Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre – Vierter Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Die Dichterprobe

Als Epilog

1865

Richard Märker war zum Dichter geboren und wäre auch ganz gewiß ein wirklicher Dichter geworden, wenn er nicht hätte sterben müssen, bevor er's überhaupt noch werden konnte. Woher ich aber so bestimmt weiß, daß er ein Dichter geworden wäre, da er's in der Tat doch nicht geworden ist, das will ich in der folgenden kleinen Geschichte dartun.

Erstes Kapitel

Wir saßen eines Abends unter Freunden zusammen im rebenumrankten Gartenhause, und ein edler Wein ging in die Runde, Neroberger Sechsundvierziger, ein Feuerwein, ein Port unter den Weinen, der vielleicht noch einmal den Steinberger besiegt und den Johannisberger. Allein nur Kenner kennen ihn vorderhand, er ist ein Zukunftswein, sein Name lebt noch nicht im Volksmunde.

»Und gibt es überhaupt große Poeten, gleichviel ob unter den Weinen oder den Menschen, welche recht eigentlich in den Volksmund kommen?« so fragte einer aus dem Kreise. »Wenn selbst unsere gefeiertsten Sänger, die das Glück haben, schon lange tot zu sein, und also Zeit und neidlos vergönnten Raum, immer volkstümlicher zu werden, wenn ein Schiller oder Goethe jetzt herniedersteigen und ihr eigenes Volk mit allwissendem Blicke durchschauen könnten, sie würden sich seltsam verwundern, wie wenig ihre Werke hier oder wie verkehrt sie dort in den Volksmund gedrungen sind. Und doch nennen wir diese Werke mit besonderem Stolze Gemeingut der Nation. Die Literarhistoriker machen es umgekehrt wie die demokratischen Politiker, aber trotzdem sehen beide durch das gleiche Vergrößerungsglas. Wenn nämlich der gemeine Mann spricht, so sagt der Demokrat: das ist die Stimme des Volkes, und wenn der Gebildete einen Dichter liest, so sagt der Literat: dieser Glückliche wird vom Volke gelesen. Der eine blickt von unten hinauf und merkt nicht, was oben geschieht, der andere von oben hinab und ahnt nicht, was unten vorgeht.«

Mit diesen Worten war der reichste Zündstoff zu heiter aufflackerndem Streite gegeben. Ein jeder wollte den allzu scharf gespitzten Gedanken widerlegen oder beschränken, erläutern oder erweitern. Nur Richard Märker schwieg und prüfte bald ernsthaften Gesichtes den Wein, bald lächelnd unsere Gründe und Einwürfe.

Da wir nun aber als sechs Deutsche beisammen saßen und bisher nur fünf widersprechende Ansichten entwickelt hatten, so fragten wir ihn zuletzt erstaunt, ob er denn nicht auch eine besondere Meinung für sich habe.

Er erwiderte: eine Meinung habe er diesmal nicht für sich, wohl aber eine Erzählung. Denn dieselbe Frage, welche wir da eben durchstritten, habe er einmal durchgelebt und sei sogar eigens gereist, um zu erforschen, wie weit er selbst bereits ins Volk gedrungen. Wenn wir nun Geduld hätten, nach gegenseitig erschöpften Gründen zum Schlusse noch dieses kleine Erlebnis anzuhören, dann lege er sich mit Vergnügen die Buße auf, uns dasselbe zu erzählen. Denn eine Beichte und Buße sei seine Erzählung allerdings und das Beste daran also wohl für ihn wie für uns, daß sie höchstens zwei Zigarren lang daure – gemächliches Rauchen und Windstille vorausgesetzt.

Da wir nun versicherten, daß wir nicht bloß Geduld, sondern auch rechte Lust zum Hören hätten, so begann er:

»Ich habe vor etlichen Jahren ein Büchlein drucken lassen, welches ihr alle, gottlob, nicht kennt; denn geräuschlos, wie es auftauchte, ist es alsbald auch wieder versunken. Es heißt oder hieß die ›Chronik von Hohen-Iseneck‹ und sollte, so meinte ich, meine schönsten Jugenderinnerungen verklären und verewigen. Drüben im Gebirge, im Isenecker Tal, hatte ich als Knabe gar frische, fröhliche Tage verlebt, und was mir aus jener weltverlassenen Gegend im Gedächtnisse saß von Geschichten, Anekdoten und Sagen, das verflocht ich in der›Chronik‹zu einem bunten Kranze. Wo mir eine wirkliche Geschichte nicht reich und glänzend genug schien, da wob ich neue Fäden ein, verwickelte und färbte nach Herzenslust, und wo man von einem seltsamen Felsen oder großen Baum an Ort und Stelle gar nichts erzählte – sie schauten mich aber an, als wollten sie etwas von sich erzählt haben, – da tat ich dem Felsen und dem Baume den Gefallen und ersann eine Geschichte zu beiden und berichtete sie so fest und gewiß, als ob ich den Text der echtesten Urkunde wortgetreu wiedergäbe.

Denn wer sich einmal ans dichterische Erfinden macht, der ist ja ohnedies ein kleiner Herrgott, und es kommt ihm nicht darauf an, ein Dutzend Menschenkinder mehr oder weniger zu erschaffen und eine Handvoll Menschenschicksale mehr oder weniger zu verketten und zu lösen. So ergoß ich also auch eine wahre poetische Übervölkerung über mein Tal und nannte dasselbe im stillen mein Königreich, denn ich hatte es erobert und kolonisiert mit den eigensten Dienstleuten meiner Phantasie, um es meinen sämtlichen Lesern zum Lehen zu geben.

Doch nur wenige Vasallen meldeten sich für dieses Lehen: das Buch ward kaum gelesen, und die Kritik focht mich nicht an, weil sie völlig schwieg. Um meinetwillen war mir das sehr gleichgültig, aber für das Hohen-Isenecker Tal tat mir's leid. Ich hatte dieses reizende Stück unbekannten Landes dankbaren Herzens der Welt zeigen, ich hatte es durch die Poesie geographisch berühmt machen wollen wie Auerbach sein Nordstetten, ich hegte eine volle Jugendfreundschaft für Hohen-Iseneck und hatte meine Novellenstaffagen fast nur gezeichnet, um die Landschaft malen zu dürfen. Denn mit Naturheimweh und Naturpoesie beginnt der Jüngling, mit Menschenheimweh und Menschenpoesie schließt der reife Mann.

Und mein Tal mit seinen Bergen und Burgen sollte nun dennoch unbekannt bleiben wie mein Buch!

Da überraschte mich der Brief eines befreundeten Pfarrers aus dem Isenecker Tale. Quer über den Rand standen zur Ausfüllung des leeren Raumes die Zeilen gekritzelt: ›Ihre Chronik beschäftigt gegenwärtig unser ganzes Tal, denn sie wird fleißig nachgedruckt vom Hinterbrunner Wochenblatt, der einzigen Zeitung, welche hier von Hand zu Hand geht. Wir sind jeden Samstag um so gespannter auf die Fortsetzung, da Sie uns weit mehr von uns zu erzählen wissen, als wir selber allesamt bis dahin gewußt hatten.‹

Es klang zwar etwas Spott aus diesem Satze, aber dennoch freute er mich königlich. Hatte ich der Welt nicht zu zeigen vermocht, welche Schätze von Poesie in Hohen-Iseneck geborgen liegen, so zeigte ich's doch wenigstens den Hohen-Iseneckern. Und wenn nun gar jene Geschichten, die ich eigens der Landschaft auf den Leib geschrieben und neu erfunden hatte, dort sich einpflanzten, umbildeten, vom Volksmund aufgenommen, selbst wieder Volkssage wurden, war das nicht ein seltenerer Ruhm, als ihn die größte Leserschar und das lauteste Lob der Kritik zu bieten vermag? Gibt es einen beneidenswerteren Nachruhm für Heine, als daß er seine Loreley, von welcher vordem nicht einmal die St. Goarshäuser das mindeste gewußt, dem ganzen deutschen Volke so fest in den Mund gedichtet, daß man diesem literarischen Gespenste sogar schon einmal eine überlebensgroße Statue hat setzen wollen? Und mit welchem Stolze müßte es Heinrich von Kleist erfüllen, wenn er jetzt nach Heilbronn käme und sähe, wie man dem Fremden das Haus seines Kätchens von Heilbronn zeigt, welches doch niemals woanders hauste als in seinem Buch und auf den Brettern? Ja, nicht bloß berühmten Dichtern fiel das blinde Los dieses seltenen Glückes, sondern manchmal auch sehr unberühmten. Steht nicht der Schmied von Kochel monumental gemalt an der Sendlinger Kirchenwand über den wirklichen Gräbern jener wirklichen Bauern, denen er in der Schlacht vorgestritten haben soll, und er ist doch nur das Luftgebilde eines ganz namenlosen Novellenschreibers! Und wenn es diesem Novellisten gelungen ist, die Gestalt seines fabelhaften Schmiedes dem Gedächtnisse des Volkes so scharf einzuprägen, indes die Gestalten der wirklichen Kämpfer vergessen sind, warum konnten nicht auch etliche von meinen Phantasiegestalten im Isenecker Tale dauernd Leben gewinnen durch freundliche Vermittelung des Hinterbrunner Wochenblattes?

Ich wollte mir die kleine Freude gönnen, ganz heimlich in dem trauten Tale zu lauschen, ob sich schon ein kleiner Ansatz solchen Erfolges spüren lasse, zu lauschen, wie denn eben jetzt meine Geschichten vom Volke aufgenommen und fortgebildet würden. Und gewiß, ich war genügsam. Ich hätte Lohnes übergenug gehabt, wenn ich nur etwa ein Mädchen am Brunnen die rührende Liebesgeschichte hätte erzählen hören vom Grafen und der Köhlertochter und wie sie einander zum erstenmal bei der Grafenlinde erblickten, – so hieß nämlich der Baum neben dem Oberwirt in Hohen-Iseneck, und weil niemand wußte, warum er so hieß und ein Kohlenschuppen neben der Linde stand, hatte ich die Liebe des Grafen und der Köhlertochter dazu erfunden. Nun wußte man's. Oder wenn ich auch nur etwa zwei Bauern auf der Bierbank kräftig hätte lachen sehen über meinen martialischen Freiherrn, den ich ins vorige Jahrhundert hinein auf die Burg Hohen-Iseneck gezaubert! Derselbe hatte zwei Kartaunen am Burgtore aufgepflanzt, und wann er morgens aufstand, wurde ein Schuß gelöst, und wann er abends schlafen ging, wieder ein Schuß; wurden aber im Lauf des Tages die beiden Kanonen losgeschossen, so bedeutete dies, daß der Pfarrer aus dem Dorfe hinaufkommen solle, um mit dem gnädigen Herrn Whist zu spielen. Das heißt: die Bauern besaßen zwei alte Böller zu Freudenschüssen, und niemand wußte, woher das seltsame Geschütz stamme. Jetzt hatte ich's ihnen gesagt, obgleich die Anekdote eigentlich sehr weit von unserer Gegend, bei Mirow in Mecklenburg, gewachsen war. Allein Verpflanzen ist auch Schaffen.

Wenn nun dieser Freiherr, den ich zu den Böllern erfunden und mit einem langen Lebenslauf ausgestattet hatte, so weit volkstümlich geworden wäre, daß die Bauern um seinetwillen das schlechte alte Geschütz in Ehren gehalten und niemals gegen ein bequemeres neues vertauscht hätten, so würden ja alle meine schriftstellerischen Mühen genug belohnt gewesen sein.

Also zog ich zu Pfingsten nach Hohen-Iseneck, um zu erforschen, wie weit ich bereits ins Volk gedrungen. Ein besonderes Inkognito brauchte ich nicht zu erkünsteln, da mich in meinem Tale ohnedies kaum ein Mensch mehr kannte.«

Zweites Kapitel

Der Erzähler verschnaufte ein wenig. Wir behaupteten, das Resultat seiner Entdeckungsreise schon recht klar vor Augen zu sehen, allein wir seien gespannt auf den Weg, welchen er habe gehen müssen, um zu einem so gar nicht überraschenden Ziele zu kommen.

Märker hörte uns sehr gelassen zu, füllte sein Glas aufs neue und sprach: »Was ich gesucht und nicht gefunden, das könnt ihr alle leicht wissen, aber was ich nicht gesucht und gefunden habe, das errät doch keiner.«

Dann tat er einen tiefen Zug zur Stärkung auf den Weg und fuhr fort: »Bis an den Rand der Berge war ich gefahren. Ich atmete auf, als ich, der Bildungsatmosphäre des Eisenbahnwagens zweiter Klasse entronnen, durchs Waldesdickicht rasch hinanstieg und gleichsam Leib und Seele badete in der göttlich frischen Luft und dem Dufte der Tannen. Die Berge von Hohen-Iseneck tauchten bereits hinter den Wipfeln empor, und der erste Hauch des Abendwindes begann mir talabwärts entgegenzustreichen. Es war derselbe Hauch, der vor Jahren so manchmal meine Stirne gekühlt hatte, dieselben Bäume und Berge, nur schienen mir die Bäume größer, weil sie gewachsen waren, und die Berge kleiner, weil ich inzwischen ein größeres Stück Welt gesehen hatte. Eines jedoch vermißte ich zu meinem tiefen Leidwesen: der Hohen-Isenecker Burgberg hatte seine Burg verloren; nur ein kleiner Trümmerhaufen leuchtete noch statt der hohen Doppeltürme in der Abendsonne.

Da trat ein Bauer, der aber halb wie ein Landstreicher aussah, den Weg kreuzend, seitwärts aus den dicksten Büschen. Eine gewaltige Gestalt mit harten, finsteren Zügen, stand er unheimlich vor mir, wie aus dem Boden gewachsen. ›Grüß Gott!‹ rief ich ihm zu und dachte dabei: das ist der beste Gruß an ein so verdächtiges Gesicht, denn unmittelbar auf dieses Wort wird dich der Mann doch nicht anpacken oder totschlagen mögen. Der Bauer dankte, schlug meinen Weg ein, Schritt haltend mit mir, und sah im Gehen öfters lauernd ringsum. Doch das ist so Bauerngewohnheit.

Ich fragte ihn, als der Isenecker Berg wieder über den Wald hervorsah, ob denn da droben nicht unlängst noch eine Burg gestanden.

›Freilich!‹ erwiderte er, ›allein sie ward voriges Jahr auf den Abbruch versteigert. Und das ist jammerschade.‹

Der Mann schien ein Herz zu haben für die Denkmale seiner Heimat, und die Sagen der Burg waren ihm gewiß nicht fremd; vielleicht hatte er sogar meine Geschichte vom Herrn von Hohen-Iseneck und seinen zwei Kartaunen im Hinterbrunner Wochenblatt gelesen. Also fragte ich ihn, warum er denn den Abbruch des alten Gemäuers bedaure.

Er sah mich lächelnd an: ›Das ist nun einmal dumm gefragt! Die Burg hätte droben stehenbleiben sollen, weil sie immer droben gestanden hat, seit die Menschen Brot essen, und weil sie auf den Berg gehörte wie die Nase in mein Gesicht. Die Burg war der schönste Spielplatz für die Buben aus dem Dorfe, die Weiber brachen ihren Flachs im Burghofe und rösteten ihn in dem viereckigen Torturme, und zudem wohnte sich's gar nicht schlecht auf Hohen-Iseneck.‹

›Wohnen?‹ fragte ich erstaunt. ›Das Mauerwerk stand ja dachlos und zerfallen seit Menschengedenken.‹

›Nun im Keller fand man doch noch einen guten Unterschlupf bei Tag und Nacht, und nur wenige kannten den Eingang‹, erwiderte mein seltsamer Begleiter. ›Seht, die Bauern im Isenecker Tal sind eigene Leute: sie nehmen einen nicht gerne auf um Gottes willen. Drüben im Schwarzbachtale dagegen sind die Menschen noch christlich und gönnen jedem müden Wandersmann einen Platz in der Scheuer. Dort lassen sie die Burgen stehen, und doch brauchte man sie nicht; hier haben die geizigen Bauern ihre Burg abgebrochen, und sie ist doch so nützlich und notwendig gewesen.‹

Ich bemerkte, dieser Unterschied zwischen dem Iseneck- und Schwarzbachtale sei mir neu und ergötzlich; übrigens seien die beiden so eng benachbarten Täler meines Wissens überhaupt gar ungleich geartet. ›Drüben am Schwarzbach‹, sagte ich, ›gibt es nur zerstreute Höfe, hier im Isenecker Tale hingegen geschlossene Dörfer‹ – ›Nester!‹ unterbrach mich der Mann, welcher sichtbar einen Groll auf die Isenecker hatte. – ›Das eine Tal war früher ritterschaftlich‹, fuhr ich fort, ›das andere bischöflich‹ – ›ist mir alles gleich‹, schaltete mein Begleiter ein. – ›Tracht und Mundart weichen merklich voneinander ab‹ – ›ich kümmere mich den Teufel darum‹ – ›das Schwarzbachtal hat Kalkfelsen, das Isenecktal Buntsandstein‹ – ›auf die Steine kommt's nun gar nicht an; ich will Euch aber den Hauptunterschied sagen‹, rief der andere, und ich horchte gespannt auf, denn meine Weisheit war zu Ende. Nach einer Pause sprach jener: ›Im Schwarzbachtale gibt es gar keinen Hund, im Isenecktale aber bellt eine solche Bestie bei jedem Hause. Das ist der Hauptunterschied, denn das heißt: am Schwarzbach herrscht noch Treu und Redlichkeit, auf den einsamen Höfen ist keine Haustüre verschlossen, kein Kettenhund wacht im Hofe, kein armer Mann wird ungespeist und unbeherbergt abgewiesen. Hier dagegen haben sie Gitter an den Fenstern, Schlösser an allen Türen, Hunde hinter jedem Hoftor, recht wie das böse Gewissen; sie nehmen keinen fremden Wanderer auf und verleiten dadurch die armen Menschen zu Diebstählen und Einbrüchen. Und wer andere Leute zu Spitzbuben macht, der ist ein ärgerer Spitzbube, als wer selber einer wäre. Ein junger Bauer von den Schwarzbachhöfen, der Matthias Schnitzer, wenn Ihr ihn kennt, hat sich neuerdings einen grimmigen Wächterhund angeschafft, den Sultan, wenn Ihr ihn gekannt habt. Den habe ich ihm vor der Nase totgeschossen. Denn wer sein Vaterland mit Gewalt verderben will, dem muß man's mit Gewalt wehren.‹

Ich staunte über diesen seltsamen Sittenrichter und würde mich an ihm ergötzt haben, wäre der Wald nicht gar so einsam gewesen.

›Also seid Ihr nicht aus diesem schlimmen Tale?‹ fragte ich.

›Nein und ja! Gebürtig bin ich nicht von hier, aber bekannt bin ich doch wie ein böser Kreuzer.‹

›Und was seid Ihr denn Eures Zeichens?‹

›Was ich bin? Ein armer Mann und Tagelöhner; hab' kein Haus und kein Geld und kein' Freud' in der Welt.‹

Jetzt wußte ich klar, daß dieser Freund der Burgruinen dennoch kein eigentlicher Romantiker sei und meine Geschichte des tollen Herrn von Hohen-Iseneck schwerlich gelesen habe. Allein eine Frage ist ja erlaubt, also fragte ich: ›Könnt Ihr lesen?‹

›Ein bißchen zum Hausgebrauch‹, erwiderte er.

›Nun gut‹, fuhr ich fort, ›da Ihr so gerne untergeschlüpft seid in der ehemaligen Burg da droben, so leset doch einmal die neueste Nummer des Hinterbrunner Wochenblattes.‹

Der Mann blieb stehen, heftete sein Auge auf mich, als wolle er mich in den Boden hineinsehen, spähte dann wieder ringsum und fuhr mit der rechten Hand in die Hosentasche, wo nach Bauernsitte ein Löffel und ein großes im Hefte feststehendes Messer hervorblitzte. Er griff aber diesmal nicht nach dem Löffel, sondern nach dem Messer, welches noch zu anderen Zwecken als zum Butterbrotstreichen bestimmt schien. Dann sprach er mit gedämpfter, zornig zitternder Stimme: ›Was meinst du von wegen des Wochenblatts? He! Bist du auch so ein Spion, der die Leute auskundschaften will?‹

Ich war so verwirrt, mehr noch durch den grimmigen Ausdruck, in welchen sich plötzlich das Gesicht des Mannes verwandelte, als durch seine Frage, daß ich ihn anstarrte und keine Antwort gab.

Im selben Augenblicke bog ein anderer Bauer um die Waldecke. Als ihn mein Begleiter herankommen sah, gab er mir einen Stoß auf die Brust, daß ich rückwärts in den Straßengraben fiel, und sprang in gewaltigen Sätzen querwaldein den Berg hinauf, wo er rasch hinter den Büschen verschwand.

Der andere eilte herbei, mir zu helfen. Allein ich war, wie man sagt, mit dem blauen Auge davongekommen, das heißt mit dem Schrecken und einem beschmutzten Rocke. Mein Befreier reichte mir darum die Hand, daß ich aus dem Graben wieder in die Höhe kam, klopfte mich etwas aus und schrie dazwischen in den Wald hinein: ›Komm heraus, Spitzbube, wenn du Mut hast! Ich will dir das Schußgeld zahlen für meinen Hund!‹Der Gerufene ward wirklich wieder einen Augenblick sichtbar, schon hoch oben in den Felsen, und rief herab: ›Matthias, tritt mir nicht wieder in den Weg! Es sollte mir leid sein um alter Freundschaft willen: du hast gesehen, daß ich treffen kann!‹

Matthias hatte keine Lust, den Flüchtling weiter zu verfolgen, was auch wohl vergebene Mühe gewesen wäre. Er wandte sich vielmehr zu mir und fragte: ›Wisset Ihr denn auch, wer der Mann gewesen ist? – Das war der Kaspar Broß, der Maurer von Zell, welcher vorige Lichtmeß den Rentboten beim grauen Stein beraubt und nachher den großen Einbruch auf dem Eschenloher Schloß verübt hat, und darauf kam er ins Zuchthaus und ist wieder ausgebrochen und hat sich vom dritten Stockwerk heruntergelassen, und jetzt treibt er sich seit Wochen in hiesiger Gegend umher und hat mir meinen Hund, den Sultan, erschossen.‹

›Also seid Ihr der Matthias Schnitzer von den Schwarzbachhöfen?‹ unterbrach ich ihn.

›Freilich! Habt Ihr auch schon von der Geschichte gehört? Jetzt aber ist die Polizei dem Broß, dem Spitzbuben, auf der Spur, der im übrigen kein unrechter Mann ist, und hat einen Steckbrief ausgeschrieben in der letzten Nummer des Hinterbrunner Wochenblattes, und die Isenecker Bauern machen Streifzüge, um ihn zu fangen.‹

Nun begriff ich, warum dieser Kaspar Broß so böse geworden, als ich ihn aufforderte, die neueste Nummer des Wochenblattes zu lesen. Ja, dieser Freund malerischer Burgruinen würde mich ohne die Dazwischenkunft des Matthias Schnitzer wohl gar niedergestochen haben, bevor ich ihm nur verdeutscht hätte, daß ich nicht ihn, sondern mich selbst in den Isenecker Wäldern verfolge und daß ein wesentlicher Unterschied sei zwischen den Volksstudien eines Poeten und eines Gendarmen.

Also merkte ich schon, daß es seine Haken habe, meine eigene Volkstümlichkeit zu erforschen, und beschloß, etwas vorsichtiger zu sein im Zitieren des Hinterbrunner Wochenblattes, welches vorn meine Geschichten und hinten Steckbriefe bringt.«

Drittes Kapitel

»Der Schreck war mir in die Beine gefahren, und ich sah es nicht ungern, daß Matthias noch ein Stück Weges mit mir ging. Er fragte mich, wie ich denn mit dem gefährlichen Menschen in Streit geraten sei, und ich erzählte ihm (unter bescheidener Verschweigung meiner Autorschaft), daß ich dem Kaspar Broß lediglich die Geschichte von der Burg Hohen-Iseneck im Wochenblatte zum Lesen hätte empfehlen wollen, jener aber habe mich falsch verstanden und gemeint, ich empfehle ihm die Lektüre seines eigenen Steckbriefs.

Matthias bemerkte darauf: ›Solche Burggeschichten sind für die alten Weiber, ein frischer Bursch oder gestandener Mann hat keine Zeit dazu –‹, woraus ich schloß, daß meine Feder im Schwarzbachtale noch nicht ganz volkstümlich geworden sei.

Allein diese Enttäuschung kümmerte mich wenig. Kaum hatte mich Matthias verlassen, so schritt ich wieder froh und königlichen Mutes durch das nun weit geöffnete Tal, welches ich mein Reich nannte; unsereiner lebt immer in der Einbildung. Jetzt aber dachte ich schon gar nicht mehr an meine Chronik, sondern lediglich an den Kaspar Broß; Matthias hatte mir noch manchen kecken Zug zu seinem Bilde gezeichnet, und jener Spitzbube, welcher sonst kein unrechter Mann, hatte mir's förmlich angetan. Fast wünschte ich, er möge wieder neben mir gehen, wenn er nur sein Messer ruhig in der Hosentasche lasse. Dieser Mensch verübte die schwersten Verbrechen, aber mit Humor und mit moralischen Grundsätzen. Er befehdete die Kultur und pries den Naturzustand, ohne übrigens Rousseau zu kennen; er tat den schutzlosen Einödbauern kein Leid, weil sie ihre Türen nicht verriegelten und ihm willig ein Brot gaben und ein Bund Lagerstroh; er hatte einen feinen Sinn für die Romantik eines patriarchalischen Kommunismus des goldenen Zeitalters und wußte doch kein Wort von Thomas Morus oder Campanella. Dagegen plünderte er mit Vergnügen jene Bauern, welche ihren Geldkasten von Kettenhunden bewachen ließen; er huldigte dem Satze, daß Eigentum Diebstahl sei, und hatte doch Proudhon nicht gelesen. Im übrigen war er ein äußerst schlimmes Subjekt, Dieb, Straßenräuber und entsprungener Züchtling. Er hatte ganz das Zeug zu einem volkstümlichen Helden. Rinaldo Rinaldini und Karl Moor waren ihm wohl schwerlich jemals begegnet; ob er aber vom Schinderhannes und dem bayrischen Hiesel Genaueres wußte und sich nach ihnen gebildet hatte?

In solchen Gedanken schwebte ich leichten Schrittes den Weg dahin und zeichnete mir die Gestalt des humoristischen Spitzbuben immer breiter, tiefer, individueller. Es trifft sich doch nicht alle Tage, daß uns ein Mensch in den Straßengraben wirft, damit wir ihn, wenn wir wieder herausgekrochen sind, um so deutlicher als eine Novellenfigur erkennen und liebgewinnen sollen. Diese Figur hatte ich jetzt fest, Konflikte lagen genug vor, wenn ich nun nur auch eine Handlung dazu gefunden hatte! Nach dieser Handlung suchte ich, und so vergaß ich ganz und gar, daß ich eigentlich ausgezogen sei, nach den Spuren meiner Chronik von Hohen-Iseneck zu suchen, und über dem neuen, frisch erlebten Helden verlor ich meine alten erfundenen völlig aus dem Gesicht.«

Hier unterbrachen wir den Erzähler. Ich stieß hell an mit seinem vollen Glase und rief: »Jetzt bist du auf dem rechten Wege! Erst muß man ein Don Quijote gewesen sein, dann kommt man nachgehends sicher auf den Weg der Poesie.«

»Und dieser rechte Weg«, fiel Richard Märker ein, ohne sich den Faden entwinden zu lassen, »führte mich nach Dorf Hohen-Iseneck gerade zu der Stunde, wo das Abendbrot am besten schmeckt, nämlich um sieben Uhr.

Das Dorf lagert sich vom Burgberg zum Bache hinab, als ob die Häuser von oben her aus einem Sacke geschüttet worden seien. Unten im Tale steht ein Wirtshaus und oben am Berge ein anderes. Das Haus im Tale heißt ›Zum Kronprinzen‹ und ist wegen seines Weines und seiner Forellen berühmt; das Haus auf dem Berge heißt ›Zur Grafenlinde‹ und ist zur Zeit wegen gar nichts berühmt, hätte aber berühmt werden können, wenn meine Chronik von Hohen-Iseneck berühmt geworden wäre. Darum trank ich im Kronprinzen nur einen Stehschoppen und spähte begehrlich durch die einladenden Räume; allein Kronprinzen gibt es genug in der Welt, aber vielleicht nur eine Grafenlinde, und wenn der Kronprinz auch das bessere Wirtshaus war, so war die Grafenlinde ohne Zweifel das poetischere. Also ließ ich nach kurzer Rast den Kronprinzen links liegen und stieg hinauf zur Grafenlinde.

Ein ehemaliger Herrschaftsbau, war sie jetzt zum Wirtshause heruntergekommen. Noch führte die stolze alte Freitreppe – etwas unsicher durch zwei ausgebrochene Stufen – zu der Haustüre, welche man ein Portal nennen konnte. Seine zwei Halbsäulen in gutem Renaissancestil umrahmten bei meinem Eintritt die echt niederländische Gruppe des Wirtes und der Wirtin, eben beschäftigt, die Eingeweide eines frisch geschlachteten Hammels auszuwaschen. Der Hintergrund der Hausflur verschwamm in geheimnisvollem Halbdunkel. Einem Koloristen der Pilotyschen Schule wäre dieser dunkle Grund für zwei Dukaten nicht feil gewesen.

Der Wirt empfing mich zwar etwas grob, allein seine Mundart war so echt, daß man die halb gebrummten, halb gesprochenen Antworten sogleich als Sprachproben für Firmenichs deutsche Völkerstimmen hätte aufschreiben können. Im Gastzimmer herrschte erquickende Stille; ich war der einzige Gast und hatte prächtig Raum und Zeit, meine Gedanken spazierengehen zu lassen. Hier saß ich auf historischem Boden mit mir selbst allein und mit meinem Glase Bier, welches einen kleinen Stich hatte, und aß eine Groschenwurst, ohne irgend zu bedauern, daß ich nicht im Kronprinzen geblieben war, wo die Forellen jetzt eben fertig geworden wären. Denn in eben diesem Hause, vielleicht in dieser Stube, hatte der letzte Abt des nahen Klosters Rodau seine letzten kummervollen Tage verlebt. Er war ein strenger, starrer Mönch, fanatisch und herrschsüchtig und um siebenhundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen. Mit einem Geiste, welcher im Jahre 1090 sein Kloster sieggewaltig emporgehoben haben würde, hatte er 1790 die Säkularisation desselben nur um so schneller herbeigeführt. Als nun aber der Exabt im alten Isenecker Amthause (und dies war jetzt das Wirtshaus zur Grafenlinde) ein dürftiges Asyl gefunden, erhielt er seltsam genug einen unfreiwilligen Hausgenossen in der Person des letzten Herrn von Hohen-Iseneck. Dieser hatte voll lustigen Übermutes die Reste eines weiland großen Vermögens durchgebracht, und als sein Geld zur Neige ging und auch die Burg seiner Väter ihm über dem Kopfe in Trümmer zu fallen begann, führten ihn die Gläubiger in das Amthaus, wo er auf Ehrenwort als ein lebendiges Faustpfand bleiben mußte. Das Kloster und die Burg waren durchs ganze Mittelalter die beiden Herrschersitze geistlicher und weltlicher Macht im Tale gewesen, der Sage nach gegründet von zwei Brüdern, trotzdem aber in ewigem Streite wegen ihrer Gerechtsame. Und nun mußte der abgesetzte Abt des eingezogenen Klosters und der eingesetzte Herr der verfallenen Burg in denselben engen Mauern das Brot der Armut essen und aus denselben Fenstern eine fremde Welt, eine unerhört neue Geschichte an ihren Augen vorüberziehen sehen.

War das nicht der Stoff zu einem Gedichte? Und schaute mich dieses unwirtliche Wirtszimmer nicht selber an wie ein Gedicht? Zwar war der Tisch etwas sehr schmutzig, aber die Zimmerdecke war von Kreuzgewölben überspannt; zwar schmeckte das Bier etwas sauer, aber die Fensternische war mindestens vier Fuß tief wie bei einem alten Burggemäuer. Und in dieser nämlichen Fensternische hatte vielleicht der letzte Abt mit dem letzten Ritter gesessen, und sie hatten gezankt, gestritten und grimmig einander gescholten. Denn so war es weiter ausgemalt in meiner Chronik von Hohen-Iseneck: der Abt zeigte dem Ritter, daß er seine Burg verloren, weil er zu lustig gelebt, und der Ritter dem Abte, daß er sein Kloster ruiniert, weil er zu asketisch gewesen; der Ritter wollte den Abt zu Spiel und Becher und der Abt den Ritter zur Buße bekehren. Darüber gerieten sie sich täglich furchtbar in die Haare, und wie Burg und Kloster durchs ganze Mittelalter miteinander gestritten, so lag jetzt der letzte Ritter mit dem letzten Abte rastlos im Streite, bis eines Tages der Ritter unbußfertig gestorben ist, wodurch allerdings die Kirche hier wie anderswo das letzte Wort behalten hat.

Über diesen Gedankenbildern hatte ich ganz vergessen, daß das alte Amthaus zur Zeit ein Wirtshaus war, und als sich langsam die Zimmertüre auftat, glaubte ich, Ritter und Abt müßten jetzt hereintreten. Allein es kam nur ein Bauer, der sich rings umschaute und dann gelassenen Schrittes zu meinem Tische ging, wo er sich am anderen Ende schweigend niederließ, und in langen Zwischenräumen traten dann noch fünf Bauern gleich bedächtig, spähend und schweigend herein und setzten sich alle der Reihe nach. Zuletzt kam auch der Wirt, aber nicht um diesen Gästen Wein oder Bier aufzutragen, sondern um ihnen die Haare zu schneiden, weil es gerade, wie ich schon erwähnte, Pfingstsamstag war. Das gab ein höchst charaktervolles Bild, fast wie aus Schenks Dorfbarbier. Solch eine Szene würde ich im Kronprinzen trotz aller blaugesottenen Forellen niemals erlebt haben.

Ich lauschte den Gesprächen, welche die sechs Bauern unter der Schere des Wirtes führten, allein sie sprachen nicht von alten Rittern und Äbten, sondern von dem Helden des Tages, von Kaspar Broß, und wie er unterm Schutze des heiligen Leonhard aus dem Zuchthause entsprungen sei, und von ihren Kühen, welche sie zur Leonhardskirche bei Stein führten, damit sie vor Seuchen und anderem Unheil bewahrt blieben; denn der heilige Leonhard, dem man die Ketten weiht, ist der Patron der Gefangenen und des Viehs.

Auf meine Frage, warum sie denn die Kühe sechs Stunden weit nach Stein trieben, da doch auf eine halbe Stunde Wegs beim Kloster Rodau gleichfalls eine Leonhardskirche stehe, erwiderte mir einer der Geschorenen: ›Der heilige Leonhard von Rodau ist gut für die Pferde, aber für die Kühe reicht er dem heiligen Leonhard von Stein das Wasser nicht.‹

Aus der Antwort ersah ich, daß diese Bauern allerdings noch nicht ganz reif seien, um jene feine Ironie der Geschichte zu verstehen, welche die gemeinsame Gründung und das gemeinsame Ende von Kloster und Burg so wunderlich verknüpfte, die großen historischen Züge zuletzt noch einmal im Genrestil der Anekdote spöttisch wiederholend. Darum begehrte ich ein Licht, denn es war inzwischen dunkel geworden, und ging auf mein Zimmer.

Der Wirt geleitete mich. Als wir die stattliche Treppe mit massivem Geländer von geschnitztem Eichenholz hinanstiegen, welche zum oberen Stockwerk führte, und den mächtigen oberen Flur mit hallenden Tritten entlangschritten, da mußte ich einen Augenblick stillestehen, um das Auge meiner Phantasie in dem dämmerigen Raume umherschweifen zu lassen. Es war mir, als hörte ich die Stimme des Ritters und des Abtes ganz hinten in der dunklen Ecke, wie sie sich immer noch stritten und gegenseitig zu bekehren suchten. So hatte ich's geschildert in meiner Chronik, wo ich die alten Herren auch nach ihrem Tode noch unsichtbar, doch hörbar im Amthause herumgeisten lasse, als neckische Kobolde über Askese und Lebensgenuß disputierend, und wer die seltsamen Philosophen um Mitternacht plötzlich hört, der muß lachen, wenn es ihm nicht eiskalt über den Rücken läuft.

Diese Kobolde riefen mir auf einmal wieder meinen Reisezweck ins Gedächtnis; ich konnte es nicht lassen, ganz leise zu spüren, ob meine Chronik denn nicht wenigstens bei dem Wirte ins Volk gedrungen sei, und sprach: ›Dies also ist das alte Amthaus, wo der letzte Herr von Hohen-Iseneck gestorben ist und der letzte Abt von Rodau?‹ ›Wenn's wahr wäre!‹ entgegnete der Wirt. ›Mein Haus ist seiner Lebtage kein Amtshaus gewesen, sondern hier war vorzeiten die Rentkammer. Das Amthaus stand unten im Dorfe, wo jetzt der Kronprinz steht, und dort ist auch der Abt und der Herr von Hohen-Iseneck gestorben. Mein seliger Vater hat sie beide noch gekannt und hat uns oft erzählt, wie gemütlich die zwei Herren in ihrem Elend zusammen gehaust hätten und welch ein sanfter, allzeit freundlicher Mann der einst so gestrenge Abt in seinen schlimmen letzten Tagen noch geworden sei.‹

Ich prallte zurück, starr vor Staunen. Also war ich nicht bloß heute mit meinem Reisestab, sondern auch vorher mit dem Mosisstabe meiner Dichtung ins falsche Wirtshaus geraten.

Der Wirt aber fuhr ganz von selber fort: ›Es ist freilich eine Schande, wie heutzutage die Zeitungen lügen, und die Polizei sollte es ihnen verbieten. Denn im Wochenblatt stand gedruckt, daß die Geister der beiden Alten heute noch in meinem Hause umgehen, wo diese doch kein Mensch weder tot noch lebendig jemals gesehen hat. Wenn die zwei irgendwo spuken, so muß das drunten beim Kronprinzen sein. Allein da unten hin schickt man die reichen Herrschaften, und mir schickt man die Gespenster ins Quartier.‹

Es lag mir auf der Junge, dem Wirt zu beweisen, daß es für mich eine poetische Notwendigkeit gewesen sei, die letzten Tage des Abtes und Ritters in dies so wunderschön heruntergekommene Wirtshaus zu verlegen, selbst wenn ich gewußt hätte, daß das alte Amthaus da gestanden habe, wo jetzt der neumodische Kronprinz steht. Und wenn die beiden gemütlich zusammen gehaust hätten und der Abt zuletzt noch so gar mild und weich geworden sei, so hätten sie sich zu ihren übrigen Sünden zuletzt auch noch einer psychologischen Verzeichnung ihrer beiderseitigen Charaktere schuldig gemacht. welche zu korrigieren mir als Dichter ein volles Recht zustehe. Wollten die Leute in Wirklichkeit nicht plan- und stilgemäß sterben, so müsse man sie hinterdrein poetisch dazu zwingen, wie das alle guten Dichter mit ihren toten Helden getan. So hätte ich sprechen mögen. Aber ich fürchtete jetzt, mich als Autor zu bekennen; denn der Wirt schaute mich samt seinem Wirtshause (auch ohne Gespenster) schon unheimlich genug an.«

Viertes Kapitel

»Also ging ich schweigend in mein Zimmer.

Das war wundersam eingerichtet. Außer einer zerbrochenen Kinderwiege und dem Bett, auf dessen ungewaschenen Linnen mutmaßlich schon etliche Fuhrleute geschlafen hatten, enthielt es nicht den mindesten Hausrat, nicht einmal einen Stuhl, die Kleider darauf zu legen. Der Wirt war höchstwahrscheinlich in jüngster Zeit gepfändet worden.

Und diese Spelunke hatte ich eigens aufgesucht, wo ich's doch unten im Kronprinzen so gut hätte haben können, und nun war der Abt und der Ritter nicht einmal hier gestorben, und vor dem Wirt – dem einzigen Manne, der mich gelesen, – mußte ich mich verleugnen, damit er nicht mir als Dichter die volkstümlichsten Grobheiten mache, während ich doch vielmehr Ursache hatte, ihm als Wirt Grobheiten zu machen!

Ich wollte die Zimmertüre schließen, allein das Schloß hatte keinen Schlüssel. Ich öffnete das Fenster: der Riegel blieb mir in der Hand. Kaspar Broß würde mit moralischer Befriedigung dieses nach allen Seiten vertrauensvoll sich öffnende Zimmer betrachtet haben.

Unschlüssig, ob ich wieder fortgehen oder bleiben, wachen oder schlafen solle, legte ich mich ans offene Fenster und starrte in die laue Nacht hinaus. Am Himmel zogen flache Wölkchen, und die Sterne funkelten doppelt hell zwischendurch; gerade gegenüber dem Fenster aber waren Wolken und Sterne und Himmel verdeckt durch den hoch aufsteigenden Lindenbaum, die uralte Grafenlinde, und ein Strom des süßesten Blütenduftes floß von seinen tausend Zweigen. Ich vergaß den Modergeruch der dumpfigen Stube hinter mir samt ihren leergepfändeten vier Wänden, und über dem leisen Gesumme der Nachtfalter und Mücken, die durch mein Licht in Scharen vom Baum herbeigelockt wurden, hörte ich nicht mehr das laute, wüste Geschrei der Bauern in der Wirtsstube. Der Friede der Nacht und seliger Träumerei kühlte meine müden Sinne auch ohne Bett und Schlaf, und ich vergaß ganz die bitteren Erfahrungen, welche ich über Tags auf meiner Forscherreise gemacht, und ärgerte mich nicht einmal über die vernichtende historische Kritik des Wirtes.

Im Gegenteil: der Mann hatte mir ein neues reizendes Problem hingeworfen, womit ich träumend spielte. Denn ließ es sich nicht auch denken und psychologisch fein motivieren, daß der strenge Abt mild geworden war und der lustige Ritter ernster und strenger in der Schule des Unglücks und daß sie einander brüderlicher die Hand reichten in ihrem Asyle? Und war dies nicht auch ein dichterischer, weil ein versöhnender Schluß des langen Streites der feindlichen Brüder von Burg und Kloster? Der Abt und der Ritter hatten alle Macht verloren, doch hätten sie sich noch streiten können bis an ihr seliges Ende, allein sie zogen es vor, den hundertjährigen Streit zuletzt wenigstens persönlich und menschlich in Frieden ausklingen zu lassen. – Der stille Odem der Nacht, der Blütenhauch des Lindenbaumes, das friedvolle Leuchten der Sterne – es stimmte alles so schön zu diesem milden Gedankenzuge, und ich zerpflückte mit wahrer Lust die frühere humoristische Geschichte von den beiden bekehrungssüchtigen Alten und baute mir eine neue, größere Geschichte auf, welche nicht mit zankenden Poltergeistern schloß, sondern gleich diesem göttlichen Frühsommerabende in verklärendem Sonnenuntergang. Dem Wirt aber dankte ich im stillen, daß er mir meinen alten Novellenstoff so prächtig neu gewendet, ärgerte mich auch gar nicht, daß die alte Bearbeitung schon gedruckt war und die neue füglich nicht hinterdrein gedruckt werden konnte. Denn wenn ich sie nur hier bei dem Lindenbaum ganz heimlich für mich ausdichtete, so hatte ich schon Lohnes genug.

Da weckten mich schwere Mannestritte und flüsternde Stimmen unterm Fenster aus meiner Friedenspoesie. Gemessen ausschreitend nach Bauernart, ging ein stattlicher Mann die Straße hinauf: im Sternenlicht schimmerte die Büchse, welche er an der Seite trug. Die Gestalt brauchte man nur einmal gesehen zu haben, um sie auch in der Dämmerung sofort wiederzuerkennen: es war Kaspar Broß.

Ein paar Bauern traten auf die Freitreppe des Wirtshauses. Kaspar kehrte sich drohend um gegen sie und rief: ›Ihr Lumpenkerle getraut euch doch nicht an mich.‹ Dann nahm er die Büchse schußgerecht in den Arm und ging langsam zum Lindenbaum.

›Schießt ihm in die Beine!‹ rief eine Stimme von der Treppe herüber. Fast im selben Augenblicke fiel ein Schuß. Kaspar wankte, schlug ein Rad und stürzte lautlos zusammen.

Die Leute von der Treppe schlichen sacht herbei, wie der Jäger nur vorsichtig zu dem Hirsche geht, welchen sein Schuß gefällt hat, denn er weiß, daß das bloß verwundete Tier, gefährlicher als ein Eber, wieder aufspringen und ihn mit den Zacken seines Geweihes durchbohren würde.

Allein hier hatte es keine Gefahr mehr. ›Da liegt er tot‹, rief endlich eine Stimme; ›der Matthias hat in der Angst etwas zu hoch gehalten und hat ihn durch den Rücken geschossen statt durch die Beine.‹

Auf den Lärm liefen die Nachbarn und sämtliche – nunmehr glattgeschorene – Gäste aus dem Wirtshause zusammen; auch mich trieb es auf den Platz hinunter. Eine Streifwache der Isenecker Bauern hatte hier auf den Räuber gelauert, und nur ein Mann vom Schwarzbachtale war unter ihnen, eben jener Matthias Schnitzer, welchem Kaspar den Hund erschossen. Matthias war vorangegangen, als die anderen vor dem verachtenden Gleichmut Kaspars scheu zurückwichen und keiner Hand an ihn zu legen wagte; er wußte aber auch, daß Kaspar zuerst auf ihn zielen würde, als derselbe zur Büchse griff; also tat er den ersten Schuß, und der Schuß hatte getroffen.

Die Bauern umstanden eine Weile schweigend den toten Mann. Endlich brach der Ortsschultheiß die ergreifende Stille und befahl, die Leiche aus dem Wege zu heben und auf den Tisch zu legen, welcher den Stamm der Linde umgab. Niemand wollte einen Finger rühren, alle wichen scheu zurück. Da trat Matthias vor, sah den Toten mit festem Blick und treuherzigem Ausdrucke ins Gesicht und sagte: ›Kaspar! Hab' ich dich totgeschossen, so kann ich dich auch auf den Tisch legen!‹ – packte den schweren Körper herzhaft mit beiden Armen und trug ihn ganz allein auf den Tisch. Als nun Lichter herbeigebracht waren und der Schultheiß ein vorläufiges Protokoll über den Tatbestand aufzunehmen begann, rief ein alter Mann, sichtlich der Patriarch des Dorfes: ›Der Matthias hat einen so guten Schuß getan, drum wollen wir auch ein Schußgeld für ihn sammeln!‹, warf eine Münze in seinen Hut und ging mit demselben im Kreise herum, und in wenigen Minuten lag ein hübsches Häufchen Geld auf dem Hutfutter. Wie man für einen Raubvogel Schußgeld zahlt, so steuerten sie Schußgeld für den Räuber und dachten nicht, daß der hinterrücks Erschossene doch vor Gott ihr Bruder gewesen und eine unsterbliche Seele gehabt habe gleich ihnen.

Matthias ließ sie ganz ruhig gewähren und sammeln; als ihm aber der Alte das Geld darreichen wollte, stieß er zornig den Hut zurück und sprach: ›Heute abend war ich dem Kaspar schon einmal begegnet auf der Landstraße im Markwald, der Herr dort weiß davon‹ – er deutete auf mich –; ›da habe ich dem Kaspar Schußgeld verheißen für meinen Hund, und das habe ich ihm jetzt bezahlt, und nicht euer Schußgeld begehre ich. Und wenn ich's dem armen Burschen in Pulver und Blei gezahlt habe, so will ich's ihm auch jetzt noch in Silber zahlen!‹ Bei diesen Worten warf er ein paar Kronentaler auf den Tisch, daß sie neben die Leiche rollten. ›Für dieses Geld, Kaspar, soll dir eine Denktafel gemalt und Seelenmessen gelesen werden. Wegen Recht und Gerechtigkeit habe ich den Kaspar erschossen und nicht euretwegen, daß ihr jetzt ruhig schlafen könnt, ihr Isenecker Schwerenöter! Ihr Dorfbauern habt den Kaspar gezwungen zu stehlen, denn eure Küchen waren kalt, wenn er um eine Suppe bat, und eure Scheuern verschlossen, wenn er im Gewittersturm ein Nachtlager suchte.‹

Der Alte entgegnete: ›Umgekehrt ist auch gefahren! Ihr Schwarzbacher Einödbauern vielmehr habt den Kaspar zu diesem Ende geführt. Denn wenn ihr nicht allem Gesindel Unterschlupf gäbet auf euren Höfen und alle Landstreicher unbesehen aus euern Schüsseln essen ließet, dann hätte der Kaspar arbeiten müssen und hätte nicht aus dem Zuchthause zu brechen gebraucht, weil er niemals hineingekommen wäre.‹

Matthias rief, wie sie's am Schwarzbach machten, so sei es Christenpflicht und ein gutes Werk, und wer einem hungrigen Wandersmann erst das Gewissen visitiere, bevor er ihm ein Stück Brot schneide, der sei schlecht katholisch, gerade so schlecht wie die Hohen-Isenecker.

Dieses Wort zündete, und alle schrien wütend durcheinander gegen den einen Matthias. Den Schimpf, schlecht katholisch zu sein, konnte die Gemeinde Hohen-Iseneck nicht auf sich sitzenlassen. Und indem sie nun immer wilder darüber disputierten, was christlicher sei, einen Spitzbuben zu beherbergen oder ihm die Türe zu weisen, pries Matthias immer lauter den Kaspar Broß, der ein ganz guter Kerl gewesen, abgesehen von seinem bißchen Rauben und Stehlen, und was Schlechtes in ihm gesteckt habe, das hätten andere mehr verschuldet als er selber.

Hierauf warfen natürlich die anderen dem Matthias die Frage entgegen, warum er denn einen so guten Menschen erschossen habe, und Matthias rief: ›Daran seid ihr gleichfalls schuld!‹

Nachdem aber zuletzt keiner sein eigenes Wort mehr hören konnte und somit alle Gründe erschöpft schienen, griff man beiderseits zu dem allerletzten Grund, nämlich zu den großen Messern, welche die hiesigen Bauern in der rechten Hosentasche tragen. Und so geschah es nun, daß die Hohen-Isenecker das Messer zückten gegen denselben Mann, welcher sie eben erst von ihrem schlimmsten Feinde befreit hatte und dem sie kaum eine Ehrengabe gespendet, die noch unberührt am Boden lag. Matthias aber zog das Messer für den Kaspar Broß, welchen er doch eben erst als einen Räuber niedergeschossen hatte. Keiner von allen aber war sich des wahren letzten Grundes dieses nur scheinbar widersinnigen Haders bewußt; denn genau genommen stritten sie gar nicht um den erschossenen Spitzbuben, sondern um das Recht der väterlichen Sitte am Schwarzbach und im Isenecktale, sie stritten über jenen Hauptunterschied der beiden Täler, welchen mir der tote Mann dort auf dem Tische zuerst aufgedeckt, daß man nämlich hüben Hunde hält und drüben keine Hunde, dort die Türen offen läßt und hier die Türen schließt (ausgenommen im Fremdenzimmer der Grafenlinde).

Vergebens suchte ich Frieden zu stiften; niemand gab mir Gehör. Es schien, als ob das vergossene Blut heute abend unabwendbar noch mehr Blut fordere. Denn von den Worten zu Schlägen und Stichen war es jetzt nur noch eine Spanne weit. Ich wandte mich, Beistand suchend für mein Vermittleramt, an den Schultheißen, der etwas seitab stand und ganz ruhig seinen »Augenschein« vervollständigte; er war solche Szenen schon genügend gewöhnt. Mit großer Aufmerksamkeit untersuchte er eben eine schöne Schnupftabaksdose, die man bei dem Erschossenen gefunden, vermutlich ein gestohlenes Gut, und bemühte sich, die Schrift zu entziffern, welche auf einem Deckel unter einem Porträtkopfe stand. Er las buchstabierend: ›Friedrich Schiller‹, schaute dann zu mir auf und fragte: ›Wer ist das?‹, und ich glaube, er hielt es für den Namen des rechtmäßigen Eigentümers der Dose.

Ich sah den Mann mit großen Augen an: der Schultheiß von Hohen-Iseneck wußte wirklich nicht, wer Schiller sei! Im selben Augenblick aber fuhr es mir wie ein Blitz durch die Seele: ich wollte ja erforschen, ob mich diese Leute kannten, und sie kannten Schiller nicht einmal! Über das letztere wenigstens wollte ich jetzt gründlich ins klare kommen. Ich sprang auf eine Bank, hielt die Dose hoch empor, daß alle sie sehen konnten, und rief mit der äußersten Kraft meiner Stimme: ›Wer ist Friedrich Schiller?‹

Meine Erscheinung auf der Bank, die geheimnisvolle Dose, die unerwartete Frage – das alles zusammen wirkte schlaghaft. Als ich vorhin meine Gründe zwischen den Streit warf, die zur Sache gehörten, da gönnte mir niemand das Wort; jetzt aber, wo ich die fremdartigste Frage hineinschleuderte und den Leuten statt Friedensgründen eine Tabaksdose zeigte, schwiegen alle, ließen die Fäuste sinken, staunten und gafften mich an.

Ich wiederholte meine Frage. Keiner antwortete. Endlich riefen einige Stimmen, der Mann sei hiesigen Orts ganz unbekannt. Das hinderte mich nicht, die Frage nochmals und noch lauter zu wiederholen.

Jetzt erst bemerkte ich einen kleinen Knaben, der ganz nahe vor mir stand und mir den Zeigefinger entgegenstreckte, wie's die Schulbuben tun, wenn sie zum Hersagen ihres Sprüchleins aufgefordert sein wollen. Ich nickte ihm zu, und er sprach mit überdeutlicher, heller Schulstimme: ›Friedrich Schiller war ein großer Dichter.‹

›Gottlob!‹ seufzte ich und fragte den Kleinen, wem er denn zugehöre. Sein Vater war der Lehrer des Dorfes. ›Und hast du schon ein Gedicht von Schiller gelesen?‹ – ›O ja, viele!‹ – ›Und welches gefällt dir denn am besten?‹

Der Knabe besann sich eine Weile. – ›Pegasus im Joche!‹ rief er endlich. – ›Und warum gerade dieses?‹ – ›Weil ein Pferd darin vorkommt, und ich lese immer am liebsten von Pferden.‹

An diesen Vorzug seines Gedichtes hatte Schiller gewiß nicht gedacht. Allein ich faßte mich; jetzt hatte ich noch das Wort und wollte es festhalten, um die Streitenden zu beschwichtigen. Also erklärte ich den Leuten etwas genauer, wer Schiller gewesen sei und was er auf dieser gestohlenen Dose zu bedeuten habe, und fuhr dann mit kühner Wendung fort, daß Schiller nebst vielen großen Gedichten auch die Räuber geschrieben, ein Stück, welches mehrfach hierherpasse. Denn dort komme auch so ein Mann vor, der schuldig durch sich selbst und auch durch anderer Schuld geworden sei, ein großer Sünder und doch im übrigen kein unebener Bursche, fast wie Kaspar Broß. Hierauf aber zeigte ich ihnen weiter, daß sich in dieser kleinen Tragödie unter der Grafenlinde, gleichwie in den großen Tragödien der Geschichte und der Bühne, Recht und Unrecht gar wunderlich durcheinanderschlinge, und so hätten die Isenecker nicht ganz unrecht, daß sie Hunde hielten, und die Schwarzbacher nicht ganz recht, daß sie keine hielten; Matthias habe halb recht, halb unrecht getan, den Kaspar zu erschießen, und die Isenecker hätten ein Stücklein recht und ein Stücklein unrecht in ihrem Streit mit dem Matthias wie dieser in seinem Streit mit ihnen. Das könne kein Mensch genau auseinanderlesen, sowenig als die Schuld und Unschuld des Kaspar Broß. Nur eines sei jetzt schlechthin unrecht von beiden Seiten, daß sie die Messer zögen, die sollten sie auf der Stelle wieder einstecken.

Mit diesen Worten war ich leider ins falsche Fahrwasser geraten. Solange ich von Schiller sprach, hatten die Bauern ganz ruhig zugehört, gleichsam sich beugend vor meiner geheimnisvollen überlegenen Bildung. Als ich aber wieder auf ihren Streit umbog, da wollte es jeder auch wieder ebensogut und besser wissen als ich, und keiner mochte sich von mir sagen lassen, daß er auch nur das kleinste Stücklein unrecht habe. Der Sturm brach abermals los, zwanzig Stimmen schrien durcheinander, allein sie kehrten sich nun nicht mehr gegen den Matthias, sondern gegen mich, und da ich, einmal im Feuer, keine Silbe zurücknahm, vielmehr den Leuten nur um so lauter zu beweisen suchte, daß jeder im vorigen Streite doch ein Stück unrecht gehabt, so kam es nahe daran, daß sie mich von der Bank heruntergerissen und statt des Matthias geprügelt hätten. Im rechten letzten Augenblick fühlte ich mich von hinten mit starken Armen gepackt und ganz sanft von der Bank gehoben: es war der Matthias Schnitzer, welcher mich sodann fest bei der Hand ergriff und aus dem Getümmel riß. ›Zwei gegen zwanzig ist ein schlechtes Spiel‹, rief er mir zu und führte mich, während ich noch immer nach rückwärts fortdisputierte, hinweg ins Dunkel hinein. Dann brachte er mich auf einem Umweg an die Rückseite des Wirtshauses, wo ich durch ein Hinterpförtchen, das heißt durch den Kuhstall, wieder hineinschlüpfen und mein Zimmer gewinnen konnte. Unterwegs gewann ich auch wieder so viel kühlen Verstand, daß ich das Heilsame dieser gewalttätigen Entführung begriff und dem Matthias beim Abschied am Kuhstall dankend die Hand drückte. Hatte er mich doch zweimal an diesem ersten Tage meiner Forscherreise gerettet: zuerst, indem er mich aus dem Straßengraben zog, als ich hineingeworfen worden war, und dann, indem er mich behütete, daß ich nicht zum zweitenmal hineingeworfen wurde.

Auf der öden Stube machte ich während des Restes der Nacht eine beschauliche Promenade zwischen der zerbrochenen Wiege und dem ungastlichen Bette auf und ab wie ein Pendel.

Zu der Novellenfigur und den Konflikten, welche ich schon unterwegs im Straßengraben gefunden, hatte ich jetzt auch die Handlung. Beschämt und zugleich ermutigt merkte ich den ungeheuren Unterschied zwischen den matten Farben, welche ich in meinem Büchlein aufgetragen, und den brennend grellen, die mir heute das Leben geboten. Niemand erfindet solche Züge wie das Gespräch der Bauern über die beiden heiligen Leonharde, wie die schneidend charakteristische Szene, da der Matthias den Toten auf den Tisch hob und der alte Bauer das Schußgeld sammelte, wie die Geschichte mit der Dose und dem Pegasus. Dergleichen fiele uns niemals ein, wenn wir's nicht selber gehört und gesehen hätten.

Jetzt besaß ich einen neuen Stoff und vergaß in der Freude darüber ganz, daß ich mit meinen alten Stoffen heute so kläglich bestanden hatte. Meine Forscherreise aber beschloß ich mit diesem ersten Tage, weil ich für einen zweiten Tag den rettenden Arm des Matthias Schnitzer doch nicht wieder zur Seite gehabt hätte.

Am anderen Morgen fand ich übrigens, daß ich mich ganz unnötig abmühe, den Kaspar Broß mit seinen Konflikten als Helden einer Novelle zu verarbeiten, da vielmehr eine Novelle ganz anderer Art schon fertig vorlag, wenn ich nur getreu erzählte, wie ich gestern auszog, um meine Geschichten von Hohen-Iseneck im Volksmunde zu suchen und diese zwar nicht fand, wohl aber ungesucht eine neue Geschichte von Hohen-Iseneck, deren duldender Held nicht jener Spitzbube war, sondern ich selber.

Dieses Gedankens voll, ging ich nur noch zu dem Pfarrer, welcher mich mit seinem Briefe in dieses mein romantisches Tal gelockt, und erzählte ihm recht offenherzig, wie mir's ergangen, fragte ihn dann aber auch, wie er mir habe schreiben können, daß meine Chronik gegenwärtig das ganze Tal beschäftige.

Mit herzlichem Lachen erwiderte er, unter dem ganzen Tale habe er die sämtlichen vier Haushälterinnen der vier Pfarrer des Tales verstanden, und die seien in der Tat für Belletristik das einzige mögliche Publikum des ganzen Tales. Übrigens habe er durch seine ironischen Zeilen meinen dichterischen Eifer vielmehr abzukühlen als anzufeuern gedacht. Und hierauf begann er mir scharf ins Gewissen zu reden, da ich Zeit und Kraft mit der leichten Flitterarbeit von Erzählungen und Novellen vergeude.

Ich entgegnete, den Zweck der Abkühlung habe er völlig verfehlt. Vor meiner Reise sei ich abgekühlt und flügellahm gewesen, seit ich aber infolge seines Briefes ausgezogen, um mich selber im ganzen Isenecker Tale gelesen zu sehen, sei mir Lust und Mut zu neuen Geschichten unendlich gewachsen. Denn obgleich der einzige Mensch, welcher sich als mein Leser ausgewiesen, unbekannterweise genügend über mich geschimpft habe, so sei doch dieser eintägige Fußmarsch sozusagen unter den Beinen mir gleich wieder zur Novelle geworden; die brauche ich nicht mehr zu erfinden, nicht auszumalen, ich brauche sie nur zu schreiben, und danach gelüste mich so unbändig, daß ich kaum Feder und Papier erwarten könne.

Der Pfarrer verstand mich nicht und hielt mich wahrscheinlich für etwas verrückt.

Und hiermit schließt meine Geschichte.«


Nachdem Richard Märker also gesprochen hatte, erholten wir uns alle durch eine frisch entkorkte Flasche, er vom Reden, wir vom Hören. Darauf nahm ich noch das Wort: »Unser Freund hat uns erzählt, wie er beim Forschen nach der Verbreitung seiner früheren Geschichten diese selbst und allen Ehrgeiz des Erfolges vergessen hat aus lauter heller Freude darüber, daß ihm die Forscherreise an und für sich schon binnen wenigen Stunden zu einer neuen Geschichte aufwuchs. Allein er hat nicht nur eine neue Geschichte ungesucht gefunden, sondern noch etwas weit Besseres dazu, was freilich andere leichter erkennen mögen als er selber; auch ziemt es anderen mehr als ihm, dieses auszusprechen. Ich meine: er hat ein vollgültiges Zeugnis seines Dichterberufes gefunden. Alle Enttäuschung und Widerwärtigkeit gab ihm nur frische Ideen zu neuem, fröhlicherem Schaffen, das Rohe und Wüste hat sich ihm sofort im Goldschimmer des Humors verklärt, die tatsächliche Ironie des wirklichen Lebens auf sein ideales Streben ward ihm sogar wieder zum dichterischen Motiv, und das Spießrutenlaufen der Selbstkritik gestaltete sich ihm zur Novelle. Wem das alles geschieht und wer das alles vermag, der ist darum noch kein Dichter, allein er hat die Probe bestanden, daß er wenigstens zum Dichter geboren ist und einer werden kann.«

Der letzte Strahl der Abendsonne verglühte hinter unserer Rebenlaube, und wir ließen die Gläser in diesem Golde blinken und anklingen und leerten sie zum letzten Male auf das Wohl des künftigen Dichters.

Zum letzten Male! – Leider war dieser verglühende Sonnenblick nur allzu prophetisch gewesen. Richard Märker starb wenige Monate nachher. Er hatte uns seine Forscherreise so lustig erzählt, daß er dadurch zunächst die Lust verlor, sie noch einmal schriftlich zu erzählen. Das ist auch ein Zeichen des geborenen Poeten. Was mündlich und beim Neroberger gar viel anmutiger zu hören war, als es sich hier liest, das schrieb ich aus dem Gedächtnisse nieder. Und nicht im Sinne dessen, was Richard Märkers bescheidenes Wesen darin finden wollte, sondern was seine überlebenden Freunde darin gefunden haben, überschrieb ich diese Erzählung: »Die Dichterprobe«.


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