Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es ging alles Schlag auf Schlag. Am Mittwoch, dem 1. März 1848, war Vorberatung der Volksfreunde im »Schwarzen Bären«. Rudolf Gärtner hatte das erste und letzte Wort. Er erklärte das Vaterland in Gefahr und entwarf die sieben Forderungen des Volkes. Punkt für Punkt wurden sie jubelnd genehmigt, keiner wagte eine Silbe des Widerspruchs gegen den gewaltigen Redner. Seine Freunde drückten ihm glückwünschend die Hand und riefen laut: »Die Anker sind gelichtet, wir segeln unter der Flagge der Revolution! Rudolf Gärtner wird das Steuer führen!« – »Er ist der Staatsmann der Zukunft!« erläuterte der Lederhändler Schlehbach, und das geflügelte Wort flog desselbigen Abends noch durch die ganze Hauptstadt.
Am Freitag war die große Volksversammlung vor dem Rathause. Die sieben Forderungen wurden zum Volksbeschluß erhoben. Rudolf Gärtner hatte mit schwungvoller Rede alle Gemüter fortgerissen. Die Sturmpetition an den Fürsten ward beschlossen, Gärtner sollte an der Spitze von zwanzig Vertrauensmännern aufs Schloß ziehen. Weithin rollender Beifallsdonner bekräftigte seine Wahl. Er war der Herr des Tages.
Darum brachte man ihm abends um zehn Uhr einen Fackelzug und dem alten Minister, Freiherrn von Gräfenberg, um elf Uhr eine Katzenmusik.
Am Samstag entstand der große Krawall. Pöbelrotten wollten das Zeughaus stürmen, die Tore des Zuchthauses erbrechen. Die besseren Bürger schauten angstvoll drein und wagten keinen Widerstand. Da trat Gärtner unter den wüsten Haufen und gebot Ruhe: man schwieg; – er zeigte den Leuten das Unsinnige ihres Vorhabens: sie gaben ihm recht; – er hieß sie auseinandergehen: sie gingen. So hatte er Blutvergießen verhütet, die Gesellschaft gerettet; zuletzt organisierte er noch die freiwillige Bürgerwehr. Der Adelsklub, welcher ihn gestern für die Festung reif erklärt hatte, votierte ihm heute eine Dankadresse.
Am Sonntag bewilligte der Fürst die sämtlichen sieben Forderungen. Hierauf berief Seine Durchlaucht – abends fünf Uhr – den Bürger Gärtner zu einer Audienz. Als Sohn einer neuen Zeit erschien derselbe im Oberrock; die geheime Unterredung dauerte drei Stunden. Um acht Uhr trat Gärtner ans Fenster und verkündete dem Volke, welches unten auf den Blumenbeeten des Schloßgartens wogend harrte, daß es dem Fürsten von nun an volles Vertrauen schenken dürfe.
Des andern Tages durchwandelte der Fürst die Straßen der Stadt, bloß von Gärtner begleitet, welcher irrtümlich auf der rechten Seite ging; Tausende folgten ihnen, und die Hochrufe auf den Fürsten wollten kein Ende nehmen; sie galten aber eigentlich seinem Begleiter.
Am 20. März war die allgemeine Volkswahl zum neuen Landtage, welcher das neue Staatsrecht des Fürstentums schaffen sollte. Rudolf Gärtner wurde in vier Wahlbezirken zugleich gewählt, jedesmal fast mit Stimmeneinheit.
Auf den 28. März ward der neue Landtag einberufen. Der allerhöchste Erlaß war noch vom alten Minister unterzeichnet. In der Stadt aber verbreitete sich an demselben Tage die Nachricht, daß Herr von Gräfenberg entlassen und Gärtner zum »dirigierenden Staatsminister« ernannt sei.
Aufgeregt und müde warf sich der siegreiche Volkstribun auf das Sofa seines Studierzimmers; auf dem Tische vor ihm lag seine Ernennung zum Minister. Unter schweren Kämpfen und Bedenken hatte er abgelehnt, gezögert, geschwankt und zuletzt dennoch zugestimmt, als ihm der Fürst das Portefeuille anbot, welches sämtliche Portefeuilles in sich schloß, denn das Ländchen bedurfte nur eines einzigen Ministers. Jetzt war der Schritt geschehen, und er hatte diesen Minister schwarz auf weiß. Gestern noch Advokat mit spärlicher Praxis, heute dirigierender Staatsminister! Vor wenigen Wochen noch hoffnungsloser Oppositionsmann eines Landtages, welcher niemals opponierte, und jetzt gebietender Führer der allgemeinen Opposition, dessen Wort Tat, dessen Wille Gesetz war!
Wachte oder träumte er? Eine Welt von Gedanken durchstürmte seinen Kopf, zuletzt jedoch wurden sie allesamt wieder von einem Grundgedanken beherrscht und aufgesogen. »Überwältigend groß ist die neue Zeit über Nacht hereingebrochen; glücklich die Männer, welche sie mitwirkend erleben, glücklicher noch die Kinder, welche jetzt ins Leben treten, um dereinst die reifen Früchte zu genießen! Aber eine schwere Verantwortung lastet jetzt auch auf den Führern des Volkes. Sie werden zermalmt werden, wenn sie diese Last nicht starken Geistes und reinen Herzens zu tragen wissen.«
Plötzlich bangend und zweifelnd, fragte sich der neue Minister, ob er auch solche Kraft besitze, ob er für die Dauer gleicherweise Volksmann und Minister sein könne. Es wurde ihm schwül bei dieser Frage, und er entsann sich nicht, gehört oder gelesen zu haben, daß irgendwann ein Volksmann längere Zeit Minister oder ein Minister längere Zeit Volksmann geblieben sei.
Aber das war in der alten Welt, jetzt lebten wir in der neuen, und weit Unmöglicheres war seit drei Wochen möglich geworden.
Er sprang auf, in langen Schritten das Zimmer messend. Da blieb sein Auge an dem einzigen Gemälde haften, welches die Wände des bescheidenen Raumes schmückte. Es war ein hübsches Ölbildchen aus der alten holländischen Schule, ein Familienerbstück; gefällige Kenner nannten es einen Mieris, und der feine Vortrag wie der behandelte Gegenstand erinnerte allerdings an jenen Meister: – unter dem von Reben überrankten Flachbogen eines offenen Fensters saß ein allerliebstes Mädchen und nähte, ihr zur Seite stand ein Käfig mit einem Singvogel. Der Moment war anmutig wiedergegeben, wie die Kleine eben die Nadel sinken ließ, um dem Gesange des Vogels behaglich lächelnd zu lauschen; ein warmer Sonnenstrahl spielte zwischen den Rebenblättern auf der Mauer und hob sich gar frisch von dem Halbdunkel ab, welches die Lauschende deckte, während ihr blühendes Gesicht und ihr leichtes hellblaues Morgenkleid doch wieder ein eigenes magisches Licht in sich selber trug.
Gärtner hatte sonst immer große Freude an dem Bildchen gehabt, heute schien es ihm schal und matt. »Die Zeit ist vorbei, wo wir uns dem leichten Spiel des Schönen in der Kunst und im Leben gefangengaben. Das Bild ist nicht mehr am Platze im Arbeitszimmer eines Ministers!« so sprach er und drehte sich auf dem Absatze hinweg. Fast ärgerte ihn die unschuldige Malerei. Rasch entschlossen, wandte er sich wieder um, hob das Bild aus dem Nagel, trug es in ein Seitenkabinett und heftete ein großes Plakat, auf welchem die sieben Forderungen des Volkes mit Frakturbuchstaben gedruckt waren, an die leere Stelle.
Diese symbolische Handlung gab ihm Kraftgefühl und Selbstbewußtsein zurück. Die sieben Sätze des Zettels hatten ihn erhoben, sie sollten ihn tragen und halten.
»Und wenn ich treu bleibe diesen Worten des Glaubens«, rief er laut, »dann kann ich alles, was ich will, und will nur, was ich soll. Ein Minister wird fortan nur beurteilt nach den Taten, die er im hellen Lichte des Tages vollbringt. Verleumdung, Verdächtigung, geheime Künste werden wie Nebel zerrinnen vor der neuen Sonne des öffentlichen Lebens. Das klare Auge des Volkes durchschaut mich, ich will ihm den gleichen klaren Blick des reinen Herzens entgegenbringen. Von heute gehöre ich nicht mehr mir selber, ich gehöre ganz meinem Volke!«
Gärtner war in der Tat ein trefflicher Mann, biegsamen Talentes und unbiegsamen Charakters, goldtreu und eisenfest. Nur eines hatten seine Freunde zu tadeln: der treffliche Mann führte einen so musterhaften Wandel, daß man ihm gar keine schwache Seite abgewinnen konnte, und das ist auf die Dauer langweilig und also doch wieder nicht musterhaft. »Wo soll das hinaus?« fragten sie. »Er ist erst dreißig Jahre alt und schon Minister, und er ist schon dreißig Jahre alt und noch niemals verliebt gewesen!«
Am letzten März wurde der neue Landtag eröffnet, ohne alles vornehme Gepränge, ganz demokratisch.
Der dirigierende Staatsminister ging zu Fuß in die Kammer. Aber unterwegs drängten sich wachsende Menschenmassen an ihn heran und ließen ihn hochleben, und als er das Tor des Ständehauses erreicht hatte, konnte er kaum hinein vor dem gewaltigen Gefolge, welches ihn jauchzend und glückwünschend fast erdrückte. Endlich zum Saale durchgedrungen, verlas er die Eröffnungsbotschaft des Fürsten. Sie fand um so größeren Beifall, als man in Stil und Gedankengang ganz deutlich die Feder des vergötterten Ministers erkannte.
Hierauf wurde die Antwortadresse beraten. Allein da entstand eine grausige Konfusion. Fast alle Abgeordneten saßen zum erstenmal in einem Ständesaale, völlig unerfahren in parlamentarischen Dingen; der Präsident wußte sich nicht zu helfen und verwirrte vielmehr, wo er ordnen wollte. Das Schauspiel einer Versammlung, die den Staat neu konstituieren will, zunächst aber sich selbst nicht konstituieren kann, war doppelt peinlich angesichts der überfüllten Galerien.
Da brachte der Minister Hilfe. In liebenswürdig bescheidener Weise schaffte er Ordnung durch Winke und Worte, denen man freudig folgte, und nach kurzer Frist kam die Debatte in stetigen Gang. Das Volk auf den Galerien war stolz, daß sich seine neuen Vertreter so rasch zu helfen gewußt, die Abgeordneten glücklich, daß sie's so gut gemacht, und nur wenige merkten, daß der Kammerpräsident für heute eigentlich am Ministertisch sitze, und sagten leise: »Das ist nun der echte Volksmann als Minister!«
Die Sitzung währte bis zum Abend; ein jeder hatte ja zum erstenmal zu sprechen und so vieles und Wichtiges zu sagen.
Siegesbewußt, aber auch siegesmüde entfernte sich der Minister. Vor dem Portale warteten die Leute schon wieder auf ihn, Kopf an Kopf. Darum schlüpfte er durch ein Hinterpförtchen ins Freie und schlug einen weiten Umweg ein, um unbemerkt nach Hause zu kommen.
Als er vom Heumarkt in die Fledergasse bog, atmete er auf: hier war es ganz still und menschenleer. Er verlangsamte seinen Schritt. Das enge Gäßchen, meist von geringeren Leuten bewohnt und sonst gerade nicht lustig anzusehen, dünkte ihm wie kühle Waldeinsamkeit nach all dem Tumult und der Hitze des Tages. Keine Seele ringsum. Doch nein! Am offenen Fenster des Erdgeschosses eines altertümlichen Hauses saß ein Mädchen und nähte; sie ließ eben die Nadel sinken, um einen kleinen Hund zu streicheln, der vor ihr auf dem Fensterbrette lag. Dichte Efeuranken bekränzten den Flachbogen des Fensters, und ein warmer Lichtstreif der sinkenden Sonne, fiel schräg auf Sims und Sockel, während das rötliche Kleid und das frische Gesicht des Mädchens wie mit eigenem, weit milderem Licht aus dem dämmernden Hintergrund und dem dunkelgrünen Rahmen des Efeus hervorleuchtete.
Der Minister hielt unwillkürlich an. Er war ganz unbekannt in der Fledergasse, aber das Mädchen hatte er schon einmal am Fenster sitzen sehen – irgendwo anders. Wunderliches Spiel des Zufalls! Er entsann sich: das war ja das Mädchen von seinem Bilde!
Er ging weiter. Aber nach etlichen Schritten mußte er sich wieder umschauen. Aus der Ferne erschien die Täuschung noch weit vollkommener: es war das leibhaftige Urbild seines Mieris.
Zu Hause angekommen, warf er sich aufs Sofa, noch aufgeregter wie damals, als er die Volksforderungen statt des Mieris an die Wand nagelte. Und doch hatte er das Gefühl eines glücklichen Tages. Natürlich! Er hatte ja den lauten Triumph des Straßenjubels erlebt und den stillen, aber feineren Sieg im Landtage. Doch dies freute ihn jetzt kaum; der Abend schien ihm der beglückendste Teil des Tages – der erquickende Gang durch die schweigende Fledergasse!
Und während er über sich selber lächelte, war es ihm, als sähe er seinen Mieris wieder am alten Platze trotz des Plakats mit den sieben Forderungen. Er ging ins Nebenzimmer, um ihn genauer zu vergleichen mit dem lebenden Bild aus der Fledergasse.
Da entdeckte er freilich die größten Unterschiede. Dort Abendsonne, hier Morgenlicht; dort Efeu, hier Weinreben; dort ein Vogelkäfig, hier ein Hund – und ein rotes Kleid statt des lichtblauen. Es war alles anders, und doch war die Gesamtwirkung so wunderbar gleich – aber nur aus der Ferne. Denn genau besehen, hatte der alte Niederländer seiner ziemlich derben Schönen ein aufgestülptes Stumpfnäschen gegeben, und jenes Mädchen unterm Efeu hatte die feinste Spitznase; sie war überhaupt viel edler, jungfräulicher, und überdies, mag man an der modernen Tracht tadeln, was man will, sie war auch geschmackvoller gekleidet als die Niederländerin mit ihrem bauschigen Gewand.
»Es ist zu bedauern«, so schloß der Minister seinen politischen Tag, »daß selbst die besten Holländer bei aller Poesie der Farbe fast niemals edelfeine Frauengestalten zu zeichnen vermochten. Ihre schönsten Fräulein sind doch immer nur geputzte Bauerndirnen. Sie werden eben keine besseren Originale gehabt haben. Welch unermeßlicher Fortschritt der Neuzeit auch hier – in der Veredelung des weiblichen Geschlechts!«
Des andern Morgens ging der Minister wieder ins Ständehaus, und zwar geradenwegs. Die Menschen störten ihn heute gar nicht; trotzdem bog er ganz in Gedanken links ab, und ehe er sich's versah, war er wieder in der Fledergasse.
Verstohlen blickte er nach dem efeuumrankten Fenster. Gestern abend im Sonnenlicht, lag es heute morgen im Schatten, die Abendluft war warm gewesen, der Morgenwind wehte kalt, folglich waren die Flügel geschlossen und das Mädchen nicht zu sehen.
Das ist ja ganz natürlich, und doch kam es dem Minister verdrießlich vor, und dieser Verdruß deuchte ihm dann wieder unnatürlich.
Allein er hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn im selben Augenblick huschte eine Frauengestalt aus dem Hause; er sah sie nur im Viertelsprofil, dann ganz von hinten, und doch erkannte er sie – sonst entsetzlich kurzsichtig –: das war das Mädchen vom Fenster! Wie rasch sie die Straße hinabschritt! Er mußte seinen Schritt verdoppeln, um in gleicher Entfernung hinter ihr zu bleiben. Schickt sich's denn für einen Minister, einem unbekannten Mädchen nachzueilen? So fragte er nicht einmal; er ging ihr nach, als ob sich's von selbst verstünde. Welch schlanke Gestalt, welch zierlicher Fuß, welch elastischer Gang! Jugend, Frische, Energie sprach aus diesen schwebenden Schritten.
Sie ging stracks gegen das Ständehaus. Das freute ihn. Er wollte heut eine glänzende Rede halten – wenn sie auf der Galerie säße! Er stutzte über sich selbst; – was war es denn, wenn unter den vielen Köpfen da droben auch noch dieser Mädchenkopf steckte? Doch nein! sie ging nicht in die Kammer, in der allerletzten Ecke schwenkte sie seitab. Es war recht ärgerlich.
Die Erscheinung war verschwunden, der Zauber verweht; Rudolf Gärtner saß am Ministertisch, und es blieb ihm gar nichts übrig, als wieder ganz Minister zu werden.
Er tat es; der Moment übte seine zwingende Gewalt, die Fledergasse samt der elastisch dahinschwebenden Grazie war vergessen.
Der Minister zeigte sich heut schlagfertiger als je; ein leises Beben seiner Stimme offenbarte seine Herzenswärme, die das gesprochene Wort erst voll beseelt, wie das zitternde Glanzlicht des Auges. Schade, daß das Mädchen nicht unter den Zuhörern saß. Ein Meisterstück gelang dem Minister: die Stände wollten sich bei der Antwortadresse an den Fürsten nur noch als »ehrerbietige« unterschreiben; er setzte durch, daß sie »treuuntertänige« schrieben. Kein anderer hätte das fertiggebracht.
Zu diesem Sieg gesellte sich ein zweiter: er ging schnurstracks durch die Hauptstraße nach Haus und keineswegs durch die Fledergasse. Er war ganz stolz, daß er dies tat, und fragte sich nachher verwundert, worauf er denn eigentlich stolz sei.
Zu Hause fiel er in tiefes Nachdenken; der Staat kam ihm ganz aus den Augen, er sah sich nur immer durch die Fledergasse gehen und sprach zu sich selbst: »Zuerst das Brustbild von vorn, in Ruhe, gut beleuchtet; dann die ganze Gestalt von hinten, im Schatten, bewegt. Das ist alles, was man wünschen kann, und doch im Grunde sehr wenig. Übrigens ist es sehr merkwürdig, daß ein gemaltes Bild nach mehr als hundert Jahren lebendig wiederkommt. Ich will meinem Freund Rebdorf von dieser Grille des Zufalls erzählen.«
Der Freund trat nämlich eben ins Zimmer; allein Gärtner erzählte kein Wort von jener Grille. Er hätte ihn auch gern gefragt, wer denn eigentlich Fledergasse Nr. 15 zu ebener Erde wohne; allein er wagte es nicht.
Kaum war der Freund wieder gegangen, so klingelte Gärtner gewaltig. »Ein Minister kann heutzutage alles, was er will«, sprach er zu sich, »warum soll ich nicht meinen Bedienten rufen« – er vergaß häufig noch, daß er einen solchen habe – »und ihn fragen, wer Fledergasse Nr. 15 wohnt?«
Der Bediente kam, und der Minister wäre fast errötet, als er jene Frage stellte, und dabei mußte er noch obendrein den Flachbogen mit dem Efeu beschreiben, denn Johann hatte doch nicht alle Nummern der Fledergasse im Kopf. Er wußte nichts von den Insassen des Hauses. Sein Herr gab ihm darum in etwas verworrenen Sätzen den Auftrag, sich unterderhand ohne Aufsehen zu erkundigen, wer dort im Erdgeschoß wohne, was die Leute trieben, das heißt, welchen Familienstand sie hätten, – dann unterbrach er sich selbst, denn es schien ihm, als habe er zuviel gesagt.
Johann war Bedienter beim vormärzlichen Minister gewesen, bevor er zum Märzminister kam. Er ahnte eine Sache von politischer Wichtigkeit und beschloß zu zeigen, daß er mehr könne als servieren und Kleider ausklopfen.
Sein Herr aber dachte im stillen: »Ein Minister kann heutzutage zwar alles, nur muß er mitunter seltsame Umwege machen. Als Advokat hätte ich mich auf offener Straße nach den Bewohnern jedes beliebigen Hauses erkundigt. Für einen Minister schickt sich das nicht.«
Eine wahre Springflut von Arbeiten brauste herein über den armen Minister. Nachdem er heute zwei Stunden mit dem Fürsten gearbeitet hatte, drei mit seinen Räten und vier mit dem Landtage, empfing er zur Erholung eine Deputation von Bauern, welche den Zehnten abgeschafft, und eine andere von Pfarrern, die ihn beibehalten haben wollten.
Eben sollten noch sechs weitere Bittsteller der Reihe nach vorgelassen werden, als der Polizeidiener Krautmann zur Erstattung eines geheimen Rapportes gemeldet wurde.
Derselbe berichtete: »Ich habe die befohlene Nachforschung angestellt über den pensionierten Oberförster Sachs. Der Mann ist einer der schlimmsten Reaktionäre; er besucht keine Volksversammlung, nicht einmal ein Wirtshaus, was sehr verdächtig erscheint. Jeden Nachmittag geht er im Stadtwald spazieren; Ziel und Zweck dieses Spazierens konnte noch nicht ermittelt werden – –«
»Was soll das?« unterbrach ihn der Minister zornig. »Was kümmert mich dieser Oberförster? Ich habe über niemand solche Spionage anbefohlen; die Zeit der Aufpasser ist vorbei!«
Der erschrockene Polizeidiener berief sich auf Johann, den Bedienten, welcher ihn beauftragt habe, ganz insgeheim Erkundigungen für den gnädigen Herrn einzuziehen über Fledergasse Nr. 15, Erdgeschoß.
»Johann ist ein Esel!« platzte der Minister heraus; der Polizeidiener verstummte.
Beide standen sich eine Weile schweigend gegenüber, der Scherge tief gebückt, der Minister mit fragend erhobenem Kopfe.
»Aber so rede Er doch weiter!« rief dieser endlich»»Also Oberförster Sachs wohnt in jenem Hause? ist erst neuerdings dort eingezogen?«
»Erst seit vier Wochen, seit er pensioniert ist; früher stand er in Grabenheim.«
»Nur vorwärts! Was ist mit den Leuten? Hat der Oberförster Familie?«
»Oberförster Sachs, 54 Jahre alt, evangelisch, Witwer, hat nur eine Tochter Hedwig, 23 Jahre alt, ledig. Sie leben sehr zurückgezogen, knapper Haushalt, 700 Gulden Pension, sonst gar nichts. Die Tochter geht jeden Sonntag morgens in die Vorstadtkirche, der Vater geht nicht in die Kirche. Außerdem wurde nichts von ihrem öffentlichen Leben bemerkt.«
»Es ist abscheulich, in dieser Weise die Leute zu belauschen!« rief der Minister, »das ist ja ganz vormärzlich und darf niemals wieder vorkommen! Man hat mich mißverstanden, übrigens noch ein Wort: – hat der Oberförster Verwandte, Freunde hier in der Stadt?«
»Da bin ich überfragt, soweit habe ich noch nicht nachgespürt. Mir scheinen die Leute hier ganz fremd und einsam zu sein. Wenn aber der Herr Minister befehlen, so werde ich –«
»Ich befehle gar nichts!« unterbrach ihn dieser. »Unterstehe Er sich nicht wieder, das Privatleben harmloser Bürger auszuspähen! Für diesmal soll Er durch das Mißverständnis entschuldigt sein.«
Als der Polizeidiener gegangen war, entdeckte der Minister, daß heute Samstag sei; also beschloß er, morgen früh in die Vorstadtkirche zu gehen.
In der Bedientenstube gab es noch ein kleines Nachspiel. Der Polizeidiener machte Johann bittere Vorwürfe, daß er ihm durch den anbefohlenen Rapport den Zorn des Ministers zugezogen habe. Der Bediente fragte kaltblütig: »Hat der Herr deinen Bericht zu Ende gehört?« – »Er wollte sogar noch mehr wissen, als ich sagen konnte, aber zwischendurch schimpfte er grausam auf meine Spionage.« – »Sieh, mein lieber Freund«, belehrte Johann, welcher ein gebildeter Bedienter war, »ich habe binnen zwei Jahren in zwei Epochen der Weltgeschichte bei zwei Ministern gedient und kenne die Politik. Der Staatsmann schilt den Angeber, daß man's über der Straße hört, während er ihm ein Goldstück in die Hand drückt, und das hört kein Mensch.« – »Aber er hat mir keinen Heller in die Hand gedrückt!« – »Weil du zuwenig gewußt hast. Über diesem Oberförster ruht ein politisches Geheimnis; wir müssen's ergründen und dann feiner rapportieren.«
Und so beschlossen die zwei, ihre Netze aufs neue und noch viel tiefer auszuwerfen.
Die Vorstadtkirche pflegte damals allsonntäglich sehr leer zu sein. Im Sturm der Ereignisse hatten die Leute gar keine Zeit mehr für den lieben Gott, vorab in der Vorstadt.
Auch Minister Gärtner war während seines ganzen Ministeriums noch nicht in die Kirche gegangen. Um so größeres Aufsehen erregte es, als er heute in der Vorstadtkirche erschien und auf der Emporbühne zwischen Knechten und Taglöhnern Platz nahm – denn von dort konnte man die Frauen im Schiff am besten übersehen.
Seine Freunde erklärten nachgehends diesen Kirchenbesuch für einen bedenklichen Zug von Reaktion, während es seine konservativen Gegner als kokettes Buhlen um Volksgunst auslegten, daß er bei den Proletariern Platz genommen habe.
Der Minister ahnte nicht entfernt die politische Tragweite seines ersten Kirchgangs; er suchte nur den neuen Mieris aus der Vogelperspektive und fand ihn. Das Mädchen schien in Andacht versunken, obgleich die Predigt sehr wässerig war. »Die Andacht gibt uns der Pfarrer nicht«, so dachte Gärtner, »wir müssen sie in uns selber finden. Wie hoch steht dies schlichte Kind jetzt über mir, der ich keine Andacht finden kann und aus sehr profanem Grunde hierhergekommen bin!« Und so wurde er unvermerkt andächtig in ihrer Andacht und indem er sich Vorwürfe machte, daß er ohne Andacht zur Kirche gegangen sei.
Die Orgel spielte zum Ausgang, da war es ihm noch ganz feierlich zumute. Aber trotzdem wußte er's zu machen, daß er sich unmittelbar hinter Fräulein Hedwig Sachs zur Kirchentüre hinausdrängte. Sie war allein. Sollte er die Szene von Faust und Gretchen spielen, um sich etwa auch die Antwort Gretchens zu holen?
Allein im Faust scheint die Sonne, da Gretchen ungeleitet nach Hause geht, und heute tröpfelte es, ja es begann tüchtig zu regnen. Sie beschleunigte ihre Schritte, und doch wie fest und vornehm blieb ihre Haltung, wie zierlich faßte sie das Kleid! Und sie hatte keinen Regenschirm! Minister hingegen müssen die Zukunft erraten können, und Minister Gärtner hatte einen Schirm mitgenommen. Die Gunst des Glücks blieb ihm aber auch weiter noch ganz besonders treu: wie mit Eimern goß es plötzlich vom Himmel herab, das Mädchen wollte in ein Haus flüchten, und die Türe war verschlossen. Nun sprang er rasch herzu und bot ihr den Schirm; sie weigerte sich anfangs, da kamen auch noch Hagelkörner: sie mußte den kleinen Dienst annehmen. Offenbar kannte sie ihren Helfer nicht, und die Straße war ganz einsam – es gab überhaupt in der Residenzstadt nur zwei Straßen, welche zuweilen nicht einsam waren – der Weg war weit. Unter einem Regenschirm – was kann man sich da nicht alles in der Geschwindigkeit sagen!
So kamen sie denn auch recht lebhaft ins Gespräch über – die brennenden politischen Tagesfragen, denn damals redete man ja überhaupt nur von Politik.
Das Mädchen nannte die Märzerhebung einen Aufruhr, sie war beängstigt von dem Sturm, der über alle Lande brauste; die alte Treue schien ihr geächtet, sie sehnte sich zurück nach dem entschwundenen Frieden.
Ihr Begleiter, sonst so schlagfertig, warf nur mildernde, zweifelnde Worte dazwischen.
Übrigens meinte sie, an alledem sei der böse Minister Gärtner schuld, der habe die Revolution hierzulande gemacht. Vergebens suchte ihr Begleiter sie zu belehren, daß die Spannung längst vorhandener Konflikte entscheidender gewesen sei als irgendeine Person, die zufällig das entfesselnde Wort gesprochen.
»Keineswegs!« entgegnete sie, »das weiß ich besser. Gärtner hat alles zu verantworten. Er soll sonst kein unrechter Mann sein, aber furchtbar ehrgeizig und ein ganz fanatischer Republikaner.«
»Er ist ein treuer Diener seines Fürsten«, verbesserte ihr Begleiter.
»Lassen Sie sich nicht täuschen von dem durchtrieben gewandten Mann!« warnte sie. »Seine Fürstentreue ist bloße Maske.«
Bei diesen Worten war das Haus in der Fledergasse erreicht. Sie fragte ihn höflich, ob er nicht einen Augenblick unter Dach treten und das Unwetter abwarten wolle. Gärtner zögerte, – dann lehnte er dankend ab und ging unter den prasselnden Schloßen nach Hause. Daheim im trockenen ärgerte er sich nachher schmählich, daß er nicht der Einladung gefolgt war. Er hätte im Zimmer seine Maske abnehmen, sich als der Minister enthüllen, das Mädchen zuerst ein wenig beschämen und hinterdrein aufs liebenswürdigste beschwichtigen können.
Aber wozu dies alles? Sie interessierte ihn ja nur als das Bild eines Bildes. Freilich war sie heute bereits ein sprechendes Bild geworden und obendrein geschmückt mit dem echt weiblichen Reize des Widerspruchs. Im Grund hatte sie ihm lauter unangenehme Dinge gesagt, aber auf die angenehmste Weise, und das entscheidet bei schönen Frauen.
»Sie hat einen schlechten Geschmack, allein in ihrem schlechten Geschmack ist sie so anmutig naiv, daß ich ihr kaum einen bessern wünschen möchte. Ich war ein Esel, daß ich nicht mitging!«
So schloß der Minister sein Selbstgespräch, um es nach fünf Minuten wieder von vorn zu beginnen, indem er sich fragte, ob er denn als Minister überhaupt hätte mitgehen und die kleine Komödie zu Ende spielen dürfen. Als Advokat würde er's unbedingt getan haben, doch für einen Minister schickte sich's wahrhaftig nicht.
Auf die ersten Maitage waren die Wahlen zum deutschen Parlament ausgeschrieben; Rudolf Gärtner hatte sichere Aussicht gewählt zu werden, und Minister, welche abwechselnd eine Woche zu Haus das kleine Vaterland regierten und in der andern zu Frankfurt dem großen Vaterland Gesetze gaben, waren 1848 keine Seltenheit.
Sollte er die Wahl annehmen? Die Doppelaufgabe ging fast über Menschenkraft. Und doch konnte es andererseits dem kleinen Ländchen sehr ersprießlich sein, wenn er, der Minister, zugleich seinen Platz im konstituierenden Reichstage nahm. Völlig unschlüssig, vermochte er keinen Entscheid zu finden.
Alle Parteien, Freunde und Gegner, wünschten, daß er nach Frankfurt gehe, aber jede aus andern Gründen: – der Fürst, weil der Minister dort die Selbständigkeit des Landes am besten vor weiterer Schädigung wahren könne, – die liberalen Genossen Gärtners, weil sie hofften, daß er in Frankfurt gegenteils für die deutsche Einheit wirke, – die konservativen und radikalen Gegner, weil sie den mächtigen Mann los sein wollten, um in seiner Abwesenheit ans Ruder zu kommen.
Nur der zunächst Beteiligte wußte selbst nicht, was er wollte, und zwar zum erstenmal während seines ganzen Ministeriums.
Heute war der letzte Termin, er mußte sich aussprechen für Annehmen oder Ablehnen.
Kein Wunder, daß er inmitten dieses Kampfes wenig Ohr hatte für die kleinen Geschäfte, welche ihm eben sein Referent unterbreitete. Mechanisch hatte er bereits zehn Nummern erledigt, als zum Schlusse noch das Gesuch des Akzessisten Baum vorkam, welcher nach langem Harren endlich als Assessor angestellt sein wollte. Der Referent rühmte die Geschäftstüchtigkeit des jungen Mannes – lauter erste Noten! –, nur sei er kein besonderer Freund der neuen Ordnung, doch das müsse man einigermaßen entschuldigen, denn er dürfe es vorerst nicht verderben mit seinem künftigen Schwiegervater, dem Oberförster Sachs, – der Minister horchte plötzlich auf – »denn Sachs ist ein Jäger vom alten Schlag, und die Jäger hassen alle die Revolution, weil sie zuerst dem Wald und den Hirschen zu Leibe ging.«
»Also ist der junge Baum verlobt mit Hed – mit der Tochter des Oberförsters?« fragte hastig der Minister.
»So sagen die einen, andere behaupten, das Mädchen wolle nichts von ihm wissen, weil er trotz seiner ersten Noten etwas roh und grob bei Damen sei, dies halte aber der Vater für altdeutsche Biederkeit und begünstige ihn und dränge das Mädchen. Sie ist so arm wie eine Kirchenmaus. Und so tun wir wohl ein gutes Werk, wenn wir dem jungen Mann zu einem Amt und dem armen Kind zu einem Manne verhelfen, ja obendrein auch ein politisch gutes Werk; denn die Welt glaubt doch, daß dieser Baum bloß wegen seiner mißliebigen Farbe so lange warten müsse.«
»Nur nicht zu voreilig!« rief der Minister. »Legen Sie den Akt beiseite; ich will mir die Sache überlegen.«
Am selben Tage noch meldete er seinen Wählern, daß er fest entschlossen sei, kein Mandat zum Reichstage anzunehmen, und belegte den Entschluß mit den schönsten politischen Gründen.
Dieser Schritt erschütterte das Ministerium Gärtner im Fundament, ohne daß es der Minister merkte.
Seine Freunde begannen an ihm zu zweifeln, weil er keinen kühneren Flug wage: »Er prüft alles rein sachlich, wenn er doch nur auch einmal persönlich dreinführe! Er ist die verkörperte Gerechtigkeit welche stets nur wägt, nie wagt! Ihm fehlt jede Leidenschaft; er ist ja in seinem ganzen Leben nicht einmal verliebt gewesen!«
Die Deutschgesinnten beschuldigten ihn des Partikularismus, die Partikularisten fürchteten, daß er ihnen ins eigenste Gehege komme. Der Fürst argwöhnte einen Achselträger, welcher sich scheue, in Frankfurt Landesfarbe zu bekennen.
Sämtliche Zeitungen des Landes – vor dem März hatte es gar keine gegeben, jetzt gab es deren zwölf – brachten Leitartikel, welche mit viel Scharfsinn die macchiavellistischen Intrigen enthüllten, die der Ablehnung des Ministers zugrunde lägen: man erkenne dabei wieder ganz klar den Einfluß einer auswärtigen Großmacht.
Wer aber jene Ablehnung hinterdrein am schärfsten verurteilte, das war der Minister selber – freilich ganz im stillen, vor dem Forum seines Gewissens.
Er war abgefallen von seinem hochsinnigen Programm, untreu dem Grundsatze, daß er in dieser Zeit nur dem Staat, nur dem Volke leben dürfe. Da half kein Beschönigen: den Ausschlag in einer hochpolitischen Frage hatte ein ganz jugendlich abenteuerlicher Liebesroman gegeben. Ein Liebesroman? Liebte er denn das Mädchen, welches er nur von weitem gesehen, außer ein einziges Mal, wo sie ihm unangenehme Dinge gesagt hatte? Blieb er wirklich um ihretwillen im Lande? Gestern machte er sich noch weis, ihn fessele bloß das schöne Urbild eines vor hundert Jahren gemalten schönen Bildes. Aber heute, wo er erfuhr, daß dieses Bild höchstwahrscheinlich demnächst einem andern gehören werde, heute wußte er, daß er liebe.
Und warum verschob er die Beförderung des Akzessisten? Kaum wagte er sich den Grund zu gestehen, und doch blieb der Akt bei den Akten – aus guten Gründen. Übrigens deuchte ihm, es lägen doch ungünstige Zeugnisse gegen diesen Baum vor: er war ja so ungeschliffen im Verkehr mit Damen.
Bisher als Staatsmann unschuldig wie ein Kind, fühlte Gärtner nur zu tief, daß er heute seine politische Unschuld verloren habe. Er meinte, die Leute auf der Gasse müßten ihm den Abfall an der Nase ansehen, und ihm war, als müsse diese Untreue neue Untreue gebären; er ahnte ein Ende mit Schrecken und lachte dann doch wieder, daß er sich über Kleinigkeiten dergestalt gräme. Aber es war ein gezwungenes Lachen.
So konnte bloß ein Märzminister denken und empfinden; aber die meisten Märzminister empfanden eben doch nur so im März, Rudolf Gärtner dagegen selbst noch im Mai, und darum war er der echteste Märzminister.
Für die nächsten Tage lag ein recht unerquicklicher Gegenstand auf dem Arbeitstische des Ministers: das neue Jagdgesetz. Mit dem alten Jagdregal sollte aufgeräumt werden, die Volksstimme begehrte das Jagdrecht der Gemeinden zum Entsetzen aller Jäger vom alten Schrot und Korn.
Gärtner harmonierte eigentlich mit den Jägern, allein aus reiner Gewissensangst stimmte er gegen seine Überzeugung für das Jagdrecht der Gemeinden. Denn es wäre ja möglich gewesen, daß der Gedanke an den Oberförster ihn beeinflusse; also befürwortete er ein Gesetz, welches ihm genau genommen ebenso verkehrt schien wie dem Oberförster. Da grub denn wiederum der Volksmann dem Liebenden den Boden unter den Füßen weg.
In Gedanken tröstete er sich hierüber – als Minister. Er malte sich's prächtig aus, wie er in das bescheidene Haus der Fledergasse treten und das efeuumrankte Fenster auch einmal von innen sehen werde. Gleich einem Gott aus der Wolke wollte er kommen und Herz und Hand bieten, er – der allmächtige Minister! Hedwig wurde erlöst von ihrer Armut und von ihrem Assessor. Wie wollte er das feine, hochgebildete Kind, welches einen so reizend schlechten politischen Geschmack hatte, zu sich heraufziehen! An das Jagdgesetz dachte er dabei gar nicht mehr; der Oberförster sollte den heitersten Lebensabend genießen, auch wenn die Bauern alle Hasen totschössen. Er dachte auch nicht an einen andern kleinen Umstand, nämlich ob das Mädchen ihn überhaupt haben wolle.
Doch fiel ihm das hinterher um so schwerer aufs Herz. Auch fragte sich's, ob denn Hedwig in der Tat so vortrefflich war, wie er sie dachte.
Alle Versuche, einen ganz arglosen Verkehr anzuknüpfen, waren vergeblich; sie scheiterten an seiner Stellung, am Minister. Dabei wurde er immer ruheloser, blasser, magerer, immer schwankender in der Politik, verworrener in den Geschäften: schon um des Staates willen mußte ein Ende gemacht werden.
Er faßte einen Entschluß, mannhaft und ritterlich, wie er seinem ganzen Wesen entsprach.
Zunächst erledigte er das Gesuch des Akzessisten Baum: binnen drei Tagen war derselbe Assessor. Das ging damals äußerst geschwind, wenn man wollte.
Nun war der Minister ruhig, aber der Liebende verging vor doppelter Unruhe.
Auch hier mußte ein Ende gemacht werden. Hedwig hatte jetzt ihren Assessor, wenn sie ihn haben mochte; sie sollte nun auch wissen, daß sie einen Minister haben könne. Das war ehrlich Spiel.
Der ganz gemeine nächste Weg schien ihm der würdigste: er schrieb seinen ersten Liebesbrief, logisch wie ein Gesetz, bündig wie eine Depesche, eindringlich wie eine Note, in lauter Hauptsätzen, die fast alle mit »Ich« anfingen. Denn wenn der Mensch ganz stillos offenherzig sagt, was er fühlt und will, dann fängt er immer mit »Ich« an.
Der Brief lautete: »Ich verehre Sie seit Wochen, ich liebe Sie. Ich würde um Ihre Hand bitten, aber Sie kennen mich nicht. Ich bitte darum nur um die Erlaubnis, Ihnen eine Geschichte erzählen zu dürfen, die Geschichte, wie ich dazu kam, Sie zu verehren. Ich kann nur mündlich erzählen: gewähren Sie mir also eine Unterredung. Ich warte bis morgen abend auf Antwort. Ich will Ihnen das Peinliche einer abweisenden Antwort ersparen: wollen Sie nicht einmal die Entstehungsgeschichte meiner Verehrung kennenlernen, so verbrennen Sie diesen Brief; vergessen Sie, ihn je erhalten zu haben, und schreiben Sie nichts. Wollen Sie mich aber hören, dann bestimmen Sie die Stunde.«
Sollte er den Brief mit dem bloßen Namen unterzeichnen? Laut Adreßbuch gab es vier »Gärtner« in der Stadt, darunter zwei »Rudolf«. Mit zögernder Hand, als tue er etwas prahlerisch Anmaßendes, schrieb er darum: »R. Gärtner, Minister.« Er fühlte sich beim Anblick dieses »Minister« so verschämt und verlegen wie einer, der am hellen Tage im Frack über die Straße geht.
Seinem spionierenden Bedienten wollte er den Brief nicht anvertrauen, darum beförderte er ihn auf dem ganz bürgerlichen Wege durch die Stadtpost.
Kaum war eine Viertelstunde seit Aufgabe des Briefes verstrichen, so wurde der pensionierte Oberförster Sachs bei dem Minister gemeldet. Was sollte dies? Die Antwort konnte doch der Vater unmöglich schon überbringen, denn die Stadtpost war berühmt wegen ihres vorsichtig langsamen Ganges.
Mit klopfendem Herzen empfing der Minister den alten Weidmann.
Dieser erklärte, daß ihn eine zwiefache Beschwerde hierherführe, wobei er – wie es ja jetzt zeitgemäß – den mündlichen Weg dem schriftlichen vorziehe. »Ich bin von Ihnen in zwei Dingen schwer gekränkt worden und will offen darüber reden, weil ich Sie, wenn auch für meinen persönlichen Feind und grundsätzlichen Gegner, doch für einen ehrlichen Mann halte. Erstens, Herr Minister, haben Sie mich ohne allen Grund pensioniert –«
Der Minister mußte ihn unterbrechen, er leugnete rundweg, daß er dies getan habe. Allein es war in der Tat so, wie ihm der Alte sofort bewies. In den ersten Tagen seines Ministeriums hatte Gärtner die Pensionierung einer ganzen Anzahl von Forstleuten unterzeichnet, die den Bauern mißliebig geworden waren, und Sachs, dessen Namen er damals noch gar nicht kannte, stand obenan auf der Liste. Der Oberförster war dann, wie er weiter erzählte, sofort in die Hauptstadt gezogen, um hier die Wiederherstellung seiner gekränkten Dienstehre und die Wiedereinsetzung in sein Amt persönlich zu betreiben. Doch die Ungunst der Zeit hatte seinen Aufenthalt, der auf Wochen berechnet gewesen, auf Monate verlängert.
Minister Gärtner erwiderte allgemeine Worte, die nichts besagten und nur seine Verwirrung verbergen sollten. Was konnte er tun? Dem Oberförster jetzt sein Amt wieder versprechen, in demselben Augenblick, wo sein Brief in die Hände von dessen Tochter kam, – das ging ihm schnurstracks gegen das politische Gewissen. Aber konnte er ihm nicht glänzende Genugtuung für die Zukunft verheißen? Das ging auch nicht, denn in dieser Zukunft hoffte er ja Schwiegersohn des Oberförsters zu werden, und dann sah die Sache erst recht abgekartet aus und wie die offenste Familienprotektion alten Stiles. Nein! Der Oberförster mußte unter allen Umständen pensioniert bleiben. Unter allen Umständen? Wiederum nein! – Den einzigen Umstand nämlich ausgenommen, daß der Minister als Liebender einen Korb bekam: dann konnte er im Selbstgefühle höchster Unbestechlichkeit den Oberförster Sachs sofort wieder einsetzen oder noch besser gleich zum Oberforstrat machen.
In seiner Verzweiflung gab der Minister ausweichende Antworten. Und doch schilderte ihm der alte Jäger so beredt, wie ihm die Bauern das Wild vor der Nase weggeschossen hatten, den Wald geplündert, die schönste junge Eiche gefällt und im Triumph zum Dorfe gefahren und dort um dieselbe getanzt wie um einen Freiheitsbaum. Und der Mann hatte unter persönlicher Gefahr nichts weiter dagegen getan, als was ihm Amt und Pflicht gebot.
Man konnte in seinen Blicken lesen, wie verächtlich ihm die laue, zweideutige Rede des Ministers sei. Er begann jetzt auch an dessen Ehrlichkeit zu zweifeln, denn den Bauern gab er unrecht, und ihm wollte er nicht recht geben. Hätte ihm der Minister noch im blinden Parteiwahn gesagt, daß den Bauern der Wald gehöre und daß die Förster sich ducken müßten vor dem souveränen Volk, so würde er ihn minder geringschätzig behandelt haben.
Er ging darum kurzweg zu seiner zweiten Beschwerde, und die war noch weit peinlicher.
»Ich lebe hier still und einsam und kümmere mich nicht entfernt um das politische Getreibe. Trotzdem werde ich seit Wochen polizeilich überwacht; Polizeidiener und Gendarmen verfolgen mich, ja selbst meine Tochter auf Schritt und Tritt, sie spähen bis ins Heiligtum meines Hauses. Ich weiß bestimmt, Herr Minister, daß dies in Ihrem besondern Auftrage geschieht, einer Ihrer Späher hat mir's selbst gestanden. Ich begehre den Anlaß zu wissen, damit ich mich rechtfertigen kann. Sie haben die Aufpasserei der früheren Zeit vor allem Volke so oft und laut verdammt, daß Sie mir nicht bloß meine Rechtfertigung nicht versagen, nein, daß Sie mir auch Ihre eigene Rechtfertigung nicht weigern können.«
Der Minister stand wie Butter an der Sonne. Wie oft hatte er seinen Bedienten derb zurechtgewiesen, wenn ihm derselbe neue Berichte über Fledergasse Nr. 15 brachte, aber da er doch immer mit sichtbarer Spannung zugehört, so waren die Polizeidiener in ihrem Eifer gar nicht zu bändigen gewesen und viel weiter gegangen, als der Minister irgend ahnte.
Er sah nur einen Ausweg aus dieser Klemme wie aus der vorigen: er mußte dem Alten die ganze Geschichte seiner Neigung zu der Tochter erzählen. Aber das konnte er wenigstens im gegenwärtigen Augenblicke nicht. Hedwig sollte sie zuerst hören; junge Mädchen haben ein Verständnis für dergleichen, aber alte Oberförster ganz und gar keines. Der Alte, in dessen Mienen Zorn und Verachtung kämpften, wünschte ja den Assessor zum Schwiegersohn; er würde ihm auf seine idyllische Geschichte höhnisch geantwortet haben, daß der Herr Minister seine polizeilichen Forschungen auf alles gerichtet habe, nur nicht auf die nächste Frage, ob nämlich das Mädchen überhaupt etwas von ihm wissen wolle.
Und wenn der Alte auch milder geurteilt hätte, – spielte der Minister mit seinem Bekenntnis nicht jetzt unter allen Umständen eine lächerliche Figur? Er hatte sich den Augenblick des Hervortretens so groß, so rührend gedacht, – nein! – er konnte jetzt nicht reden. So entschuldigte er sich denn, daß das Ausspähen durchaus nicht mit seinem Willen geschehen sei.
»Dann müssen Sie den Polizeidiener zur Strafe ziehen, daß er auf Ihren Namen gelogen hat.«
»Nicht ganz mit meinem Willen, nicht so mit meinem Willen«, korrigierte sich der Minister; denn er war wiederum zu ehrlich, um alles auf dem dummen Polizeidiener sitzenzulassen.
Neue Zweideutigkeit und Achselträgerei! dachte der Oberförster.
»Aber es waltet hier von Anbeginn ein Mißverständnis«, fuhr der Minister fort.
»Nun gut, so erklären Sie mir dieses Mißverständnis!«
Der Minister schwieg.
Der Oberförster ergriff seinen Hut. »Ich habe hier die Gerechtigkeit nicht gefunden, welche ich suchte. Diese schlimme Zeit hat wenigstens das Gute, daß man überall geradeaus gehen kann und daß alle Türen offenstehen. Als alter treuer Diener des fürstlichen Hauses werde ich morgen vor Seine Durchlaucht treten und von dem Fürsten die Genugtuung erbitten, die mir sein Minister nicht gewähren wollte.«
Gärtner suchte den Alten zu beschwichtigen, allein er ging trotzig ab. In stummer Verzweiflung blickte er auf das Plakat mit den sieben Volksforderungen, welches noch immer an der Wand hing, und wiederholte die Worte, wie er sie ungefähr damals gesprochen, als er das Plakat aufnagelte: »Ich kann fortan alles, was ich will, und will nur, was ich soll. Ein Minister wird nur noch beurteilt nach den Taten, die er im hellen Lichte des Tages vollbringt. Mißverständnisse und Verdächtigungen zerrinnen wie Nebel vor der neuen Sonne des öffentlichen Lebens. Das klare Auge des Volkes durchschaut mich, ich will ihm den gleichen klaren Blick des reinen Herzens entgegenbringen. Von heute gehöre ich nicht mehr mir selber, ich gehöre ganz meinem Volke!«
Der dirigierende Staatsminister wartete auf Antwort aus der Fledergasse. Er wartete um so gespannter, da er nach Empfang derselben dem Oberförster die befriedigendste Erklärung seines zweideutigen Benehmens geben konnte.
Jetzt kam der Bediente und überbrachte einen Brief. Die Adresse zeigte sehr kräftige Schriftzüge, hastig erbrach ihn Gärtner: – er enthielt die Meldung des Bürgermeisters, daß in der oberen Stadt ein bedrohlicher Krawall ausgebrochen sei.
Vorgestern nacht waren mehrere Ruhestörer eingesteckt worden, weil sie dem Hofmarschall die Fenster eingeworfen hatten. Unter den Verhafteten befanden sich die zwei Präsidenten des Kommunistenvereins »Mondschein«, ein verkommener Schuster und ein Literat. Ihre Freunde zogen in hellen Haufen vor das Gefängnis und forderten Freilassung der Gefangenen. Eben ertönte Trommelschlag, die Bürgerwehr rückte aus.
So fieberhaft jagten sich damals die Ereignisse, daß selbst der ungeduldigste Minister nicht einmal recht ins Fieber des Wartens kommen konnte.
Nach einer Viertelstunde wurde ein zweiter Brief gebracht. Auch er stammte schwerlich aus der Fledergasse, die Adresse war mit Bleistift geschrieben, die Buchstaben noch kräftiger als beim ersten. Der Bürgerwehroberst, Lederhändler Schlehbach, meldete, daß ein Teil der Bürgerwehr sich weigere, gegen die Tumultuanten einzuschreiten, der andere Teil bedrohe die widerspenstigen Kameraden; darum sei Gefahr vorhanden, daß die Bürgerwehr untereinander in Kampf gerate.
Rasch entschlossen, eilte Gärtner selbst ins Rathaus. Er trat auf den Balkon, um die tobende Masse zur Ruhe, die Wehrleute zur Pflicht zu ermahnen. Er rechnete auf den Zauber seiner Rede, er gedachte der Märztage, wo er viel schlimmere Stürme beschworen hatte. Allein er täuschte sich bitter! Pfeifen und Zischen empfing ihn, er konnte nicht zu Worte kommen, und als er dennoch beharrlich winkte und rief, begannen Steine zu fliegen. Er mußte sich zurückziehen.
Mit Schrecken erkannte er, daß seine Popularität gebrochen sei. Er hätte es längst aus hundert Anzeichen merken können. Aber von oben nach unten sieht man viel ungenauer als von unten nach oben.
Man ließ die Bürgerwehr abmarschieren und bot die ganze Polizeimannschaft und Gendarmerie auf, um wenigstens die beiden Schildwachen zu befreien, welche, von der heranwogenden Menge eingeschlossen und fast erdrückt, Gewehr bei Fuß vor dem Gefängnistore standen und sich nicht rühren konnten oder wollten. – Es mißlang.
Da kam ein dritter Brief, Adresse mit mädchenhafter Handschrift! Ein Ölblatt aus der Fledergasse, durch diesen Sturm aufs Rathaus gewirbelt? Ach nein! der Brief war von einem Leutnant, dem Ordonnanzoffizier des Fürsten, welcher den Minister augenblicklich aufs Schloß entbot.
Gärtner fand dort Seine Durchlaucht bereits in Beratung mit dem General der fürstlichen Truppen – diese bestanden zwar nur aus einem Infanterieregiment, hatten aber doch einen General.
Der General wollte sofort feuern lassen, um die Schildwachen zu befreien, der Fürst war unschlüssig, der Minister schlug nun Mittel der Milde vor, als ein Lakai, der am Fenster stand, plötzlich ausrief: »Die Gefangenen sind befreit! Da tragen sie eben den Schuster auf den Schultern über den Schloßplatz wie den Masaniello in der Stummen von Portici!«
Das Zitat aus der »Stummen« entschied. Tief erschrocken gab der Fürst dem Vorschlage des Generals recht, tief bewegt, im schwersten Seelenkampfe fügte sich auch Gärtner.
Doch ließ er sich's nicht nehmen, noch einmal Frieden gebietend unter das Volk zu treten. Vergebens!
Die Aufruhrakte wurden verlesen, – die Soldaten feuerten: – in kurzer Frist waren die Straßen gesäubert, – zwei Tote und zehn Verwundete lagen auf dem Pflaster. Die Stadt war ruhig.
Am Abend desselben Tages schrieb der Minister wieder einen Brief, der aus lauter Hauptsätzen bestand, aber keiner fing diesmal mit »Ich« an: es war das Gesuch an den Fürsten, ihn seines Ministeramtes zu entheben.
Bei der Übernahme des Portefeuilles hatte er sich gelobt, daß er immer nur durch Güte und Vernunft die Leidenschaft des Volkes zügeln wolle. Heute war er ausgepfiffen worden, als er dies versuchte, und die Antwort darauf war das Pfeifen der Flintenkugeln gewesen. Sich selber treu, mußte er abtreten, und der Fürst genehmigte seine Entlassung. Man bot ihm nachgehends einen diplomatischen Posten; er dankte für denselben wie für jedes fernere Staatsamt und ward wieder, was er gewesen, Advokat mit spärlicher Praxis.
An sich selbst verzweifelnd, an der Zeit und am Volke, mußte er leider auch an seiner Liebe verzweifeln. Die Frist der Antwort für seinen Brief war abgelaufen. Da er während derselben gar keine Zeit gehabt hatte zum Warten, so übte er sich nachgehends noch etliche Tage in dieser freien Kunst. Allein es kam keine Antwort aus der Fledergasse.
Das Mädchen hatte also die von ihm selber vorgeschlagene Form gewählt, durch Schweigen nein zu sagen.
Die Stadt war äußerlich ruhig nach der Besiegung des Aufruhrs, aber in den Gemütern gärte es um so heftiger. Zunächst bewegte die Ministerkrisis alle politischen Köpfe, und wer überhaupt einen Kopf hatte, der hatte damals einen politischen.
Über Gärtners Sturz trauerten nur wenige. Die Konservativen weissagten aus dem jähen Fall des Märzministers die dauernde Rückkehr der alten Zustände, die Radikalen einen Rückschlag, welcher rasch zu neuen, gründlicheren Revolutionen führen würde; die Liberalen waren froh, daß sie der pedantische Gerechtigkeitssinn und die unberechenbare Politik ihres früheren Parteigenossen nicht mehr störte, sie wollten und hofften einen Minister, der schlechthin herrschte, indem er sich von ihnen schlechthin beherrschen ließ. Alle Welt glaubte, sämtliche geheime Schliche des gefallenen Ministers zu kennen, aber kein Mensch wußte, daß er verliebt gewesen, – das Mädchen in der Fledergasse vielleicht ausgenommen.
Inzwischen mußte etwas geschehen von seiten sämtlicher Parteien, damit der nötige Druck nach oben geübt werde betreffs der Wahl des neuen Ministers, der vorerst noch nirgends zu finden war.
Das unvermeidliche erste Mittel dieses Druckes war eine Volksversammlung, und im Sturm der Gefühle beschloß man eine Versammlung allen Volkes ohne Unterschied der Farbe. Die alten Parteien galten nicht mehr, neue mußten sich abklären, und das geschah am besten, wenn alle miteinander und durcheinander redeten. Die vorläufige Tagesordnung war sehr einfach. Man wollte die Fehlgriffe, Sünden und Schwächen des gestürzten Ministeriums bis aufs kleinste bloßlegen, um aus dieser vernichtenden Kritik sodann den Plan einer wahrhaft gesunden Staatskunst zu entwickeln. Wer recht genau weiß, was er nicht will, der weiß darum freilich noch nicht immer genau, was er will. Aber gleichviel! Zuerst ein unerbittliches Totengericht, dann Erweckung eines neuen Lebens!
In der »Sängerhalle« wurde die Volksversammlung abgehalten, allein obgleich der größte Saal der Stadt, vermochte sie doch nicht entfernt die Menschen zu fassen, welche sich herandrängten. Bis weit hinaus auf die Straße standen die Leute Kopf an Kopf, und wenn sie dort auch von den Reden nichts hören konnten, so hörten sie doch die Beifallssalven und pflanzten sie fort wie ein rollendes Rottenfeuer. Überdies spielte ein Musikkorps zwischendurch Freiheitslieder, die man dann außen in etwas kanonisch verschobenem Zeitmaße nachsang.
Vier Redner hatten bereits in vernichtenden Worten allen Verrat des Ministeriums Gärtner enthüllt, und da kein Widerspruch erfolgt war, so konnte jetzt die Frage seines Nachfolgers erörtert werden.
Da erschien – wie ein Gespenst aus dem Grabe – Rudolf Gärtner selber auf der Rednertribüne.
Einen Augenblick lagerte schweigendes Staunen über den Massen, dann erhob sich ein Geflüster, welches immer lauter anschwoll, zuletzt ein Sturm des Unwillens. Mehrere Stimmen riefen: »Herunter!«, und nun folgte ein allgemeines Schreien, Heulen und Pfeifen, zwischendurch vergebliche Rufe: »Zur Ruhe!« Der Höllenlärm dauerte wohl zehn Minuten.
Gärtner stand inzwischen fest wie eine Statue auf der Tribüne, kein Zucken war in seinen bleichen Mienen sichtbar; die Menge mußte des Schreiens doch endlich müde werden, und er wartete ruhig, bis sie sich ausgeschrien.
Die felsenfeste Ruhe wirkte: – es wurde still.
Nun aber begann er mit keiner Rede – die hätte man doch nicht angehört –, sondern wandte sich mit abgerissenen Fragen an die Versammelten.
Er fragte: ob sie nicht alle das schändliche Verfahren der früheren Kabinettjustiz verdammten? – »Allerdings!« – Ob nicht ein besonderer Greuel jener Justiz gewesen sei, daß man Angeklagte ungehört verurteilt habe? – »Gewiß!« – Ob sie nicht soeben wider Willen in denselben Fehler verfallen seien? – Hier teilte sich die Antwort in ja und nein, aber das Ja behielt zuletzt den Sieg. – Ob sie ihn anhören wollten? Stürmisches »Ja!«
Und so fuhr er fort, einen sokratischen Dialog mit der erhitzten Menge zu führen, und zwang die Widerstrebenden, daß sie seiner Verteidigung Schritt für Schritt folgten. In den schlichten Worten des ruhigen Gewissens legte er den ganzen Gang seiner Politik dar, indem er immer wieder Fragen dazwischenwarf, welche man schlechterdings bejahen mußte. Denn zum Anhören eines Monologs eines mißliebigen Mannes hat die Menge keine Minute Geduld, darf sie aber mitsprechen, dann folgt sie stundenlang.
Nur die eine Frage stellte Gärtner nicht: ob es ein Entschuldigungsgrund für die Schwächen eines Ministers wäre, wenn er zum erstenmal Minister und zum erstenmal verliebt gewesen sei? Man hätte vermutlich auch mit »ja« geantwortet.
Kurz und gut, je länger Gärtner sprach, um so kräftiger wuchsen die beifälligen Zurufe, und als er seine Verteidigung geendet, erscholl ein donnerndes Hoch auf den mutigen Mann, und die Musik schmetterte drein mit Pauken und Trompeten.
Die verbissensten Gegner mußten zwar schweigen, aber sie gaben darum ihre Sache noch lange nicht verloren: zur Antwort auf den Tusch begehrten sie, daß das Orchester die Marseillaise anstimme, gleichsam als Zwischenspiel, welches zur anfänglichen Tonart zurückführe. Andere widersprachen: das Lied schicke sich nicht für deutsche Männer. Und eh' man sich's versah, wogte wilder Streit durch den Saal über die Marseillaise. Da nun der Vorsitzende, ein deutscher Patriot, sich weder durch seine Glocke noch durch seine Stimme Gehör verschaffen konnte, so befahl er den Musikern, Arndts »Deutsches Vaterland« zu blasen; er hoffte, daß die wohlbekannten Klänge die Streitenden zum Mitsingen fortreißen würden, und wenn man singt, kann man sich nicht zanken.
Die meisten aber, welche die Marseillaise begehrten, kannten und konnten das Lied gar nicht ordentlich, glaubten bei den ersten Takten, dies sei die Marseillaise und sangen tapfer »allons enfant de la patrie«, während die andern nach des Deutschen Vaterland fragten, merkten dann aber schon bei der zweiten Zeile, daß sie überlistet waren und sich lächerlich gemacht hatten.
Darüber brach nun ein Sturm des Unwillens los, wogegen die vorhergegangenen Stürme nur ein Säuseln gewesen. Man schrie nach dem frechen Frevler, der das Volk verspotte, einige drohten den Vorsitzenden zu mißhandeln, die meisten aber suchten wütend nach Gärtner als dem ersten Anstifter alles Haders in der brüderlichen Versammlung, und diese Versammlung und diese Verfolgungsrufe wälzten sich hinaus zu der Menge, die das Haus umringte und nun erst vernommen hatte, daß der Exminister drinnen zu reden gewagt. Sie glaubte, jetzt sei der Augenblick der Volksrache an dem Verräter gekommen.
Gärtner war inzwischen glücklich aus dem Saale entschlüpft, wurde jedoch auf der Straße erkannt und mit Schimpfreden und Tätlichkeiten angegriffen. Leute, die aus der Halle kamen, traten dazwischen, wehrten dem Unfug und riefen, der Mann sei unschuldig. Die andern wollten sich ihr Opfer nicht entreißen lassen, und so entspann sich ein neuer Kampf. Während man sich drinnen um die Marseillaise und das Deutsche Vaterland schlug, raufte man sich außen um den vernichteten Exminister und wiedergeborenen Volksmann. Dieser gewann dadurch auf einen Augenblick Luft, daß er, mit Hinterlassung seines linken Rockflügels und nur von wenigen verfolgt, sich flüchten konnte.
In einer engen Seitengasse glaubte er sich bereits in Sicherheit, da ihm nur noch etliche Straßenjungen auf den Fersen waren, als er von der andern Seite eine starke Schar entgegenkommen sah, die unter Verwünschungen seinen Namen brüllte.
Schnell sprang er in eine offene Haustüre, schlug sie hinter sich ins Schloß, brach dann aber mit dem Rufe: »Rettet mich!« in dem dämmerigen Hausgang besinnungslos zusammen.
Als er nach wenigen Augenblicken wieder zu sich kam, stand ein Mädchen vor ihm, welches ihm besorgt den Arm bot, um ihn ins Zimmer zu führen.
Fast wären ihm zum zweitenmal die Sinne geschwunden: das Mädchen war Hedwig; er war in das Haus Fledergasse Nr. 15 geflüchtet!
Im Zimmer stand der Oberförster; er hatte am Fenster ausgespäht und bat Gärtner, sich zu beruhigen, seine Verfolger seien weitergezogen, sie hätten nicht bemerkt, daß er ins Haus geschlüpft sei, und übrigens wolle er schon sorgen, daß ihm hier niemand etwas zuleid tue.
Gärtner setzte sich auf einen Stuhl, um wieder Kraft zu gewinnen und seine Gedanken zu sammeln. Dann aber galt sein erstes Wort dem Oberförster: »Sie hatten mich unlängst in Verdacht, daß ich unredlich und zweideutig an Ihnen gehandelt, und ich konnte mich damals nicht rechtfertigen; jetzt kann ich's. Erstlich bin ich kein Minister mehr, – und zweitens wird Ihnen Ihre Tochter meinen Brief mitgeteilt haben.«
»Welchen Brief?« fragte der Alte, und die Tochter rief erstaunt, daß sie den Mann gar nicht kenne und nichts von einem Briefe wisse. Der Oberförster aber belehrte sie: »Dieser Herr ist ja Herr Gärtner, unser Märzminister!«
Gärtner erhob sich lächelnd – sein Rock hing beschmutzt und in Fetzen am Leibe, sein Hut war zerdrückt, sein Gesicht totenblaß, das Haar wild verworren: – er sah wahrhaftig keinem Minister ähnlich.
In herzgewinnend bescheidenem gutmütigem Tone sprach er: »Sie haben mich allerdings schon früher kennengelernt, mein Fräulein, aber damals kamen Sie in den Platzregen, und gegenwärtig komme ich aus der Traufe. Sie mögen mich wohl vergessen haben. Doch ich vergaß Sie nicht.«
Dann blickte er sich um im Zimmer, und sein Auge ruhte auf der Fensternische, die er nun dennoch einmal von innen sah. Er fuhr fort: »Ich hatte mir so oft und schön ausgemalt, wie ich in dieser Stube erscheinen wollte; aber ich hatte mir die Sache ganz anders gedacht, als sie nunmehr gekommen ist. Mein Fräulein, Sie wissen jetzt, wer ich bin; Sie wissen auch, was ich wollte. Sie haben durch Ihr Schweigen eine für mich zwar bittere Antwort, aber ohne Zweifel die richtige Antwort auf meinen Brief gegeben. Ich will nicht weiter davon reden.«
Nun wußte der Alte wieder nicht, was dies bedeute, dafür fand dann jetzt die Tochter das rechte Wort: »Also wäre der mit Ihrem Namen unterzeichnete Brief nicht vom Assessor Baum, er wäre wirklich von Ihnen gewesen?«
Diese Frage war wiederum dem Exminister zu rund. Man fragte überhaupt noch eine Weile herüber und hinüber, bis sich endlich folgende Lösung des Rätsels ergab:
Hedwig hatte am Tage vor dem Empfange des Briefes dem Assessor rundweg erklärt, daß er sie trotz seines Anstellungsdekrets und trotz aller Wünsche ihres Vaters unglücklich mache durch seine Anträge. Dieser, ein unzarter Mensch, obgleich mit lauter ersten Noten, war im Zorn von ihr gegangen und hatte ihr Eitelkeit und Hoffart vorgeworfen: sie sei überall zu vornehm für ihre Armut, immer hoch hinaus und möchte am Ende gar gleich einen Minister haben. Das war so unter vier Augen gesprochen worden. Des andern Tages wollte der Vater die Tochter wieder beschwichtigen. Da kam der Brief. Das verständige Mädchen vermochte doch nicht zu glauben, daß ihr ein wirklicher dirigierender Staatsminister, den sie gar nicht kannte, wirklich einen solchen Brief schreiben könne. Sie vermeinte vielmehr mit ihrem Vater, in den Schriftzügen die schlecht verstellte Hand ihres abgewiesenen Bewerbers zu erkennen, und hielt den Brief, eingedenk der letzten Worte Baums, für ein unfeines Pasquill, welches, falls sie antwortete, zugleich eine höchst boshaft gelegte Schlinge sei. Statt ihrer beantwortete darum der Vater das Schreiben, indem er dem Assessor ein für allemal sein Haus verbot, und zwar in Worten, die für den armen Teufel ebenso beleidigend als dunkel waren.
Der Brief war also doch beantwortet worden, nur war die Antwort an den unrechten Mann gekommen. Gärtner atmete auf: vielleicht konnte ja dann auch das Schweigen an den unrechten Mann gekommen sein?
Aber nun mußte er natürlich auch die Geschichte erzählen, welche er im Briefe verheißen hatte. Er erzählte ganz offenherzig, wie es ihm mit dem schönen Bilde daheim und dem noch schöneren Bilde in der Fledergasse ergangen sei, Zug um Zug, so kindlich naiv, daß der Alte hellauf lachen mußte und Hedwig unter Lächeln sehr nachdenklich wurde.
Und zuletzt schloß der Oberförster mit dem Bekenntnis, daß er den ehemaligen Märzminister wieder für einen grundehrlichen Mann halte; er habe sich übrigens schon teilweise zu diesem Glauben bekehrt, als derselbe sein Portefeuille so überaus geschwind und tapfer abzugeben verstanden, und das täten ihm wohl wenige Minister nach.
Es war ganz still und dunkel auf den Straßen geworden; Gärtner konnte ungefährdet nach Hause gehen. Er bat sich beim Abschied nur die Erlaubnis aus, morgen wiederkommen zu dürfen, um mit gekämmtem Haar, in unzerrissenem Rocke und mit unzerdrücktem Hut einen ganz förmlichen Dankbesuch für die Rettung zu machen. Die Erlaubnis wurde gewährt.
Des andern Tages begegnete Rebdorf seinem Freunde Gärtner, wie er etwas verstohlen durch die Straßen schlich; sein Rock war auffallend neu, sein Hut auffallend glänzend, sein Gesicht ganz auffallend verklärt. Rebdorf trat herzu, um den Freund zu trösten wegen des gestrigen Mißgeschicks. Allein Gärtner schien gar nicht besonders trostbedürftig. Er nannte den gestrigen Tag den schönsten seines Lebens.
Sein Freund meinte, in der »Sängerhalle« habe er allerdings einen größeren Sieg als Volksredner errungen wie je zuvor, aber die mehr dramatische Szene hinterdrein auf der Straße sei doch etwas ärgerlich gewesen. Man erzählte sich ja, er sei mit Schimpfreden und Drohungen, sogar mit Steinwürfen bis in die Fledergasse verfolgt worden.
»Das war ja gerade die Krone des Tages!« rief Gärtner. »Sieh, lieber Freund, ich habe als Minister alles vermocht, alles ist mir gelungen, nur eines nicht: niemals gelang es mir, einen Besuch Fledergasse Nr. 15 zu machen. Gestern habe ich auch dies erreicht! Von unsichtbaren Händen bin ich in das Haus hineingeschleudert worden.«
Rebdorf fand gar keinen Sinn in diesen Worten.
Darum erläuterte Gärtner: »Politik und Liebe! Wir werden dort denselben Weg gehen, den ich hier gegangen bin. Wir lieben die Freiheit, wir schwärmen wie Liebende für die deutsche Einheit, im Grunde ist das aber ein und dieselbe Person, wir laufen ihr nach auf allen Gassen, aber wir kennen sie noch gar nicht ordentlich; es ist ja vorerst nur das Schattengebilde unserer eigenen Phantasie, dem wir nachlaufen. Wir werden sie kennenlernen, und dann beginnt erst die wahre Liebe. Allein das geht nicht so sanft: wir müssen hineingeschleudert werden von unsichtbaren Händen wie ich in die Fledergasse!«
Nun verstand der Freund erst recht gar nichts. Er hatte gehört, daß Gärtner gestern zwei Hiebe über den Kopf erhalten habe: er fürchtete eine Gehirnerschütterung.
Besorgt schlich er darum dem Freunde nach, und richtig: der Unglückliche mit seiner fixen Idee verschwand Fledergasse Nr. 15!
Doch schon nach kurzer Frist löste sich ihm das Rätsel.
In einem Vierteljahre war Hochzeit in der Fledergasse, und als Rebdorf den Trinkspruch auf das neue Paar ausbrachte, stellte er sich mitten in den Flachbogen des Fensters, durch welches gerade ein Sonnenstrahl fiel, und sprach:
»Unser Freund Gärtner war vor dem Volke ein Mann, im Ministerium ein Jüngling, in der Liebe ein Kind: er wird ein unvergleichlicher Ehegatte werden!«