein Zimmer, unzufrieden nur über die entsetzlich lange Zeit, die er noch warten mußte, bis er auf der Villa Bechen Bericht erstatten konnte – noch ganze fünf Stunden!
Allein auch diese fünf Stunden vergingen wie alles in der Welt, und als er nun wieder der liebenswürdigen Dame gegenübersaß wie gestern, auf demselben Stuhle wie gestern, zur selben Stunde, im selben Sonnenschein, mit derselben stummen Engländerin zur Seite, da war es ihm, als sei seitdem gar keine Zeit verflossen und er sei niemals fortgewesen.
Man schritt bald zur Hauptsache, zur Mosaik, und so gingen sie selbzwei wieder durch den Park wie gestern, der heute gerade so rein und nett erschien. Aber an dem Bretterzaun sah es anders aus. Die Erdhaufen waren eingeebnet, die Bausteine ordentlich zur Seite gesetzt, das wuchernde Gras und Unkraut verschwunden.
»Ich wollte vordem hier eine Einsiedelei bauen«, sagte Frau von Bechen schalkhaft, sich an des Professors Überraschung ergötzend, »und es war unversehens eine Wüstenei geworden. Ich glaube fast, die wirklichen Eremiten sind die unordentlichsten Menschen, bloß weil sie immer allein sind.«
»Die Eremiten wohl, gnädige Frau, aber die Eremitinnen nicht, wie Ihre Villa bezeugt. Sie haben heute hier einen kleinen guten Anfang gemacht, aber Sie werden weitergehen, Sie werden einen griechischen Tempel über dieser Stätte bauen, denn« – – hier hielt er lange ein – »Sie sind die glückliche Besitzerin eines seltenen Schatzes: Ihr Mosaikboden ist griechisch!«
»Aber waren denn die Griechen jemals in Trier?«
Der Gelehrte sah die Fragerin mit großen Augen an; sie war doch niemals anmutiger, als wenn sie recht unwissend war. »Die Griechen?« rief er. »Nein! wie sollten die hierherkommen! Ihr Mosaikboden ist römisch, er ist aber griechisch als römische Mosaik. Griechische Mosaikböden, die griechisch wären, gibt es in der ganzen Welt nicht mehr, nicht einmal in Griechenland. Das ist ja gerade das merkwürdigste bei der Sache. Vor vierzig Jahren gab es noch ein kleines Stück griechisch-griechischer Mosaik – es ist zerstört worden; es fand sich im Pronaos des Jupitertempels zu Olympia und wurde dort von den Franzosen ausgegraben. So kennen wir es denn auch nur noch aus der Abbildung des französischen Berichtes; sehen Sie hier –«
Bei diesen Worten schlug der Professor das Buch auf, welches er mitgebracht.
»Das ist ja meine Mosaik! Die Mäander, die Palmetten, der Meergott!« rief Frau von Bechen. »Genau dieselben Formen, ja dieselben Farben!«
»Allerdings. Und mein Gedächtnis hatte mich gestern nicht getäuscht. Wir besitzen in Mosaik mehrere römische Kopien nach längst verlorenen griechischen Originalen wie die Alexanderschlacht von Pompeji und den Zentaurenkampf in Berlin. Aber ist es nicht wunderbar, daß die getreue römische Nachbildung der einzigen echt griechischen Mosaik, die ein modernes Auge gesehen, sich nun hier wiederfindet! Olympia und Trier! Und mehr noch. Diese Kopie ist vollständiger als jenes Originalfragment, welches die Franzosen gefunden. Denn wir haben hier noch den Anfang eines zweiten Quadrats mit zwei Figuren, die allerdings greulich verdorben sind. Sie stellen entweder einen Mann und ein Weib dar oder zwei Männer oder zwei Frauen; ein Drittes ist nicht wohl denkbar, es müßte denn ein besonders scharfes archäologisches Auge am Ende gar eine Tiergestalt heraussehen. Aber wenn man sich auch geeinigt haben wird über Mann oder Weib, Mensch oder Tier, dann wird erst die rechte Kontroverse beginnen über die Frage, welche Männer und Frauen oder Tiere im ganzen weiten Kreise des mythologischen Personals gemeint seien, und so ist die wissenschaftliche Anregung, welche die gelehrte Welt aus der Enträtselung dieser zwei nicht mehr zu enträtselnden Figuren schöpfen wird, geradezu unabsehbar. Ich meine dies im Ernst. Die größten Taten des Gedankens wurden überall dadurch vollbracht, daß die Denker zu entschleiern suchten, was ewig ein Geheimnis bleiben wird.«
Bei den letzten Worten sprach Frau von Bechen tief bewegt: »Nun höre ich wieder die Stimme Ihres verstorbenen Bruders! Wie oft hat er uns mit anderen Worten dasselbe gesagt!«
Als sie zur Villa hinabgingen, waren beide anfangs sehr nachdenklich; plötzlich aber fragte die Dame ihren schweigenden Begleiter, wie er sich denn den griechischen Tempel denke, der über der Mosaik erbaut werden solle.
»Nicht eigentlich einen Tempel«, antwortete jener, »sondern eine offene Halle mit Säulen ionischer Ordnung. Der Mosaikboden, von einem Umgang umgeben und durch ein zierliches Geländer geschützt, ist maßgebend für die ganze Anlage. Ob Seitenlicht oder Oberlicht günstiger, das wird vorerst noch zu ermitteln, und danach wird der Architekt seinen Aufbau frei und dennoch stilgerecht zu gestalten haben. Aber denken Sie denn im Ernste daran, diese Halle zu erbauen?«
Frau von Bechen bejahte es. »Und ich will zugleich meine Gründe darlegen. Nicht die wissenschaftliche Bedeutung des alten Fußbodens bewegt mich zu dem Bau, sondern die religiöse. Denn wo so viele gescheite und gelehrte Männer in den Schriften und Denkmalen Griechenlands das Urbild des Edeln und Schönen finden und aus ihrem Anschauen Kraft und Verjüngung gewinnen, wenn ihnen Hellas das Zauberwort der Dauer und des ewig Mustergültigen in allem Wechsel des Völkerdaseins ist, dann ist auch das hellenische Altertum ihre Religion. Die meinige strebt zu anderen Idealen, aber ich lasse jedem die seinen, wenn er sie nur treuen Herzens umfaßt. Da ich nun auf meinem Grund und Boden eine Reliquie besitze, zu welcher Gläubige gern wallfahren möchten, so halte ich's für unrecht, ihnen dies zu wehren. Ja, ich lasse ihnen gern eine Kapelle über ihr Heiligtum bauen. Ich werde aber jenen Teil des Parkes besonders abzäunen und mit einem eigenen Eingang versehen lassen, damit auch mich die Wallfahrer nicht stören, die anfangs in Strömen, später tropfenweis kommen werden. Denn auch ich will in meinem Heiligtum nicht gestört werden, in meiner Einsamkeit. Sie sehen, wie die wenigen Worte, die Sie gestern gesprochen, meine Ansicht von der alten Mosaik geändert haben. Und so mag denn jene ionische Halle zugleich auch ein freundliches Erinnerungsmal unseres Zusammentreffens sein. In wenigen Tagen werden Sie von Trier abreisen, wir werden uns vielleicht in Jahren nicht wiedersehen, vielleicht niemals. Die Pole der Poesie unseres Lebens sind Vergangenheit und Zukunft, und so sollen mir die schönen Stunden, welche ich jetzt mit Ihnen verlebte, in der Zukunft zur viel schöneren Vergangenheit werden, – wenn sich einmal die ionische Halle über der alten Mosaik erhebt.«
»Fesselnd und unnahbar zugleich!« dachte der Professor. »Welch ein seltenes Weib verbirgt sich hier der Welt!«
Aber er hatte nicht lange Zeit, diesen Gedanken nachzuhängen, denn sie fragte ihn nach den Schicksalen seiner Familie, nach Vater und Geschwistern, die ihr seit dem Tode seines Bruders aus den Augen gekommen waren. Sie fragte so teilnahmvoll, sie wollte alles so genau wissen; er hätte dagegen so gern von ihrem eigenen Lebensgange gehört, von dem ohne Zweifel dornenvollen Weg, der sie in diese Einsamkeit geführt, aber die Zeit verrann, und er konnte das Wort nicht finden.
Am späten Abend noch traf der Professor den Arzt und den Bibliothekar im geselligen Kreise. Er war sehr aufgeregt, freudvoll und leidvoll.
Plötzlich sagte er ganz heimlich zum Arzte: »Ihre Patientin auf Villa Bechen wird genesen: sie läßt eine Halle mit ionischen Säulen über ihren alten Mosaikboden bauen und erlaubt jedermann, das seltene Kunstwerk zu betrachten. Und die kranke Frau wird in Ihre Apotheke kommen«, so fuhr er noch leiser fort, zum Bibliothekar gewandt, – »sie will die ganze Literatur über Mosaik kennenlernen. Ich habe ihr ein Dutzend Bücher aufgeschrieben, deren ich mich im Augenblick entsann; sie wird persönlich in dem Friedenshain Ihrer Büchersäle erscheinen, daß Sie das Register vervollständigen. Die Welt kommt zu ihr hinauf in den Park, und sie steigt herunter in die Einsamkeit Ihrer Bibliothek. Sie wird genesen! – Der alte Thiersch pflegte zu sagen: ein rechter Philolog kann drei Dinge – einen Autor interpretieren, einen Staat regieren und eine Armee kommandieren, – und ich füge als viertes hinzu: eine schöne Frau kurieren; denn das alles lernt man bei den alten Klassikern.«
Die Freunde wollten Näheres wissen; allein der Professor schwieg auf alle Fragen, beschämt, als habe er schon zuviel gesagt.
Am 10. August machte Professor Walter seinen Abschiedsbesuch auf der Villa. Er wäre so gern noch länger in Trier geblieben! Zuerst hatte ihn die Stadt gefesselt, dann die Freunde, zuletzt die Freundin; allein es mußte geschieden sein. Auch sie empfand die nahe Trennung tief; war er doch der erste Mensch gewesen, dem sie sich seit langer Zeit wieder einmal genähert hatte! Auch in der Freundschaft gelten Verwandtschaftsgrade, und so war ihr der Bruder des verstorbenen Freundes sofort ein angestammter Freund gewesen, dem sie ihr sprödes Wesen erschließen konnte.
Sie war am letzten Tage mitteilsamer als je, sie erzählte viel aus ihrem früheren Leben, allein immer nur aus ihrer Mädchenzeit. Plötzlich hielt sie ein und sprach: »Ich muß Ihnen doch auch von meinem Manne erzählen.« Dann schwieg sie wieder.
»Sie waren unglücklich verheiratet?« bemerkte der Freund, um sie zum Fortfahren zu bewegen.
»Ich war verheiratet! Nein, ich bin es noch. Wir leben getrennt, freiwillig getrennt, und werden es bleiben; geschieden sind wir nicht. Hören Sie, wie das gekommen ist. Die traurigste Zeit meines Lebens war zugleich die glücklichste, eine still beglückte. Ich hätte Ihnen diese Zeit schon öfters und gerne geschildert. Ich hatte damals einen Beruf, einen vollen, anstrengenden Lebensberuf, – meinen kranken, schwermütigen Vater zu pflegen und zu erheitern. Ich habe vor- und nachher niemals wieder einen Beruf gehabt, – ach, wie war das beglückend! Und ich hatte einen Freund, Ihren Bruder, der mir den höheren Sinn des Lebens erst erschloß, der mir das Leben erst lebenswert machte. Ich träumte, das werde immer so fortgehen; Ihr Bruder wußte, ahnte nicht, wie tief ich ihn in mein Herz geschlossen – da starb er, ein halbes Jahr vor meines Vaters Tode. Wie war es mit einemmal leer geworden bei uns! Und nun erst erkannte ich entsetzt, daß es bald noch leerer werden müsse. In jener Zeit trat eine neue Gestalt in die Einsamkeit unseres Schlosses – mein künftiger Gemahl. Der Sohn eines deutschen Vaters und einer englischen Mutter, in Petersburg geboren, hatte er bereits eine hoffnungsreiche diplomatische Laufbahn in der russischen Hauptstadt begonnen, die er auf einige Jahre unterbrach, um Europa kennenzulernen. Verwandtschaftliche Empfehlungen – er ist mein entfernter Vetter – führten ihn auf dieser Reise auch in unser stilles Schloß. Und ich war die Ursache, daß er statt acht Tage acht Wochen bei uns blieb. Er ist ein vollendeter Kavalier und Weltmann; ein so unweltläufiges Landfräulein wie mich mochte er in Petersburg wohl niemals gesehen haben, der Reiz der Neuheit und des Gegensatzes fesselte ihn. Auch ich sah ihn gern, weil er meinen Vater zerstreute; er glaubte, ich sehe ihn gern, weil ich ihn gern sähe. Er warb um meine Hand, und mein Vater befürwortete die Werbung. Ich widerstrebte anfangs. Mein Vater fühlte, daß es mit ihm zu Ende gehe; sein stiller Kummer war, mich allein in der Welt zu lassen; er faßte mein Jawort als mein höchstes Liebesopfer für ihn, und ich gab es. Unsere Vermählung war des Vaters letzte Freude; er glaubte uns glücklich. Wenn er jetzt als seliger Geist mich umschwebt, kann er da noch ganz selig sein? Denn er weiß dann, daß ich unglücklich geworden bin. Und doch – wenn ich sage: ich bin unglücklich, so ist das eine Sünde, und wenn ich sage: ich bin glücklich, so ist's eine Lüge. Was bin ich denn? In einem schattenhaften, licht- und farblosen Zwischenzustand stehe ich zwischen Glück und Unglück.
Denken Sie, ich hatte meinen Mann gern, und er liebte mich glühend. Wir waren ein stattliches Paar – wie füreinander geschaffen, sagten alle Leute. Alter, Stand, Besitz, Bildung, alles paßte, und mein Mann war edel und gut. Nur in einer Kleinigkeit unterschieden wir uns zunächst, und aus dieser Kleinigkeit quoll eine Welt von Gegensätzen: er wollte beständig reisen, und ich wollte daheim bleiben. Wir machten eine Hochzeitsreise nach Konstantinopel, er hätte sie gern auch noch nach Syrien und Ägypten fortgesetzt, allein ich hielt ihn zurück. Es gibt nichts Entsetzlicheres als diese Hochzeitsreisen! Jede Ehe beginnt mit Enttäuschung, weil sie die vorgeträumte Seligkeit niemals sofort erfüllen kann, sondern erst im Laufe der Zeit, und dann ganz anders, als wir gedacht. Und nun verbittern wir uns die bitteren Honigwochen noch durch all die Unruhe und das Ungemach einer großen Reise! Mein Mann hatte gar kein Organ für dieses Ungemach; es gefiel ihm, er hätte gleich unser ganzes Leben zur Hochzeitsreise machen mögen. Er drohte mir, den ›Roman eines Optimisten‹ zu schreiben unter dem Titel: ›Das Leben eine Hochzeitsreise.‹ Er bedurfte der großen Welt selbst für die Poesie des Herzens; ich fand diese nur, wenn ich mich vor jener verbarg. Als Deutscher hatte er den Petersburger Kreisen der Diplomatie und des Hofes imponiert durch sein ungezwungen sicheres Auftreten, während andere deutsche Diplomaten wegen ihres kleinbürgerlichen Wesens geringgeschätzt oder wegen ihrer prahlerisch plumpen Nachahmung französischer und russischer Art verlacht wurden. Er sah seine Zukunft in Petersburg, er wollte wieder dorthin zurück, ja der sonst so kluge Mann glaubte törichterweise mit mir dort Ehre einlegen zu können. Ich suchte ihn davon abzubringen wie von einem Verhängnis, ich verkümmerte ihm seinen Lebensberuf. Und ich entdeckte, daß ich als Frau keinen Beruf mehr fand, während ich ihn als Mädchen besessen hatte. Mein Glück lag in der Vergangenheit, in dem weltvergessenen Laubenstein; war es unrecht, daß ich meinen Gemahl dorthin zurückzudrängen, dort zu fesseln suchte? Er aber wollte mich jener Idylle entreißen, deren Zauber ihm unfaßbar war.
Seine Liebe zu mir siegte zunächst. Wir kehrten nach dem verwaisten Schlosse zurück; er versprach, ein ganzes Jahr zu Hause zu bleiben und den Landedelmann spielen zu lernen. Er brachte es nicht fertig, und gerade diese ersehnte Einsamkeit entfremdete uns täglich mehr. Man kann nicht glücklich sein, wenn man sich langweilt, und er langweilte sich furchtbar. Nach drei Monaten erbat er meinen Urlaub und ging auf Reisen; er kam nach acht Wochen auf vierzehn Tage zurück. Dann ging er auf sechs Monate und kam auf drei Tage und dann auf ein Jahr und kam auf einen Tag; zuletzt kam er gar nicht mehr. Wir haben uns getrennt, indem wir immer weiter auseinandergingen, geschieden nicht vor Gericht, sondern in unseren Herzen. Wer wird auch so plebejisch sein, mit einem Scheidungsantrag vor dem Konsistorium zu erscheinen! Eine feine Frau meidet die Behörden wie die Gastwirte und Kellner und Eisenbahnschaffner.
Mein Leben war zerstört, denn auch auf Schloß Laubenstein fand ich keine Ruhe; es war mein altes Schloß nicht mehr. Ich bedurfte einer neuen, fremden Einsamkeit, um wieder zu genesen. So kam ich hierher. Mein Vermögen hatte ich von Anbeginn selbständig behalten, das Band mit meinem Manne war nur ein persönliches. Er reist noch immer, und ich erkundige mich insgeheim zwischendurch, wo er gerade ist und wie es ihm geht. Er aber weiß nicht, daß ich hier bin: er hat seit Jahren nichts von mir erfahren.«
Hier brach die arme Frau ab, weil ihr das Weinen nahestand.
Der Professor war viel zu feinfühlig, als daß er nun mit ratenden oder tröstenden Worten gekommen wäre. Er schwieg, bis sie sich gesammelt hatte, um von anderen Dingen zu reden.
Erst am späten Abend verabschiedeten sie sich.
»Darf ich Ihnen dann und wann in wenigen Zeilen brieflich wieder nahen und ein Lebenszeichen von Ihnen hoffen?« fragte er sehr schüchtern beim letzten Händedruck.
»Ich bitte, schreiben Sie mir nicht«, erwiderte die Dame fest und doch weich. »Halten wir unsere Begegnung fest wie einen schönen Traum, bis er mit allen Träumen verschwebt. Es peinigt mich, Briefe zu schreiben, und es ängstet mich, Briefe zu empfangen. Ich erbreche jeden mit Herzklopfen; der Postbote ist der schrecklichste Störenfried, denn er kommt täglich, und man kann ihn nicht abweisen. Leben Sie wohl – vielleicht sehen wir uns dennoch wieder!«
Dies waren ihre letzten Worte. Des anderen Tags führte die Eisenbahn den Professor gen Süden. Als er vor sechs Wochen nach Trier gekommen war, hatte der erste Blick des Altertumsfreundes der Porta Nigra gegolten, und er war erschüttert von dem Gedanken, daß unter diesen grauen Steinen die Römer und die Scharen der Völkerwanderung einhergezogen waren, die Ritter und Reisigen des Mittelalters., Geschlecht um Geschlecht, Jahrhundert um Jahrhundert; und jetzt, da er von Trier hinwegging, galt der letzte Blick des viel mächtiger bewegten Menschen der friedlichen Villa jenseit der Mosel, den Wipfeln der lustig grünenden Bäume, unter deren Schatten ein krankes, überzartes Herz keinen Frieden finden konnte. –
Monate vergingen, und der Frühling zog wieder ins Land, bis er aus dem Briefe eines Trierer Freundes erfuhr, daß auf der Villa Bechen eifrig gebaut worden an der ionischen Halle.
So war doch noch Hoffnung vorhanden, daß die Vereinsamte, dem Leben sich wiedergebend, genese. Aber sein Vertrauen auf die Heilkraft von Tempel, Mosaikboden und Mosaikliteratur, ja des ganzen klassischen Altertums war bedeutend gesunken, seit er jene letzte Beichte der wundersamen Freundin in der Abschiedsstunde vernommen hatte.
Bei der Mittagstafel im »Weidenhof« zu Elberfeld saßen zwei Herren, als die jüngst Angekommenen am untersten Ende, die sich gegenseitig beobachteten. Es ist das so ein harmloses Reisevergnügen, völlig Fremden ganz unvermerkt an der Nase abzusehen, woher sie sind, wes Alters und wes Standes.
Der eine, ein stattlicher, breit gebauter Mann, mochte vierzig Jahre alt sein, der andere, von kleinerer, schlanker Gestalt, im Anfange der Dreißig stehen. So schätzten sie sich ganz richtig während der Suppe.
Schwieriger war die Heimat nach der Mundart zu bestimmen, denn beide sprachen ein sehr gebildetes Hochdeutsch, der Ältere mit etwas mehr nordischem, der Jüngere mit kaum merkbarem südlichen Akzent. Genaueres konnten sie selbst bis zum Dessert nicht herauskriegen.
Dagegen war jeder schon beim Fisch zu der Gewißheit gelangt, daß er in seinem Nachbar zwar keinen Geschäftsreisenden, wohl aber einen reisenden Geschäftsmann vor sich habe.
Beide rühmten das Gasthaus; »nur ist es häufig überfüllt«, bemerkte der Jüngere, »und das feinste Hotel hört auf fein zu sein, wenn alle Zimmer besetzt sind.«
»Ganz im Gegenteil!« fiel der Ältere ein. »Ich liebe das Gewimmel auf allen Treppen, frühmorgens Stiefel vor jeder Zimmertür und der ganze Hausflur voller Koffer. Berge von Musterkoffern – das ist ein lustiger Anblick.«
Der Jüngere fand dieses Gebirg ganz entsetzlich. »Vermutlich noch nicht ganz auf der Höhe des Geschäftes«, denkt der eine, »er fürchtet die Konkurrenz«; – »ein vollendeter Geschäftsmann«, denkt der andere, »dem's im Gewimmel von Kommis und Koffern erst recht wohl wird wie dem Matrosen im Sturm.«
Man sprach von den Gasthöfen dieses Industrielandes; der Ältere entwickelte eine staunenswerte Kenntnis: Wenker-Parmann in Dortmund, Berliner Hof in Essen, Lünnenschloß in Hagen, Quinke in Iserlohn, Graf von der Mark in Hamm, Spengler in Bielefeld, Nogeler in Barmen, Wilder Mann in Krefeld, Joebges in Rheydt – er kannte sie alle und wußte für jeden ein treffendes Wort der Kritik; allein der Jüngere kannte sie nicht minder, nur charakterisierte er mehr, als er kritisierte, und gab zuletzt eine wahre Philosophie der Gasthöfe – dieser Gasthöfe, wo zahllose Geschäftsreisende absteigen, aber kaum eine andere Seele.
So war jeder über Stand und Beruf seines Nachbarn im klaren. Aber welcher »Branche« mochte der Ältere angehören?
Er sprach sehr kundig von Bessemerstahl und der gegenwärtigen Überproduktion in Eisen, er verkündete eine nahe Katastrophe und war Schutzzöllner. Übrigens hatte er die Kruppsche Fabrik nicht gesehen, obgleich er sich, wie er sagte, viel Mühe darum gegeben.
»Er ist ein Eisenindustrieller«, dachte der andere, »man ließ ihn nicht ein, weil er Fabrikgeheimnisse hätte ausspähen können.« Ihn selbst dagegen hatte, wie er nun erzählte, einer der Direktoren fünf Stunden lang durch alle Räume der Riesenanstalt geführt und ihm genau erklärt, wie der flüssige Gußstahl zu Rädern und Schienen, Kirchenglocken und Kanonen geformt wird; – »denn er sagte mir, ich verstehe ja doch nichts davon, folglich dürfe ich alles sehen und hören. Und er hatte recht: ich sah alles und weiß gar nichts mehr.«
»Ein Vertreter der Textilindustrie!« dachte der Ältere und fragte seinen Nachbar nach Sammet und Seide, wovon derselbe genau Bescheid wußte. Auch sein feines Wesen sprach für diese zarte Branche –, eine Vermutung, die Gewißheit ward, als er vollends berichtete, woher es komme, daß jeder seidene Regenschirm heutzutage schon im ersten Jahre zerreißt. Daran seien nicht die Fabrikanten schuld, sondern das Publikum, welches schwere Seide wolle. Denn nun setze man Eisen zu, und das mache den Stoff brüchig. Nicht »billig und schlecht« sei der Fluch unseres Gewerbes, sondern »renommistisch und schlecht«.
»Sie reisen wohl regelmäßig in diesem Revier?« fragte der Ältere.
»Jedes Jahr einmal im Spätherbst«, – das ist der wahre Lenz der Geschäftsreisenden, dachte der Frager – »und auch Sie scheinen die Route regelmäßig zu machen?«
»Ich bin zum erstenmal hier, aber ich habe seit zwei Monaten alle bedeutenden ›Plätze‹ Rheinlands und Westfalens eingehend besucht.« – »Er will neue Verbindungen hier anknüpfen«, dachte der Jüngere.
Als der Kaffee serviert wurde, war der eine gewiß, daß er einen Eisenindustriellen, der andere, daß er einen Seidenfabrikanten vor sich habe.
Wären beide gewöhnliche »kleine Reisende« gewesen, so würde jeder unvermerkt den Oberkellner gefragt haben, wer sein Nebenmann sei. Allein keiner tat es, und doch beobachtete jeder den anderen, ob nicht er es tue; sie waren ohne Zweifel beide Geschäftsleute größeren Stils.
Der präsumtive Eisenmann begab sich auf sein Zimmer Nummer 1, die Seidenbranche auf Nummer 2 – also durfte jeder seinen Nachbar für einen distinguierten Gast halten, der telegraphisch vorausbestellt hatte. Denn je niedriger die Nummer, je höher der Mann.
Wir folgen zunächst dem Jüngeren auf Nummer 2. Er legte sich ins Fenster und betrachtete die Aussicht. Gerade unter ihm lag ein Gärtchen, von der Wupper bespült; – tintenschwarz floß das Wasser dahin: kein Fisch und kein Frosch lebt darin, und wenn der beste Schwimmer hineinfiele und etwas Wasser schluckte, so würde er trotz seiner Schwimmkunst an Vergiftung sterben, denn durch den Abfluß aus hundert Fabriken ist die Wupper hier mehr chemisches Kunstwasser als Naturwasser. Und doch erfreut sie das Auge mit ihrer tiefen Spiegelung, auch ein tödliches Wasser beseelt die Landschaft. Über den Fluß wölbt sich rechts bergansteigend die große Steinbrücke, die zum Bahnhof führt, dessen stattliche Gebäude auf der Höhe thronen wie eine Akropolis, und sie sind noch dazu im griechischen Stile: eine Eisenbahnmerkwürdigkeit, die unseren Gast besonders anzog, zumal sie scharf mit dem ganzen übrigen Elberfeld kontrastiert, welches nicht sehr griechisch aussieht. Oberhalb der Brücke bildet die Wupper eine breit angeschwemmte Insel, die heute bunt genug belebt war, es wurde nämlich eine Art Kirmes dort abgehalten. Schaubude stand an Schaubude, Menagerie und Zirkus, Welttheater und Affenkomödie drängten sich hart aneinander, ein zweistöckiges Karussell überragte das Ganze; im Vordergrunde war »das größte Schwein der Welt« zu sehen und in der Nebenbude »die stärkste Frau der Schweiz«.
Aber zur Zeit lag noch Stille über dem Schauplatz, Bestien, Künstler und Kunstfreunde hielten Mittagsruhe, und auch unser Reisender streckte sich zur Siesta aufs Kanapee. Allein er war nicht lange eingeschlafen, als ihn ein Höllenlärm erweckte.
Da unten begann's lebendig zu werden. Eine Glocke tönte ohn' Unterlaß, ein fürchterliches Horn, eine Art Nebelhorn, rief mit langen Stößen die Zuschauer herbei, das Orchester des Karussells intonierte einen Walzer in Es und das Orchester der Kunstreiter gleichzeitig einen Galopp in D; der Besitzer des größten Schweins stieß in eine Trompete, und der Impresario der stärksten Frau schrie noch schneidender mit seiner eigenen Lunge. Dazu das wachsende Brausen der heranströmenden schaulustigen Menge, und alles zusammen auf engstem Raume; denn in Elberfeld fehlt es sonst an gar nichts, aber an Platz fehlt es überall.
Da war an keinen Schlaf mehr zu denken. Der unglückliche Mann von der Seidenbranche sprang auf und starrte in entsagender Verzweiflung minutenlang in den Tumult hinaus.
Nach einer Weile bemerkte er, daß sein Nachbar auf Nummer 1, gleich beschaulich am offenen Fenster liege. Er rief hinüber: »Ich hatte mir dies ruhige Zimmer eigens vorausbestellt, weil es auf Fluß und Garten geht, und nun diese Höllenkirmes da drunten!«
»Auf seinem stillen Seidenkontor ist der Ärmste des Lärmens nicht gewöhnt«, dachte Nummer l und rief doppelt laut zurück: »Auch ich habe mir dieses Zimmer eigens bestellt, weil ich mich an dem Gewimmel der Kirmes ergötzen wollte; ich bin nicht vergnügter, als wenn ich so ein recht lautes Volksfest sehe und höre.«
»Das ist der Hephästos vom Hochofen«, dachte der andere, »er ist unterm Pochen der Hämmer aufgewachsen.«
»Ein göttlicher Anblick!« schrie Nummer 1 fort, denn nur schreiend konnte man von Fenster zu Fenster plaudern. »Ich habe Glück auf meiner Reise: die nettesten Szenen und die unterhaltendsten Menschen laufen mir schon seit Wochen entgegen. Nur gestern reiste ich mit einem Professor, der war furchtbar langweilig, nicht weil er schwieg, sondern weil er stets allein redete wie auf dem Katheder. Diese Gelehrten sind doch die unerquicklichsten Menschenkinder!«
»Mitunter wohl«, rief der andere. »Doch wurde ich gestern zu Düsseldorf in eine hocharistokratische Gesellschaft eingeführt, wo wir drei Stunden lang durcheinander schwiegen, vermutlich weil die Gewohnheit des Sprechens den Leuten zu allgemein, zu bürgerlich erschien. Und ich glaube, so ein blasierter Graf oder Baron kann es an Langweiligkeit selbst mit einem Professor aufnehmen. – Aber wäre es nicht bequemer, unser Gespräch im Zimmer fortzusetzen, statt hier aus voller Brust wider die rasende Tonbrandung anzuschreien?«
Sie luden sich beide gegenseitig ein, und da beide zugleich ihr Zimmer verließen, so trafen sie mittewegs auf dem Hausgang zusammen.
Der Jüngere stellte sich nun endlich vor, indem er seine Karte überreichte, und der Ältere tat das gleiche: – »Dr. Alcuin Walter, o. ö. Professor der klassischen Philologie« usw. usw. stand auf einer Karte, – »Le comte de Bleydenperg« auf der anderen!
»Sie sind Professor der klassischen Philologie!« rief der Graf, indem er herzlich lachend die Hand seines Nachbarn schüttelte. – »Der Graf von Bleydenperg!« rief der Professor und betrachtete lächelnd zuerst den Fremden und dann seine eigene Hand; denn sie war ganz rot und tat sehr weh, so bieder hatte sie der Graf gedrückt.
Hierauf entschuldigten sie sich gegenseitig und versicherten, die echten Professoren und die echten Edelleute seien die interessantesten und unterhaltendsten Menschen und nur die unechten seien so bodenlos langweilig.
Der Graf aber zog den Professor in sein Zimmer und setzte ihn trotz allen Widerstrebens zu seiner Rechten aufs Sofa und wollte wissen, wie es nur möglich sei, daß ihn seine erprobte Menschenkenntnis so arg getäuscht habe! Wenn er dem Herrn Nachbar in Athen begegnet wäre, so hätte er in ihm wohl gleich den klassischen Gelehrten erkannt, aber was suche er denn mit seiner Philologie in Hamm, Hagen, Rheydt, Dortmund, Bielefeld und Elberfeld? Und wie in aller Welt hätten ihn denn seine philologischen Studien zur staunenswert genauen Kenntnis der Absteigequartiere sämtlicher Handlungsreisenden von Rheinland und Westfalen geführt?
Professor Walter erwiderte: »In Athen bin ich noch bekannter wie in Elberfeld: denn ich bin zwei Jahre dort gewesen. Und eben darum kann ich den wißbegierigen Elberfeldern einiges von Athen erzählen und von Troja und Ithaka, von Marathon und Salamis, von Städten, die ich alle mit Augen gesehen habe, aber gründlicher sah ich sie doch noch im Geiste durch die unsterblichen Werke der Klassiker. Die alten Humanisten, die großen Ahnherren der modernen Philologen, reisten von Land zu Land, warben und wirkten für ihre Wissenschaft an den Fürstenhöfen und Edelsitzen, bei Prälaten und Patriziern und dann wieder unter sich selbst in rastlosem Reise- und Briefverkehr. Wir Professoren beginnen in ähnlicher Weise mobil zu werden; zwar Fürsten berufen uns kaum und Prälaten und Barone gar nicht, wohl aber die Vortragsvereine der Kaufleute und Industriellen, und so sprach ich jüngst über Platons Republik in Hamm, über Euripides in Dortmund, über den Peloponnesischen Krieg in Krefeld und im Kohlenrauch von Essen über die Wolken des Aristophanes. Im Semester lese ich an meiner Universität und in den Ferien in Deutschland. Dabei lerne ich dann Land und Leute so ziemlich kennen, die Industrie ein wenig und die Wirtshäuser genau. Aber gestatten Sie mir, Herr Graf, eine Gegenfrage: es würde mich nicht gewundert haben, Ihnen auf dem Montblanc oder auf Capri zu begegnen, in Venedig oder Baden-Baden, in Scheveningen oder Nizza; allein wie kommen Sie nach Solingen und Iserlohn, nach Dortmund, Witten und Oberhausen?«
Der Graf antwortete: »Sie hätten mich auch an jenen Orten finden können, denn ich bin da überall gewesen. Allein ich bin der großen Tour satt, und wenn ich auch nicht gleich Ihnen reise, um zu lehren, so reise ich doch mit Leidenschaft, um zu lernen, zunächst auf dieser kleinen Tour durch den malerischen Wald der Fabrikschornsteine. Mein Lebensberuf ist die Politik. Man lernt sie nur einseitig in der Schule, oberflächlich im Salon, handwerksmäßig am grünen Tisch. Keiner soll sich einen Politiker nennen, der nicht das Volk bei der Arbeit beobachtet hat. Ich kannte früher nur die großen und kleinen Bauern, jetzt studiere ich die Industriellen, die ich früher unterschätzte, weil ich niemals unter ihnen gelebt habe.«
»Das gleiche sage ich von mir«, fiel der Professor ein. »Ich glaubte vordem mit Aristoteles, daß das gewerbliche Schaffen nur zu niederer Sinnesart führe, daß bloß der musenhaft erzogene Mann wahrhaft gebildet sei. Nun habe ich aber bei meinen Wandervorträgen Industrielle und Kaufleute kennengelernt, die durch Wissensdurst und mühsam errungenen Wissensschatz, durch idealen Geist und feine Sitte zahllose studierte Leute überragen. Es ist ein Bildungsdrang in unsere gewerbende Welt gefahren, der uns über den Materialismus der Zeit tröstet, und wir Gelehrte müssen alle Kraft aufbieten, daß wir uns und unsere eigenen Jünger oben halten.«
Graf Bleydenperg war ganz entzückt von diesen Worten. »Ich habe in diesen Fabrikstädten werte Freunde gefunden, die ich als ebenbürtig anerkennen muß, obgleich oder vielmehr weil sie Männer ihrer eigenen Tat sind. Familie und ererbter Besitz verleiht wohl aristokratisches Wesen, aber auch die große Arbeit führt in die große Welt, macht den Geist frei und das Herz weit, und so müssen auch wir Aristokraten der Geburt alle Kraft aufbieten, daß uns die neue Aristokratie der Arbeit nicht über den Kopf wächst.«
Zuerst hatte der Graf den Professor und der Professor den Grafen für einen Fabrikanten gehalten, und nun dachte der eine, der Professor spreche wie ein Graf, und der andere, der Graf spreche wie ein Professor – aber wie ganz ungewöhnliche Grafen und Professoren.
Übrigens schienen da drunten auf der Wupperinsel noch einige neue Orchester zu den früheren gekommen zu sein, und man verstand im Zimmer auch bei geschlossenen Fenstern kaum mehr sein eigen Wort. Der Graf schlug einen Spaziergang vor.
»Kennen Sie die Hardt?« fragte der Professor. Der Graf verneinte es. »So will ich Sie dorthin führen, und ich sage nichts vorher, um mich hinterdrein an Ihrer Überraschung zu ergötzen.«
Die beiden Reisenden gingen eine kurze Strecke die Hauptstraße entlang, stiegen dann links zwischen Häusern bergauf und betraten unversehens eine Parkanlage, welche sich die steile Höhe hinanzieht. Nach kurzem weiteren Steigen standen sie vor einer senkrecht abfallenden hohen Felswand. Bäume und Büsche umschlossen den engen Raum vor dem Felsen, dessen Rand von herabhängendem Gesträuch bekrönt war, – eine romantische Wildnis inmitten der enggescharten, verkehrswimmelnden Straßen: tiefste Einsamkeit, keine Seele weit und breit. Denn in den Gewerbstädten geht man am Werktag nicht spazieren wie in Beamtenstädten.
Der Graf hatte eine Überraschung erwartet und war dennoch überrascht. Entzückt atmete er tief auf und bekannte, eine so trauliche und zugleich großartig freie Natur hart über den Dächern einer großen Fabrikstadt noch nirgends gesehen zu haben. »Dieses Elberfeld ist überhaupt eine Stadt der Gegensätze, die sich dem flüchtigen Reisenden verbergen, den gründlichen Beobachter aber auf Schritt und Tritt fesseln.« Zugleich wunderte er sich über sich selbst, daß ihm dieser einzig schöne Punkt bei seinen jüngsten wiederholten Besuchen Elberfelds entgangen sei.
Der Professor hatte ihn gleich gefunden und seitdem alljährlich wieder besucht. »Ich träume mich hier jedesmal auf ein Stündchen nach Haus, in den Frieden unserer Wälder und meiner Studierstube. Steige ich dann wieder hinab, so vergnügt mich das Menschengedränge doppelt, und ich atme Ferienluft im Straßenstaub und Kohlenrauch. Die Ferien bedeuten nämlich für mich das aufregend anregende Getümmel der großen Welt und das Semester die erquickende Einsamkeit des Hauses und der Natur.«
»Ihr Gelehrte seid doch glückliche Menschen!« rief der Graf. »Ihr ruhet euch aus in der Arbeit, und wenn euer neuestes Buch gedruckt vor euch liegt, so habt ihr doch irgend etwas abgeschlossen und fertiggebracht. Der Politiker bringt gar nichts fertig. Was er heute aufbaut, das wirft eine ungeahnte Welle der Tatsachen, ein unerwartet neuer Strom der öffentlichen Meinung morgen wieder um. Wir finden in der Arbeit nur den Krieg. Künstler und Gelehrte, die in ihrer Arbeit den Frieden finden, die sich in die Einsamkeit ihrer Werkstatt schaffend verschließen, können alt werden und doch jung bleiben; aber kein großer Staatsmann ist jemals alt geworden, ohne sich zu überleben, ja die meisten überleben sich, bevor sie nur alt geworden sind.«
»Vor Jahr und Tag«, sprach der Professor, »glaubte ich allerdings, in der Philologie den vollen Frieden des Schaffens gefunden zu haben. Aber vorigen Sommer verirrte ich mich unversehens ein klein wenig ins Gehege der Kunstarchäologie, und diese aufregende Disziplin hat mich mehr und mehr gepackt, so daß ich sie mit den philologischen Studien zu verbinden trachte. Es ist eine dämonische Wissenschaft! Und können Sie's wohl glauben: zu dieser beunruhigenden Archäologie lockte mich eine schöne Dame, die so unwissend war, daß sie glaubte, Philologie und Archäologie seien ein und dasselbe! Diese Dame – – –«
Sie waren auf den Scheitel des Berges, auf die eigentliche Hardt gekommen, und es öffnete sich hier eine so prächtige Aussicht, daß der Graf, in den Anblick versunken, offenbar nicht zuhörte, und so unterbrach sich auch der Professor.
Links lagen die Höhen, welche Elberfeld umrahmen, und aus der Tiefe lugten hier und dort die Dächer der Stadt hervor; rechts im fernen Hintergrunde tauchte die Schwesterstadt Barmen auf, von grünen Waldhügeln umkränzt, und mittendurch zog die Wupper zwischen Häusern und Gärten ihren leicht geschweiften Bogen. Der Wind verwehte die verworrenen Klänge der Elberfelder Kirmes, daß man sie nur abgebrochen hörte, und trug dagegen vom Barmer Kirchhof, der fern an der jenseitigen Bergeshalde lehnt, die Akkorde eines von Posaunen geblasenen Chorals gedämpft und doch voll herüber. Die Abendsonne verglühte, und ein dünner Nebelschleier verhüllte das unruhige Häusergewimmel des betriebsamen Tals.
»Welch ein ergreifendes Bild des Lebens!« rief der Graf. »Hier Lust, dort Leid, Kirmes und Kirchhof, Walzer und Choral, – und dazwischen das Summen der Maschinen, das Brausen der arbeitsvollen Stadt, – und das Abendrot gießt seinen versöhnenden Schein heute wie gestern über all den ruhelosen Wechsel des Menschendaseins! Wir beide aber stehen auf diesem Berg wie auf einer glückseligen Insel, unten die Brandung ringsum, hier oben der Friede! Von der Ferne verklärt, fließen die verdämmernden Hügel mit dem Himmel zusammen – wie die Zukunft. Denn das ewig Ferne, das ewig Künftige nennen wir Himmel, und mit jedem Schritt, womit wir uns nähern und ihn wie Kinder greifen wollen, weicht er zurück. Wer doch im Kampf seines eigenen Herzens auch zuweilen solch eine glückselige Insel finden könnte! – Sie schweigen, lieber Professor, und ich unterbrach Sie vorhin. Sie wollten mir von Ihrer Bekehrung zur Archäologie durch eine schöne Dame erzählen. Bekehrungen durch schöne Damen kommen häufig vor, doch archäologische sind da, glaub' ich, eine Seltenheit.«
Der Professor fragte, ob der Graf schon in Trier gewesen, ob er die Villa Bechen und ob er Frau von Bechen kenne. Der Graf verneinte alles und entsann sich auch nicht, jemals von einer Familie »von Bechen« gehört zu haben.
Nun erzählte der Professor in aller Kürze von dem Mosaikboden, den er bei der einsiedlerischen Frau gesehen, und wie er sofort die römische Kopie des griechischen Originals richtig erkannt habe und dadurch vom archäologischen Fieber ergriffen worden sei, während andererseits die Dame durch den Bau der Halle und ihre Mosaikstudien wieder mit Menschen verkehren lerne und langsam genese. Und so könne es am Ende noch geschehen, daß die kranke Frau durch die Mosaik menschlich gesund, er, der Gesunde, aber archäologisch krank werde.
»Bei dieser Krankheit«, sagte der Graf lächelnd, »könnte aber das archäologische Fieber leicht nur äußeres Symptom sein, während der Grund des Leidens ganz woanders sitzt. Lesen Sie moderne Novellen?«
Der Gelehrte erwiderte, im Studium der Novellistik sei er nur bis zu deren klassischen Anfängen vorgedrungen und also beim »Goldenen Esel« des Apuleius stehengeblieben.
»Nun gut!« fuhr der Graf fort, »ich meinerseits lese auch die spätere Novellistik. Und da erscheint mir nun Ihre Frau von Bechen genau wie aus einer Novelle modernster Art geschnitten.
Es gibt nämlich jetzt eine ganze Zahl deutscher Novellen und Lustspiele von äußerst feiner und geistreicher Durchführung, die nur an dem einen Fehler leiden, daß das ganze handelnde Personal aus lauter reichen, vornehmen, schönen und gebildeten Leuten besteht, die auf Gottes Welt gar nichts zu tun haben, als gebildet, schön, vornehm und reich zu sein. Und weil nun der Mensch doch einmal auch irgend etwas anderes tun muß, so schwelgen sie in der Melancholie ihrer eigenen Langweile, als ob dies eine Gedankentat sei, zerren und renken fortwährend an ihren Gefühlen, bis dieselben richtig auf dem Kopf stehen, verlieben sich aus Nichtstun in sich selbst oder Paar um Paar übers Kreuz, wobei kleine Ehebrüche die Handlung steigern, lieben überhaupt, wo sie hassen, und hassen, wo sie lieben sollten; sie tun alles mögliche Interessante und Aufregende, nur nichts Gescheites und Gesundes, weil sie, genau betrachtet, zuletzt doch immer gar nichts tun. Und es gibt wirklich Originale, die den Novellisten zu diesem poetischen Schattenspiel gesessen haben. Ich kenne mehrere solcher Frauen. Sie sind alle hochgeboren, bezaubernd schön, reich und geistvoll, reisen beständig durch alle Länder Europas, wobei man aber niemals etwas von ihren Männern zu sehen bekommt; Virtuosinnen der Grille und Laune, sind sie unendlich verschiedenen Sinnes, gleichgesinnt nur in einem Punkte: – sie schwärmen alle für Bayreuth.«
»Meine Dame«, entgegnete der Professor etwas verstimmt, »sieht diesem Zerrbild nicht im mindesten ähnlich. Sie reist von vornherein gar nicht, sondern sitzt zu Hause, während ihr Mann vielmehr unaufhörlich reist.«
»Und wie heißt denn dieser Mann?«
»Wie er heißt? – Nun, der Mann der Frau von Bechen wird wohl Herr von Bechen heißen. Nach seinem Taufnamen habe ich nicht gefragt. Übrigens scheint mir vielmehr dieser Mann und nicht die Frau aus einer der geschilderten Novellen geschnitten. Denn er ist sozusagen vaterlandslos, Sohn eines deutschen Vaters und einer englischen Mutter, in Rußland geboren und erzogen, auf dem kosmopolitischen Boden des Hofparketts gebildet, grillenhaft und eigensinnig, ein herzloser Egoist, der das sinnige, überzarte, echt deutsche Wesen seiner unglücklichen Gemahlin nicht versteht und ihrer gar nicht wert ist, weshalb die freiwillige Trennung beider Gatten wohl das Vernünftigste war, was sie tun konnten. Und wenn es der armen Frau zur Zeit an einem Lebensberuf fehlt, so hat sie vordem doch den edelsten weiblichen Beruf geübt, als sie noch auf Schloß Laubenstein ihren kranken Vater pflegte. Beruflos wurde sie erst durch die Ehe, welche einer Frau, die den rechten Mann findet, doch erst den wahren Beruf verleiht.«
Der Graf war sehr aufmerksam geworden. »Hat Frau von Bechen selber Ihnen diese Schilderung ihres Gemahls gemacht?« fragte er in ganz verändertem Tone.
»Ja und nein! Sie gab nur die Zeichnung, ich trug die Farben auf. Und wenn Frau von Bechen zeichnet, so kann sie es nur in Linien, so zart und fein und rein, wie sie selber ist. Die groben Drucker sind also von mir. Ja, mir scheint, sie liebt noch immer diesen Mann, der sie nicht versteht; sie liebt ihn tiefer, als sie weiß. Als er um sie warb, liebte sie ihn noch nicht; als er sich ihrem besseren Wesen fügte, begann sie ihn ein wenig zu lieben; da er sich ihr entfremdete, wuchs ihre Liebe, und seit er sie verlassen hat, wurde diese Liebe immer stärker. Sie forschte verstohlen nach seinem Aufenthalt, während er sich um den ihrigen nicht mehr kümmerte. Sie träumte von einem verlorenen Paradies, doch unterderhand wurden verschiedene Paradiese daraus. Und ich glaube, sie hat noch ein weiteres dazu verloren, ohne zu wissen, daß sie es jemals besessen: das Paradies der unter Kampf und Widerstand still aufkeimenden pflichttreuen Liebe.«
Während dieses Gesprächs waren die beiden Reisenden von der Hardt wieder in die Stadt hinabgestiegen, und im Lärm und Gedränge der engen Straßen schwieg der Professor. Auch der so redefertige Graf wurde einsilbig; – dann verstummte er ganz.
Man trennte sich. Ein jeder war für den Abend anderswohin versagt, und am nächsten Morgen früh mußte Professor Walter abreisen, vorerst nach Krefeld, um dort über den »Chor in der griechischen Tragödie« zu sprechen. In acht Tagen hoffte er in Trier zu sein, welches diesmal gleichfalls zu seinen »Vortragstädten« zählte.
Er fragte den Grafen, ob er nicht mit ihm in Trier zusammentreffen wolle, um die merkwürdige Stadt und den Mosaikboden mit der neuen ionischen Halle zu sehen.
Allein Graf Bleydenperg hatte kein Interesse für Altertümer und war, wie er sagte, jetzt reisemüd. Er beabsichtigte zunächst eine mehrmonatliche Rast in Wiesbaden.
»Ich liebe«, so sprach er, »die Badeorte im Spätherbst und Wiesbaden vor allen. Die Stadt ruht dann und ist doch nicht tot, die Natur geht schlafen und ist doch noch schön. Ich kann heute still wie auf dem Lande leben und morgen alle Genüsse einer Großstadt aufsuchen; ich freue mich der reinlichen Promenaden, die vereinsamt sind, als ob sie für mich allein gemacht wären, und bin doch auch Herr in dem immer noch überfüllten Hotel; aber die peinlichen Kranken und die leidigen Vergnügungsreisenden sind verschwunden, und für den Winter eingemietete Familien bieten die beste Gesellschaft. Mehr noch zieht mich jedoch ein Kreis alter Freunde nach jener Stadt, lauter Generale außer Dienst. Ich nenne die lustigen alten Herren meine Herbstfreunde: denn wir sehen uns dort jeden Herbst wieder. Es ruht ein eigener Zauber auf solchen Saisonfreundschaften. Sie bleiben frisch und jung, weil sie immer wieder getrennt werden; genießt man sie dann nach Jahresfrist aufs neue, so ist's uns doch schon wieder in der ersten Stunde, als seien wir niemals getrennt gewesen. Aber auch ein leis wehmütiger Gedanke trübt das fröhliche Wiedersehen – doch nein! er verklärt es: wir erinnern uns, daß wir alle um ein Jahr älter geworden sind.«
Professor Walter war spätabends in Trier angekommen. Am anderen Morgen eilte er schon um neun Uhr auf die Stadtbibliothek, um sich bei dem würdigen Bibliothekar vorerst nach Frau von Bechen zu erkundigen, bis die schickliche Zeit zum Besuch auf der Villa herannahte.
Er fand den alten Herrn genau so, wie er ihn vor vierzehn Monaten verlassen, und auch das Zimmer hatte noch seine richtigen dreiundzwanzig Grad Réaumur.
Der Büchermann sprach etwas kühl von Frau von Bechen. »Sie hat allerdings die Menschen nicht mehr ganz gemieden und einige Besuche angenommen und erwidert. Auch ging sie manchmal durch die Stadt, wobei man sie genau beobachtete, aber immer nur einsam, nur von ihrer Engländerin begleitet: sie hat die Porta Nigra angesehen und die Thermen, die aber keine Thermen sind, sondern eine Basilika, ein Kapitol, ein Centifanum, ein Palast oder sonst dergleichen. Früher suchte sie die Einsamkeit bei sich, jetzt sucht sie dieselbe in der Welt.«
»Wer aber die Einsamkeit in der Welt sucht, der findet zuletzt die Welt und verliert die Einsamkeit«, – unterbrach der Professor und fragte, ob denn Frau von Bechen die ganze Literatur über Mosaik schon durchstudiert habe.
»Sie hat nicht eine Zeile über Mosaik zu lesen begehrt, dagegen verlangte sie zahlreiche andere Bücher.«
»Und welche?« rief der Professor hastig.
Der Bibliothekar schlug das Ausleihebuch auf und las: »Frau von Bechen: – Martens, Guide diplomatique; Bilder aus der Petersburger Gesellschaft; Vatell, Droit des gens; Schleiermachers Monologe; Mischler, Das Eisenhüttengewerbe; Spees Trutznachtigall; Roschers Grundlagen der Nationalökonomie; Paul Gerhardts geistliche Lieder, – und dann folgt noch ein ganzes Dutzend Memoiren und Biographien berühmter Staatsmänner von Sully bis Bismarck. Was so eine vornehme Dame nicht alles durcheinander liest! Für Kunst und Altertum hat sie jedoch gar keinen Sinn. Ich zeigte ihr das Juwel unserer Bibliothek, den Codex aureus; sie würdigte ihn aber kaum eines Blickes. Der Geheime Sanitätsrat ist besorgt wegen ihrer Gesundheit, er sagt, es entwickle sich ein Nervenleiden bei der früher so gesunden Frau. Also scheint das, was man geselligen Verkehr nennt – der Umgang mit Büchern, alten Bauwerken und Menschen – ihrer Natur nicht besonders zuträglich. Überdies sind seit einiger Zeit bedenkliche Gerüchte über Frau von Bechen im Umlauf. Man hält sie für eine Abenteurerin: sie soll einen falschen Namen führen; die Polizei hat bereits in aller Artigkeit darüber nachgefragt, und es könnte sein, daß sich die Gesellschaft nun von ihr zurückzieht, wo sie dieselbe zu suchen beginnt. – Sie ist seit voriger Woche verreist, wie man meint, um die Sache wegen des falschen Namens in Ordnung zu bringen. Vielleicht findet sie den richtigen Namen unterwegs und bringt ihn mit, oder sie findet ihn nicht und kommt auch nicht wieder.«
Der Professor erschrak gewaltig über diese Auskunft. Er wußte durchaus nicht, was er dazu denken sollte, und eilte sinnend und rätselnd in seinen Gasthof zurück.
Dort überreichte ihm der Portier einen Brief, die Adresse war von bekannter Hand. Denn obgleich er in seinem Leben erst drei Zeilen dieser Schrift gelesen hatte, würde er sie doch unter Tausenden erkannt haben: – es war ein Brief von Frau von Bechen, der schon seit acht Tagen, seit ihrer Abreise, dalag und den er in zitternder Hast erbrach.
Sie schrieb, daß sie von seinem bevorstehenden Besuch in Trier vernommen habe und sich sehr gefreut haben würde, ihn wiederzusehen. Allein dringende Geschäfte riefen sie in ihre Heimat, nach Laubenstein; nur für wenige Tage werde sie überhaupt noch nach Trier zurückkehren, um die Einleitung zum Verkauf ihrer Villa zu treffen. Sie fürchte, daß man ihm in der Stadt Fabeln und Märchen von ihr erzähle, darum schreibe sie diese Zeilen, weil sie wolle, daß ihm ihr Bild wahr und klar bleibe. Aus der Einsamkeit hervortretend, habe sie mit Schrecken gewahrt, daß sie bisher wie im Schlafe gewandelt sei, daß sie wie eine phantastische Abenteurerin gelebt habe; denn auch wenn man gar nichts tue, könne man abenteuern, ja dann vielleicht am meisten. Sie habe seit seiner Abreise mit aller Kraft gerungen, das Wesen ihres Mannes zu verstehen und ihm gerecht zu werden, sie habe Interesse für seine Interessen zu gewinnen gesucht, sie sei in Gedanken mit ihm nach Petersburg gezogen, ja sie habe an seinen politischen Studien teilgenommen – zu spät! wie sie jetzt einsehe. Ihr Leben sei verfehlt durch eigene Schuld. Darum werde sie sich nach Laubenstein zurückbegeben auf den für sie einzig festen Boden der Jugendheimat, und ein Beruf werde sich dort ja finden, solange es verwahrloste Kinder zu erziehen, Arme zu unterstützen, Kranke zu pflegen, Unglückliche zu trösten gebe. Da liege das verlorene Paradies, welches sie wiedergewinnen müsse, und der Geist seines verstorbenen Bruders sage Amen zu diesem Plan.
Tief bewegt steckte der Professor den Brief in die Tasche und ging ziellos durch die Stadt und über die Moselbrücke, und eh' er sich's versah, stand er vor der Pforte der Villa Bechen.
Er wollte hineingehen, um sich zum letztenmal die vom edelsten Frauenherzen geweihte Stätte zu betrachten und die ionische Halle und die Mosaik, welche doch nicht so heilkräftig gewirkt, wie er's erwartet hatte.
Noch stand er zögernd vor dem Pförtnerhäuschen. Da fuhr ein Wagen vor, und ein Herr stieg aus, der dem Professor beim ersten Blick bekannt schien; – noch einen Blick auf den Fremden: – es war Graf Bleydenperg. »Wie kommen Sie hierher?« fragte der erstaunte Professor. »Ich glaubte Sie in Wiesbaden.«
»Dort war ich auch ganze sieben Tage. Aber mich lockte es zu einem Ausfluge nach Trier, um den neuen römischen Mosaikboden zu sehen, von welchem Sie so begeistert erzählt haben.«
»Sagten Sie denn nicht, Sie interessierten sich nicht für Kunst und Altertum?«
»Freilich sagte ich das. Allein soll man nicht seinen Geschmack bessern, seinen Horizont erweitern? Man wird seine Lebtage nicht zu alt zum Lernen. Übrigens habe ich soeben schon alle Mosaiken verwünscht, antike wie moderne. Ich frage in Trier nach dem neuentdeckten Mosaikboden der Villa – den Namen hatte ich ganz vergessen –; da führt mich der Lohndiener in ein Weinhaus mitten in der Stadt, und als ich ihm bemerkte, dies sei doch keine Villa, behauptete er, hier bekomme man den besten Scharzhofberger und Josephshöfer, weit besser als auf irgendeiner Villa ringsum – diesen Trierern geht doch ein guter Wein über alles! –, und so kam ich, fast ohne zu wissen wie, in einen Keller, wo bei Gaslicht eine große Mosaik zu sehen war, die wunderschön sein soll, aber ich habe sie kaum angeschaut; und nun erst sagt mir der Lohndiener, wo die Villa mit der anderen Mosaik liege, mit der ›trockenen Mosaik‹, wie er sich ausdrückte: denn jene im Weinhaus nenne man die ›nasse Mosaik‹, und sie werde von den Fremden bei weitem bevorzugt.«
Der leichte Ton des Grafen berührte den Professor unangenehm. Er war zu ernst gestimmt und merkte nicht, welch tiefe Bewegung auch beim Grafen den leichten Ton durchzitterte.
Sie traten in den Park. Der Pförtner führte sie freundlich zu der neuen Halle und berichtete unterwegs, daß die Frau Baronin schon morgen zurückerwartet werde.
Ein kleiner, aber stilvoller Bau aus grauem, feinkörnigem Sandstein und weißem Marmor erhob sich über der Mosaik, die nun völlig freigelegt war, schön umrahmt und sehr günstig beleuchtet.
Der Graf hätte wohl einige erläuternde Worte des Professors über das Kunstwerk erwarten dürfen. Allein dieser schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein als bei den neuen ionischen Säulen und dem alten Fußboden. Er setzte sich auf die steinernen Stufen, welche zu dem Heiligtum führten, und blickte in die Landschaft hinaus.
»Worüber werden Sie heute abend lesen?« fragte endlich der Graf.
»Mein Thema heißt: ›Sophokles' Antigone und das antike Ideal der Weiblichkeit_. Mir scheint dieser Stoff besonders passend für das hiesige Publikum, ich habe ihn eigens für Trier durchgebildet. Aber ich fürchte, ich werde sehr zerstreut sprechen und vielleicht unbewußt allerlei moderne Züge hineintragen. Offen gesagt: ich bin beunruhigt durch einen Brief, den ich vorhin erhielt. Bei unserem Zusammentreffen in Elberfeld erzählte ich Ihnen von der Besitzerin dieser Villa; ich hoffte damals, sie werde genesen von ihrem Seelenleiden, sie werde entsagend und doch still beglückt, gehoben durch den beseligenden Frieden des hellenischen Geistes, an diesem unvergleichlich schönen Orte neue Kraft, neue Freude des Lebens schöpfen. Allein ich war im Irrtum. Sie ist unglücklich, weil sie ihren Mann erst lieben lernte, als sie ihn verloren hatte, und sie wird ihn nicht wiedergewinnen, denn er verließ sie, weil er sie überhaupt nicht lieben kann. Für dieses Unglück gibt es keine Heilung. Und wenn sie in ihrer früheren Heimat, umringt von tausend traurigen Erinnerungen, nun wieder den Frieden suchen will, den sie hier nicht finden konnte, so ist die neue Täuschung ärger als die alte. Ich habe Ihnen so viel von dieser armen Frau erzählt, der ich ums Leben gern helfen möchte, und Sie haben so teilnahmvoll zugehört, daß ich keine Indiskretion zu begehen glaube, wenn ich Ihnen den Brief mitteile. Lesen Sie!«
Der Graf ergriff hastig das Blatt, setzte sich neben den Professor auf die Stufen und las.
»Vielleicht wäre der Dame dennoch zu helfen«, rief er dann, das Blatt zurückgebend, – »zu helfen, wenn wir ihren Mann bewögen, daß er sich bekehrte, daß er wiederkäme und Liebe mit einer Liebe erwiderte, die vielleicht ebenso unvermerkt in ihm glimmt wie in ihr.«
»Das ist nicht möglich, bester Herr Graf! Ein Mann, der solch ein Weib so lange verkannte, ist unverbesserlich. Und wie sollen wir uns ihm aufdrängen? Wer gibt uns das Recht der Einmischung in diese innerste Angelegenheit seines Hauses und Herzens?«
»Vielleicht treffen wir ihn irgendwo zur rechten Stunde und öffnen ihm die Augen, wenn wir beide uns recht fest zu diesem Zwecke verbünden. Wollen Sie das? Ich bin bereit. Schlagen Sie ein!«
Der Professor erhob sich und ergriff die dargebotene Hand. Es war ein feierlicher Moment, wie sich die beiden wohldenkenden Männer so leidenschaftlich zu dem guten Werke verbrüderten.
»Da wir beide uns nun wieder ein Stückchen nähergerückt sind«, sagte der Graf, »so erlauben Sie mir eine Frage. Ich habe mich nie nach Ihrer Familie erkundigt noch Sie nach der meinigen. Sind Sie verheiratet?«
»Allerdings! – Erst seit drei Jahren und sehr glücklich dazu. Meiner Frau einziges Leidwesen sind diese Ferienreisen, diese Vortragsfahrten, die mich so oft und lang von Hause entführen und gerade zu einer Zeit, wo ich mich der Häuslichkeit am schönsten widmen könnte. Allein es ginge nicht an, die Frau auf Reisen mitzunehmen, bei denen ich keinen Tag mir selbst gehöre, und wenn Sie, lieber Graf, jemals Wandervorträge halten sollten – denn nächstens tragen alle Stände vor –, rate ich Ihnen gleichfalls dringend, Ihre Frau Gemahlin zu Hause zu lassen. Aber sind Sie denn überhaupt verheiratet?«
»Allerdings! – Nur leider nicht ganz glücklich. Doch beschloß ich gerade darum, meine Frau in Zukunft auf meine Arbeitsfelsen mitzunehmen. Und wenn Sie, lieber Professor, jemals politische Reisen machen sollten, sei es zum Landtag, zur Enquete oder in irgendwelcher Mission – denn nächstens ist ja jedermann ein Staatsmann –, dann rate ich Ihnen gleichfalls dringend: lassen Sie sich von Ihrer Frau begleiten.«
Unter diesem Gespräch kehrten sie der Mosaik den Rücken, ohne sie überhaupt nur ordentlich angesehen zu haben, und gingen gegen die Villa hinab.
Der Professor blieb wie angewurzelt stehen und hielt den Grafen am Arme zurück. »Unmöglich!« rief er, – »und doch! Sie ist es! sie selber!«
Halbwegs, als sie eben um die Ecke des Laubgangs bogen, kam ein Frauenpaar von drüben auf sie zu.
Er hatte kaum das Wort gesprochen, als Frau von Bechen schon vor ihm stand und ihn freundlich begrüßte, indes der Graf auf der einen, die englische Gesellschaftsdame auf der anderen Seite gleicherweise zurücktraten.
»Ich bin um einen Tag früher heimgekehrt, als ich vorgehabt«, fügte die Dame dem Gruße hinzu, »und freue mich nun herzlich dieses kaum gehofften Zusammentreffens.« Ihre Stimme war etwas schwächer als sonst, ihr Gesicht blässer, aber sie sprach und bewegte sich wie immer mit jener anmutigen Freiheit, die auch bei der vereinsamten Frau die geborene Aristokratin erkennen ließ.
Dagegen war der Professor verlegen, und seine erlernte Weltkunst ließ ihn etliche Minuten im Stich. Doch faßte er sich rasch, sagte alles, was man bei einer angenehmen Überraschung sagen muß, wandte sich dann seitwärts und stellte mit leichter Handbewegung vor:
»Herr Graf Bleydenperg – Frau von Bechen!«
Der Name des Grafen und ein Blick auf seine Person wirkte wie ein Blitzstrahl auf die Dame. Sie fuhr zusammen, erblaßte, stieß einen leisen Schrei aus und würde umgesunken sein, wenn nicht der Graf hinzugesprungen wäre und sie in seinen Armen aufgefangen hätte.
Er hielt sie fest umschlungen und rief: »Ada, Ada, ich lasse dich nicht wieder!«, bis sie zur Besinnung kam. Wortlos brach sie in heftiges Weinen aus. Der Graf redete zärtlich beruhigend, und als er ihr die tränenfeuchte Wange küßte, trat nun der Professor seinerseits in den Hintergrund, denn ihm dämmerte mit einemmal der wahre Zusammenhang.
Kaum aber war er zehn Schritte zurückgetreten, so redete ihn die Gesellschafterin, die gar nicht wußte, was sie zu der Szene denken sollte, auf englisch an und bat um Aufschluß. Allein der Professor hatte im Augenblick all sein Englisch vergessen und verstand kein Wort, obgleich er sonst Chaucer und Shakespeare im Urtext las.
So waren auch hier im Hintergrunde auf einmal die Rollen vertauscht: die allzeit stumme Engländerin sprach, und der sonst so redefertige Professor spielte die stumme Person.
Um weder zu stören noch gestört zu werden, zog er vor, einen kleinen Spaziergang zur Mosaikhalle zurück zu machen, und ließ die arme Engländerin recht unhöflich in ihrer Unwissenheit stehen.
Vor der Halle setzte er sich wieder auf jene Steinstufen, wo er vor wenigen Minuten dem Grafen gelobt hatte, ihn aufzusuchen, der doch vor ihm stand, und ihm die Augen zu öffnen, die doch damals schon geöffnet waren. Er freute sich, daß nun wohl das Leid der armen Frau gewendet sei, und es war ihm trotzdem wehmütig, daß es sich jetzt schon gewendet; er hätte gern noch einige Zeit an dem schmerzlich-süßen Romane fortgesponnen. Auch verdroß es ihn fast, daß die Genesung der Leidenden nun voraussichtlich in so ganz anderer Weise sich vollenden werde, als er gedacht. Der ionische Tempelbau war doch recht nutzlos gewesen! Er blickte ärgerlich auf die Mosaik, deren blasender Meergott ihn höhnisch ansah. Hätte ihn diese Mosaik nicht verblendet, hätte das archäologische Fieber sein philologisches Auge nicht getrübt, so würde er den Grafen schon in Elberfeld als den Mann seiner Frau erraten haben.
Da klopfte ihm jemand auf die Schulter: der Graf stand vor ihm mit der Gräfin im Arme, die zwischen Tränen lächelte.
»Dies ist der Mann«, sprach er zu ihr, »der alles zusammen weiß und überschaut, der im Vertrauen beider Parteien stand. Er wird uns noch manches aufklären müssen, herüber und hinüber, und er und ich, wir haben uns vorhin die Hand gegeben auf festes Zusammenhalten. Ich würde dich nicht wiedergefunden haben ohne ihn; ich suchte schon lange nach dir, aber der falsche Name' ließ mich die Spur verlieren – –«
»Und eben dieser Name und die Archäologie«, unterbrach der Professor, »schlug mich mit Blindheit, denn sonst hätte ich schon vorige Woche gemerkt, daß nur Sie der ewig reisende Mann dieser stets stillesitzenden Frau sein könnten. Aber Worte und Namen, zumal wie hier aus erster Quelle, sind das Gewisseste in der Welt, und worauf soll ein Philolog noch bauen, wenn selbst die Worte wanken?«
»Und wie kamst du zu dem Namen›Bechen‹, den ich nie gehört?« fragte der Graf seine Gemahlin.
»Ich suchte nach einem ganz unbekannten Namen, um mich vor aller Welt zu vergraben, und wußte nicht, daß eine Frau im modernen Kulturstaate eigentlich gar nicht so beliebige Namen führen darf wie in den Romanen und Novellen. Unter vielen Namen, die ich ersann und wieder verwarf, blieb ich aber gerade bei diesem stehen, weil er – mit einem B anfängt wie dein, wie unser gemeinsamer Name.«
»Da sieht man, wie die Liebe doch niemals völlig erlosch«, rief der Graf. »Sie hatte mich ganz aufgegeben, nur an meinem Anfangsbuchstaben hielt sie mich in der schlimmsten Stunde noch fest!«
»Und da sieht man, daß dennoch in Wort und Buchstaben die letzte Wahrheit liegt, wenn man jene nur richtig zu deuten vermag!« rief der Professor.
»Wir werden nun wohl noch einige Zeit hier in Trier bleiben«, fuhr der Graf nach einer Pause fort. »Ich habe zwar bis jetzt von dieser berühmten Stadt nichts weiter gesehen als zwei Mosaiken, die nasse im Keller bei Gasbeleuchtung und die trockene hier im Park beim hellsten Sonnenschein; aber trotzdem gefällt mir dies Trier ganz außerordentlich.«
»Nein! Laß uns fortziehen, wohin du willst, aber hinweg von diesem beschämenden Orte!« rief die Gräfin tief erregt. »Der Boden brennt mir unter den Füßen!«
»Und doch wirst du, beruhigteren Sinnes, gerne noch etwas hier verweilen. Denn siehe, ich muß vorerst noch ein kleines Stück von all dem nachleben, was du hier so lange und einsam durchgelebt hast, und das kann ich nur voll und ganz mit dir allein an diesem zauberhaften Orte.«
Dann wandte er sich zu dem Freunde: »Sprach ich nicht auf der Hardt meine Sehnsucht aus nach einer glückseligen Insel? Ach, es war ein schöner Gang hinauf nach jener Idylle der Hardt aus dem fürchterlichen Getöse der unten gelagerten Stadt! Hätten wir ihn nicht gemeinsam gemacht, so würde ich heute nicht hier stehen auf dieser noch viel glückseligeren Insel! Doch nein! solche Inseln sind überall und nirgends; der Ort macht nicht den Menschen, sondern der Mensch den Ort. Du träumtest so manchmal vom verlorenen Paradies, liebe Ada. Denke dir, ich habe in jüngster Zeit zum öfteren auch davon geträumt, und eben dieser Traum trieb mich von Wiesbaden nach Trier. Es gibt viele verlorene Paradiese: das Paradies unserer eigenen Jugend – wir kennen es alle! –, das Paradies des Jünglingsalters der Menschheit – das kennen Sie am besten, teurer Freund –, das Paradies Gottes, der sich der Welt offenbarte, – das erfassest du so tief, liebe Ada! Auch ich dachte gar manchmal an das letztere, und da fand ich, es erscheint uns wiederum in vielfacher Weise. Um uns aber Vorschmack und Richtweg aller seiner Paradiese zu zeigen, gab uns Gott unverdient das reine geliebte und liebebedürftige Weib, welches wir wie eine Heilige umfassen und festhalten sollen. Darf ich dieses verlorene Paradies wiedergewinnen?«
Ihr großes feuchtes Auge hatte fernhin in den Frieden der Herbstlandschaft geblickt. Jetzt wandte sie leicht ihr Antlitz und schaute noch viel heller durch sein tiefes Auge in die Tiefe seiner friedebedürftigen und friedeverheißenden Seele. Und dieser Blick und ein Druck der Hand sagte mehr, als jedes Wort vermag.