Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre – Vierter Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Der verrückte Holländer

1873

Erstes Kapitel

In der Morgenfrühe des 8. November 1836 standen drei Bergleute auf der Halde der Eisensteingrube »Amalia« bei Niedershausen und rüsteten sich, in den Schacht zu fahren.

Einer derselben, Johann Justus Norz, schlechtweg Hanjust genannt, steckte jedoch vorerst noch die Hände in die Hosentaschen und rief: »Heut' fahre ich hier zum letzten Male ein; es ist Sünd' und Schande, wie schlecht man uns bezahlt! Wenn ich morgen wiederkomme, dann soll mich der Teufel lotweis holen!«

Die beiden andern lachten; denn Hanjust hatte schon seit vier Wochen fast alle Tage das nämliche Versprechen gegeben und mit dem gleichen Schwur besiegelt und war doch immer wiedergekommen. Der Spott seiner Kameraden aber brachte den Mißvergnügten erst recht in Harnisch; er schimpfte noch einmal so arg auf den niederträchtigen Lohn und wiederholte zum Schluß doppelt kräftig: »Und wenn ich morgen wiederkomme, dann soll mich der Teufel lotweis holen!«

»Da ist er schon!« rief plötzlich entsetzt sein Nebenmann und deutete in die Höhe.

Hanjust blickte auf: eine unförmliche Riesengestalt schwebte vom Himmel gerade auf die Bergwerkshalde nieder, sie war schon ganz nahe, Stimmen tönten aus der Luft; – die Bergleute prallten auseinander, wie wenn eine Bombe zwischen sie gefahren wäre. Hanjust sprang zur Öffnung des Schachts, ergriff das Seil des Haspels, mit welchem die Erze heraufgewunden werden, und rutschte an demselben blitzgeschwind in die Tiefe. Wäre er die Leiter hinabgestiegen, so hätte er's bequemer gehabt; denn er fiel mit ganz zerrissenen Händen unten auf den Boden. Aber im Nu raffte er sich wieder empor, zündete seine Lampe an und begann wütend zu arbeiten. Von den Händen rann das Blut, er vermochte vor Schmerz kaum die Spitzhaue zu halten, und sein linkes Bein tat ihm so weh, daß er kaum stehen konnte: denn er hatte sich beim Falle den Fuß verrenkt. Aber das focht ihn alles nicht an; er hieb wahrhaft teufelmäßig auf das Gestein, um sich den Teufel vom Leib zu hauen; er sah ihn schon hinter seinem Rücken stehen und getraute sich nicht umzublicken.

Wohl eine gute Viertelstunde hat er's so getrieben, die Kräfte verließen ihn; da hörte er von oben her Rufe, die ihm das Mark in den Knochen erzittern machten. Deutlich verstand er seinen Namen. Rief ihn der Teufel? Doch es fiel ihm ein, daß derselbe eigentlich von unten heraufkommen müsse und nicht von oben herunter, und er wagte genauer hinzuhorchen. Die Stimmen klangen bekannt: es waren seine Kameraden. »Komm herauf!« riefen sie, »hier gibt es was zu schaffen! Es sind drei Engländer vom Himmel gefallen!«

Das dünkte dem Hanjust wieder ein schauerlicher Spuk. Allein der Gedanke überkam ihn jetzt plötzlich mit aller Macht, daß er ja unter der Erde dem Revier des Teufels am nächsten sei, und also kroch er langsam zur Leiter und stieg höchst vorsichtig hinauf, und von den oberen Sprossen reckte er den Kopf zunächst nur ein klein wenig über den Boden empor, um nötigenfalls sofort wieder hinunterzufahren.

Aber da oben sah er ein ebenso neues als lustiges Schauspiel.

Es waren wirklich drei Engländer vom Himmel gefallen, nämlich die Herren Karl Green, Robert Hollond und Thomas Monk-Mason. In dem Ballon »Royal-Vauxhall« gestern nachmittags zwei Uhr bei London aufgestiegen, waren sie über Nacht hundertundsiebenzig Stunden Wegs weit durch die Luft zur Lahn gefahren, sie hatten die größte Luftreise gemacht, welche jemals Menschen vollführten, um heute früh bei Niedershausen dem armen Hanjust Norz nahezu auf den Kopf zu fallen.

Schon lag das riesige Ungetüm, der Ballon, schlaff und gefesselt am Boden, und die Bauern und Bergleute eilten von allen Seiten herzu, um das Wunder zu begaffen und das Reisegeräte der Luftschiffer aufzusammeln. Bei der Waldecke hatten es dieselben ausgeworfen, wo sie beinahe in den Eichenwipfeln hängengeblieben wären, und bei der Lochmühle, wo sie um ein Haar den Schornstein mitgenommen hätten. Fahnen, Fallschirme, physikalische Instrumente, Proviant, Ballastgefäße – alles wurde in buntem Durcheinander neben der Gondel des englischen Luftschiffs aufgehäuft, die in einem deutschen Kartoffelacker vor Anker lag. Aber bunter noch als dieser Knäuel von Siebensachen war die Sprachverwirrung des Menschenknäuels; welcher, immer breiter anwachsend, die Luftschiffer umringte. Die Engländer wollten wissen, wo sie denn schließlich hingekommen, und die Bauern, wo die fremden Männer hergekommen seien. Da aber die Engländer nicht einmal deutsch, geschweige niedershäusisch verstanden und die Niedershäuser im Englischen auch nicht ganz sattelfest waren, so kam der internationale Austausch sehr langsam in Fluß. Doch erfuhren die kühnen Reisenden endlich, daß sie sich in einem Seitentale der Lahn befänden, daß die nächste Stadt Weilburg heiße und nur zwei Stunden entfernt sei, und auf ihr pantomimisches Bitten beeilten sich denn auch die Bauern, mehrere Leiterwagen herbeizuschaffen, um den Ballon samt Zubehör nach jener Stadt zu befördern.

Bei diesem Höhepunkte des Verständnisses war man eben angelangt, als Hanjust herbeigehinkt kam, zwar immer noch etwas vergeistert, aber doch erleichterten Herzens, da er sah und hörte, wie menschlich hier alles zuging. Statt des Grubenlichtes trug er einen Teekessel in der Hand, den er bei der Halde gefunden; denn die Engländer hatten dieses nationale Gerät keineswegs zu Hause gelassen und sich gestern abend, zehntausend Fuß über der Erde schwebend, ihren Tee ebensogut mit ungelöschtem Kalk gekocht, wie sie's auf festem Boden mit Spiritus getan hätten.

Hanjust überreichte Herrn Green den Teekessel. Seine Miene war dabei so kläglich niedergeschlagen und sein ganzes Aussehen so jammervoll, daß ihm der Engländer im Überwallen des Dankes und Mitleids eine Flasche Portwein und eine große Londoner Wurst als Finderlohn schenkte.

Aus Furcht vor dem Spott der Kameraden – sie flüsterten schon rechts und links vom Teufel und der Flucht am Haspelseil – schlich sich Hanjust mit seiner Beute ganz sachte davon, nachdem er die erste Neugierde noch ein klein wenig befriedigt hatte.

Im Hause machte er sich mit seiner Frau sofort über die guten Gaben, die so unerwartet von oben gekommen waren. Mit dem ersten Glase des köstlichen Weines spülte er die letzten Nachwehen des ausgestandenen Schreckens aus seinem Geiste, und nur als er darauf die Wurst, welche ihm Herr Green höchst überflüssigerweise in ein Papier gewickelt hatte, von dieser Hülle befreite, erinnerten ihn seine wunden Hände wieder an die schauerliche Viertelstunde im Bergwerk. Darauf aber aßen beide ihre Wurst in Frieden und bedachten nicht, daß jenes fettige Papier eigentlich merkwürdiger sei als die ganze Wurst; denn es war die Nummer des »Morning Chronicle« vom gestrigen Tage. Noch niemals war eine Londoner Zeitung so geschwind nach Niedershausen gekommen, und selbst der englische Bundestagsgesandte in Frankfurt befand sich zur Zeit noch nicht im Besitze dieser neuesten Nachrichten, welche Hanjust Norz mit souveräner Geringschätzung in den Ofen warf.

Zweites Kapitel

In den nächsten Tagen strömten die Menschen zu Tausenden nach Weilburg, um das Luftschiff und die drei Engländer zu sehen. Der Ballon lag, halbwegs aufgeblasen, in der bedeckten Reitbahn des Schlosses. Herr Green erklärte den Beschauern stundenlang die Geheimnisse der Aeronautik, bald auf englisch, bald auf französisch; die Bürger und Bauern hörten auf deutsch zu, verstanden kein Wort und waren doch sehr erbaut davon.

Alle Welt sprach nur noch von Kohlenwasserstoffgas, Luftdruck und Steigkraft, von Montgolfieren, Charlieren und Greenieren. Die Didaskalia brachte jeden Tag zwei Korrespondenzen aus Weilburg, während sie sonst im ganzen Jahre kaum eine einzige zu bringen pflegte. Die Gelehrten der Stadt besangen Dädalus als den ältesten und Green als den jüngsten Luftschiffer in lateinischen Distichen, und die Engländer dankten in englischen Reimstrophen. Manche Leute spähten aus, ob nicht noch andere Luftschiffe nachkämen, man war sicher, daß auch sie bei Weilburg niederfallen würden. Der Ort schien besonders anziehend für Ballons zu sein, denn schon vor fünfzig Jahren hatte sich Blanchard hier niedergelassen, und man holte seine alten Fahnen hervor, welche seitdem zum ewigen Gedächtnis im städtischen Archiv aufbewahrt wurden. Aber Blanchard war nur von Frankfurt gekommen, was besagte das gegen eine Fahrt von London nach Weilburg!

Während solchergestalt Stadt und Land augenblicklich nur noch in der Luft schwebte und von der Luft lebte, saß Johann Justus Norz traurig zu Hause. Schon drei Tage hatte er kein warmes Mittagessen gekriegt, weil seine Frau jedesmal nach Weilburg gelaufen war, um dort die aeronautischen Herrlichkeiten zu sehen; kam sie dann abends zurück, so zankte sie den Mann wegen seiner Dummheit, die ihm den hinkenden Fuß und die geschundenen Hände eingebracht. Er konnte nicht arbeiten und verlor den Tagelohn, und dies war schlimm genug, denn er lebte nahezu von der Hand zum Munde. Sein Häuschen mit dem moosigen Strohdach war arg verfallen und sein Ackergut so klein, daß er kaum eine magere Kuh darauf halten konnte. Und auf diesem armseligen Besitz lasteten obendrein noch Schulden. Gerade jetzt auf Martini war ein Zins fällig, welchen Hanjust an den Doktor Vanderstraten in Weilburg zu zahlen hatte. Der Zins betrug fünfundzwanzig Gulden; der arme Schuldner brachte aber nur achtzehn zusammen, und der Doktor war ein gar wunderlicher Gläubiger. Er hatte das Geld zu drei Prozent dargeliehen, und viele arme Leute ringsum borgten bei ihm, weil er so wenig Zinsen nahm, allein er verlangte seinen Zins voll und pünktlich und vergönnte durchaus keinen Aufschub.

Hanjust fürchtete sich darum entsetzlich, vor dem Doktor zu erscheinen mit dem Bekenntnis seiner halben Insolvenz; er wollte, daß die Frau statt seiner nach Weilburg gehe und den gestrengen Herrn um Nachsicht bitte. Diese aber sprach: »Umgekehrt! Du bist der rechte Mann dazu. Morgen schickt der Lochmüller Mehl in die Stadt; du kannst dich auf den Fritz, den großen Maulesel, setzen, der trägt dich leicht mitsamt dem Mehlsack. Kommst du dann zum Doktor und zeigst ihm deine zerrissenen Hände und den verrenkten Fuß, so wird er dir aus Mitleid gewiß Ausstand geben für die fehlenden sieben Gulden. Und überdies ist jetzt die ganze Stadt in Freud' und Jubel über das Luftschiff, die Leute leben wie im Rausch, da ist man gnädig gesinnt, und du kannst ja dem Doktor auch sagen, daß du eigentlich durch dasselbe Luftschiff verunglückt bist, welches jetzt Weilburg in der ganzen Welt berühmt gemacht hat.«

Der arme Schlucker aber fragte, wie er das alles denn dem Doktor sagen solle, da derselbe ja mit keinem Menschen spreche, und wie er dem Doktor seine verletzten Glieder zeigen solle, da er ihn ja niemals zu sehen kriege.

So war es in der Tat. Schon seit zehn Jahren trug Hanjust den Zins in des Doktors Haus, allein er drang jedesmal nur bis zur Dienstmagd vor, die ihm auf dem Flur das Geld abnahm und auch gleich die Quittung bereithielt, den Doktor selbst aber hatte er niemals erblickt, denn der alte Herr war leutscheu, sah keinen Menschen bei sich und ging nicht aus. Nur in mondlosen Regennächten sollte er zuweilen von zwölf bis ein Uhr spazierengehen, – so sagten die Leute.

Trotz alledem ließ Hanjusts Frau dessen Einwand nicht gelten. Sie meinte, wenn das Luftschiff jetzt allen gescheiten Leuten die Köpfe verrücke, so könne es vielleicht auch umgekehrt den verrückten Doktor gescheit gemacht haben. Und Hanjust hielt es zuletzt in der Tat fürs beste, sein Glück bei dem närrischen Kauze zu versuchen.

Also lauerte er des andern Morgens an der Straße, bis der Mühlknecht mit seinen Eseln kam, und bat ihn, daß er sich auf den Fritz setzen dürfe, oben auf den Mehlsack. Und nachdem ihm der Knecht hinaufgeholfen, fand er's da droben ganz lustig, ließ seine Beine in der Luft baumeln, zündete sich die tönerne Stummelpfeife an und genoß einstweilen die heitere Gegenwart, ohne der ahndungsvollen Zukunft zu gedenken. Seine Hände aber hatte er recht auffällig mit zwei blau- und weißkarierten Schnupftüchern umwickelt, und die achtzehn Gulden trug er in einer großen Ochsenblase wohlverwahrt in der rechten Hosentasche.

Drittes Kapitel

Über den Doktor Vanderstraten hatten sich die Weilburger schon lange genug vergebens den Kopf zerbrochen. Der Amtmann sagte, er sei ein psychologisches Rätsel, der Stadtschultheiß, er sei ein Narr, und der Pfarrer meinte, das sei im Grund ein und dasselbe, nur etwas höflicher oder gröber ausgedrückt.

Ein reicher Arzt aus Rotterdam, war Doktor Vanderstraten vor zwanzig Jahren nach Weilburg gekommen und hatte sich dort ein schönes Haus am Marktplatz gekauft, worin er einsam von seinen Renten lebte. Anfangs pflog er einigen dürftigen Umgang mit den Honoratioren der Stadt, wurde jedoch immer menschenscheuer. Ganz besonders floh er seine Kollegen, die Ärzte, und noch mehr die Apotheker. Ein Fenster seines Hauses, welches auf die Löwenapotheke zielte, hatte er vermauern lassen, damit er den weißen Löwen des Apothekers nicht mehr sehe. Man hatte nie gehört, daß er krank gewesen sei und einen andern Arzt gebraucht oder auch sich selber etwas verschrieben habe. Arme Leute, die den »holländischen Doktor« für eine Art Wundermann hielten und um irgendein Heilmittel anbettelten, wies er zornig ab. Seine ganze Dienerschaft bestand aus der Magd; allein obgleich er sehr gut bezahlte und leicht zu betrügen war, blieb ihm doch keine über ein Jahr im Dienste, so furchtbar lastete das Grausen der Langeweile auf dem stillen Haus mit dem stillen Manne. Erkrankte die Magd, so mußte sie augenblicklich ins Spital: ein Arzt durfte auch in diesem Fall nicht über die Schwelle.

Geschäftliche Besuche wurden im Vorzimmer abgefertigt, wobei die Magd gewöhnlich das Gespräch türaus, türein vermittelte: denn nur im äußersten Notfalle war der Hausherr selber zu sprechen. Zu seinem Wohn- und Schlafzimmer kam niemand außer der Magd, wenn sie reinigte oder das Essen brachte. Die Zimmer des oberen Stockwerks aber, wo der Doktor oft tagelang einsam saß, durfte auch sie nicht betreten, und es ging die Sage, daß dort ein greulicher Staub und Schmutz herrsche bei einem wüsten Durcheinander von Büchern und altem Geräte.

Viele Leute glaubten darum nachgerade, der holländische Doktor sei weder ein echter Holländer noch ein echter Doktor; denn ein Holländer, der sich in Staub und Unordnung wohl fühlte und mit drei Prozent Zinsen begnügte, schien ihnen ebenso unglaublich wie ein Doktor, der niemals ein Rezept verschrieb und weder mit einem Skelett noch mit Mißgeburten in Spiritusgläsern sein Vorzimmer geziert hatte.

Der einzige Mensch, welcher unserem Sonderling etwas nähergekommen, war der alte Herr von Söllbach, ein weiland nassau-oranischer Beamter, der sich zu dem Holländer als zu einem halben Landsmann hingezogen fühlte. Anfangs tauschten sie öftere Besuche, allein da der Doktor späterhin keinen Fuß mehr über seine Schwelle setzte, so wurden auch die Besuche seines Freundes immer seltener. Doch kam er ab und zu in das öde Haus am Marktplatz, halb aus Teilnahme und Mitleid, halb aus Neugierde. Er hätte gar zu gern gewußt, wo es dem ebenso gutmütigen als wunderlichen Manne fehle, weil er ihm gern geholfen und ihn wieder zu einem lebensfrischen, geselligen Menschen gemacht hätte.

Doktor Vanderstraten war ohne Zweifel tiefsinnig, und indem er fortwährend in sich hinein grübelte und irgendeinen schwarzen Punkt rastlos brütend verfolgte, hatte er zuletzt alle Kraft und Lust zum Erfassen der Außenwelt verloren und seine Furcht vor Berührung mit andern Leuten bis zur Krankheit gesteigert. Aber welches war dieser schwarze Punkt? Aus der peinlichsten Angst, womit Vanderstraten jede Erinnerung an Ärzte und Apotheker mied und jedes Gespräch über medizinische Dinge abwies, folgerte Herr von Söllbach, daß sein unglücklicher Freund in einen Konflikt mit seinen ehemaligen Kollegen verwickelt sein möge oder vielleicht, was noch schlimmer, in einen tragischen Konflikt mit seiner eigenen ärztlichen Kunst und hierdurch in den dunkeln Strudel jenes selbstquälerischen Brütens hineingerissen worden sei. Er befragte ihn geradeaus darüber, allein der Doktor lehnte die Antwort so entschieden ab, daß es unmöglich war, die Frage ein zweites Mal zu wiederholen.

Der Freund schlug darum einen ganz andern Weg ein. Er sprach kein Wort mehr von der Medizin und suchte den Selbstquäler unter allerlei Vorwand aus dem Hause zu locken, damit er im Anblick anderer Menschen sich selber wiederfinde. »Geht er nur erst ins Wasser, dann wird er auch schwimmen!« Allein der Doktor ging nicht ins Wasser. Weder die großen Weltereignisse noch die kleinen Ereignisse der Stadt machten ihn nach Umgang und Austausch lüstern. Vor zwanzig Jahren, mit seiner Übersiedelung nach Weilburg, war die Welt für ihn stehengeblieben; höchst gebildet und belesen, kannte er kein neues Buch, welches seitdem erschienen war. Er las keine Zeitung und wußte nur vom Hörensagen, daß Karl X. den Bey von Algier abgesetzt hatte und dann die Franzosen hinwieder Karl X., daß Polen »nicht verloren« und doch verloren war und daß Belgien sich von Holland getrennt hatte, ja er hatte niemals ein Porträt des Generals Chassé gesehen und des Grafen Diebitsch Sabalkansky, und diese Helden kannte doch damals jeder Schulknabe vom Umschlag seiner illustrierten Schreibhefte.

Da fiel das Londoner Luftschiff bei Weilburg nieder. Die Stadt war in größerem Aufruhr als beim Polenkampf und bei der Julirevolution, und wenn es jetzt nicht gelang, die Neugierde des Doktor Vanderstraten zu reizen, wenn er jetzt nicht aus seinem Hause zu bringen war, um den »Royal-Vauxhall« und die drei Engländer zu betrachten, dann mußte man ihn überhaupt verloren geben, dann verließ er das Haus nur einmal noch: im Sarge. So dachte Herr von Söllbach und legte demgemäß seine Minen. Es galt den letzten Versuch.

Viertes Kapitel

Hanjust Norz war inzwischen in Weilburg angekommen, zögerte aber solange wie möglich, bis er den sauren Gang zum holländischen Doktor antrat. Zuerst ging er ins Wirtshaus, dann zum Krämer, dann noch einmal ins Wirtshaus und endlich in die Reitbahn des Schlosses, wo der Ballon halb aufgeblasen lag, das »Meerwunder«, wie die Leute das Luftwunder nannten. Anfangs etwas schüchtern, dann vertrauensvoller, betrachtete er ihn von vorn und hinten und prüfte die Zurüstungen, welche man zu einer in der nächsten Stunde beginnenden Feier traf. Der Mühlknecht aus der Lochmühle war auch zur Stelle und erzählte ihm das ganze Programm.

Zu Ehren des Landes, das die Luftschiffer so gastlich aufgenommen, sollte der Ballon zum zweitenmal getauft werden, er sollte fortan nicht mehr bloß »Royal Vauxhall«, sondern »Royal Vauxhall and Nassau« heißen. Die ersten Familien der Stadt waren als Taufgäste geladen, zwei Herren und zwei Damen zu Paten gebeten. Alles sollte genau nach englischer Sitte vor sich gehen. Herr Green, als Vater des Täuflings, wollte die Gäste am Eingang mit ganz besonderen Zeremonien empfangen, dann sollte die Taufe von einer der vornehmsten und schönsten jungen Damen vollzogen werden, wobei sie, im Ballon umherschreitend, ein Glas Wein ringsum ausgoß, und zuletzt würden die Gäste von den Engländern bewirtet werden mit lauter Speisen und Getränken, welche diese durch die Luft von London mitgebracht.

Diese einfachen Grundlinien des weit umständlicheren Programmes verstand Hanjust und konnte sie darum auch behalten. Ganz besonders freute es ihn, daß die Engländer Tee und Eier in demselben Kessel sieden würden, den er aufgefunden, und daß die vornehmen Herrschaften mit denselben Würsten und demselben Wein abgespeist werden sollten, den er zuerst auf dem Kontinent erprobt und vortrefflich befunden hatte. In diesen Gedanken blieb er eine halbe Stunde wie angewachsen vor dem Ballon stehen, bis man ihn fortgehen hieß, weil nunmehr der Platz für die Gäste geräumt werden müsse.

Da ihm nun gar nichts anderes mehr übrigblieb, als bei dem holländischen Doktor sein Glück zu versuchen, so hinkte er langsamsten Schrittes zu dem verwünschten Haus am Marktplatze. Er klingelte, die Magd späht aus, wer da sei, und öffnet die Türe. Im nämlichen Augenblicke aber, wo er eingelassen wird und den Flur betritt, kommt ihm der Doktor aus seiner Stube entgegen, ein kleiner, hagerer Mann mit hoher weißer Halsbinde, kurzer Weste und langem Rock, alles, wie es vor zwanzig Jahren Mode gewesen, den Hut auf dem Kopfe und den Stock in der Hand, – gleichfalls ein »Meerwunder«: Doktor Vanderstraten hatte sich zum Ausgehen gerüstet!

Sie prallten beide erschreckt voreinander zurück. Der Doktor schien einen ganz andern erwartet zu haben, und Hanjust hatte den Doktor nicht so geschwind erwartet.

Doch sammelte sich dieser rasch und fragte den Bauer, was er wolle.

Hanjust, der sich zunächst eine Rede ausgedacht hatte, womit er die Magd bewegen wollte, ihn zum Doktor zu führen, fand anfangs gar keine Antwort. Endlich stotterte er: »Den Zins bringen.«

Dann kam ihm aber seine ganze Bauernpfiffigkeit wieder, und er machte solche Umstände, unter Ächzen und Stöhnen mit den verbundenen Händen die Geldblase aus der Tasche zu ziehen, daß der Doktor richtig fragte, was er denn an den Händen habe.

Nun hatte Hanjust gewonnen Spiel. Wahrheitsgetreu erzählte er, wie er geflucht habe, als das Luftschiff erschienen, und dann aus Furcht vor dem »luftigen Teufel« am Haspelseil in den Schacht gerutscht sei.

Der Doktor hörte ihm achtsam zu und sagte darauf mit selbstgefälligem Behagen: »Mein Freund, da hattet Ihr Euch in einer logischen Schlinge gefangen! Zuerst flucht Ihr den Teufel herbei, wenn Ihr arbeiten würdet, und als er kommt, beginnt Ihr zu arbeiten, um ihm zu entrinnen!«

Der Bauer kratzte sich hinter den Ohren, erwiderte aber dann nach kurzem Besinnen: »Der Teufel durfte mich freilich sowieso packen. Weil's aber lange nicht so schlimm ist, wenn man flucht, als wenn man faulenzt, so hätte mich der Teufel doch etwas sanfter packen müssen, da er mich bei der Arbeit traf. Ihr studierten Herren sehet aufs Wort, der Teufel aber hat nicht studiert, der sieht auf die Sache!«

Ein leichtes Lächeln spielte um die Mundwinkel des Doktors. Die Magd, welche als stumme Zuhörerin zur Seite stand, fuhr zusammen: sie hatte den Doktor noch niemals lächeln sehen.

Dieser aber sprach zu Hanjust: »Ihr deutschen Bauern seid selbst dem Teufel zu pfiffig!« und bat ihn dann, weiterzuerzählen, was er von dem Luftschiff noch gehört und gesehen habe.

In gehöriger Breite und mit hundert müßigen Zusätzen gab Hanjust den gewünschten Bericht. Zuletzt kam er auch auf die Vorbereitungen zur Neutaufe des Ballons in der Reitbahn. Der Doktor horchte doppelt achtsam und bat ihn, ja recht genau mitzuteilen, was er davon wisse.

Gerne gab er Bescheid mit allem, was er wußte, und noch mit einigem dazu; denn er meinte, je länger er spreche, desto milder müsse sein Gläubiger gestimmt werden, und eine so schöne Erzählung sei am Ende schon ihre sieben Gulden wert. Darum unterließ er auch nicht, seine kräftige Mißbilligung auszusprechen über diese Wiedertäuferei. Überhaupt solle man so ein unvernünftiges Ding wie diesen Luftballon gar nicht taufen. Auf christlich am allerwenigsten, aber auch nicht einmal auf englisch, wie sie's vorhätten. Und wozu mit kostbarem Wein? Wasser tue es billiger. Und dann versicherte er dem Doktor, daß der englische Wein vortrefflich schmecke und wie er dazugekommen sei, ihn zu versuchen, und eine Londoner Wurst obendrein, weil er den Teekessel gefunden habe, ohne welchen die heilige Handlung heute gar nicht vollständig vor sich gehen könnte.

Eben war er bei diesem Glanzpunkt seiner Erinnerungen angekommen, da läutete es stürmisch an der Haustüre. Der Doktor prallte zurück, und herein trat Herr von Söllbach.

Eine seltsame Szene folgte, die den beiden Zeugen, dem Bauer und der Magd, erst nach und nach verständlich wurde.

Mit unsäglicher Mühe hatte Söllbach gestern die Neugierde seines Freundes so weit gereizt, daß derselbe endlich Lust bekam, den Ballon zu sehen und die Gebräuche einer englischen Ballontaufe kennenzulernen. Zwei Fenster des Schlosses gingen auf die Reitbahn; von dort konnte man ganz unbemerkt das Schauspiel betrachten, und nach Herrn von Söllbachs Versicherung führte auch ein ganz stiller Weg vom Marktplatz zu jenen Fenstern. Nach langem Sträuben hatte der Doktor mitzugehen versprochen und, wie wir wissen, sich auch wirklich zum Ausgehen angekleidet und den Hut von Anno fünfundzwanzig nebst dem Stock von Anno elf hervorgeholt.

So stand er jetzt im Hausgang, auf dem Sprunge des Wagnisses.

»Wir haben keine Zeit zu versäumen«, rief Herr von Söllbach und reichte ihm den Arm. »Die ganze Stadt strömt von vorn zur Reitbahn, da können wir von hinten unbemerkt ins Schloß schlüpfen.«

Allein der Doktor zog seinen Arm zurück. Er zögerte, schwankte. »Nein!« rief er endlich. »Ich will lieber zu Hause bleiben; denn ich weiß schon genau, wie es bei der Taufe zugehen wird.« Und nun erzählte er dem erstaunten Freunde alles, was er von Hanjust erfahren hatte, nur mit etwas mehr Sinn und Verstand.

Söllbach erinnerte ihn an sein Versprechen, er bat, er schalt. Vergebens. Der Doktor behauptete, nur versprochen zu haben, daß er die Bräuche einer englischen Ballontaufe wolle kennenlernen, und die kenne er jetzt ganz genau. Das Mitgehen sei bloß Mittel zum Zweck gewesen; er bedürfe dessen nicht mehr und könne sich in seinen vier Wänden den Hergang genau so vorstellen, ja noch viel lebendiger, wie wenn er am Fenster des Schlosses stünde.

Alle Widerrede verfing nicht. Der Doktor legte Stock und Hut ab, und der Freund ging zornig von dannen.

Es war aber in der Stadt ruchbar geworden, daß Doktor Vanderstraten versprochen habe, mitzugehen zur Ballontaufe. Man hatte Wetten darauf gestellt, ob es Herrn von Söllbach gelingen werde, den holländischen Maulwurf endlich einmal ans Licht zu ziehen. Aus allen Nachbarfenstern spähten die Köpfe erwartungsvoll nach der Türe des verödeten Hauses, der Marktplatz war mit Menschen erfüllt, die den Doktor sehen wollten, kaum minder neugierig auf diesen Anblick wie auf die Taufe. Endlich öffnete sich die Türe – da kam Herr von Söllbach allein heraus! Eilenden Schrittes und ohne umzuschauen, ging er über den Platz, und schreiend und lachend wogte die getäuschte Menge hinter ihm drein zur Reitbahn.

Der Doktor aber hatte den Quälgeist kaum verschwinden sehen, so ging er zu Hanjust, der im Hintergrunde regungslos stehengeblieben war, drückte ihm die Hand und sprach: »Ihr habt mir einen großen Dienst geleistet, und ich werde mich dankbar erweisen. Wenn Ihr je in Not kommen solltet, wendet Euch an mich. Aber jetzt geht! Fort mit Euch! Hinaus! Ich will allein sein, allein!«

Hanjust zögerte und stammelte dann, indem er nach der Geldblase griff, er sei ja eigentlich gekommen, um den Zins zu bezahlen, aber leider –

»Gebt dem Mann die Quittung!« befahl der Doktor der Magd. »Steckt Euren Beutel ein; ich will Euer Geld nicht! Keinen Dank! Ihr habt mich von dem dümmsten Versprechen erlöst, das ich jemals gegeben. Die ganze schlaflose Nacht bereute ich mein Wort, suchte einen Ausweg und fand keinen. Dieser Söllbach wollte mich überlisten, aber ich habe ihn überlistet durch einen deutschen Bauern, der selbst dem Teufel zu pfiffig ist. Keinen Dank! Macht, daß Ihr hinauskommt, ich will allein sein – allein!«

Fünftes Kapitel

Herzlich gern ließ sich Hanjust auf solche Art die Türe weisen und ritt des Abends seelenvergnügt auf dem Mülleresel wieder nach Hause, nachdem er vorher in der Stadt noch etliche Schoppen auf die Gesundheit des holländischen Doktors getrunken.

Seit langer Zeit hatte ihm seine Frau kein so gutes Gesicht gezeigt wie heute, da er die Quittung zusamt dem Geld auf den Tisch legte und sein Abenteuer erzählte.

Er beschloß zunächst, sich gründlich auszukurieren, obgleich ihm eigentlich nicht viel mehr fehlte; aber es ist ein eigenes Behagen, ohne Schmerzen krank zu sein, so ganz von Rechts wegen der Ruhe zu pflegen und, mit Leib und Seele in sich selbst zusammengeringelt, Gott und die Welt zu vergessen. Dieses Behagen genoß Hanjust in vollen Zügen. Zwei Tage legte er sich ins Bett und dann noch zwei Tage auf die Ofenbank und heizte dazu den Ofen, daß ihm der Kopf glühte.

Dabei spann er unablässig an einem Kapitalgedanken. »Wenn Ihr je in Not kommen solltet, so wendet Euch an mich!« so hatte der Doktor gesagt. Das war ein großes Wort. Denn Hanjust entdeckte, daß er eigentlich immer in Not sei. Vielleicht hatte der Doktor gar keine Ahnung von dieser unabsehbaren Tragweite seines Versprechens? Doch gleichviel, man konnte ihn ja auf die Probe stellen. So dachte Hanjust. Die Arbeit im Bergwerk war ihm verleidet; er fürchtete den Spott seiner Kameraden, wenn er zurückkehrte. Darum beschloß er, vorderhand Schicht zu machen mit dem Bergbau und abzuwarten, ob ihm nicht eine bequemere Arbeit angeboten würde. Zunächst hatte er ja Geld und konnte ein paar Wochen zusehen. Also tat er gar nichts und harrte geduldig, bis er in Not komme, wo er dann das Wort des Doktors erproben könne.

Dieser Zeitpunkt erschien auch richtig, noch bevor der November zu Ende war. Seine fünf Kinder – sie zählten von drei bis zu zehn Jahren und standen nach der Größe nebeneinander wie die Orgelpfeifen – brauchten Winterkleider und Schuhe, sie froren erbärmlich, und Schuster und Schneider borgten dem Hanjust schon längst nicht mehr.

Und also lauerte er eines Morgens wieder, bis der Knecht des Lochmüllers mit seinen Eseln kam, und setzte sich auf den Fritz, oben auf den Mehlsack, und ritt nach Weilburg, viel zuversichtlicher wie dazumal und doch nicht ohne geheimes Bangen. In der Stadt ging er ohne alles Vorspiel sofort zu Doktor Vanderstraten. Die Magd wollte ihn anfangs gar nicht melden. Er sagte ihr aber, sie möge dem Herrn Doktor nur sagen, der Bauer, welcher die Geschichte mit dem Teufel und dem Luftschiff gehabt, sei wieder da, denn er sei in Not; – und auf dieses Losungswort wurde er augenblicklich vorgelassen.

Er begann dann auch seine Rede sofort mit den nachdrücklichen Worten: »Herr Doktor, ich bin in Not!« und fügte etwas schüchterner hinzu: »nicht für mich, sondern für meine hungernden und frierenden fünf Kinder –«

»Fünf Kinder!« rief der Doktor.

»Das heißt, für jetzt sind es noch fünf, das sechste kommt zu Georgi«, ergänzte Hanjust.

»Fünf Kinder!« wiederholte der Doktor – »welch ein Glück!«

Der Bauer staunte bei diesem Ausruf. »Das hat mir noch kein Mensch gesagt. Die Leute beklagen mich im Gegenteil und meinen, für so einen armen Teufel hätte ich genau fünf Kinder zuviel. Übrigens, wenn Ihr so große Freude an Kindern habt, dann möchte ich fragen – eine Frage ist ja erlaubt –, ob Ihr nicht zu Georgi zu Gevatter stehen wolltet?«

»Niemals! Meine Patenschaft bringt kein Glück! Aber ich will etwas tun für Eure Kinder!«

Das Gespräch stockte, bis der Doktor wiederholte: »Fünf Kinder! Da lebt Ihr wohl recht glücklich mit Eurer Frau?«

Dieses zweite »glücklich« hörte Hanjust wiederum zum erstenmal. Er zögerte mit der Antwort. »Glücklich? Ei gewiß!« sagte er dann; »man gewöhnt sich mit der Zeit aneinander, und zuletzt weiß man's nicht mehr besser.«

Jetzt erstaunte der Doktor, darum setzte der Bauer erläuternd hinzu: »Eigentlich habe ich diese Frau gar nicht haben wollen, sondern eine andere, die schwarze Katharina von Mengerskirchen. Ein Jahr lang war ich mit ihr versprochen gewesen, alle Papiere in Ordnung, wir waren schon zum zweitenmal aufgeboten, in vierzehn Tagen sollte Hochzeit sein, da starb sie jählings am hitzigen Fieber. Der Doktor kam eine Stunde zu spät, sonst hätte ihr geholfen werden können. Wie bin ich gelaufen, ihn herbeizuholen, aber – er kam zu spät!«

Der sonst so rohe Bauer sprach diese letzten Worte tief erschüttert; doch noch tiefer bewegend schienen sie in Vanderstratens Seele widerzuklingen. »Welch wunderbares Zusammentreffen!« sagte er mit leise zitternder Stimme vor sich hin. Dann aber faßte er den Hanjust fest bei der Hand und rief: »Und dennoch seid Ihr der Glücklichere! Ihr tatet, was Ihr konntet. Der Arzt kam nicht zu spät. Eure Braut starb ohne Arzt, also keines künstlichen, sondern eines natürlichen Todes. Und wenn der Arzt sagte, daß er eine Stunde früher noch hätte helfen können, so war er ein Scharlatan – wie alle Ärzte, alle!«

Hanjust war nicht wenig überrascht, zum drittenmal glücklich gepriesen zu werden, und zwar über ein Unglück, wegen dessen er bisher von jedermann nur bedauert worden war. Das Nachempfinden des alten Schmerzes aber war eben wieder so echt und frisch in ihm, daß er sich nicht erwehren konnte zu sagen: »Herr Doktor, Ihr sprecht närrisch! Ihr wißt nicht, wie das tut, wenn einem die Braut so vierzehn Tage vor der Hochzeit hinwegstirbt. Ich glaubte vergehen zu müssen, ich war wie unsinnig, ich konnte nichts essen und nichts arbeiten; da sagten meine Freunde, ich solle eine andere nehmen, dann werde es besser, und so nahm ich die Lisbeth zur Frau. Ach, ich wäre ein ganz anderer Mensch geworden, wenn ich die Katharina gekriegt hätte!«

»Vielleicht weiß ich doch, wie das tut!« erwiderte Vanderstraten mit mildem Lächeln, aber im Lächeln verzog sich sein Gesicht, und ihm kamen die Tränen. Dann brütete er lange still für sich und wiederholte des Bauern Worte: »Ach, ich wäre ein ganz anderer Mensch geworden!«

Nach einer Weile fuhr er auf wie aus einem Traume, blickte den Bauern mit großen Augen an und fragte in schneidend kaltem Ton, was er denn eigentlich wolle.

Hanjust sagte, schnell gefaßt, sein erstes Sprüchlein, daß er in Not geraten und auf das Wort des Herrn Doktors hierhergekommen sei und daß ihm derselbe ja versprochen habe, etwas zu tun für seine fünf Kinder.

Vanderstraten schien sich jetzt erst des Zusammenhanges wieder zu entsinnen, er ging ohne ein Wort ins Nebenzimmer und brachte ein Etui mit zwölf schweren silbernen Löffeln heraus, die gab er dem Hanjust als Patengeschenk für seine fünf Kinder und das künftige sechste und noch eine Rolle Geld dazu. Als sich Hanjust aber bedanken wollte, rief er wieder wie das erstemal: »Keinen Dank! Macht, daß Ihr fortkommt! Ich will allein sein, allein!«

Hanjust säumte nicht, dieser deutlichen Verabschiedung zu entsprechen. In der Türe kehrte er sich jedoch noch einmal um und fragte, ob er denn auch weiterhin wiederkommen dürfe, wenn er wiederum in Not gerate.

»Freilich! Das habe ich ja ein für allemal gesagt!« rief der Doktor. »Aber Ihr dürft mich auch öfters besuchen: kommt, wann Ihr wollt!«

Da fragte der Bauer treuherzig: »Herr Doktor! habt Ihr denn wirklich so große Freude an mir armem Teufel? Was gefällt Euch denn so gut an mir?«

»Schon diese Frage gefällt mir«, entgegnete jener. »Allein der Hauptgrund liegt doch woanders. Neulich habt Ihr mir einen kleinen Dienst erwiesen, indem Ihr mich von einem Quälgeist befreitet, heute einen größeren, indem Ihr meine eigenen Qualen lindertet. Ihr wisset selbst nicht wie und warum. Ihr würdet mich auch nicht verstehen, wenn ich's Euch erklärte. Aber Ihr fragt mich nicht aus und wollt mich nicht kurieren wie die andern; Ihr habt nur von Euch selbst gesprochen, und das hat mir das Herz weich gemacht – zum erstenmal seit vielen Jahren. Ein Band gleichen Geschickes umschlingt uns beide. Ich will Euch öfters reden hören. Nichts weiter!«

Hanjust war gerührt über diese schönen Worte, obgleich ihm nur der eine Satz überzeugend war, daß er von der ganzen Erklärung nichts verstehe.

Es war aber, als schäme sich der Doktor des weichen Tones, welcher ihn überkommen hatte, und er sagte plötzlich scharf und spitz mit ganz anderer Stimme: »Ich suchte einen Menschen und fand ihn – ein Diogenes mit der Laterne, allein ein umgekehrter; denn jener suchte einen Menschen, der willig Geld gebe, ich suchte jemand, der willig Geld nehme.«

»Da werdet Ihr ohne Laterne viele finden«, meinte Hanjust. Der Doktor aber wies ihm jetzt so barsch die Türe, daß er unmöglich noch einmal umkehren konnte.

Aber zu seinem Erstaunen folgte ihm jener auf den Hausgang, nahm ihn dort beiseite und sagte leise: »Hütet Euch, daß Ihr die Leute etwas merken laßt von Euren Besuchen! Seid verschwiegen! Sowie Ihr prahlt, sowie Ihr plaudert, sowie Ihr mir die Menschen auf den Hals zieht, ist all unsere Freundschaft aus und vorbei, und meine Türe wird Euch für immer verschlossen sein.«

Hanjust mußte sich selber das tiefste Schweigen geloben, denn der Doktor wollte sein Gelöbnis gar nicht mehr anhören.

In Niedershausen fragte er den Schulmeister, was denn ein umgekehrter Diromeles sei. Der Schulmeister wußte es nicht, versprach jedoch, den Pfarrer von Löhnberg zu fragen. Der wußte es aber auch nicht.

Sechstes Kapitel

Hanjust begann ein ganz neues Leben. Von Arbeit war kaum mehr die Rede: das Geld des Doktors genügte, um monatelang zu faulenzen und doch der Frau und den Kindern auch noch manchen Batzen zu geben, und die wußten gar nicht, woher das schöne Geld kam. Denn mit echter Bauernpfiffigkeit verheimlichte er seiner Frau die geschenkten Gaben, vorab das Etui mit den silbernen Löffeln. Er dachte, eine Frau werde leicht üppig, wenn sie's zu gut habe, die Weiber müsse man kurz halten, und es dünkte ihm sehr schön, neben der ehelichen Gütergemeinschaft auch noch einen geheimen Privatschatz zu besitzen, mit welchem er anfangen könne, was er wolle.

War auch schon vorher Zank und Streit oft genau das Salz ihrer Ehe gewesen, so wurde dieselbe jetzt noch gesalzener. Die Frau schalt den Mann wegen seiner Trägheit und Heimlichtuerei, der Mann zeigte den Trotz des bösen Gewissens, und je weniger er der Frau gab, um so übermäßiger schien sie ihm zu begehren. Da war es natürlich, daß er sich nach einem Hause umsah, wo er sicher war vor Lisbeths Quälereien, und dies fand er im Wirtshaus. Je fleißiger aber Hanjust im Wirtshause einsprach, um so öfter trieb es ihn auch zu einem Besuche bei Doktor Vanderstraten. Dort erzählte er dann aus seinem Leben – Wahrheit und Dichtung –, was der Doktor gern hörte, und erhielt ab und zu ein Geschenk, was er gern nahm.

Sein neues Leben erregte bald genug Aufsehen im Dorfe. Man sah ihn als einen verkommenen Mann über die Achsel an und staunte, daß der Tagedieb immer Geld besaß, während er vordem bei allem Fleiß sich kaum satt hatte essen können. Durch die Mißachtung seiner Mitbürger geärgert, konnte Hanjust seinerseits nicht umhin, geheimnisvolle Worte fallen zu lassen, daß er jetzt in einem besseren Bergwerke arbeite als vorher und Dinge wisse, die sie alle nicht wüßten. Denn wenn er auch nichts verraten durfte von seiner Freundschaft mit dem Doktor, so juckte es ihn doch fort und fort, in Rätselworten mit seinem Geheimnis zu prahlen, zumal wenn er ein Glas zuviel getrunken hatte.

Nun geschah es um Weihnachten, daß auf einem benachbarten Hofgut eingebrochen und viel Geld und Silberzeug gestohlen wurde. Nähere Anzeichen des Täters fehlten, aber der allgemeine Verdacht fiel bald genug auf Hanjust Norz.

Frühmorgens am Dreikönigstage erschien das Gericht in seinem Hause und durchsuchte dasselbe von oben bis unten. Es währte nicht lange, so war das Etui mit den Löffeln und anderes Silber im Keller gefunden und ein Säckchen mit zwanzig Krontalern im Kuhstall.

Die Frau rang die Hände, jammerte, daß sie immer Böses geahnt habe hinter Hanjusts Heimlichtuerei, und steigerte so den Verdacht der Späher zur Gewißheit. Zwar entsprach das Silberzeug nicht den auf dem Hofe geraubten Stücken, aber gestohlen war dasselbe doch ohne Zweifel, und Hanjust konnte durchaus nichts Glaubwürdiges vorbringen, wie er zu diesen Dingen gekommen sei. Er beteuerte, das alles habe ihm jemand geschenkt, den er nicht nennen könne.

Unter dem Heulen und Wehklagen der Frau nahm das Gericht die Wertsachen mit nach Weilburg und den Hanjust dazu, um ihn vorläufig ins Gefängnis zu setzen, in »Abrahams Schoß«, wie man's nannte, denn der erste Insasse, nach welchem man solche Häuser zu taufen pflegt, war ein Jude namens Abraham gewesen.

Dort erhielt Hanjust Muße, nachzudenken über folgende Alternative, zwischen welcher er zu entscheiden hatte:

Erzählte er dem Gericht wahrheitsgetreu, wie er zu den Geschenken gekommen, dann wurde er frei, verlor aber für immer die Gnade des Doktors und mußte wieder als armer Teufel im Bergwerk arbeiten.

Verharrte er dagegen bei seinem Schweigen, so kam er entweder nach Diez ins Zuchthaus und mußte Marmor sägen oder günstigerenfalles nach Eberbach ins Korrektionshaus, wo er Wolle spinnen mußte. Als Märtyrer der Verschwiegenheit hätte er dann freilich um so glänzendere Entschädigung für alle Zukunft von seinem Freunde erwarten dürfen, und ein paar Monate am Spinnrad, das wäre kein zu hoher Preis für solchen Lohn gewesen, aber ein paar Jahre an der Marmorsäge, das war zuviel!

Überall drohte ihm zunächst eine etwas unangenehme Arbeit, und das beste schien freilich, wenn er sich hätte herausreden können, ohne den Doktor zu nennen.

Er versuchte dies auch im ersten Verhör vor dem Amtsassessor. Doch vergebens! Diez mit der Marmorsäge drohte ganz deutlich. Darum tat er plötzlich den Mund auf und beichtete genau, wie er zu dem Doktor und durch diesen zu Geld und Silberzeug gekommen sei.

Jeder Untersuchungsbeamte ärgert sich, wenn er glaubt, den gesuchten Dieb richtig gefunden zu haben, und hinterdrein entdeckt, daß er dennoch einen Unschuldigen gegriffen hat, ja er zürnt diesem Unschuldigen, daß er nicht ihm zu Gefallen schuldig hat sein und bleiben wollen.

So war auch der Assessor anfangs gröber gegen den unschuldigen als vorher gegen den schuldverdächtigen Hanjust. Doch wurde sein Ärger rasch gemildert durch die Aussicht, daß er nun den Doktor ins Verhör nehmen, daß er vielleicht das Rätsel des verrückten Holländers durchdringen könne.

Zu jener Zeit, wo öffentliches und mündliches Rechtsverfahren noch nicht landesüblich war in Nassau, pflegte das Gericht zwar Männer, die zur Zeugschaft geladen waren, aufs Amt zu bescheiden; bei Damen dagegen nahm man aus Artigkeit das Verhör im Hause vor und benachrichtigte sie höflich tags vorher, damit sie nicht erschraken.

Nach längerer Erwägung, was wohl interessanter sei, den Doktor aus seiner Höhle zu ziehen und aufs Amt zu entbieten oder ihn als Dame zu behandeln und mit einem Besuche zu beehren, entschied man sich für das letztere, und eine Kommission, weit zahlreicher als nötig, begab sich in das stille Haus am Marktplatze.

Die Herren fanden sich dort aber sehr enttäuscht. Vanderstraten empfing sie mit altmodischer förmlicher Höflichkeit in dem bekannten Vorzimmer, welches jedoch nur mit einem Tisch und sechs Stühlen ausgestattet war, so daß man nicht einmal die berühmte Unordnung und den klassischen Schmutz des Hauses sehen konnte. Und da die Kommission ihrerseits so höflich gewesen war, den als Dame behandelten Doktor gestern schon von dem Zweck ihres Besuches unterrichten zu lassen, so gab derselbe so rasch, scharf und bündig Antwort auf alle Fragen, daß es fast schien, als sei der sogenannte »verrückte Holländer« der gescheiteste von der ganzen Gesellschaft. Er erklärte genau zu Protokoll, was er alles dem Hanjust Norz geschenkt, und erkannte die vorgefundenen Wertsachen als seine Geschenke an, so daß jeder Verdacht eines Diebstahls schwinden mußte.

Der Assessor erlaubte sich die Frage, aus welchem Grunde denn Herr Vanderstraten den Bergmann mit so vielen und wertvollen Geschenken überhäuft habe. Worauf der Doktor bemerkte: er könne über sein Eigentum verfügen, wie er wolle, und sei darüber keine Auskunft schuldig. Seine stärksten Gründe würden die Herren wohl kaum verstehen, aber er wolle eines Grundes erwähnen, der ihnen sehr leicht verständlich sei: – der Bergmann habe ihm besonders gefallen, denn von allen Menschen, die ihn bis zu dieser Stunde in Weilburg besucht, sei er der einzige gewesen, welcher nicht aus Neugierde gekommen sei.

Der Beamte verstand den Stich, allein er hatte einen Hieb zur Antwort bereit. In lebendiger Schilderung, Zug für Zug erzählend, zeigte er dem Doktor, wie derselbe durch seine launenhaft unklugen Gaben den Mann verdorben habe, dem er doch vermutlich habe wohltun wollen; wie er den Hanjust zum Tagedieb gemacht, den Geist des Unfriedens in dessen Ehe getragen und ihn zuletzt noch obendrein durch das Gebot des Geheimnisses in den Verdacht des Verbrechens gezogen habe.

Vanderstraten war wie versteinert. Wer konnte in seiner tief verschleierten Seele lesen! Des Umgangs mit Menschen entwöhnt, hatte er sich aus diesem derbgeschnitzten Bauern ohne Zweifel das Idealbild eines Naturkindes gemacht. Es ward ihm so wohl, als dringe Waldgeruch und frischer Heuduft in seine Stube, wenn Hanjust eintrat. Er hatte sich daran erquickt, wie diese halb wahre, halb eingebildete Erscheinung auf ihn wirkte; allein er hatte gar nicht daran gedacht, wie er selber auf den Bauer wirken mußte. Überkam ihn jetzt die erschütternde Ahnung, daß er jeden Blick für andere verloren habe, indem er seit so vielen Jahren immer nur starr in sich hineingesehen?

Er versuchte keine Widerrede auf die Vorwürfe des Beamten, und diesem tat seine Rede fast leid, als er den armen Einsiedler so gebrochen vor sich stehen sah. Aber da war weiter nichts mehr zu machen. Noch eine Pause, und man verabschiedete sich von beiden Seiten.

Vanderstraten vergrub sich in die unzugänglichen oberen Zimmer und versank in den schwärzesten Tiefsinn. Der einzige Lichtblick, welcher in der letzten Zeit seine Abgeschiedenheit erhellt hatte, war erloschen. Wenn man noch mehr allein sein kann als allein, wenn man nicht bloß andern, sondern auch sich selbst entfliehen kann, so wollte er fortan diese äußerste Einsamkeit suchen.

Siebentes Kapitel

Man könnte meinen, Johann Justus Norz sei der einzige gewesen, welcher befriedigt aus dieser Katastrophe hervorging, denn er wurde schon am nächsten Tage auf freien Fuß gesetzt. Aber auch ihm ahnte Schlimmes für die Zukunft.

Dem drohenden Unheil ins Auge sehend, ging er alsbald zum Doktor, um sich zu bedanken für dessen Zeugschaft. Er ward nicht vorgelassen.

Dieser Empfang machte ihm so schwül, daß er die ganze Nacht darauf vor Hitze nicht schlafen konnte, obgleich draußen Stein und Bein zusammenfror.

Darum versuchte er baldigst noch einmal zu seinem alten Gönner vorzudringen, erhielt aber den Bescheid, daß er nie mehr wiederkommen dürfe und daß zwischen dem Herrn Doktor und ihm fortan alles aus und vorbei sei.

Hierauf entschloß er sich zum Äußersten; er tat, was er lange nicht getan: er schrieb einen Brief. Nach vielem Suchen und Sinnen brachte er folgende Sätze zusammen, zwar mit etwas zweifelhafter Orthographie, aber sie konnten dennoch ihre Wirkung nicht verfehlen.

»Wohledelgeborener Herr Doktor! Es ist nicht recht von Ihnen, daß Sie mich verstoßen; denn wenn ich vor Amt geschwiegen hätte, so wäre ich nach Diez gekommen, und Sie werden doch nicht wollen, daß ich vier Jahre Diez erdulden soll, bloß damit Sie nicht eine Viertelstunde den Assessor zu erdulden brauchen. Darum seien Sie so gut und nehmen Sie mich wieder zu Gnaden auf; ich will's ja gewiß nicht wieder tun.

Johann Justus Norz.«

Schon am nächsten Tage kam folgende Antwort nach Niedershausen:

»Mein lieber Norz! Ich verbiete Euch mein Haus für immer, nicht weil Ihr vor Gericht geredet habt, sondern weil Ihr meine Gaben zu einem so schlechten Lebenswandel mißbrauchtet, daß Ihr notwendig zuletzt aussagen mußtet, was Ihr bei ordentlichem Wandel für immer hättet geheimhalten können. Ich bedauere, bei dieser Gelegenheit erfahren zu haben, daß der Naturmensch geradeso töricht ist wie der Kulturmensch. Der Naturmensch seid Ihr, und der Kulturmensch bin ich. Darum haben wir beide auch unsere Strafe: ich bin um eine bittere Täuschung reicher geworden, Ihr um einen allzeit hilfbereiten Freund ärmer.

Dr. Adrian Vanderstraten.«

»Und der Doktor ist also doch verrückt!« rief Hanjust, nachdem er diesen Brief herausbuchstabiert hatte, und entsagte fortan aller Hoffnung, bei dem freigebigen Herrn je wieder zu Gnaden zu kommen.

Nun verfiel er aber auch seinerseits in Schwermut und suchte die Einsamkeit – nicht im Innern seines Hauses, wo ihn die Frau wie das laute und die Kinder wie das stille Gewissen überall verfolgten, sondern draußen in Feld und Wald. Er tat, was ein Niedershäuser Bauer nur in der Verzweiflung tut: er ging spazieren – und obendrein im Schnee.

Bittere Reue überkam ihn. Mit Schrecken sah er den Tag voraus, wo er den letzten Kreuzer ausgeben würde, und neuen Verdienst fand er nicht, denn als Bergmann wollte ihn jetzt niemand wieder in Arbeit nehmen.

Von alten Weibern hatte er manchmal beim Spinnrad das Märchen erzählen hören, wie der Teufel einem armen Manne Geld die Fülle geschenkt habe, daß er herrlich und in Freuden leben konnte; aber das Geld zerrann oder verwandelte sich über Nacht in Kohlen, und der Reiche ward ärmer als zuvor und verlor alles und zuletzt seine arme Seele dazu.

War es ihm nicht genau ebenso ergangen? Unter Schaudern fiel ihm ein, wie oft er sich früher dem Teufel verschworen habe, bis endlich das Luftschiff erschien. Der Teufel sollte ihn lotweis holen: war das jetzt nicht unvermerkt nahezu geschehen? Johann Justus Norz war ein aufgeklärter Mann, namentlich seit der Geschichte mit dem Luftschiff. Er glaubte seitdem nicht mehr, daß ihn der Teufel mit Hörnern und Krallen Stück für Stück zu zerreißen vermöge. Aber kann man nicht auch bei gesundem Leibe ganz unterderhand – so recht lotweis – des Teufels werden? Und wenn der Teufel auch nicht mehr in Person zu uns käme wie vormals zum Doktor Luther auf der Wartburg, schickt er nicht doch noch seine Diener auf den Fang in Gestalt von allerlei unheimlichen Menschen? Wenn dieser licht- und leutscheue Holländer so ein verkappter Höllenbote wäre? So fragte Hanjust, und einmal in diesen Text verstrickt, geriet er immer tiefer in das Gewirre neuer ähnlicher Fragen. Mit welch grausigem Lächeln hatte der Doktor die Erzählung von seinem Fluch vor dem Erscheinen des Luftschiffs mit angehört! Wie verdächtig, daß er gerade durch diese Geschichte zuerst veranlaßt wurde, ihn zu beschenken und einzuladen! Und dann ward er nicht müde, Hanjusts Lebensgeschichte anzuhören, die außerdem noch kein Mensch hatte hören wollen, – zog er ihm damit nicht gleichsam stückweis, lotweis die Seele aus dem Leibe? Durch seine Geschenke hatte er ihn dem Zuchthaus nahegebracht, und von dort ist's ohnehin nicht mehr weit zur Hölle. Dann hatte er ihn allerdings durch sein Zeugnis vor dem Zuchthause gerettet, aber nur, um ihn vollends der Verzweiflung zu überliefern.

Erwog Hanjust zu alledem des Doktors seltsam dunkle und doch so spitzfindige Reden, sein vergeistertes Aussehen, sein gespenstiges Treiben und daß er seit zwanzig Jahren notorisch in keine Kirche gegangen – so ward ihm immer klarer, daß ihm der Teufel dazumal zwar nicht mit dem Luftschiff auf den Kopf gefallen sei, aber daß dieses verwünschte Luftschiff ihn doch recht eigentlich in des Teufels Arme geführt habe.

Das alte Märchen war Wirklichkeit geworden, nur in einer ganz neuen Gestalt; denn auch der Teufel verwandelt sich mit der Mode. Nur ein einziger Zweifel tröstete Hanjust bisweilen, indem er sich fragte: »Was hat denn der Teufel eigentlich an meiner armen Seele? Ist sie's wirklich wert, daß er sich so viel Mühe darum gebe?«

Allein das war ein schlechter Trost, und Hanjust wurde immer tiefsinniger. Dabei kam es ihm ganz besonders schrecklich vor, daß ihn, den früher so lustigen, geselligen Bruder, der Doktor mit seiner Menschenscheu, mit seiner Sucht nach Einsamkeit angesteckt habe. »Wenn einen ein toller Hund gebissen hat, dann muß man bellen wie ein Hund; – ich bin von dem tollen Doktor gebissen, darum muß ich rufen wie er: ›Schweigt alle still! Fort mit Euch! Laßt mich allein! allein!‹«

Er fürchtete sich, allein zu sein, und wollte doch immer allein sein. Das war zum Verrücktwerden. Wohin sollte er fliehen?

Plötzlich fand er eine erleuchtende Antwort. »Wohin?« – »Unter die Erde!«

Im Bergwerk war er sicher vor seiner Frau, im Bergwerk war es wärmer im Winter und kühler im Sommer als da droben, im Bergwerk hatte er auch selbiges Mal Zuflucht gefunden, als das Ungeheuer aus der Luft gestürzt kam. Zum zweitenmal floh er vor dem Teufel unter die Erde.

Zwar wollte man ihn als Bergmann nicht wieder nehmen, da bot er sich als ganz gewöhnlicher Tagelöhner an, und man nahm ihn auf Probe. Nun fiel ihm auch wieder ein, wie pfiffig es der Doktor gefunden habe, daß er trotz seiner Verfluchung der Arbeit den Teufel dennoch durch Arbeiten habe überlisten wollen, und er begann wieder so übermenschlich zu arbeiten wie in jener Schreckensstunde.

Anfangs hielt der Steiger diese Arbeitswut für eine fliegende Hitze. Allein je mehr Hanjust wahrnahm, wie er durch die kleinere Qual der Arme die größere Qual des Gehirnes lindere, um so strenger hielt er aus, und nach wenigen Wochen hatte er sich wieder zu solchem Ansehen bei seinen Kameraden hinaufgearbeitet, daß man ihn auch wieder als ordentlichen Bergmann an seinen alten Platz stellte, und am Samstag brachte er seinen Wochenlohn wieder stillvergnügt wie früher nach Hause,

So stand wieder alles genau auf demselben Fleck wie damals, bevor das Luftschiff kam, nur daß Hanjust stiller und verschlossener, aber auch viel fleißiger geworden war, als er es je vorher in seinem Leben gewesen. Und seine Frau, der er allmählich alles erzählte, was in seiner Seele vorgegangen, verwünschte mit ihm den unheimlichen Doktor und bekräftigte den Mann in der Überzeugung, daß bei der ganzen Geschichte, die wie ein Traum hinter ihm lag, wirkliche Teufelei im Spiel gewesen sein müsse.

Achtes Kapitel

Jahre vergingen. Doktor Vanderstraten lebte nach wie vor unsichtbar in Weilburg; allein man kümmerte sich kaum mehr um ihn. Denn wenn ein Rätsel gar zu lange rätselhaft bleibt, so bemüht sich zuletzt kein Mensch mehr, es zu lösen. Ein alltägliches Geheimnis ist für die Menge gar kein rechtes Geheimnis mehr, und nur der Denker erkennt auch im Alltäglichsten das Geheimnisvolle.

Es war zu Martini 1841. Hanjusts Frau trug, wie seither jedes Jahr, den vollen Zins in das stille Haus, denn sie duldete nicht, daß ihr Mann auch nur zu diesem Zweck die verhängnisvolle Schwelle jemals wieder überschritten hätte.

Als aber die Magd die Quittung herausbrachte, richtete sie einen Gruß von ihrem Herrn aus, und er wünsche den Hanjust selber zu sprechen, und zwar in den nächsten Tagen.

Die Frau erschrak über diese Einladung, als sei es eine Zitation vor das peinliche Gericht, und beschloß auf dem Heimweg, ihrem Mann aufs entschiedenste abzuraten. Denn man konnte nicht wissen, was für eine neue Teufelei hinter der Einladung stecke.

Hanjust, der mit dem Fleiße auch den Hausfrieden wiedergefunden hatte, folgte dem Rate seiner Frau und ging nicht hin.

Nach acht Tagen schickte jedoch der Doktor einen eigenen Boten nach Niedershausen mit einem Brief an Hanjust, worin er dringend um dessen Besuch bat, und zwar so bald als möglich, er habe ihm Wichtiges mitzuteilen. Hanjusts Neugier stieg aufs höchste, und er beschloß, den Doktor zu besuchen. Die Frau war nicht daheim, als der Brief kam, darum hielt er's für das klügste, ihr kein Wort zu sagen, denn sie hätte ihn gewiß nicht fortgelassen.

Unter dem Vorwand anderer Geschäfte ging er schon am nächsten Tage nach Weilburg. Es war ihm, als verübe er eine Sünde, da er die Klingel des Hauses am Marktplatze zog, er blickte scheu umher, ob ihn niemand sehe; alle die schlimmen Folgen der früheren Heimlichkeiten fuhren ihm durch den Sinn. Da öffnete die Magd. Der Schritt war geschehen; in wenigen Minuten stand er vor dem Doktor.

Die ganze Einrichtung des Zimmers war unverändert wie vor fünf Jahren, und auch der Doktor schien völlig unverändert, weder über sein Gesicht noch über seinen Rock schien die Zeit eine Macht zu haben. Nur stand er nicht wie sonst dem Besucher kerzengerad gegenüber, gleichsam um von vornherein anzudeuten, daß man möglichst bald wieder gehen solle, sondern er saß im Lehnstuhl. Ja, er hieß sogar den Hanjust Platz nehmen, der sich verlegen auf die Kante eines Stuhles setzte, die beiden Hände auf die rechtwinklig vorspringenden Knie gelegt.

Vanderstraten begann ohne jede weitere Einleitung:

»Früher habt Ihr mir von Euch erzählt, heute will ich Euch von mir erzählen: eine sehr einfache Geschichte. Aber paßt genau auf, daß Ihr alles fest behaltet!

In meinen jüngeren Jahren, es ist schon lange her, war ich Arzt in Rotterdam, berühmt in der ganzen Stadt durch die Kühnheit meiner Kuren. Tausenden von Kranken hatte ich geholfen, oder sie glaubten wenigstens, daß ich ihnen geholfen habe, und ich glaubte es auch und war stolz auf mein Glück und Geschick. Ich war Hausarzt in vielen vornehmen Familien und Hausfreund dazu; aber kein Haus war mir angenehmer, keines wurde sorgsamer und fleißiger besucht als das von Tobias Jansen, dem reichen Schiffsreeder. Ich liebte seine Tochter Cornelia, und sie liebte mich, obgleich wir's uns kaum gestanden. Sie war nicht schön, aber sie war rein und gut wie ein Engel, und wir verstanden uns so ganz! Darum machte ich in Jansens Haus zehnmal mehr ärztliche Besuche, als nötig gewesen wären. Niemand wußte um unsere Liebe, ließen wir's uns doch gegenseitig nur erraten, daß wir darum wußten. Cornelia empfand die Seligkeit des Schweigens so tief wie ich. Ich weiß nicht, Hanjust, ob Ihr mich versteht.«

»Freilich, Herr Doktor! Ganz ebenso war es ja auch mit mir und meiner Katharine, wenn wir Sonntag nachmittags mutterseelenallein im verlassenen Bergwerk saßen und uns Kartoffelkuchen backten mit Öl aus der Grubenlampe; denn wir hatten keine Butter.«

»Im stillen war ich Corneliens so gewiß«, fuhr der Doktor fort, »daß ich den Tag schon festgesetzt hatte, wo ich unsere Liebe dem alten Jansen entdecken und um ihre Hand anhalten wollte, ohne mit ihr ein Wort von diesem Vorhaben gesprochen zu haben. Da erkrankte Cornelia. Ich behandelte sie, – ich allein. Es ist eine alte Regel, daß kein Arzt sich selbst behandeln soll. Er soll eine Schwerkranke auch nicht allein behandeln, die ihm im Herzen recht nahesteht. Man verliert den ruhigen Blick, die feste Hand, sowie man selber, sowie das eigene Herz ins Spiel kommt. Ich verachtete diese Regel. Ich wollte Cornelien ganz allein heilen. Der Stolz auf meine so oft erfolggekrönte Kühnheit verblendete mich und der Eigensinn meiner verschwiegenen Liebe. Ich behandelte die Kranke verkehrt, – sie starb unter meinen Händen, – ihre letzten Worte waren ihr erstes lautes Geständnis; – als sie tot war, wußte ich gewiß, daß sie mich liebte und – daß ich sie getötet hatte, ich selber, ich allein! Corneliens Eltern glaubten, sie sei an ihrer Krankheit gestorben: – sie war an ihrem Arzt gestorben, an dem Gift meiner Arznei.

Niemand hatte um unsere Liebe gewußt, niemand erfuhr meine Schuld. Schweigend hatte ich in meiner Liebe geschwelgt, schweigend trug ich nun auch meine Schuld allein. Ich konnte von Stund' an keinen Kranken mehr besuchen, ich mochte auch keinen Gesunden mehr sehen. Ich haßte die Ärzte wie mich selbst, sie sind alle Quacksalber, wie ich es war; ich verabscheute die Arzneien, sie sind alle Gift.

Es duldete mich nicht mehr in meiner Heimat; ich floh hierher, um allein zu sein. Die Leute hielten mich für einen Sonderling, für einen Narren; niemand ahnte, daß ich schweigend und einsam büßte, was ich durch Schweigen und allein verbrochen hatte, und doch gab mir diese Buße einen kümmerlichen Rest von Seelenfrieden. Oh, es ist so elend und doch so süß, zu schweigen und allein zu sein!

Versteht Ihr nun, warum ich mich zu Euch hingezogen fühlte, als Ihr mir das Unglück mit Eurer Braut erzähltet? Vielleicht schien es damals, als sei ich auf dem Wege, ein vernünftiger Mensch zu werden, und doch war ich gerade damals der ärgste Narr. Das hat mir der Amtsassessor ganz verflucht klargemacht.

Doch gleichviel. Manche achtbare Männer haben mich hier gesucht, und ich habe sie zurückgewiesen; Ihr wart der einzige, den ich suchte, darum vertraue ich Euch mein Geheimnis. Ihr seht mich heute zum letztenmal, ich werde sehr bald sterben. Gehet nach meinem Tode nach Rotterdam. Der Vater Corneliens ist längst gestorben, aber ihr Bruder lebt noch, Peter Jansen. Ich übergebe Euch hiermit einen Brief, der Euch an ihn empfiehlt. Alles übrige berichtet mündlich. Ich wollte Peter Jansen alles schriftlich bekennen: die Feder versagte mir, sooft ich dazu ansetzte. Ihr allein wisset jetzt, was ich ihm schreiben wollte. Ihr sollt es ihm genau erzählen. Ich finde keine Ruh' im Grabe, wenn ich dieser Beichte nicht gewiß bin. Oh, es ist so süß, allein zu sein und ganz zu schweigen, und doch konnte ich das eine nicht ganz und kann jetzt auch das andere nicht!«

Er schwieg. Hanjust wollte sprechen, aber der Doktor fuhr auf: »Ich bin zu Ende! – kein Wort weiter! macht, daß Ihr fortkommt! – ich will allein sein – allein!«

Der Bauer ging.

Wie er nachgehends gestand, war ihm nichts schauerlicher gewesen, als daß der Mann, dem die Zeit nichts anzuhaben schien, so gesund und fest wie jemals ausgesehen und doch so ruhig und gewiß von seinem Tode gesprochen habe.

Nach wenigen Tagen starb Doktor Vanderstraten.

Man glaubte anfangs, er habe sich vergiftet; allein die Sektion erwies, daß er an einem organischen Herzleiden und ohne jedes Mittel aus der Apotheke gestorben war. Der früher so ausgezeichnete Arzt hatte seinen eigenen Zustand richtig erkannt.

Man fand in dem stillen Hause ein großes Vermögen, wenn auch in größter Unordnung. Hunderte längst fälliger Coupons waren noch abzuschneiden; viel Geld war durch Versäumnis verlorengegangen, trotzdem blieb noch sehr viel übrig. In der oberen Stube lagen, in die mannigfachsten Papierfetzen eingewickelt, die Zinsen, welche dem Doktor seine zahlreichen bäuerlichen Schuldner seit fünfundzwanzig Jahren gebracht. Er hatte sie unbesehen in alle Winkel und Schubladen geworfen.

Am Tage vor seinem Tode hatte er den Landoberschultheiß rufen lassen und ein ordentliches Testament gemacht, worin er Herrn Peter Jansen zu seinem Universalerben einsetzte. Den Kindern des Johann Justus Norz waren stattliche Legate ausgeschieden, die ihre Zukunft sicherten, und eine gehörige Summe für Hanjust selber ausgeworfen als Reisegeld nach Rotterdam.

Hanjust ging wirklich zu Fuß dorthin, um den letzten mündlichen Willen des Verstorbenen mündlich auszurichten. Herr Jansen verstand anfangs durchaus nicht, was der Bauer wollte, zumal derselbe seine Erzählung ganz von vorn anfing, das heißt von der Geschichte mit dem Luftschiff und dem Teufel, – und wie das eben in der Welt zu gehen pflegt, hielt der Holländer nun seinerseits den sehr klugen Hanjust für verrückt. Allein die Niedershäuser Bauern sind zäh und ausdauernd, und so ließ sich Hanjust auch nicht abweisen, sondern begann viermal immer wieder mit dem Luftschiff, bis sein Zuhörer Geduld gewann, den Kern der Sache abzuwarten und die Beichte Vanderstratens anzuhören, welche Hanjust mit ebenso erschöpfender Breite als ergreifender Einfalt vortrug. Dann wanderte er, von dem Holländer gut bewirtet und reich beschenkt, zu Fuße wiederum von Rotterdam nach Niedershausen zurück – mitten im Winter.

Da Hanjust vorher fünf Jahre lang arbeiten gelernt hatte, so schadete ihm diesmal auch das Vermächtnis des Doktors nichts, und auch sein eheliches Leben gestaltete sich immer friedlicher und freundlicher, denn er erkannte aus dem Schicksal des Doktors, daß es nicht gut ist, daß der Mensch allein sei, selbst wenn er seine erste Braut nach dem zweiten Aufgebot verloren habe.

Dem Doktor bewahrte er ein dankbares Herz und schien auch gar nichts Teuflisches mehr an ihm zu finden, denn er nannte ihn stets nur den »Doktor selig« und erzählte jetzt um so mehr von ihm, da er so lange gar nichts von ihm hatte erzählen dürfen. Kam er aber auf seine eigenen Freuden, Leiden und Wandlungen, so sagte er gewöhnlich: »Das wäre nun alles nicht geschehen, und ich wäre noch der zerlumpteste Bergmann, wenn nicht die drei Engländer vom Himmel gefallen wären. Man glaubt nicht, was selbst das überflüssigste Ding, wie so ein Luftschiff, einem Menschen nützen kann, – wenn's Gottes Wille ist.«


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