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Die Rheingasse meines Heimatortes Biebrich sah 1833 ganz anders aus als heutzutage. Jetzt eine einzeilige offene Hafenstraße, war sie damals eine enge doppelzeilige Dorfgasse, deren Häuser dem Strom den Rücken zukehrten. Dampfschiffe landeten noch gar nicht bei Biebrich, sie fuhren jenseit der Rheinauen in hessen-darmstädtischem Fahrwasser, und wir Nassauer kriegten nur den Rauch zu sehen. Wo jetzt die stolzen Salonboote anlegen, da erhoben sich kleine Hausgärtchen an der Ufermauer, in welchen besonders köstliche Aprikosen reiften, und wo früher oberhalb der Gasse die Welt ein Ende hatte und nur noch ein Eiskeller für die herzogliche Hofküche zwischen hohen Bäumen versteckt lag, da fängt jetzt die Welt erst recht an, denn dort steht der Bahnhof, von zwei Hotels flankiert.
Und dennoch dünkte jene häßliche alte Rheingasse uns Kindern sehr sehenswert, umschloß sie doch nach echt rheinischer Art eine vielgestaltige kleine Welt auf engstem Raume. Ein winziger Hafen, in welchem vor den Zollvereinszeiten viel geschmuggelt wurde, war selber gleichsam nur eingeschmuggelt zwischen bauernmäßigen Bürgerhäusern und einem rauchigen, verwitterten, alten Edelhofe. Aber am unteren Ende der Gasse stand auch ein neues Herrenhaus mit schönem Garten, den der glückliche Besitzer mit einer Miniaturmenagerie von allerlei Vögeln und Vierfüßern bevölkert hatte. Ja, die Rheingasse besaß sogar noch das einzige Tor, durch welches man, von Mainz kommend, in das sonst überall offene Dorf einzog. Über dem Tore aber wölbte sich nicht etwa wie anderswo ein Turm mit Gefängnissen, sondern der Oberstock eines Wirtshauses, und also merkte der Wanderer da gleich, daß er an der Pforte des weingrünen Rheingaues stand. Auf der Steinbank hinter dem Tore saß auch nicht etwa ein leuteplagender Torwart, sondern an jedem sonnigen Tage ein friedvoller neunzigjähriger Greis mit langem, schneeweißem Barte, der Jude Gersching, dessen Häuschen nebenan stand, und beobachtete von seinem Platze die Ein- und Ausgehenden und ließ sich die Sonne recht warm ins Herz scheinen und murmelte mit stets stark bewegten Lippen in sich hinein, als freue er sich, daß er nicht mehr mit zu wandern brauche, und wünsche jedem, der kam und ging, einen ebenso guten Abend, wie er selber ihn gefunden.
Das Wirtshaus über dem Tore und der Patriarch vor dem kleinen Judenhause waren zwei echte Wahrzeichen des alten Biebrich.
Aber alle diese schönen Dinge schienen uns Kindern doch nicht das merkwürdigste in der merkwürdigen Rheingasse; wir gaben einem Krämerhause mit zwei dürftigen Schaufenstern weitaus den Vorzug. Über der Türe hing ein Schild mit der Aufschrift: »Lange und kurze Warenhandlung von Georg Sibrat«, – und in dieses Haus führe ich meine Leser.
Bevor wir jedoch eintreten, um den Laden und die Person des Herrn Sibrat etwas näher kennenzulernen, fällt unser Blick auf seine zwei Kinder, die rechts und links an der kleinen Freitreppe sitzen: einen Knaben, der in einem Buche liest, und ein Mädchen, welches mit bunter Wolle in Stramin stickt. Es sind Zwillinge, beide klein, fein und blaß, als gehörten sie vornehmen Leuten; sie stehen jetzt im zwölften Lebensjahre und sind schon so gescheit, als ob sie im vierzehnten ständen.
Der Knabe heißt Wilhelm Belgicus und wird bei dem zweiten Namen gerufen, der in keinem Heiligenlexikon zu finden ist und also einer Erklärung bedarf. Der regierende Herzog führte die Namen: Wilhelm Georg August Belgicus, und es galt für loyal in der Residenz, die Namen der Kinder aus dem Namensschatze des Herrscherhauses zu wählen. Das Mädchen heißt Johanna nach dem Wunsche der Mutter, welcher Kotzebues »Johanna von Montfaucon« auf dem Theaterzettel ganz besonders imponiert hatte. Man sieht also schon aus den Namen, daß die Zwillinge berufen waren, als gebildete Kinder gebildeter Eltern in der Welt zu erscheinen.
Wir wollen uns den Laden des Vaters mit den Augen seiner beiden Kinder betrachten. Denn Kinderaugen sind die schärfsten, sie sehen tausend kleine Dinge, die uns Alten entgehen; aber dem Kinde fehlt der Vergleichungsmaßstab, der hinwieder das schwächere Auge der älteren Leute schärft. Darum muß der wahre Beobachter jung und alt zugleich sein; er muß sehen wie ein Kind und vergleichen wie ein gestandener Mann.
Der väterliche Kramladen erschien den Zwillingen als eine große Warenhalle, der Vater war ihnen kein Krämer, sondern ein Kaufmann, der's im großen treibt, ja der's »gar nicht nötig hat«; Biebrich war zwar etwas kleiner als Paris, aber doch eine große Stadt; wenn der Rhein im Frühjahr die Rheingasse überschwemmte, dann war er groß wie das Meer, und Belgicus und Johanna hielten sich im Leben noch zum Größten berufen. So dachten die Kinder im Kleinen, und so denken wir Große im Großen. Der Punkt, wo wir eben stehen, ist uns allemal der Mittelpunkt der Erde und die Erde der Mittelpunkt der Welt. Wehe uns, wenn wir nicht so kindlich dächten!
Das Innere von Herrn Sibrats Laden teilt sich in zwei Hälften: zur Rechten sind die langen, zur Linken die kurzen Waren. Belgicus weiß am besten bei den kurzen Waren Bescheid; denn da finden sich Rosinen, Zucker, Käse, Heringe, Draht, Messer, Feilen und eiserne Spatzenfallen. Johanna schlägt die langen Waren höher an und kennt sie folglich genauer: Bänder, Kattune, Schnüre, Zwirn, Leinwand und farbenbunte gemachte Blumen, die man in Biebrich »gebackene Blumen« nennt, obgleich sie nicht eßbar sind.
Die Kinder zerbrachen sich öfters den Kopf, warum man den ellenlangen Draht zu den kurzen, die fingerskurzen gebackenen Blumen dagegen zu den langen Waren rechne. Allein der Vater belehrte sie, daß dies im Kramladen wie im Leben sei, ja es gebe überhaupt kein wahrhaftigeres Bild von Welt und Leben als einen »langen und kurzen Warenladen«. Möge man da in der Theorie noch so klar und scharf einteilen, die Praxis mache doch wieder ein Loch und werfe die ganze schöne Ordnung übern Haufen.
So sprechen nicht alle Krämer. Aber Georg Sibrat war ein halbstudierter Mann; er hatte vor dreißig Jahren das Weilburger Gymnasium absolviert und beim Schlußaktus zuletzt eine Abschiedsrede über »Theorie und Praxis« gehalten. Weil aber das väterliche Geld nicht weiter reichte, so hatte er darauf mit Schmerzen der Theorie entsagt und sich zur Praxis gewandt, um als Lehrjunge in einem Mainzer Spezereiladen einzutreten, bis er nach vielen Irrfahrten endlich sein eigenes Geschäft in der Biebricher Rheingasse gründen konnte. Ein Strich gelehrter Bildung war ihm aber fürs Leben geblieben, und des zum Zeichen trug er in seinem zugigen Laden auch kein topfartiges rundes Käppchen wie andere Krämer, sondern das Sammetbarett der deutschen Burschenschaft.
Die Zwillinge hielten denn auch ihren Vater für einen so gelehrten Mann wie den Doktor Lorberg, den Prinzenerzieher im Schlosse. Es fehlten ihm nur einige Prinzen zur Erziehung; aber dafür erzog er seine Zwillinge wie Prinzen.
Von verfehlten Berufen wußten die Kinder noch nichts, und dennoch spürten sie dunkel etwas dergleichen am Vater.
»Wenn der Vater einen Hering aus dem Fasse nimmt«, meinte Belgicus, »dann faßt er ihn mit so spitzen Fingern am Schwanz und schleudert ihn so geschwind aufs Einschlagpapier, als ob er sich fürchte, daß der Fisch ihn beiße.« Dies geschah aber, weil er sich des unwürdigen Geschäfts so schnell entledigen wollte, daß er's vor lauter Geschwindigkeit selber nicht sähe. »Wenn der Vater sechs Ellen Kattun ausgemessen hat«, meinte Johanna, »und das Stück abreißt, dann reißt er mit einer Gewalt durchs Zeug, als solle der ganze Laden in Fetzen gehen!« Und doch machte er den Riß jedesmal fadengerad, und es war nur der Zorn über das kleinliche Geschäft, den er an dem unschuldigen Kattun ausließ.
Ganz anders fühlte sich Herr Georg Sibrat, wenn er in den Vordergrund der »kurzen Waren« zum Fenster trat, wo recht augenfällig ein Glasschrank postiert war mit allerlei nützlichen und merkwürdigen Dingen, die durchaus in die höhere Branche übergriffen. Die eine Hälfte des Schrankes war nämlich der Cholera, die andere den technischen Fortschritten der Menschheit gewidmet. Sibrat war der einzige Kaufmann in ganz Biebrich, der beiderlei Artikel führte.
Die Cholera oder, wie man damals zu sagen pflegte, die »Cholera-Morbus« hatte ihren ersten Rundgang durch Europa begonnen, aber noch nicht vollendet, und man fürchtete, sie möge sogar ins Herzogtum Nassau kommen. Allein sie kehrte in Hessen-Kassel um und getraute sich nicht über unsere Grenzen. Ob aus Furcht vor den Präservativmitteln, die Herr Sibrat verkaufte, möge dahingestellt bleiben.
Seine Apotheke bestand zunächst aus einem reichen Sortiment sogenannter Cholerapflaster, großen Stücken weichen Leders mit irgendeinem Pech bestrichen, welches erwärmt und dann von der Herzgrube ab über den ganzen Unterleib geklebt wurde. Dieses Pflaster hatte den Vorteil, daß es wie angewachsen fest sitzenblieb, aber den Nachteil, daß man's nur mit Verlust der eigenen Haut wieder abziehen konnte; es wurde zum Nessushemd, und die zahlreichen Käufer mußten sich, als die Cholera ausblieb, hinterdrein an ihren Pflastern ärztlich behandeln lassen. Hatte man sich mit diesem Pflaster gewappnet, dann war es nützlich, vor dem Frühstück weiße Senfkörner schoppenweise unverkaut zu verschlucken. Herr Sibrat hielt von diesem berühmten »Senfsamen« ein großes Lager in Paketen mannigfachen Gehalts, und die Frankfurter Firma Bettenheimer, welche das Kraftmittel täglich zentnerweise über halb Deutschland versandte, gedieh dabei in der Tat vortrefflich, während sich ihre Kunden den Magen verdarben. Nach dem Frühstück standen Morisonsche Universalpillen zur Verfügung, nach dem Mittagessen Hoffmannsche Tropfen und für den Abend Krauseminze zum Tee.
Geraume Zeit machte Herr Sibrat nur schlechte Geschäfte mit diesen fünf Cholerapräservativen. Um so lauter pries er sie den Kunden an. Als die Zwillinge ihn aber eines Tages fragten, warum sie selbst denn das herrliche Pflaster nicht aufgelegt und die köstlichen Senfkörner nicht zu essen bekämen, war er sehr überrascht, wie gescheit doch seine Kinder zu fragen verstanden, und antwortete: »Diese Sachen sind nur Heilmittel fürs Geschäft, nicht für die Familie.«
Er liebte seine Kinder fürwahr recht voll und ganz, und da er nur erst halb an seine fünf Mittel glaubte, gab er ihnen auch kein Pflaster und keinen Senfsamen. Trug er selber doch auch das Pflaster nicht, welches er jedem Kunden auf den Unterleib zu disputieren suchte. Allein die »Cholera-Morbus« rückte näher, Furcht und Glaube wirkten ansteckend, und die geängsteten Biebricher begannen mehr und mehr an die fünf Mittel zu glauben. Der Vertrieb wuchs von Tag zu Tag, es konnten nicht Pflaster, nicht Senfkörner und Krauseminze genug beschafft werden. Angesichts eines solchen Erfolges begann auch Herr Sibrat an die Kraft seiner Mittel zu glauben und bepflasterte sich und seine Frau und die Zwillinge, und sie verschluckten gemeinsam ungeheure Massen von Senfkörnern, Pillen, Tropfen und Krauseminze. Denn Herr Sibrat liebte die Seinigen sehr, und der Erfolg ist ein Gottesurteil. Freilich – es handelte sich hier um zweierlei Art von Erfolgen, um den Erfolg fürs Geschäft und den Erfolg für den Magen, und der Krämer, wenn auch nur halbstudiert, hatte vorher doch so fein unterschieden! Aber im Rausch des Erfolges unterscheiden selbst ganz studierte Leute nicht mehr, und ganze Völker machen's da in politischen Dingen nicht anders wie die Familie Sibrat in medizinischen und legen sich ein Pflaster auf den Leib, welches nur mit der Haut wieder abgeht.
Während aber die Zwillinge unter ihren Pflastern seufzten und die Senfkörner ihnen recht jämmerlich im Magen brannten, bewunderten sie ihren Vater als einen wahrhaften Doktor, dem nur der Titel fehle.
Doch stolzer noch als auf seine Choleraapotheke war der Alte auf sein »Schatzkästlein der Erfindungen«, wie er die andere Hälfte des Schrankes nannte. Die Biebricher fanden hier immer eine Auswahl der neuesten unnützen Dinge und Spielereien, mitunter aber auch etwas Nützliches. Zwei Gegenstände erregten dort zur Zeit großes Aufsehen: eine chemische Zündmaschine, die man den »ewigen Fidibus« nannte, die Vorläuferin unserer Zündhölzchen, und Stahlfedern zum Schreiben statt des Gänsekiels.
Über diese Stahlfedern machte sich Sibrat seine eigenen Gedanken, die er Samstag abends im Kasinogarten sehr beredt vorzutragen wußte. Er hatte dem Schulmeister einige solcher Federn zu Versuchen gegeben; doch dieser protestierte gegen die seltsame Neuerung und lobte sich den alten Gänsekiel; die Stahlfeder verderbe die Hand. Und ähnlich urteilte der Pfarrer und der Doktor. Allein die Frankfurter Kaufleute führten die neue Feder bereits auf ihren Kontoren ein. Sibrat verglich beide Tatsachen mit scharfem Blick. »Der Gänsekiel«, sagte er, »ist die Feder der Gelehrten, von denen jeder ein Original sein will; der Stahl wird die Feder des Kaufmanns werden, der Menschen und Hände wie Länder und Völker ausgleicht. Bei der Stahlfeder macht die Feder die Hand, beim Gänsekiel macht die Hand die Feder. Es ist ein gewaltiger Fortschritt zur Gleichheit, wenn die Fabrik allen Menschen die Federn gleich schneidet. Zur Zeit steht der Gelehrte noch über dem Kaufmann, und der Kiel läßt den Stahl nicht aufkommen. Wann aber einmal die Kaufleute und Fabrikanten das große Wort führen, dann wird jedermann mit Stahlfedern schreiben.«
Man hätte meinen sollen, Sibrat würde nun sofort selbst zur Stahlfeder gegriffen und dieselbe auch seinem Sohne gegeben haben. Allein er gab ihm umgekehrt die stärksten polnischen Gänsekiele; denn er wünschte sehnlichst, daß Belgicus ein Gelehrter werden möchte, und zwar ein Arzt. Er selber hatte in jungen Jahren Arzt werden wollen; darum hielt er jetzt auch den Handel mit Cholerapflastern und Senfkörnern für seinen richtigen, den Handel mit Kattun und Heringen dagegen für einen verfehlten Lebensberuf.
Und es ist ein so echt menschlicher Trostgedanke, daß der Vater in seinem Kinde ein Lebensziel erreicht sehen möchte, was er selbst nicht erreichen konnte; nicht nur unser Name lebt fort in unseren Kindern, auch ein Teil unseres Selbst webt in ihnen fort an der unendlichen Aufgabe der unsterblichen Menschheit. Und wir möchten so gerne ein kleines Stückchen dieses persönlichen Fortwebens in anderen noch mit Augen sehen!
Wann Sibrat den kleinen Belgicus Spatzen fangen, Mäuse sezieren, Regenwürmer zerschneiden, Schmetterlinge spießen und andere naturwissenschaftliche Tierquälereien treiben sah, dann dachte er: da regt sich der künftige Hippokrates!
Öfters aber sprach er zu dem Jungen: »Minister zu werden ist wohl schön, denn den Minister ehrt man am meisten; auch Rothschild zu werden wäre recht schön, denn man beneidet ihn am meisten; aber ein großer Arzt zu sein, ist doch noch viel schöner, denn auf den Arzt hofft man am meisten. In den schwersten Stunden, wann uns alle Minister und Rothschilde gleichgültig sind, hoffen wir nur noch auf den Arzt. Er tritt an das Schmerzenslager unserer Teuersten und erscheint uns als der einzige Helfer, wie ein Heiland. Freilich kümmern sich viele nachher nur wenig mehr um ihn, wenn er geholfen hat; das pflegt aber bei Heilanden überhaupt so zu gehen. Und Christus der Heiland erwies sich, wie schon der Name lehrt, heilend als der größte Wundermann, seine wirksamsten Wunder waren medizinische, und wenn er nicht die Blinden sehend, die Tauben hörend, die Kranken gesund und die Toten lebendig gemacht hätte, so würde das Volk an das Wunder seiner Wunder, an seine Erlösung, nicht geglaubt haben.«
Übrigens war »der Heiland als Heilkünstler« das einzige biblische Zitat, welches jemals aus Sibrats Munde kam. Er pflegte nicht in der Bibel zu lesen, schon aus dem triftigen Grunde, weil gar keine im Hause war, und den Besuch der Kirche überließ er den Bauern und alten Weibern. Er war ganz aufgeklärt.
Was er an Gemüt, an edler Leidenschaft, an idealem Streben in sich trug, das hatte sich alles ausschließend gesammelt in der hingebenden Liebe für seine Kinder. Vielleicht liebte er auch seine Frau nur noch um der Zwillinge willen. Er plagte sich übers Maß, damit's die Kinder gut hätten, und gar manchmal leuchtete sein sonst finsterer Blick so sonnig, wenn er das spielende Paar still belauschte und sich dachte, wieviel besser sie's doch hätten als er selbst in seiner Jugend und wie viel, viel besser sie's vollends gar in Zukunft haben sollten. Diese Liebe war seine Religion. Wären die Kinder gestorben, er hätte nicht mehr leben mögen.
Nun sollte man meinen, die Kinder müßten auch ihn besonders geliebt haben. Dem war aber nicht so: sie liebten die Mutter und fürchteten den Vater; denn so gut er's mit ihnen meinte, war er doch ein verschlossener Mann, der nicht freundlich sein konnte, und jähzornig dazu. Er wollte mit Gewalt wiedergeliebt sein, wie er mit Gewalt liebte; und bei Kindern wie bei großen Leuten kommt die heißeste Liebe unbegehrt. Wenn er von seiner Reise heimkehrte und die Zwillinge liefen ihm nicht jubelnd die halbe Gasse entgegen, dann gab er ihnen eine Ohrfeige rechts und links – Väter pflegten damals ihre Kinder überhaupt noch zu ohrfeigen –, weil sie ihn nicht jubelnd begrüßt hatten. Das nächste Mal versteckten sie sich gar, und nun war er entsetzlich gekränkt, daß die Kinder seine tiefe Liebe so gar nicht erwiderten.
Er ließ sie aufs beste unterrichten. Sie lernten beide gemeinsam Französisch bei einem Pariser Schreinergesellen, der damals in einer Biebricher Werkstatt arbeitete, Zeichnen und Malen beim Konditor und Klavier beim Kontrabassisten der Hofkapelle. Außerdem wurde Belgicus von einem Kandidaten der Philologie fürs Gymnasium vorbereitet, und Johanna lernte nebenbei das Lateinische mit bis zur dritten Konjugation. Jener vierzigjährige Kandidat hatte vor Zeiten in Göttingen wirklich Philologie studiert, aber niemals ein Examen gemacht, angeblich weil er viel zu gelehrt war, als daß ihn irgend jemand in Nassau hätte prüfen können.
Ein halbstudierter Vater und ein überstudierter Lehrer wäre vielleicht gefährlich für den Jungen geworden: allein er war so reich begabt, daß er trotzdem spielend erstaunliche Fortschritte machte. Wieviel verdanken wir einer guten Schule, und doch – wer sein Bestes in der Schule lernt, der ist alleweil nur ein mittelmäßiger Mensch, und die größten Meister sind oft genug aus der schlechtesten Schule hervorgegangen.
Aber warum war uns anderen Biebricher Kindern denn das Sibratsche Haus, wie ich oben sagte, das merkwürdigste in der ganzen Rheingasse?
Nicht wegen seiner langen und kurzen Waren, seiner Cholerapflaster und Stahlfedern, nicht wegen der Sonderlingsfigur des halbstudierten Krämers und noch weniger wegen der Zwillinge, die wir allesamt nicht leiden konnten, weil sie uns als Wunderkinder öfters zum Muster vorgehalten wurden und doch nicht stärker und gewandter waren wie wir gewöhnliche Schulbuben, auch nicht mit uns balgten und spielten, sondern vornehm von oben auf uns herabsahen.
Das Sibratsche Haus galt für ein Gespensterhaus, es sollte darin umgehen – darum war es uns das merkwürdigste Haus in der Rheingasse. In dem Gärtchen hinter dem Hause auf der Rheinmauer sah man mitternachts öfters Lichter aufblitzen und verlöschen, man hörte von dort herüber stöhnende Klagetöne, und wir zweifelten nicht, daß der finstere, weisheitsvolle Krämer mit seiner Pestapotheke und seiner mageren, abgehärmten Frau und den blassen Wunderzwillingen im intimen Verkehr mit den Gespenstern seines Gartens stehe. Das Wohnhaus selbst war alt und etwas windschief und lehnte an den eingangs erwähnten verwitterten Edelhof, der damals als ein Magazin für die herzogliche Hofhaltung diente, welches unter der Aufsicht meines Vaters stand. Dadurch hatte ich Gelegenheit, das Krämerhaus nicht nur von vorn, sondern auch von seiner gespenstigen Gartenseite kennenzulernen. Die Rheinmauer sprang dort mit zwei scharfen Ecken wie eine Bastei gegen den Fluß vor, und oben auf derselben stand ein geräumiges altes Gartenhaus, massiv aus Stein gebaut, welches früher ohne Zweifel zu dem Edelhof gehört hatte, in seinem jetzigen heruntergekommenen Zustand ein rechtes Lusthaus für Gespenster. Bei ganz seichtem Rheinstande konnte ich einmal, bis an die Knie im Wasser watend, die ganze Bastei umgehen und entdeckte im oberen Mauerwinkel derselben eine kleine Türöffnung, die nach außen unmittelbar in den Fluß führte, nach innen aber in einen engen dunkeln Gang mit Treppen, der augenfällig in dem Gartenhause mündete. Wann die adeligen Herren und Damen vor Zeiten oben im Gartenhause soupiert hatten, dann konnten sie bequem hier herab in den Kahn steigen, um noch eine schwärmerische Mondscheinfahrt auf dem Rhein zu machen. Aber jetzt sah der Eingang schmutzig und verfallen aus, und ich wagte mich nicht in den dunkeln Gang, sondern lief furchtsam wieder zurück. Übrigens hatte ich genug gesehen, um meine Phantasie mit den abenteuerlichsten Bildern zu sättigen.
Ein zweites Mal kam ich nicht so weit. Als ich eben bis zur Türe durchs Wasser gewatet war, erschallte oben von der Mauer der Drohruf: »Hehmeh! Hehmeh!« – und als ich hinaufblickte, sah ich oben einen Menschen, der mich mit geballter Faust furchtbar angrinste, und ergriff so eilig die Flucht, daß ich fast in den tiefen Strom geraten wäre.
Der Mann war der »Hehmeh«, – so nannte ihn das ganze Dorf; seinen eigentlichen Namen habe ich nie erfahren. Ein halb blödsinniger Mensch, hatte er durch eine Lähmung die Sprache verloren und konnte fortan nur noch das Wort »Hehmeh« hervorbringen, und so taufte man ihn denn nach dem einzigen Worte, welches er sprach, wie es die Seefahrer vordem bei den Pescherähs gemacht haben sollen. Er hörte übrigens ganz gut und faßte auch die Rede anderer richtig auf, sofern sie überhaupt in den engen Raum seines Gehirnes paßte. Alle Gefühle, Stimmungen, Eindrücke, Leidenschaften modulierte er mit wunderbarer Mannigfaltigkeit und oft ergreifender Kraft, er zürnte, drohte, jubelte, klagte in dem einzigen Worte »Hehmeh«. Ward er zornig –und die Gassenjungen, welche ihn auf Tritt und Schritt verhöhnten, brachten den Unglücklichen oft in schäumende Wut –, dann verfünffachte er die erste Silbe, und sein fürchterliches »Hehehehehemeh!« schallte weithin durch die Straßen; war er betrübt, dann zog und dehnte er seine zwei Silben in so klagendem, singendem tiefem Tone, daß es einem durchs Herz schnitt. Ich habe den ergreifenden Klang mancher hochbewunderten Sängerstimme gehört und wieder vergessen, aber den Ton, in welchem der »Hehmeh« klagte, höre ich heute noch. Der arme Mensch hatte nur zwei Silben, und doch gab ihm Gott, in diesen armen zwei Silben »zu sagen, was er leide«.
»Hehmeh« wurde im Sibratschen Hause als Packer und Ausgeher verwendet, und beim Abladen von Kisten und Fässern bewies er große Muskelkraft. Man lobte Herrn Sibrat, daß er dem Unglücklichen zu so nützlicher Tätigkeit verhelfe, allein das unheimliche Haus wurde durch dieses weitere Original nicht heimlicher.
In einer stillen Sommernacht lauschte ich einmal von fernher den seltsamen Tönen, die aus dem Hause leis herüberklangen. Aus dem Dachfenster, wo allein noch ein Licht brannte, sang der Lehrjunge: »Noch ist Polen nicht verloren«, und aus dem Garten tönte sekundierend dazu das schauerliche, langgezogene »Hehmeh! Hehmeh!« Begierigen Ohres sog ich den Gesang ein, Text und Melodie; denn es war die Zeit der nachwogenden Polenbegeisterung, der nachklingenden Polenlieder, obgleich Polen längst verloren war und die polnischen Flüchtlinge durch die deutschen Lande nach Frankreich zogen. Allein in Biebrich sang man sonst keine Polenlieder, weil der Herzog sehr russisch gesinnt war; Sibrats Lehrjunge dagegen war ein Mainzer, und die Mainzer waren sehr frei und sehr polnisch. Wie bezauberte mich's darum, durch die schweigende Nacht die verpönten Worte zu hören: »Polen macht sich frei, bricht die Tyrannei!« – der Lehrjunge sang übrigens: »bricht die Tür entzwei!« – – und: »Ja, wohl könnte ich Geister beschwören, die der Acheron besser verschlingt«, – der Lehrjunge sang: »die der Argwohn besser verschlingt«; denn im Geiste seines großen Landsmannes Johann Fischart, des »Menzers«, verdeutschte er sich die Fremdworte nach phonetischen Sympathien.
Zwischen dem Lied vernahm ich fernher leise Ruderschläge im Rhein. Sie kamen näher. Ein Kahn schien an der Wassertüre der Gartenmauer zu landen. Da erlosch plötzlich das Licht im Dachfenster, der Sänger verstummte mitten im Vers, Hehmeh schwieg. Totenstille – im Haus, im Garten, auf dem Flusse!
Was mochte das bedeuten?
Belgicus liebte die Einsamkeit. Statt an unseren Knabenspielen teilzunehmen, schlich er sich in Mußestunden in die Weidengebüsche, welche das Rheinufer oberhalb Biebrich säumten, und angelte. Die Mutter wollte ihm anfangs dieses Vergnügen wehren; sie fürchtete, der Junge möchte ins Wasser fallen, denn sie war eine sehr ängstliche Frau; wenn ein Gewitter am Himmel stand, dann ließ sie allemal die Rouleaux an sämtlichen Fenstern herunter, damit der Blitz nicht ins Zimmer schlage. Der Vater dagegen billigte Belgicus' neue Neigung, wenn sie auch nur vorübergehend, eine »fliegende Hitze« sei; man müsse alles lernen, um ein ganzer Mann zu werden, warum nicht auch das Angeln? Man trage an keiner Kunst schwer.
Die Zeit des Spezialismus war damals noch nicht angebrochen.
Belgicus angelte übrigens aus literarischen Beweggründen. Er hatte im »Pfennigmagazin« eine Abbildung vom Hause Isaac Waltons gesehen, des berühmten englischen Anglers, dessen Name sein Jahrhundert überdauert hat, bloß weil er so gut zu angeln und den Angelsport so sinnig und begeistert zu schildern verstand. Da Belgicus aber Waltons Buch nicht bekommen und sich recht gründlich hineinlesen konnte, so angelte er sich einstweilen in den Geist Isaac Waltons hinein.
Anfangs wurde ihm die Sache gar sauer. Von der glühenden Mittagssonne gebraten, von zahllosen Rheinschnaken zerstochen, saß er stundenlang am Wasser und fing nichts. Nach einiger Zeit brachte er aber etliche kleine Weißfische heim.
»Belgicus ist doch ein Glückskind!« rief der Vater, »und wer Glück haben soll, der fängt Forellen mit einer krummen Stecknadel!«
Allein Belgicus hatte in den Weiden unverhofft einen geschickten Lehrer gefunden, der obendrein die Weißfische für ihn fing. Doch schwieg er klugerweise von diesem Lehrer, nicht aus Eitelkeit, sondern aus Furcht.
Ein fremder Mann war plötzlich aus den Büschen zu ihm getreten und hatte lächelnd beobachtet, wie er vergebens die Angel im Wasser spielen ließ. Dann fragte ihn der Fremde, wem er zugehöre. Und als Belgicus antwortete: »Dem Kaufmann Sibrat«, da sagte jener: »Bist du Georg Sibrats Sohn, dann will ich dich lehren, wie man Fische fängt, damit du diese Kunst künftig auch einmal so gut verstehst wie dein Vater.«
Belgicus wußte nicht, was das heißen solle, denn sein Vater fischte gar nicht. Aber der Fremde zeigte ihm die richtige Art und hatte in wenig Minuten ein Fischchen an der Angel.
Doch als Belgicus sich den Mann nun genauer betrachtete, erschrak er sehr: es war Jakob Brubecher aus Mombach, der verwegenste, gewalttätigste und glücklichste Schmuggler am ganzen Rhein, der Führer einer großen Schwärzerbande, die man die »Schwarze Kommission« nannte im höhnischen Hinblick auf jene andere »Schwarze Kommission«, welche gleichzeitig in Mainz tagte zur Ausrottung der Demagogie im Deutschen Bunde; – Jakob Brubecher, ein Held im Volksmunde wie weiland Schinderhannes; denn Brubecher schmuggelte zum Besten des Publikums und zum Schaden der Staatskasse, die ohnedies schon immer zuviel hat, wie Schinderhannes auch nur die Reichen beraubte und die Armen beschenkte.
Belgicus hatte den Brubecher früher einmal über die Straße gehen sehen (man sah ihn bei Tag sehr selten), und die Gassenjungen waren in ehrerbietiger Entfernung hinter ihm dreingelaufen und hatten sich ihn gegenseitig von weitem gezeigt wie einen großen Herrn.
Und dieser Mann saß jetzt neben ihm und lehrte ihn Weißfische fangen, ja er plauderte recht gemütlich mit ihm, ganz wie andere gewöhnliche Menschen, und erzählte ihm von seinem früheren Soldatenleben, und als er nach einigen Tagen wiederkam und seinen Angelunterricht fortsetzte, erzählte er noch viel schöner wie neulich.
Brubecher konnte in der Tat viel erzählen, denn er hatte viel erlebt. Er trug bereits seine zweiundsechzig Jahre auf dem Rücken, aber er trug sie leicht und war stark und gewandt wie ein Dreißiger, wettergebräunt, mit tiefdurchfurchtem Gesicht, ein untersetzter, breitschulteriger Mann, der nicht gerade zum Verlieben aussah, sondern mehr zum Fürchten. Als Custine Anno zweiundneunzig Mainz eroberte, war Brubecher als Tambour in das Revolutionsheer getreten; – die Neigung, für die »Neufranken« zu trommeln, war damals ziemlich verbreitet auf dem linken Rheinufer. Custine verlor bald nachher den Kopf, aber Brubecher behielt den seinigen und seine Trommel dazu und marschierte und trommelte fort durch die Feldzüge der neunziger Jahre und zog mit Napoleon nach Ägypten und schlug die Trommel in der Schlacht bei den Pyramiden, während, wie bekannt, vier Jahrtausende auf ihn herabblickten. Als er dies erzählte, sah ihm Belgicus mit großen Augen in das runzelige Gesicht und glaubte immer noch etwas von jenem Weiheblick der Weltgeschichte in den Runzeln zu lesen.
Später ward Brubecher Korporal in der Armee des »großen Kaisers«, von welchem er bedauerte, daß derselbe nicht gleich ihm stets der »kleine Korporal« geblieben sei. Denn obgleich der treueste Verehrer Napoleons, blieb Brubecher doch durchaus Republikaner; was er zuletzt übrigens mehr nur in den Liedern aussprach, die er pfiff und sang, als in klaren Worten. Wenn er nämlich französisch aufgelegt war, dann sang er: »Les aristocrats à la lanterne«; fühlte er sich aber als Deutscher, dann sang er: »Fürsten zum Land hinaus!« – damals das verbotenste der verbotenen Lieder.
Die ganze Ordnung der Dinge, wie sie sich seit Napoleons Sturz in Deutschland und Europa gestaltet hatte, dünkte ihm so klein und elend, daß er's nicht einmal der Mühe wert hielt, darüber zu räsonieren. Dagegen machte es ihm Vergnügen, gegen die Gesetze der Fürsten und Staaten zu sündigen, die er nicht anerkannte. Er erwartete, daß baldigst eine neue Revolution, blutiger noch als die alte, den ganzen Trödel von vornehm und gering, von Ministern und Pfaffen, von Deutschem Bund und Preußischem Zollverein übern Haufen werfen werde. »Dann kommen wir und machen fertig, was dem Babeuf Anno fünfundneunzig mißlungen ist!«
Die letzten Worte brummte er in den Bart, und die vorhergehenden Ideen hatte er in die epigrammatische Form von Flüchen und Schwüren gekleidet, so daß der junge Sibrat ihren Sinn nur dunkel ahnte, zumal Brubecher sich fortwährend in seinem halb gebrummten, halb gefluchten Monologe unterbrach, um zu zeigen, wie man den Köder an die Angel stecken und die Rute schwingen und den Kork auf dem Wasser tanzen lassen müsse.
Der Alte redete übrigens immer nur von seinen Feldzügen und den gegenwärtigen schlechten Zeiten. Von seiner Schmugglerbande, bei der er's bis zum General gebracht, sprach er zu Belgicus' Erstaunen gar nichts, dagegen um so mehr von der »großen Armee«, bei der er's nur zum Korporal brachte. Die Genies sprechen überhaupt nicht gerne von der Kunst, worin sie Meister sind, sondern viel lieber von anderen Dingen, worin sie stümpern.
Auch entdeckte Belgicus nachgerade, daß Brubecher mit ihm angle, um zugleich recht unbeachtet die Gegend auszuspähen; denn aus dem Versteck des Weidengebüsches übersah er sowohl den Rhein wie den nahen Landgraben, die hessisch-nassauische Grenze. Aber der alte Schmuggler hatte doch auch offenbar daneben sein Vergnügen an dem aufgeweckten Jungen.
Und dieser fühlte sich von dem ganzen Wesen des kühnen, gefährlichen Mannes wie mit dämonischer Faust gepackt und brütete über seinen dunkeln Flüchen wie über Orakeln. Er war stolzer darauf, daß Brubecher ihn seiner belehrenden Unterhaltung gewürdigt, als wenn der Herzog selbst ihn angeredet und fischen gelehrt hätte. Allein er schwieg davon und vergrub den Stolz in seiner tiefsten Brust. Jedes Kind hat zwei Naturen, eine versteckte und eine offenbare. Die offenbare wird von Eltern und Schulmeistern sofort erkannt und zum Ausgangspunkte der Erziehung gemacht; die versteckte ahnen wir oft selber kaum, aber das Leben enthüllt und entwickelt sie unvermerkt, und sie verschlingt vielleicht zuletzt die offenbare, sei es uns zum Fluche, sei es zum Segen. Kinder haben's hinter den Ohren: wohl ihnen, wenn sie das ungeahnt Bessere hinter den Ohren haben!
Nach seiner offenbaren Natur war Belgicus ein Muttersöhnchen, ein Stubenhocker, der überm Bücherlesen und Bilderbetrachten das Laufen und Raufen, Spielen und Toben der anderen Kinder altklug verachtete; es fehlte ihm scheinbar der »böse Bub'« oder – mit Clemens Brentano zu reden – die »Schwernotsigkeit«. Und wer zwischen sechs und sechzehn Jahren nicht etwas vom bösen Buben oder Schwerenöter in sich hat, aus dem wird zuletzt nichts Rechtes. Allein der »böse Bub'«, der Dämon der Gewalt, die vertobt sein will, war doch bei Belgicus vorhanden, vielleicht um so mehr, je tiefer er versteckt lag. Und die Angellektionen des alten Brubecher weckten diesen Dämon.
Nach des Vaters Urteil war Belgicus ein Universalgenie: er hatte binnen zwei Stunden »Poniatowskys Tod in der Schlacht bei Leipzig« gemalt nach einer Lithographie, die er vor vier Wochen gesehen; er hatte ein Epos »Arnold von Winkelried« gedichtet, welches mit der fünften Strophe bereits ganz fertig war; und er spielte auf dem Klavier den »Wiener Charmantwalzer« von Strauß und sang dazu die »Letzten Worte« des Herzogs von Reichstadt: »Fahr wohl, mein junges Leben!« – (man sang damals noch Elegien auf Walzerweisen, gleichwie unsere heutigen »Tondichter« Grabmelodien zu Trinkliedern singen) –; kurzum, Belgicus trieb alle freien Künste, nur von der Kriegskunst wollte er gar nichts wissen. Er hatte niemals mit Bleisoldaten gespielt, beteiligte sich auch später nicht am Soldatenspielen der Nachbarskinder und ging der Biebricher Wachtparade geflissentlich aus dem Wege, – hierin von seinem Vater unterstützt, der durchaus ein Mann des Friedens war. Der alte Sibrat teilte die Kriegsmüdigkeit seiner Zeitgenossen. Wer 1833 im reifen Mannesalter stand, der hatte in seiner Jugend den Schrecken unablässiger Kriege erlebt, die sich Schlag auf Schlag folgten, wie an einem schwülen Sommertage Gewitter auf Gewitter. War nun endlich das Wetter auch nicht schön geworden, so herrschte doch Ruhe am trüben Himmel, und man bedurfte der Ruhe so sehr. »In Deutschland gibt's fortan keinen Krieg mehr«, pflegte Georg Sibrat zu sagen, und geradeso sprach damals die Frau eines weltberühmten Bankiers zu einem General, der an ihrem Tische speiste und von künftigen Kriegen redete: »Es gibt keinen Krieg mehr; mein Mann leidet's nicht!«
Auch Georg Sibrat wollte es nicht leiden und richtete darum seine ganze Pädagogik bei Belgicus auf den Friedensfuß; denn der Jugend gehört die Zukunft. Öfters sprach er zu dem Jungen in seiner gewohnten zärtlichen Weise: »Mein Sohn, du kannst werden, was du willst, Maler oder Dichter, Pfarrer oder Richter, aber du wirst einmal Doktor werden; du magst werden, was du willst; wenn du dir's aber einfallen lässest, Soldat werden zu wollen, dann nagle ich dich mit beiden Ohren an den Türpfosten!«
Belgicus dachte dagegen neuerdings im stillen: Kranke zu heilen, sei zwar ein schöner Beruf, aber die Grenzjäger zu Wasser und Land zu schlagen und bei Tag und Nacht zu überlisten, sei doch noch viel schöner. Und darum wolle er einmal ein Schmuggler werden, aber Schmuggler im großen, viel größer noch wie sein Vater ein Kaufmann im großen sei. Ein kleiner Schmuggler war offenbar nur ein Dieb, ein großer Schmuggler hingegen dünkte ihm so etwas wie ein Feldherr und Staatsmann. Er schmuggelt zwar auch nur Kaffee und Zucker, aber mit souveräner Macht und, gleich dem Brubecher, mit Ideen. Und Belgicus wollte glorreich zu Ende führen, was dem Brubecher doch offenbar nicht ganz gelang, nämlich zuerst den Zoll und dann den Deutschen Bund übern Haufen werfen und endlich die Armen reich machen und die Geknechteten frei.
So wurde Belgicus plötzlich wie ausgewechselt. Zum ersten Versuch schlug er einen Knaben nieder, der eine Katze quälte. Der Knabe war sonst viel stärker als er, aber »die Idee« gab dem Schwachen Kraft. Der knabenhaft männliche Drang des Wettens und Wagens, des Kämpfens und Siegens war in ihm erwacht, es regte sich eben jener göttliche »böse Bub'« (nicht der schriftdeutsche »böse Bube«), jener Schwerenöter, der sich im Leben zuletzt zur Energie der gesunden Tatkraft läutert oder ungeläutert uns als zuchtlos eigenwillige Menschen zugrunde richtet.
Wie konnte denn aber Biebrich, mitten im deutschen Binnenlande, weitab von unseren Außengrenzen gelegen, im Jahre 1833 der Schauplatz für die Heldentaten großer und kleiner Schmuggler sein?
Zum Verständnis dessen muß ich historisch ein wenig ausholen; denn der gebildete Leser weiß zwar sehr genau, wie es zur Zeit Karls des Großen in Deutschland aussah, aber wie es vor vierzig Jahren bei uns ausgesehen hat, das wissen viele gebildete Leser nicht ganz so genau.
Wo der Nassauer Löwe, in Marmor gemeißelt, von monumentalen Marmorgrenzsäulen stolz hinüberblickte auf den Hessen-Darmstädter Löwen und den preußischen Adler, die, beide nur auf Holztafeln gemalt, an rot- oder schwarzweißen Holzpfählen befestigt waren, da bestand im Jahre 1833 noch eine Zollgrenze. Die Erweiterung des ursprünglich bloß hessisch-preußischen Zollverbandes zum Deutschen Zollverein war zwar bereits stark im Anzuge; Bayern und Württemberg waren am 23. März jenes Jahres dem preußischen Verbande beigetreten, und man erwartete, daß nun auch die nassauischen Zollschranken fallen würden. Dies geschah jedoch erst im Dezember 1835. Mainz besaß einen Freihafen. Und so lag die Versuchung nahe, zwischen Mainz und Biebrich den ausgiebigsten Schmuggel zu betreiben und von dorther das Nassauer Land mit unverzollten Waren zu versorgen. Der Schleichhandel wuchs aber in dem Maße, als man den Anschluß Nassaus an den Zollverein und die Aufhebung des Mainzer Freihafens näher und näher heranrücken sah.
Wir erkennen heute in der Gründung des Deutschen Zollvereins ein nationales Ereignis, welches Segen verhieß und Segen brachte: der Zollverein bildete die Vorhalle zum Deutschen Reich. Dies ahnten damals auch schon Männer von großem Schnitt und weitem Blick. Aber die Mehrzahl der Menschen ist immer von kleinem Schnitt, sonst wären ja auch die anderen gar nicht groß.
Und so war denn den klein geschnittenen Leuten dieser langsam heranrückende Zollverein ein drohendes Gespenst, welches kurze und lange Waren noch einmal so teuer und das Geld dreimal so rar machen werde als bisher. Die Frauen zumal sahen mit dem Fallen der Zollschranken Zustände wie zur Zeit der Kontinentalsperre wiederkehren, so daß man den Kaffee wieder aus Gelberüben brauen und mit Honig süßen müßte. Wer es irgend mit seinem Geldbeutel und seinem Gewissen vereinen konnte, der kaufte sich geschmuggelte Kolonialwaren im Vorrat, und in manchen Biebricher Häusern sah es aus, als habe man sich für eine Belagerung verproviantiert.
Der so lebhaft betriebene Schleichhandel führte zu einem steten Kleinkrieg zwischen Schmugglern und Grenzjägern, wobei sich die Gegner mitunter sogar von Kahn zu Kahn beschossen, und eine solche »Seeschlacht«, im Winter zwischen den andrängenden Schollen des Eisgangs geschlagen, hatte besonderen Ruhm erlangt. Den Haupthelden der Schmuggler, Jakob Brubecher, lernten wir bereits kennen; man wußte nicht, was bei ihm größer sei, sein Mut, seine List oder sein Glück. Er hatte sich noch niemals erwischen lassen, obgleich ihn jedes Kind als den Schmugglerkönig kannte und ihm ein ebenbürtiger Gegner in der Person des Oberjägers von der Grenzwache, Christoph Missel, gegenüberstand. Dieser Missel, ebenso schlau als kühn, hatte schon gar manchen armen Teufel abgefaßt, der auf eigene Faust ein bißchen schmuggelte, allein er trachtete vergebens, die »Schwarze Kommission« mit ihrem großen Führer zu fangen.
Brubecher sicherte seine Unternehmungen, die er »Kampagnen« nannte, durch eine ganz feine Strategie. Zu Land schmuggelte er wenig und ließ dort seine Leute häufig nur zum Schein umherlaufen, um die Aufmerksamkeit der Zolljäger vom Rheine abzulenken. Denn die großen Aktionen wurden immer zu Wasser ausgeführt. Auf leichten, ganz schmal gebauten Dreiborden, sogenannten »Seelenverkäufern«, arbeiteten sich die Schmuggler in Sturm- und Gewitternächten, ja sogar beim Eisgang, keck und rasch durch die Flut, wobei ihnen die Zöllner mit ihren schweren Dienstnachen nicht nachkommen konnten.
Das Hauptgeheimnis Brubechers lag aber, wie er's militärisch ausdrückte, in den drei »Stützpunkten seiner Operation« – der Petersau, dem Wörth und – Sibrats Garten. An diesen drei Orten hatte er Verstecke für Mann und Fracht und zugleich seine Späher. Oberhalb Biebrich gegen das rechte Ufer liegt die Petersau, eine langgestreckte Insel, deren Steindämme und dichte Weidenbüsche mancherlei Unterschlupf boten, und schräg gegenüber das Wörth, ein kleineres, damals ganz bewaldetes Eiland. Das Wörth war nassauisch, die Petersau hessisch; die Grenze lief mitten durch den Rheinarm, der beide Inseln trennt. Steuerte nun Brubecher von Mainz nach Biebrich, und es wurde ihm ein nassauisches Zollschiff signalisiert, so warf er seine Fracht in die Büsche der Petersau und fuhr den Verfolgern leer entgegen, während seine auf der Insel versteckten Genossen die Waren aufnahmen, quer über die Insel trugen und von dort in einem bereitstehenden Kahn hinter dem Rücken der Zollwächter ans nassauische Ufer brachten, indes Brubecher mit dem Zollschiffe Fangemännchen spielte. Drohte Gefahr von der Mainzer Seite her, so trieb er dasselbe Spiel bei dem Wörth. Nur durch gleichzeitige Besetzung der beiden Inseln, des Landufers und des Rheinarmes hätte man ihn sicher fangen können. Dazu fehlte es den Hütern des Gesetzes aber an Mannschaft und Schiffen; Brubechers Streitmacht war ihnen in beidem doppelt überlegen.
Das schwierigste blieb aber trotzdem doch immer die Landung und Bergung in Biebrich. Nicht ohne Grund glaubte man, daß es in Sibrats Garten spuke, denn lichtscheue Gestalten gingen dort oft genug um; diese Gespenster waren aber nicht bloß Schmuggler, sondern auch Zollwächter, und beide fanden es in ihrem Interesse, den Gespensterglauben zu verbreiten und dadurch störende Neugier von dem Gärtchen auf der Mauer fernzuhalten. Beide arbeiteten nämlich dort miteinander, nebeneinander, ja die Zollwächter tanzten den Schmugglern recht eigentlich auf den Köpfen, und diese landeten und bargen ihre Waren fast niemals im Garten, außer wenn die Zollwächter zugegen waren. Sie schmuggelten nicht unter den Augen, auch nicht hinterm Rücken, wohl aber unter den Füßen ihrer Verfolger. Dies war der Humor von der Sache und Brubechers Meisterstück; ohne Sibrats passive Assistenz hätte er es allerdings nicht ausführen können.
Herr Georg Sibrat galt nicht nur für einen friedliebenden, sondern auch für einen sehr gesetzliebenden Mann. Er verkaufte nur richtig verzollte Waren und eiferte gerne mit sittlicher Entrüstung gegen den heillosen Schmuggel, der dem ehrlichen Kaufmann das ganze Geschäft verderbe, mit Ausnahme der Choleraartikel. »Denn die gehen über den Horizont des rohen Schmugglervolkes«, wie er hinzufügte.
Ganz Biebrich folgte dem Kampfe der Grenzjäger und Schleichhändler, wie die Zuschauer einem Wettrennen folgen, und es wurden viele Flaschen Wein verwettet, ob endlich Brubecher oder Missel, ob Freiheit oder Gesetz, wie man sich ausdrückte, siegen würden. Herr Sibrat hatte sechs Flaschen auf das Gesetz verwettet, auf den Sieg Christoph Missels, – sechs Flaschen Hosenberger, eigenes Gewächs.
Dieser »Hosenberger« verdient im Vorbeigehen ein Wort wehmütiger Erinnerung; es ist eine »Marke«, die im Weinhandel nicht mehr gefunden wird. Biebrich-Mosbach hatte vor vierzig Jahren noch seinen eigenen Wein; er wuchs am Hosenberg, einem sanften Abhang zwischen der Wiesbadener Chaussee und der Armenruh-Mühle. Jetzt sind dort die Weingärten verschwunden, und wo früher die beste Lage, da liegt jetzt der neue große Kirchhof. Die Wormser Liebfrauenmilch wächst auf ehemaligen Gräbern; warum soll man am Rheine nicht auch umgekehrt Gräber in ein ehemaliges Rebland graben, welches freilich keine Liebfrauenmilch hervorbrachte?
Sibrat hatte übrigens nicht nur sechs Flaschen Hosenberger auf den endlichen Sieg des Gesetzes und des Oberjägers Missel gewettet, sondern er trank auch häufig mit diesem Mann eine Flasche des edlen Gewächses, und zwar abends in seinem Garten.
Da nämlich dieser Garten, wie wir wissen, gleich einer Bastei das Ufer beherrschte, so hatten sich die Zollwächter mit Zustimmung des loyalen Besitzers dort einen Späheposten eingerichtet. Sie landeten beim Pförtchen an der Mauer, stiegen durch den dunkeln Gang zum Gartenhaus hinauf, belauschten die anstoßende Lände und hatten dort auch wirklich schon öfters kleine Schmuggler erwischt, Dilettanten und Pfuscher, wie sie Brubecher verächtlich nannte. Herr Sibrat leistete ihnen dann Gesellschaft mit seinem Weine, und so verbanden die Hüter des Gesetzes das Nützliche mit dem Angenehmen, – sofern man jenen Hosenberger – propre-crû – überhaupt etwas Angenehmes nennen konnte.
Zur Bedienung ging der Hehmeh ab und zu, und die Grenzjäger trieben ihren Spaß mit ihm, wobei sich derselbe jedoch immer sehr schweigsam verhielt. Nur wenn sie kamen, begrüßte er sie jubelnd mit einem weit über den Rhein hinschallenden »Hehmeh!« – offenbar aus Freude über ihre Gesellschaft, wobei er mittrinken durfte, – und wenn sie sich zum Aufbruch rüsteten, dann heulte er ein noch lauteres, aber ganz melancholisches »Hehmeh!« – offenbar aus Betrübnis über ihren Aufbruch. Ein weiteres »Hehmeh« war ihm aber zwischendurch nicht abzulocken, wie Missel meinte: aus Respekt vor seiner amtlichen Persönlichkeit.
Allein die Sache hatte einen ganz anderen Grund.
Der Begrüßungsruf Hehmehs wurde drüben auf der Petersau gehört, und Brubecher ließ nun seinen Nachen ganz leise den Strom hinabtreiben, landete im Rücken der Zöllner oberhalb Sibrats Garten und schob sein Fahrzeug längs der Mauer bis neben den Kahn der Grenzjäger. Dann schaffte er mit seinen Leuten die Waren in den dunkeln Gang, wo sie seitwärts durch eine Öffnung verschwanden, die nur bei genauestem Nachforschen hätte entdeckt werden können. Diese Öffnung führte zum Keller des Gartenhauses. Im Rheingau, wo der Keller die Hauptsache und das Haus mitunter nur eine Zugabe zum Keller ist, hatten sogar die alten Gartenhäuschen ihren Keller. Wir Modernen haben es erstaunlich weit gebracht in der Kunst, uns das Leben sauer zu machen, wir graben also auch keinen Keller mehr unters Gartenhaus; unsere Vorfahren aber, Virtuosen der entgegengesetzten Kunst, gruben solche Keller: sie wollten ihren Wein überall gleich kellerfrisch zur Hand haben.
Sibrat hatte zufällig den alten Keller entdeckt, von welchem niemand im Hause wußte, und die Schmuggler hatten sich dann zu mehrerer Bequemlichkeit den versteckten Zugang gebrochen.
In diesem Keller bargen sie ihre Waren, indes die Zollwächter über ihren Köpfen saßen und nach rechts und links ausspähten, um sie zu fangen. Durch ein kleines Loch in der Mauer, welches von überhängendem Stachelbeergesträuch verhüllt war, konnte Brubecher jedes mitunter recht instruktive Wort seiner Verfolger hören, und er machte ganz leise seine Witze dazu. Und während jene oben den Hosenberger tranken, tat er ihnen unten in unverzolltem Burgunder Bescheid.
Sobald aber Hehmeh das Zeichen des Abschieds stöhnte, schlichen die Schmuggler zu ihrem Nachen und verschwanden um die Ecke, während Herr Sibrat schon dafür sorgte, daß die Zöllner möglichst langsam den Gang hinab auch ihrerseits zum Wasser kamen. Bei gelegener Zeit wurden dann die Vorräte des geheimen Kellers durch Brubechers Leute einzeln an ihre Besteller befördert.
Herr Sibrat tat dies beileibe nicht; er handelte nur mit verzollten Waren, wie er sehr oft und ganz richtig beteuerte; er hatte dem Jakob Brubecher nur seinen Gartenkeller vermietet und rührte die geschmuggelten Kaffeesäcke und Zuckerhüte mit keinem Finger an. Da aber dieses fremde Warenlager in eigenem Keller seinem eigenen Handel mit den ehrlich verzollten Waren schwere Konkurrenz machte, so bezog er von Brubecher tausend Gulden Kellermiete fürs Jahr, und der kleine Keller trug ihm mehr ein als sein ganzer Kram mit Inbegriff von Cholerapflaster und Senfsamen.
»Ist das nicht ein ehrlich Geschäft?« so fragte Herr Sibrat manchmal sich selber. »Und wer kann mir Strafbares vorwerfen? Als guter Kaufmann vermiete ich meinen Keller, und als guter Bürger traktiere ich über dem Keller die Organe des Staats mit Hosenberger. Hehmeh begrüßt diese Organe laut und herzlich und weiß übrigens nichts von dem Kellerleben unter seinen Füßen, und wenn er's wüßte, so könnte er's weder mündlich noch schriftlich zu Protokoll geben, denn sprechen kann er nur sehr wenig und schreiben gar nicht.«
Also war Herr Georg Sibrat doch ein recht heuchlerischer Spitzbube?
Er würde es sehr übelgenommen haben, wenn man ihn so genannt hätte, obgleich er sich manchmal in stillen Stunden jene impertinente Frage selber stellte. Dann meinte er aber, es komme nicht sowohl darauf an, was man tue, als warum man etwas tue.
Warum nahm er denn den Sold des Hehlers und war in seinem Hause der ehrliche Mann, in seinem Garten dagegen der Spitzbube?
Es gibt viele Gründe, aus welchen die Menschen nichtsnutzig werden, allein keiner dieser landläufigen Gründe war hier ersichtbar. Sibrat trank nicht, spielte nicht, verschwendete nicht; seine Frau putzte sich nicht und lebte noch sparsamer als er selbst. Sibrat war auch nicht vom Teufel der Habgier besessen, der nach Geld jagt, um immer mehr Geld zählen zu können. Hätte er ein bißchen mehr von diesem Teufel im Leibe gehabt, so würde er ein besserer Kaufmann geworden sein.
Er sammelte und zählte allerdings Geld mit Leidenschaft, aber er sammelte und zählte es nicht für sich. Neben dem geheimen Keller im Garten besaß er eine geheime Kasse im Hause; die tausend Gulden Kellermiete flossen alljährlich in diese Kasse, und dort blieben sie – höchst unkaufmännisch – ruhig liegen in lauter guten Brabanter und Berliner Talern. Die geheime Kasse mußte den geheimen Keller entsühnen; denn Sibrat nahm den Hehlerlohn von den Schmugglern nur – für seine Kinder. Er hatte für sich resigniert, aber für die geliebten Kinder sollten sich die Zukunftsträume erfüllen, die ihm das Leben unerfüllt gelassen. Die Kinder sollten viel vornehmer, viel reicher, viel gelehrter werden als ihr Vater. Und dazu gehörte viel Geld. Sibrat wagte drei Jahre Zuchthaus, wenn nur sein Belgicus dereinst einmal der Leibarzt eines regierenden Fürsten würde; er hätte sechs Jahre gewagt, wenn er dadurch seiner Johanna dereinst die Hand eines Barons gesichert hätte. Alle Vorzeichen schienen ja so günstig. War der Junge ein Universalgenie, dann war das Mädchen bildschön und so natürlich manierlich; gewiß, Johanna mußte ihr Glück in der Welt machen, wenn nur das leidige Geld nicht fehlte!
Und Johanna hatte so viel Sinn und Streben für das »Höhere«. Als unlängst die Großfürstin Helene zu Besuch am nassauischen Hofe war, gab es eine große Galatafel, und Johanna durfte, hinter einem Aufbau von Treibhauspflanzen versteckt, das prächtige Schauspiel fünf Minuten lang betrachten. Sie glaubte, im Himmel zu sein. Ach, es ist so schön, vornehme Leute essen zu sehen! Die Großfürstin überstrahlte alles; sie trug ein Diadem von Brillanten, deren Lichtfunken in allen Regenbogenfarben blitzten und glitzerten. Man sprach in Biebrich lange noch von diesem Diadem; man vergaß darüber sogar den Zollverein. Aber die Großfürstin war doch zu blendend, zu sonnengleich für Johannens Auge. Dauernder fesselte sie eine russische Hofdame, die noch viel schöner war als die schöne Großfürstin, einfacher zwar gekleidet, aber doch hochfein in weit ausgeschnittenem rosenrotem Atlaskleid, mit mächtigen runden Ballonärmeln an den reizenden Armen und einem hochaufragenden Giraffenkamm im rabenschwarzen Haar.
Johanna träumte fortan Tag und Nacht von dieser Hofdame, von dem Giraffenkamm und den Ballonärmeln; sie träumte zuletzt sich selbst als eine solche Hofdame. Es ist freilich leichter in dieser Welt, daß ein korsischer Advokatensohn Kaiser als daß eine deutsche Krämerstochter Hofdame werde. Aber die Phantasie eines Kindes kehrt diese ganze Welt unterst zu oberst, sie überspannt und überfliegt alle Schranken dieser Welt um so sieggewaltiger, je weniger sie dieselben kennt. Glückselige Zeit, wo unsere beseligende Einbildung noch so riesengroß sein kann, weil unser qualvolles Wissen noch so zwergenhaft ist! Und ist zuletzt selbst der gereifte Mann anderswie glücklich als in kindlicher Einbildung?
Ganz verstohlen und verschämt sprach Johanna sogar mit Belgicus von ihren Träumen; denn die Zwillinge hatten kein Geheimnis voreinander. Sie meinte, Hofdame könne sie zwar niemals werden, aber doch vielleicht etwas Ähnliches, wenn es nur der Vater noch höher hinauf bringe. Und der Vater pflege öfters zu sagen, in anderen Staaten mache man nicht studierte Beamte, die selber gar keine Finanzen haben, zu Finanzministern, sondern ausgezeichnete Kaufleute, Männer von Fach und Geld, und das sei auch das richtige. Vielleicht werde der Vater einmal irgendwo Finanzminister, und dann werde auch sie ein vornehmes Fräulein und könne Ballonärmel, Giraffenkamm und ein Rosakleid tragen, so schön wie die russische Hofdame.
Der Vater hatte von diesem Kindergerede gehört. Es schnitt ihm wie ein Messer durch die Seele: er, ein Hehler des Jakob Brubecher und künftiger Finanzminister! Er schämte sich nicht vor sich selbst, aber er schämte sich vor seiner Frau und seinen Kindern. Denn Frau und Kinder hielten ihn für einen exemplarisch ehrlichen Mann. Es beruhigte ihn, wenn andere Leute seine Ehrlichkeit priesen; wenn er aber die arme unwissende Frau und die Kinder so ganz selbstverständlich auf seine Ehrlichkeit bauen sah, dann erschrak er im Innersten.
Wie im Wirbel drehten sich seine Gedanken: »Ohne den geheimen Keller und die geheime Kasse muß Belgicus Krämer werden wie ich, und Johanna wird einmal, wenn's hoch kommt, einen Krämer heiraten.«
Er beschloß, den Keller auszubeuten, bis genug Geld gewonnen sei für das Studium des Jungen und die Aussteuer des Mädchens. Aber keine Stunde länger. Nachher wollte er ganz gewiß wieder ehrlich werden, ehrlicher als irgendein Mensch in ganz Biebrich.
Allein wenn das Geheimnis des Kellers vorher verraten wird? – »Dann wandre ich nach Diez, um drei Jahre lang Marmor zu sägen, Belgicus wird ein Schuhflicker, und Johanna muß dienen gehen.«
Vielleicht konnte sich die Sache auch milder gestalten, und er kam nicht ins Zuchthaus nach Diez zum Marmorsägen, sondern nur ins Korrektionshaus nach Eberbach, um Wolle zu spinnen. Und in Eberbach spann man viel angenehmer, als man in Diez sägte. Aber dies war ihm völlig gleichgültig – so wie so, Diez oder Eberbach – Belgicus wurde dennoch ein Schuster, und Johanna mußte dienen gehen.
Dieses Schreckenswort entschied. Er beschloß fortzufahren, wie er begonnen. Aber sowie der letzte unerläßlich notwendige Brabanter Taler in der geheimen Kasse war, dann wurde der Keller zugeschüttet, der Eingang vermauert, und der Garten durfte statt der silbernen Taler nur noch goldene Aprikosen liefern, die im reinsten Seelenfrieden verzehrt wurden.
Sibrat atmete tief auf, wenn er an diesen Seelenfrieden der Zukunft dachte.
Im Oktober starb Sibrats Frau. Sie hatte lange gekränkelt, und doch kam ihr Tod unerwartet.
Ihr stilles Walten hatte man kaum bemerkt; man bemerkte es erst, da es aufhörte. Sie war eine brave Frau gewesen, gottesfürchtig, fleißig, selbstlos, bescheiden in ihrem Streben wie in ihrer Bildung. Sie hielt die Fehler ihres Mannes für Vorzüge, welche sie nicht verstehe: ohne diese rührende Selbsttäuschung würden gar viele Frauen ihren Männern davonlaufen.
Obgleich zehn Jahre jünger als ihr Mann, war Frau Sibrat doch zu alt für ihn. Durch die Tradition des Elternhauses gehörte sie noch der friedlichen, genügsamen alten Zeit, ihr Mann hingegen der friedlosen, gärenden, ringenden neuen. Es gibt ein Lebensalter des Taufscheins und ein Lebensalter der Weltanschauung; und kraft dieses Doppelalters sind nicht selten die Jungen alt und die Alten jung.
Frau Sibrat hatte ihren Mann nicht glücklich gemacht, und doch wurde er von ihrem Tode tief erschüttert. Die Kinder waren trostlos. Die Mutter war für den Vater in vielen Stücken beschränkt gewesen und beschränkend; aber in der Liebe für ihre Kinder war sie schrankenlos, und Kinder haben oft eine tiefere Fühlung für die Liebe, welche ihnen unverdient und ungesucht geboten wird, als große Leute.
Aber die Kinder trauern auch anders wie die Erwachsenen; sie trauern hoffnungsfreudiger. Kindertrauer ist Regen im Sonnenschein.
Es war am Abend nach Frau Sibrats Todestage.
Im Sterbezimmer lag die Leiche bereits im Sarge; – unser letztes Haus wird am geschwindesten gebaut.
Alle Fenster waren gleich nach dem Tode geöffnet worden, damit die Seele hinauskönne, und standen fortan Tag und Nacht offen, und des Nachts brannte eine Lampe, und die Leichenfrau wachte im Zimmer.
Die beiden Kinder saßen in dem Kämmerchen nebenan im Dunkeln; bei der herrschenden Verwirrung kümmerte sich niemand um sie.
Ab und zu schlüpften sie hinüber zur Mutter, die so friedlich schlummernd im Sarge lag, umhüllt vom langen weißen Totenhemd, und die Blumen des Spätherbstes lagen zu ihren Häupten und Füßen.
Das Leben war ihr schwer gewesen, der Tod leicht: man las beides auf ihrem Gesichte.
Und den Kindern schien die Mutter im Sarge viel schöner als je im Leben. Sie meinten, es müsse doch unaussprechlich süß sein zu sterben; sie hätten selber sterben mögen, um auch so verklärt dazuliegen im reinen weißen Linnen zwischen Blumen.
Und wenn sie sich satt gesehen an der toten Mutter, dann schlüpften sie wieder zurück in ihr dunkles Kämmerchen und hielten sich umfangen und sprachen in wundersamen Gefühls- und Gedankensprüngen – wie Kinder pflegen.
Der Abendstern trat über den Giebel des Nachbarhauses.
»Vielleicht ist die Mutter jetzt da oben auf jenem Sterne«, sprach Johanna, »und sieht von dort auf uns zum Fenster herein.«
»Oder vielleicht ist sie geisterweise hier bei uns in der dunkeln Stube«, meinte Belgicus, »denn die Toten können uns nahe sein, ohne daß wir's spüren.«
»Aber die Mutter ist ja doch im Himmel!« entgegnete das Mädchen – ganz leise, damit die Mutter nicht gestört werde, die draußen schlief.
»Der Himmel ist überall, wo selige Geister sind«, erwiderte der Bruder noch leiser, »und die Mutter ist jetzt ein seliger Geist, der uns umschwebt, ein Engel, der uns schützt. Denn es ist ja der Beruf der Engel, die Menschen zu schützen, und wen sollte die Mutter lieber beschützen wollen als uns beide?«
»Wenn wir das nur gewiß wüßten«, sagte Johanna weinend, – »dann brauchten wir nicht zu trauern.«
»Wir trauern auch nur, weil wir die Mutter nicht mehr sehen und hören können, wir trauern um uns, nicht um die Mutter«, belehrte der Knabe.
»Aber warum wird denn die Mutter frühmorgens bei Sonnenaufgang begraben«, fragte Johanna, ihre Tränen trocknend, »und nicht in der dunkeln Nacht, wie neulich der Hofmarschall? Ach, das war so herrlich, wie sie den Sarg auf Servietten trugen und mit Flambeaux durch ganz Biebrich und Mosbach, und der Sarg war so groß und schwer, daß ihn die Träger kaum schleppen konnten!«
»Das verstehst du nicht, Johanna! Die Adeligen begräbt man nachts bei Fackelschein, und acht Mann tragen den Sarg auf Servietten, was sehr schwer ist; die Bürgerlichen aber kommen am helllichten Tage ins Grab, und man trägt den Sarg auf der Bahre, wozu nur vier Mann nötig sind. Die Adeligen kommen dann auch auf den adeligen Kirchhof, der ist in der äußersten Ecke an der Mauer, schräg dem Armensünderwinkel gegenüber, wo die Vagabunden liegen, die man im Chausseegraben tot gefunden hat. Zwischen diesen und den Adeligen in der Mitte liegen dann die Bürgerlichen.«
»Aber dann käme ich ja gar nicht neben die Mutter, wenn ich einmal adelig werden sollte«, meinte Johanna tief betrübt.
»Bis du einmal adelig wirst«, entgegnete Belgicus, »wird überhaupt gar kein Unterschied zwischen Adeligen und Bürgerlichen mehr sein. Dann wird auch der geringste Mann mit Flambeaux und in Servietten begraben werden, und alles wird sich in der Mitte zusammenfinden.«
Johanna staunte über diese Rätselworte ihres Bruders; mit offenem Munde sah sie ihn schweigend an.
Belgicus aber war nun ins rechte Fahrwasser gekommen, und da gemeinsames Leid die Zunge löst, so enthüllte er jetzt zum erstenmal der Schwester seine jüngsten geheimsten Gedanken, die er aus den Gesprächen mit Brubecher gesogen, und erzählte ihr, daß er einmal ein großer Schmugglerhauptmann werden und die Welt umkehren und verbessern wolle, wie man's Anno neunzig in Paris versucht und nicht fertiggebracht habe und wie es auch der Brubecher im Sinne trage; allein der sei doch nicht ganz der rechte Mann und auch schon zu alt dazu.
Johanna fand den neuen Lebensplan ihres Bruders abscheulich, sie wußte sich vor Entsetzen darüber kaum zu fassen und bekämpfte ihn – bald leise, damit es die Mutter nicht höre, bald recht laut, damit es der unglückselige Bruder um so deutlicher hören solle, – in den beredtesten Worten. Zuletzt rief sie: »Und wenn der Vater einmal Finanzminister wird und du bist ein Schmuggler, dann muß er dich, seinen eigenen Sohn, in den Brummstall sperren lassen!«
Der »Brummstall« empörte Belgicus aufs tiefste und entfesselte seinen hellen Zorn.
In Biebrich bezeichnete man mit diesem Namen damals das einzige Zivilgefängnis des Ortes, welches allerdings einem Stalle verzweifelt ähnlich sah und wo auch genug gebrummt wurde, Personen aller Art, die augenblicklich dingfest gemacht werden mußten, wurden dort bis auf weitere Sortierung provisorisch zusammengesperrt: Landstreicher und Verbrecher, Tobsüchtige, Schwerbetrunkene, Demagogen, lüderliche Dirnen, Schmuggler, Bettelleute und dergleichen, – so daß dieser Brummstall allerdings ein für Gentlemen nicht ganz schickliches Haftlokal und Belgicus' Entrüstung begreiflich war. Das Zuchthaus war entschieden anständiger.
Allein im Feuer der Begeisterung erklärte Belgicus zuletzt, daß er selbst vor dem Brummstall nicht zurückschrecken werde. Er meinte, dort habe schon manche verkannte Größe gesessen, wie unlängst der verrückte Maurermeister Keyser, den man bloß darum hineingesteckt, weil er sich für den Kölner Dombaumeister hielt und in den Schluchten des Häßler den Kölner Dom aus Lehm auszubauen begonnen hatte. Übrigens sei auch schon mancher, eh' man sich's versah, aus dem Brummstall ausgebrochen. Erst vorige Woche hatte man einen rebellischen Schornsteinfegerjungen eingesperrt und dabei übersehen, daß der Kamin nicht von unten vergittert war. Als der Polizeidiener des anderen Morgens dem Arrestanten sein Frühstück bringen wollte, saß derselbe auf dem Dache neben dem Schornstein und sang mit heller Stimme: »Wohlauf, wohlauf! der Tag erwacht, ihr Brüder!« aus der »Stummen von Portici«; – denn auch die Kaminkehrerbuben waren damals in Biebrich nicht ohne Bildung.
»So würde ich auch einmal ausbrechen« – rief Belgicus –»und Tausende mit mir, wenn man uns einsperren sollte; und in ganz anderem Sinne werden wir dann in den neuen Morgen hineinsingen: ›Der Tag erwacht, ihr Brüder!‹«
Allein Johanna gab sich nicht überwunden. Ganz leise gemahnte sie den Bruder an die geisterweise Gegenwart der toten Mutter, die nun solche Worte von ihm höre und darüber tief betrübt werde in ihrer Seligkeit. »Sie ist in Frieden eingeschlafen und hat zuletzt noch gesagt, daß wir gute Kinder seien, die allezeit ihr Glück gewesen, und daß sie uns getrost dem strengen, aber doch so guten Vater hinterlasse, der uns das rechte Vorbild geben und uns zu braven und Gott wohlgefälligen Menschen erziehen werde, damit wir uns vereint im Himmel alle wiedersehen könnten. Waren das nicht ihre letzten Worte?«
Als Johanna so gesprochen und Belgicus verstummte, da hörten beide ein leises Geräusch im dunkeln Kämmerchen, wie wenn jemand vorüber- und hinaushusche.
Sie erschraken zum Tode und faßten sich an den Händen und blickten ringsum. Es war nichts zu sehen.
Johanna sammelte sich zuerst. Sie öffnete die Tür des Sterbezimmers ein klein wenig und spähte nach dem Sarge: – die Tote schlummerte in Frieden fort; die Wächterin war bei ihrem Lämpchen eingenickt. Die Stille der Nacht, des Schlafes und des Todes ruhte auf dem matt erhellten Raume.
Noch zitternd eilten die Kinder hinweg und legten sich schweigend zu Bett.
Belgicus steckte den Kopf tief ins Kissen; allein er konnte die ganze Nacht nicht schlafen.
Auch ein anderer noch hatte eine schlaflose Nacht – der Vater!
Er war vorhin unvermerkt im dunkeln Kämmerchen zu den Kindern getreten und hatte ihr ganzes Gespräch belauscht. Als Belgicus seine Schmugglerpläne enthüllte, stand er wie vernichtet vor Überraschung und machtlosem Zorn. Er wollte hervortreten, dem ungeratenen Sohne fürchterlich ins Gewissen reden, ihn züchtigen wie nie zuvor. Da hatte Johanna die milden Worte von der toten Mutter entgegnet, die dahingefahren sei im tröstlichen Glauben an die Zukunft ihrer guten Kinder und im gewissen Hoffen, daß der brave Vater sie durch Lehre und Beispiel zum Himmel erziehen werde.
Nun aber war es ihm mit einemmal unmöglich, dem Sohne gerade jetzt zu predigen, wo er sich selbst vielmehr die Predigt hätte halten sollen; oder den einfältigen Jungen über Vorsätze zu züchtigen, wegen deren Ausführung er, der gescheite Mann, sich selbst hätte züchtigen müssen. – Er war rasch wieder zur Türe hinausgeschlichen, und die Kinder hatten das Geräusch gehört. –
– – Am frühen Morgen bei Sonnenaufgang wurde Frau Sibrat begraben. Die Kinder hatten mitgehen wollen, aber sie mußten zu Hause bleiben: – »Kinder gehören nicht an ein offenes Grab«, hatte der Vater gesagt. Außer ihm selbst und einem Nachbar, den er gleichsam als Zeugen gebeten, folgte kein Mensch dem Sarge. Man nannte dies damals am Rhein ein vorurteilsloses Begräbnis nach der französischen Überlieferung aus jener Zeit, wo unser Herrgott in Frankreich abgeschafft gewesen war; und die frühe Tagesstunde wurde gerade deshalb gewählt, daß nicht etwa ungebeten ein Geleite von Freunden dennoch sich einfände. Vornehme Leute reisen inkognito, und so schien es auch besonders vornehm, inkognito zum Kirchhof zu reisen. Die Teilnahme eines Geistlichen, Glockengeläute und dergleichen wäre vollends spießbürgerlich und altväterisch gewesen, wenigstens beim aufgeklärten Bürgerstande; denn die Bauern und die Adeligen wurden allerdings wiederum unter geistlicher Assistenz begraben, letztere sogar in Servietten und mit Flambeaux.
Am Grabe angelangt, senkten die Träger hurtig den Sarg hinab. Die rotglühende Oktobersonne rang sich in demselben Augenblicke aus einer grauen Nebelwolke empor, da die gebrochene Menschenhülle in den dunkeln Schoß der Erde hinabstieg. Das Gras auf den Nachbargräbern war weiß bereift, so rein und weiß wie eine im Tod entsühnte treue Seele.
Sibrat trat an den Rand und blickte eine Weile in die Tiefe, und die Gedanken vergingen ihm – vielleicht im stillen Gebet.
Dann trat auch der Nachbar herzu, zog den Hut und sprach: »Sie war eine gute Frau!«
Die Totengräber aber hatten's eilig, sie traten rasch vor und begannen die Schollen auf den Sarg zu werfen.
Sibrat entfernte sich langsam, öfters zurückblickend; er ging schweigend neben dem Nachbar nach Hause. Doch nicht in jenem Schweigen der in eins verschlungenen Entsagung und Hoffnung, welches uns wohl oft von Gräbern heimbegleitet. Widerstreitende Gedanken und Gefühle anderer Art kämpften in ihm.
Das Gespräch der Kinder, welches er gestern abend belauscht, ließ ihm selbst auf diesem Gang keine Ruhe. Mit der Frau hatte er den Glückstraum einer schon halb vergessenen Vergangenheit begraben, und jenes Kindergerede drohte ihm nun auch das geträumte Glück der Zukunft zu vernichten. Er fühlte seine Schuld tiefer als je, fand aber nicht mehr die gewohnte Entschuldigung. Denn bisher hatte er sich eingeredet, daß er nur zum guten Zwecke, daß er sehr löblich sündige. Seine stete Angst war nur gewesen, ob er unentdeckt spitzbübischerweise Geld genug zusammenbringe, um seinen Sohn zum besten Manne zu machen, zu einem viel besseren, als er selber war. Und jetzt schien es plötzlich, daß der Sohn allerdings größer und selbständiger zu werden sich anlasse als er selbst, aber größer im Verbrechen und selbständiger in der Spitzbüberei.
Sibrat öffnete im Geiste seinen Mund zur Warnung und Zurechtweisung des Sohnes und konnte nicht sprechen; er erhob im Geiste den Arm zur Strafe und konnte nicht schlagen. Er beschloß, gleich heute den geheimen Keller zu schließen, allein er durfte es nicht: des Geldes war noch lange nicht genug, und Brubecher würde sich furchtbar gerächt haben, wenn er ihm mitten im besten Gang der Geschäfte die Türe gewiesen hätte.
Zu Hause angekommen, fand der Vater Belgicus und Johanna im Sterbezimmer sitzen, welches nun so ganz öde erschien. Die Fenster waren noch immer offen, die Kinder froren in der kalten Morgenluft und merkten's nicht. Nur Hehmeh hatte sich zu ihnen gesellt; er stand in der Ecke und fror gleichfalls und faltete die Hände, wie er's gelehrt worden war, und stöhnte ganz leise: »Hehmeh! Hehmeh!« Frau Sibrat hatte ihm viel Gutes getan, und es ahnte ihm dämmernd, daß er seine Wohltäterin verloren habe.
Der Vater konnte die Kinder nicht ansehen; denn er dachte: »Durch meine Schuld wird Johanna dienen gehen und Belgicus – nicht einmal ein Schuster werden!«
Er trat ins offene Fenster und blickte bald hinaus zum Himmel, der sich mit Nebelwolken füllte, bald scheuen Auges zurück in die leere Stube.
Da kamen die Kinder heran, und Belgicus faßte seine rechte und Johanna seine linke Hand, und nun konnte er ihnen ins Auge sehen und vergaß alle Gewissensbisse und Zukunftspläne, alle Gedanken an Bußpredigten und exemplarische Strafen; er zog seine verlassenen Kinder ans Herz und küßte sie beide.
Während er dann aber schweigend neben den Schweigenden stand, ging ihm ein helles Licht auf, was er zu tun habe. Er beschloß, mit Brubecher zu brechen und den Keller zu schließen, hernach aber dem Belgicus den Kopf gründlich zurechtzusetzen. Denn nun erst hatte er ja ein volles Recht hierzu.
Gleich heute noch mußte dies alles geschehen – oder spätestens morgen. Doch nein, auch dies war noch zu geschwind. Brubecher stand mitten in einer großen Lieferung, die erst binnen acht Tagen vollendet sein konnte. Auf so lange mußte er dem alten Geschäftsfreunde doch noch Frist geben. Dann aber vollführte er den guten Vorsatz ganz gewiß: in acht Tagen wurde das Tischtuch zwischen dem Schmuggler und Hehler entzweigeschnitten, und Georg Sibrat war wieder ein ehrlicher Mann, der dann auch seinen Sohn wieder aus reinem Herzen lieben und mit bestem Gewissen prügeln konnte.
Jener achte Tag war gekommen, den Sibrat fest entschlossen, aber doch mit innerlichem Zittern und Beben erwartet hatte; denn mit Brubecher zu brechen, war keine Kleinigkeit. Um sich Mut zu machen, behandelte er inzwischen die Kinder und ganz besonders den Belgicus äußerst zärtlich und liebreich.
Des Abends um sieben Uhr wurde Brubecher erwartet; – – es war schon tiefdunkle Nacht, Sturm und Regen, kein Stern am Himmel; der Rhein warf hohe Wellen.
Sibrat saß im Gartenhause und zählte die Minuten und dachte: »Wann noch eine Stunde vorüber ist, dann bin ich frei, oder der Schmuggler hat mich totgestochen.«
Hehmeh stand auf der Lauer.
Jetzt ließ er seinen Ruf so gellend erschallen, daß man ihn weithin durch das Windsgebrause hörte. Es war das Zeichen, daß die Schmuggler nahten und daß sie sicher landen könnten.
Nach wenigen Minuten erschien auch der Kahn an der Mauer, stark besetzt, ein größeres Fahrzeug als gewöhnlich.
Sibrat trat vor; er wollte Brubecher hier oben erwarten, denn es graute ihm, dem verwegenen Manne unten im Keller eine Eröffnung zu machen, die ihn in Wut versetzen mußte. Allein da nun der entscheidende Augenblick gekommen war, fand er Mut und Fassung wieder.
Die im Kahne Gelandeten waren jetzt heraufgestiegen. Ein langer, schmaler Mann ging voran und vertrat Herrn Sibrat den Weg – das war nicht Brubechers untersetzte Gestalt! – Sibrat prallte zurück. Der Fremde faßte ihn am Arme: – es war der Zollinspektor, von Christoph Missel und seinen bewaffneten Grenzwächtern gefolgt. Sie umringten den Kaufmann, daß er nicht rechts noch links ausweichen, auch kein Zeichen gegen den Rhein geben konnte. Zu gleicher Zeit drang Polizeimannschaft von der Straße her in den Garten, besetzte das Wohnhaus und brachte dorthin den Hehmeh zur Ruhe, der unablässig seinen Namen schrie, als ob er am Spieße stäke.
Sibrat stand mit schlotternden Knien. Sein guter Vorsatz war zu spät gekommen, nur um einen Tag, vielleicht nur um eine Stunde zu spät!
Der Zollinspektor befahl dem unglücklichen Manne, daß er ihn zu dem geheimen Keller unterm Gartenhaus führe. Als Sibrat von einem solchen Keller nichts wissen wollte, erklärte der Beamte, daß er den Zugang selber schon zu finden und zu öffnen wissen werde, aber Sibrat müsse ihnen dabei folgen.
Ein Verräter mußte sehr genaue Anzeige gemacht haben; denn die Zöllner fanden nun den Zugang augenblicklich, der ihnen so lange verborgen geblieben.
Bei dieser Entdeckung warf Christoph Missel seinem alten Freunde einen grimmigen Blick zu und rief: »Schämt Euch, Sibrat! Ich hielt Euch für treu wie Gold, und Ihr waret falsch wie ein Koburger Sechskreuzerstück!«
Allein der Beamte hieß ihn schweigen, und man machte sich mit aller Vorsicht daran, die geheime Pforte zu öffnen. Ein Grenzjäger zog seinen Säbel, ein anderer spannte den Hahn seines Karabiners. An dem äußeren Mauerloche sah man durch die jetzt laublosen Stachelbeerzweige Licht blitzen; es waren also Leute im Keller, und man erwartete einen gewaffneten Ausfall oder doch verzweifelten Widerstand Brubechers und seiner Bande.
Sibrat erschrak heftig über dieses Licht. Sollten die Schmuggler sich schon vorher, ohne daß er's gemerkt, in ihr Asyl begeben haben, welches ihnen nun zur Mausfalle wurde?
Das Türchen war von innen verriegelt; nachdem man jedoch mit einigen Kolbenstößen angepocht, wurde es geöffnet.
Die Vordersten drängten hinein, blieben aber dann erstaunt stehen; der eine fluchte, der andere lachte, und als der Inspektor und Sibrat herzukamen, bot sich ihnen ein höchst unerwartetes Bild.
Das von einem kleinen Lämpchen matt erleuchtete Gewölbe, sonst vollgepfropft mit Fässern und Ballen, war fast ganz leer; in der Mitte aber stand mit hoch erhobenem Kopfe – Belgicus.
»Wie kommst du hierher?« rief der Vater –; »Was will der Bube hier?« – der Inspektor; – »Wo ist der Brubecher?« – andere Stimmen.
Ein Grenzjäger sprang in den Hintergrund des Kellers und zog dort ein kleines Häuflein Waren hervor; mit Hast wurden sie untersucht: es war ein alter Kaffeesack voll aufgelesener Äpfel und etliche leere Selterwasserkrüge mit abgeschlagenen Henkeln, von blauem und weißem Papier umhüllt, daß sie fast wie kleine Zuckerhüte aussahen. – Sonst fand sich nichts.
Der Beamte faßte den Jungen am Kragen und fragte ihn, was er zu dieser Stunde hier für Kindereien treibe.
Belgicus antwortete ruhig, auf die Äpfel und Krüge deutend: »Ich spiele Brubecher und Missel, Schmuggler und Grenzjäger, wie ich's hier schon oft getan; – der Platz ist gar schön dazu – und dieses sind die zollbaren Waren.«
»Dann bist du wohl Missel«, fragte der Beamte, »wo aber ist Brubecher?«
»Ich spiele mit mir selbst und bin Brubecher und Missel zugleich, und wenn ich als Grenzjäger mich als Schmuggler erwische, dann fasse ich mich selbst am Kragen, genau so wie Sie mir's eben getan.«
»Ein schönes Früchtchen! wohl Ihr Sohn, Herr Sibrat?« wandte sich der Beamte an den Vater. »Geht der Junge in die Schule?«
»Ich lasse ihn im Hause unterrichten«, entgegnete dieser mit Selbstgefühl.
»Dann geben Sie ihm den verdienten Buckel voll Schläge selber im Hause; sonst hätte es der Schulmeister tun müssen.«
Die Zöllner, in argem Zorn über die Täuschung, setzten ihre Nachforschungen mit wütendem Eifer fort; sie suchten nach einem zweiten Ausgang des Kellers und fanden keinen, sie durchspürten den ganzen Garten, durchstöberten das ganze Haus von oben bis unten und merkten nicht, daß Brubecher inzwischen mit der vollen Fracht des Kellers rheinabwärts gegen Schierstein steuerte.
Während des Suchens war Hehmeh davongelaufen und ließ im Staunen und Schrecken über die ungebetenen Gäste seinen Weheruf von der Treppe herab erschallen, daß die ganze Nachbarschaft zusammenlief.
Die Leute wollten ins Haus dringen, um zu sehen, was es gebe, allein ein im Hausgang aufgestellter Polizeidiener wies sie zurück und weigerte jede Auskunft.
Da trat ein riesengroßer Mann in polnischem Rocke, mit hohen gespornten Steifstiefeln an den langen Beinen, eine große Karbatsche in der Hand, an den Wächter im Hausgang heran und fragte gebieterisch: »Was ist los?«
Und die bis dahin so abweisende Wache berichtete ihm sofort, daß man eben da drinnen den Brubecher festnehme und die ganze »Schwarze Kommission« und ihr ganzes Nest geschwärzter Waren aushebe.
Man hätte glauben mögen, dieser imponierende Mann, der allein Bescheid erhielt, sei eine obrigkeitliche Person. Allein dem war nicht so: – seines Zeichens Pferdehändler, führte der Riese nebenbei nur ein Amt, welches er sich selbst gegeben hatte, – der »Feuerreiter« Ditz. Unter diesem Titel kannte ihn jung und alt auf weit und breit. Lange vor der Zeit der Feuerwehren hatte er sich aus Passion die Aufgabe gestellt, beim Ausbruch jeden Brandes sofort zu Pferde zu steigen, in rasendem Galopp die Straßen auf und ab zu sprengen, mit der Karbatsche zu knallen, daß die Scheiben klirrten, und »Feuerjoh!« zu rufen. Er hatte schon verschiedene Kinder übern Haufen geritten und anderes Unheil angerichtet, aber noch viel öfter auch schnelle Hilfe herbeigerufen; und so ließ man ihn denn galoppieren und klatschen, so arg er wollte.
Kaum hatte der Feuerreiter die Kunde von Brubecher vernommen, so warf er sich aufs Pferd, sprengte durch alle Gassen kreuz und quer, daß die Funken stoben, und klatschte wahre Donnerschläge mit seiner Karbatsche.
Überall flogen die Fenster auf. – »Wo brennt's?« schrien die Leute. – »Nirgends!« schrie der Feuerreiter und riß im Nu sein Pferd zurück, daß es fast zusammenstürzte, – »nirgends! Der Brubecher wird eben gefangen beim Kaufmann Sibrat!«– und nun gab er dem Pferde die Sporen und klatschte und sauste davon wie der lüftige Teufel.
Ganz Biebrich strömte jetzt zur Rheingasse und wogte dort auf und ab, trotz Sturm und Regen; man mußte die Wache am Sibratschen Hause verdoppeln, daß die Menge nicht mit Gewalt eindrang, um zu sehen, wie Brubecher in Ketten gelegt werde. Die Leute, welche auf Missels endlichen Erfolg gewettet hatten, triumphierten; die Gegner hingen die Köpfe oder stritten und zweifelten.
Endlich um elf Uhr öffnete sich die Tür, die Zollbeamten traten heraus; sie hatten nichts gefangen und nichts gefunden.
»Die gerichtliche Untersuchung wird das Weitere lehren!« rief der Inspektor Herrn Sibrat zum Abschied zu. Allein die Zöllner kamen doch zunächst mit leeren Händen.
Ein Gemurmel lief durch die Menge, dann ein Brausen und Schreien; zuletzt erhob sich ein schallendes Hohngelächter, gefolgt von lautem Jubilieren. Das kam von jenen, die auf Brubechers höheres Genie gewettet hatten und nun ihrerseits über die voreilig siegesgewissen Gönner Missels triumphierten.
Erst gegen Mitternacht zerstreute sich die Menge.
Am anderen Morgen verkroch sich Belgicus, weil er sich seiner eigenen Heldentat fürchtete; Johanna kam mit verweinten Augen: sie ahnte schweres Unglück, und es sah ihr gar nicht danach aus, als ob ihr Vater so geschwind Finanzminister werden würde. Dem armen Hehmeh hatte die verkehrte Welt von gestern abend vollständig den Kopf verdreht; er goß einen Krug Tinte in den Senfsamen und wickelte den Schweizerkäse in Cholerapflaster.
Sibrat wurde nach Wiesbaden vor Amt geladen. Die Untersuchung ergab kein Resultat wegen mangelnder tatsächlicher Anhaltspunkte. Ein Verräter aus Brubechers Bande hatte die schriftliche Anzeige von dem geheimen Keller und von Brubechers Anwesenheit zur bezeichneten Stunde anonym gemacht. Da aber der gefürchtete Häuptling nicht erwischt worden war, so wagte auch der verkappte Angeber nicht weiter hervorzutreten. Die Behörden hielten sich für gefoppt und glaubten zuletzt, Brubecher selbst habe den anonymen Brief verfaßt, um sich über sie lustig zu machen. Herr Sibrat wurde als ehrlicher Mann mit höflicher Entschuldigung entlassen.
Nachdem er aber das Verhör so glücklich überstanden, nahm er seinerseits den Belgicus ins Verhör. Allein es war aus dem Jungen durchaus nichts anderes herauszubringen, als was derselbe auch den Zöllnern gesagt, nämlich daß er den Keller schon längst für sich entdeckt und dort Brubecher und Missel gespielt habe. Der Vater wollte ihm die Lüge klar beweisen, tat es aber doch nicht; denn sonst hätte er ja dem Knaben dartun müssen, daß er, der Vater, selbst vielmehr bis zum letzten Tage im Keller und über dem Keller Brubecher und Missel gespielt, und zwar in Wahrheit, die hier noch schlimmer als die Lüge war. Da er nun kein weiteres Geständnis erpressen konnte und den Belgicus der Lüge zu überführen sich nicht getraute, so strafte er ihn wenigstens – denn Strafe muß sein – wegen nächtlichen Umhertreibens. Er selbst aber empfand die Strafe weit tiefer als der Junge; denn er strafte ja seinen Retter für die rettende Tat.
Etwa zehn Tage später ging Georg Sibrat des Abends auf der Schiersteiner Landstraße spazieren; die innere Unruhe duldete ihn nicht zu Hause, und er war leutscheu seit der Untersuchung.
Da trat ein Mann vom Ufer zu ihm heran und bot ihm einen guten Abend. Die Stimme war ihm nur allzu bekannt: es war der Brubecher.
»Unser Geschäft ist ein klein wenig gestört worden«, begann der Schmuggler, – »wir müssen's anderswie und anderswo aufnehmen.«
Sibrat gab keine Antwort und beschleunigte seinen Schritt.
Allein Brubecher konnte ebenso geschwind gehen, und nach einer Pause fuhr er fort: »Ihr seid ein gescheiter Mann, Sibrat, aber eines fehlt Euch: Ihr habt keine Schneide! Doch was Euch da die Natur versagt hat, das schenkte sie doppelt Eurem Buben; der wird gewinnen, was Ihr nicht zu gewinnen wagtet. Ein prächtiger Bursch! er bringt's höher hinauf wie Ihr. Ich habe das schon mehrmals erlebt, daß die Eltern erst in ihren Kindern ganz fertig werden.«
Und nun ergoß er noch viel großes Lob über Belgicus und erzählte, wie es neulich ergangen sei, daß dessen »Universalgenie« sie alle gerettet habe.
Der Schmuggler hatte nämlich den Knaben nachgerade mit seiner intimsten Freundschaft beehrt und – entzündet von dessen Begeisterung für sein Heldentum – ihn zuletzt sogar in das Geheimnis des Kellers eingeweiht. Nur glaubte Belgicus, daß sein Vater von diesem Keller nichts wisse und überhaupt dem Schmugglertreiben ganz fremd sei. Brubecher begann, den verschwiegenen und unverdächtigen Knaben dann so nebenher zum »Baldowern«, zum Ausspähen, anzuleiten, und hieß ihn namentlich sich an die Grenzjäger anschmeicheln, was ihm auch ebensogut wie dem Vater gelang, obgleich er keinen Hosenberger zu spenden hatte. Ein unbedachtes Wort, welches Missel in Gegenwart von Belgicus entschlüpft und von diesem sofort seinem Freunde Brubecher mitgeteilt worden war, bewog die Schmuggler, am entscheidenden Abend knapp vor Ankunft der Beamten den Keller zu räumen. Daß aber Belgicus selber nun in den Keller ging, dort seine Waren aufstapelte und die Zöllner glauben machte, er habe schon seit Wochen daselbst rumort und Brubecher und Missel gespielt, dies alles war die Eingebung seines eigenen Genies.
»Und so hat der herrliche Junge das Vaterland gerettet!« rief Brubecher und wartete eine Weile, ob der Vater nicht einstimme zum Preise des Sohnes. Da aber Sibrat standhaft schwieg, hub er wieder an: »Die Zeiten sind schlecht für brave Leute! kein Krieg, keine Revolution, höchstens ein verpufftes Hambacher Fest, keine großen Ereignisse, die alles durcheinanderwerfen, – und wenn wir nicht den Wirth und Siebenpfeiffer hätten, dann wäre lauter Ruhe und Friede! – – lauter gute Bürger und Schlafmützen! Aber bis Euer Belgicus groß geworden ist, wird dies anders, und dann wird er seine Rolle spielen. Die Freiheit und Gleichheit wird jeden erst zum rechten Platz im Leben führen; denn das größte Unrecht von der Welt ist doch, daß Ihr Krämer sein müßt und ich Schmuggler. Das wird anders kommen nach der großen Revolution. Wer heute ein naschhafter, lüderlicher Bube ist, der wird dann ein großer Künstler werden; denn er hat Geschmack, der nur auf den falschen Weg geriet; wer heute ein Dieb, der wird ein großer Bankier; wer ein Raufbold, der wird ein berühmter Feldherr; wer ein Wilderer, der wird Oberforstmeister, und wer jetzt ein rechter Hochstapler, der wird Bundestagsgesandter, obgleich ich bezweifle, daß der Bundestag bis dahin noch existiert. Dann wird Belgicus auch ein berühmter Mann sein, ein berühmter Mann jeglicher Art; denn aus einem jungen Schmuggler kann noch alles Vortreffliche werden; wir sind die wahren, leider zur Zeit noch verkannten Universalgenies, und Euer Belgicus gehört uns!«
Brubecher rief diese letzten Worte langsam, mit hoch erhobener Stimme, und als Sibrat antworten wollte, verschwand er plötzlich seitab im Weidengebüsch, noch einmal von fernher wiederholend: »Er gehört uns!«
Nach einigen Wochen verbreitete sich in Biebrich das Gerücht, Georg Sibrat habe sein Haus und Geschäft in Bausch und Bogen an den Aaron Blumenstein von Dotzheim verkauft, denn er wolle nach Amerika auswandern.
So war es in der Tat.
Der Schritt erregte ungeheures Aufsehen im ganzen Orte. Die Biebricher pflegten damals nicht auszuwandern; sie meinten, sie hätten Amerika genug daheim, ihr neu aufwachsendes Biebrich sei selbst ganz amerikanisch. Unter den »Auswanderern« dachte man sich nur jene mitleidswerten Scharen armer, unzufriedener Menschen, die aus minder gesegneten Gauen zum Rheine zogen oder auf überfüllten Segelschiffen den Strom hinunterfuhren, ein Gewimmel von verelendeten Bauern und Tagelöhnern mit abgemagerten Weibern, schreienden Kindern und schlechtem Hausrat, einen Knäuel der Not, des Jammers und der falschen Hoffnung. Leute von Georg Sibrats »Stellung« wanderten nicht nach Amerika. Zum Auswanderer war er zu reich und zum übersiedelnden Geschäftsmanne zu arm.
Sibrat aber erklärte den Leuten, daß er überhaupt gar nicht für sich auswandere, sondern nur für seine Kinder. Nassau sei zu klein, die Bahnen des Talentes seien hierzuland zu kurz und eng bemessen, und seine Kinder sollten's weiter bringen wie Vater und Mutter. Die Zukunft dieser Kinder liege in Amerika, wo die Zukunft der Welt liege.
Die Zeit Sibrats war nicht von jenem allgemeinen Größenwahn, von jener allgemeinen Großtuerei besessen, welche der Fluch unserer Gegenwart zu werden droht. Die Menschen fühlten sich damals kleiner, und wer sich recht gescheit, scharfblickend und überlegen zeigen wollte, der prahlte mit der Erbärmlichkeit seiner Zeit, seines Landes und Volkes, ja seiner selbst. Im Hintergrunde malte man dann die künftige Herrlichkeit, man machte sich klein, um desto mehr im »Größenwahn der Zukunft« zu schwelgen. Und der halbstudierte »lange und kurze Warenhändler«, Herr Sibrat, war so ganz ein Kind dieser seiner Zeit, und jene Gründe, die er öffentlich für seine Auswanderung angab, waren darum nicht erheuchelt.
Aber sie waren nicht die alleinigen, nicht die entscheidenden. Er floh vor sich selbst, vor seiner Vergangenheit, vor dem Gespenste seiner Schuld, welches in Nacht versunken war und doch jeden Tag wieder ans Licht beschworen werden konnte; er floh vor Brubecher, dessen Freundschaft ebenso gefährlich geworden, wie dessen Rache es werden mußte, wenn Sibrat die Freundschaft kündigte. Das Wort: »Er gehört uns!« tönte Tag und Nacht in seinen Ohren. Er floh, um im fernen, dunkeln Lande seinen Sohn in einen neuen Boden zu pflanzen. Der »böse Bub'«, welcher in Belgicus so frisch erwacht war, drohte sich zum »bösen Buben« auszuwachsen, und Belgicus mußte ein Mann des Friedens, ein Priester des Gemeinwohls und ein berühmter Arzt werden, und das konnte er nach des Vaters Überzeugung jetzt nur noch in Amerika. Vielleicht gingen die Cholerapflaster und der weiße Senfsamen in der Neuen Welt auch besser als in der Alten. Und die beiden Kinder waren so hoffnungsfreudig; seit dem ersten Tage, da man ihnen die große Reise angekündigt, spielten, träumten, lebten sie bereits nur noch auf dem Meer und jenseit des Meeres.
Als sich Sibrat mit den Seinen in Mainz einschiffte, war ihm nur ein Freund zum Abschied gefolgt: der arme Hehmeh. Er stand am Ufer und rief wehmutvoll: »Hehmeh! Hehmeh!«, bis das Schiff hinter der Rheininsel verschwand. Er war nun ganz verlassen. – –
Die glücklichen Auswanderer pflegen fleißig Briefe zur Heimat zu senden; die unglücklichen schreiben nicht gern. Von Sibrat kamen keine Briefe. Nach etlichen Jahren galt er als verschollen; nach einem Jahrzehnt dachte in Biebrich kein Mensch mehr an den seltsamen Mann und an die seltsame Familie.
Im Frühjahr 1873 erregte ein Duell großes Aufsehen, welches nahe bei Biebrich zwischen dem amerikanischen Obersten Thomson und dem Herrn von Gattnau, einem preußischen Obersten a. D., stattfand. Es gibt allerlei unbegreifliche Anlässe zu Duellen; allein der unbegreiflichste war doch, daß sich diesmal zwei Offiziere schlugen wegen einer Streitfrage aus dem Gebiete der Psychologie und Pädagogik.
Beide Duellanten waren Männer von etlichen und fünfzig Jahren, also alt genug, um keinen Zweikampf mehr mutwillig vom Zaune zu brechen, beide sehr verdiente Männer, die noch große Aufgaben in der Welt zu erfüllen hatten.
Oberst Thomson war in Amerika allgemein bekannt; er hatte sich im amerikanischen Sezessionskriege als einer der tapfersten und zugleich genialsten Offiziere der Nordarmee rasch von niederer Stufe zum Regimentskommandeur emporgearbeitet und nach dem Frieden seine diplomatischen Dienste dem Vaterlande in nicht minder ausgezeichneter Weise gewidmet. Oberst von Gattnau war höchst ehrenvoll aus den deutschen Feldzügen des letzten Jahrzehnts heimgekehrt, und wenn auch seine öffentliche Laufbahn abgeschlossen war, so hatte er doch als Vater einer zahlreichen Familie noch Ursache genug, sich den Seinen zu erhalten.
Beide Obersten waren Originale von Kopf bis zu Fuß; auch die Art, wie sie sich kennengelernt und Freunde geworden, war originell. Sie waren sich zufällig in Rotterdam begegnet, als sie sich beide eben auf einen niederländischen Rheindampfer begeben wollten, um eine Reise zu machen, wie sie heutzutage fast kein Mensch mehr zu machen pflegt, eine Rheinfahrt gegen den Strom von Rotterdam bis Mannheim – und obendrein im April. Sie hatten dabei Zeit und Muße genug zu gegenseitigem Austausch.
Oberst Thomson erzählte viel von Amerika und staunte, daß Oberst von Gattnau so trefflich auf der Karte dieses Landes orientiert war, welches er nie betreten. Er war entzückt, daß deutsche Offiziere so gute Geographen sind.
In noch größeres Staunen aber geriet der preußische Oberst, als sie auf Wunsch des Amerikaners ihre Reise in Biebrich unterbrachen. Er hatte den fremden Kameraden bereits so liebgewonnen, daß er sich nicht von ihm trennen wollte und, seinem Wunsche nachgebend, acht Tage in Biebrich mit ihm verweilte. Oberst Thomson wollte die Topographie von Biebrich und Mosbach genau und auf Grund eigenen Augenscheins studieren – das war doch noch gründlicherer Spezialismus als die Studien des Preußen auf der Landkarte von Nordamerika. Es zeigte sich aber bald, daß Oberst Thomson mit der Biebricher Topographie von vornherein schon vertrauter sei als sein preußischer Kamerad, obgleich dieser doch vordem sechs Jahre in dem benachbarten Mainz garnisoniert hatte.
So sah man denn die beiden Obersten unzertrennlich, oft Arm in Arm an Orten spazierengehen, die sonst kein Fremder betritt, nicht bloß am Rheinufer, sondern auch an den Ufern des Salzbachs und Ochsenbachs, nicht bloß im Schloßgarten, sondern auch auf den Höhen des Häßlers und am Fuße des Hosenbergs.
Und diese tüchtigen, gesetzten Männer, auf tagelanger Bergfahrt eines Niederländer Rheindampfers erprobte Freunde, gerieten zuletzt in tödliche Fehde, weil sie sich im Garten des Gasthauses zur Krone – über Erziehung unterhalten hatten!
Der preußische Offizier behauptete, es sei das größte Glück, treffliche, allgemein geachtete Eltern zu haben und aus bester Familie zu stammen; denn das Vorbild der Ahnen, vorab jedoch das gute Beispiel des Vaters läutere und fördere uns mehr als alle Lehre.
Der Amerikaner dagegen erklärte es für ein noch größeres Glück, aus etwas minder gutem Hause zu stammen und von Eltern, die nicht gar zu trefflich seien. Er begründete seinen Satz zuerst durch die Geschichte. Wenn die Väter und Großväter des heute in Manneskraft stehenden Kerns des deutschen Volkes nicht die ganze Schule der Vergewaltigung und Selbsterniedrigung der napoleonischen Zeit und der krankhaften romantischen Schwärmerei und des unreifen Freiheitstaumels der Folgejahre durchgemacht, wenn sie nicht das volle süße Behagen trägen Sonderlebens ausgekostet hätten, dann wären ihre Söhne heutzutage so unpolitisch und undeutsch geblieben wie die Urgroßväter im achtzehnten Jahrhundert. »Wo es die Väter gar zu gut haben und gar zu gut sind, da erschlaffen die Söhne, und umgekehrt: auf diesem Gesetze beruht die Ebbe und Flut der Weltgeschichte. Und wie bei den Nationen, so ist es auch bei den Familien. Der Sohn des Trinkers verabscheut die Trunkenheit; war der Vater aber gar zu exemplarisch nüchtern, dann ergibt sich der Sohn dem Trunke.«
Der preußische Oberst bestritt alle diese Sätze und meinte, da müsse man sich ja nur gleich wünschen, von Spitzbuben und Halunken abzustammen, damit man durch das abschreckende väterliche Exempel um so trefflicher werde.
Jeder der beiden Streitenden zog die Sätze des Gegners ins Lächerliche; der Amerikaner verspottete die »edlen Ahnen« und der Deutsche die »angenehme schlechte Familie«. Zuletzt forderte Oberst Thomson den Oberst von Gattnau.
Die Sekundanten, welche man entbot, suchten zu vermitteln. Sie meinten, irgend etwas persönlich Beleidigendes liege in diesem Streite ja gar nicht vor, jeder habe recht und jeder unrecht, weil jeder eine Wahrheit übertrieben habe; wolle man alle Prinzipienstreite mit Säbel und Pistole ausfechten, dann müßten nicht sowohl die Studenten als vielmehr die Professoren sämtlicher deutscher Hochschulen täglich auf der Mensur liegen.
Vergebens. Der Amerikaner begehrte, daß der Deutsche seine beleidigenden Sätze zurücknehme. Dieser weigerte sich, da er ja gar nichts Beleidigendes gesagt habe. – Und so schossen sich die beiden Obersten zuletzt auf dem Häßler, genau an der Stelle, wo vor vierzig Jahren der verrückte Maurermeister Keyser den Kölner Dom aus Lehm zu bauen versucht hatte, weshalb er in den Brummstall gekommen war.
Oberst von Gattnau erhielt eine Streifwunde am linken Arm, die ihn noch eine Woche in Biebrich zu bleiben nötigte.
Oberst Thomson, der den Reisefreund nach dem Wechsel der Schüsse sofort aufs brüderlichste umarmt hatte, pflegte ihn und las ihm zur Unterhaltung acht Shakespearesche Tragödien im Urtexte vor: denn nirgends fühlen sich Weltbürger inniger verbunden als im gemeinsamen Genusse der durch die Jahrhunderte geweihten Weltliteratur.
Nach acht Tagen feierten die beiden Obersten ihre vollendete Versöhnung in Gesellschaft der Sekundanten mit einem Champagner von ganz untadeliger Abkunft.
Der schönste Maiabend lag so duftig und düftereich über der Landschaft; die Sonne verglühte purpurn hinter den Rheingauer Bergen. Oberst Thomson trat ins offene Fenster, das Champagnerglas in der Hand, und blickte lange schweigend auf Strom und Hafen, auf jenen neuen Hafen, wo einst die alte enge Rheingasse lag.
Halblaut sprach er vor sich hin: »Vor vierzig Jahren! – Dort stand der alte Edelhof – daneben grenzte die Gartenmauer mit dem Häuschen – da unten landeten die Nachen am Mauerpförtchen! Wie ist das alles anders geworden – seit vierzig Jahren!«
Oberst von Gattnau hatte unbemerkt hinter dem Freunde gestanden und dem Selbstgespräche zugehört. »Sie waren vor vierzig Jahren hier?« fragte er erstaunt, seinen Arm auf die Schulter des Amerikaners legend.
»Bis vor vierzig Jahren! Denn vor zweiundfünfzig Jahren wurde ich hier in der Rheingasse geboren. Sehen Sie da unten die drei Damen, welche dem abfahrenden Dampfer mit den Tüchern winken? Genau dort lag unser Haus – ›Lange und kurze Warenhandlung von Georg Sibrat‹ –, und Georg Sibrat war mein Vater.«
»Aber Sie heißen ja Thomson!«
»Mein Vater wanderte aus nach Amerika, um in der Neuen Welt ein neuer Mensch zu werden, und da er jede Brücke mit dem Mutterlande abbrechen wollte, so gab er sich auch den neuen Namen. Mein Vater hatte einige große Schwächen, er war in Schmugglergeschichten unangenehm verwickelt, was damals übrigens auch bei hochgeehrten und berühmten Firmen vorgekommen sein soll; mein Vater hatte große Schwächen, und doch waren es vielmehr die Schwächen seiner Zeit. Er büßte sie. Und übrigens war er immer doch mein Vater; ein Spitzbube, ein Halunke, wie Sie sich neulich ausdrückten, war er nicht.«
»Ich habe keine Silbe jemals von Ihrem Herrn Vater gesprochen, was um so natürlicher ist, da ich eben das erste Wort von dem ohne Zweifel sehr ehrenwerten Manne höre«, unterbrach der preußische Oberst den amerikanischen.
»Und doch haben wir uns wegen meines Vaters geschlagen, wegen des schlimmen und eben darum ausgezeichnet guten Beispiels, welches mir derselbe gegeben, und wegen meiner ›angenehm schlechten Familie‹«, entgegnete der Amerikaner. »Hier ist meine empfindliche Stelle, ich darf sie nicht berühren lassen, nicht aufs leiseste, nicht einmal absichtslos. Sie wissen gar nicht, wie empfindlich wir deutschen Amerikaner in Familiensachen sind! Doch das alles ist jetzt ausgeglichen, – wir sind Freunde auf Tod und Leben, unsere Freundschaft hat – buchstäblich und bildlich – die Feuerprobe bestanden. Aber dem Freunde muß man auch volle Klarheit über sich selber geben.«
Und nun erzählte er von seinem Elternhause und seinen Jugendschicksalen, was wir bereits wissen. Dann fuhr er fort: »Wir wanderten aus nach Amerika. Anfangs ging es dort dem Vater schlecht genug mit seiner Kaufmannschaft; dagegen verschaffte er sich später ein besseres Fortkommen, indem er, wie vordem im Laden der Rheingasse, die ›technischen Fortschritte der Menschheit‹ mit der Heilkunde verband. Das Petroleum kam auf, und Georg Sibrat-Thomson kurierte die Krätze mit Petroleum. Hierdurch gewann er solchen Ruf als Arzt, daß er sich kurz vor seinem Tode sogar den Doktortitel in Philadelphia kaufen konnte, der sehr billig kam.
Mein Vater wollte nun, daß ich gleichfalls ein Arzt, aber ein vollkommen ausstudierter, werden solle; allein sein Beispiel als halber Doktor bewahrte mich vor dem Fehlgriff, ein ganzer zu werden. Die Schmugglerabenteuer hatten den kriegerischen Geist in mir geweckt: ich wurde Soldat, besonders auch, weil mein Vater zu sagen pflegte: ›Wenn du Soldat wirst, dann nagle ich dich mit beiden Ohren an den Türpfosten.‹ Mein Vater war ein Mann des Friedens; hätte er länger gelebt, so würde er vielleicht noch Quäker geworden sein, obgleich er eigentlich – im Geiste seiner Zeit – gar keine Religion hatte. Eben darum fand ich meinen Trost im religiösen Glauben und wurde Soldat. Und zum Soldaten gehört vorab Mut, strengstes Ehrgefühl, Entschlossenheit, schneidiges Wesen – lauter Eigenschaften, die mir um so wertvoller schienen, als mein Vater vergebens nach ihrem Besitze rang. Die Kinder wollen die Mängel der Väter in sich ergänzen: darauf beruhen ›die Fortschritte der Menschheit‹ weit mehr als auf chemischen Feuerzeugen, Stahlfedern und Petroleum. Ich machte mein Glück auf dem Schlachtfeld, ich leistete meinem Vaterland vielleicht einige Dienste. Nach dem Frieden verband ich dann die diplomatische Laufbahn mit der militärischen, – denn den diplomatischen Geist hatte ich nun andererseits wieder vom Vater geerbt. Friede seiner Asche! Er starb, als ich eben sechzehn Jahre alt war; er hat nicht mehr erlebt, daß etwas Ordentliches aus mir wurde. Vielleicht verzeiht er mir's jetzt im Himmel sogar, daß ich Oberst geworden bin.«
»Und was war das Schicksal Ihrer Schwester?« fragte der Freund nach einer Pause.
»Johanna ist in New York sehr glücklich verheiratet, sie ist die Frau eines Schuhmachers – eines Schuhfabrikanten, denn er treibt's im großen, – und er hat's nicht nötig, denn er hält sich Chaise und Pferde. Wenn mein Vater ganz verzweifelte an unserer Zukunft, die er durch seine Schuld verdorben zu haben glaubte, dann rief er wohl: ›Belgicus wird ein Schuster werden, und Johanna wird dienen gehen!‹ Das Wort hat sich umgekehrt erfüllt: ich ging dienen und bin stolz, daß ich diene, und Johanna ist eine Frau Schusterin. Sie war immer sehr ehrgeizig und würde es als armes Mädchen wohl nie so weit gebracht haben, wenn sie sich nicht die Hofdame der Großfürstin Helene zum Vorbild genommen und durch ihre vornehme Haltung Aug' und Herz des Herrn Robert Barow, des großen Schuhfabrikanten, gefesselt hätte.
Wir hatten beide recht, teuerer Freund, mit unserer Philosophie der Erziehung; denn würde bloß einer recht gehabt haben, so wären wir nicht zum Streit und also auch nicht zum Zweikampf gekommen. Unser Widerspruch versöhnt sich jedoch in dem Satze: die Eltern werden erst fertig in ihren Kindern. Aber die große Frage für die Eltern ist, was sie nun eigentlich fertigmachen sollen in den Kindern. Hier liegt das Rätsel aller Erziehung, welches jedoch häufiger vom Leben als von den Erziehern gelöst wird. Es gibt aufsteigende und absteigende Familien. Bei den aufsteigenden werden die Eltern im Guten fertig in ihren Kindern, bei den absteigenden im Schlechten; aus den Schwächen der Väter erblühen Tugenden der Söhne, und die Tugenden der Eltern verzerren sich zu Sünden der Enkel. Wer ermißt, wie das kommen mag? Darum fühlen wir uns nicht demütiger vor Gott, als wenn wir beobachten – wie Kinder Leute werden!«