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Wilhelm Heinrich Riehl hat zu den Einzelausgaben seiner Novellen Vorworte geschrieben, die einen so unmittelbaren und tiefen Einblick in die Werkstatt des Dichters gewähren, daß sie im folgenden ungekürzt wiedergegeben sind.
Der Roman folgt dem Fortgange der Geschichtschreibung; Novellistik und Historik einer Epoche erläutern sich gegenseitig. So macht sich jetzt der mächtige Zug zur Kulturgeschichte bereits in der Romandichtung bemerkbar. Der populärste Historiker unserer Zeit, Macaulay, dankt wohl die Hälfte seiner Volksbeliebtheit der Kunst, womit er die Gesittungszustände einer Periode in ihrem inneren Zusammenhange – unter sich wie mit der Staatsgeschichte – erfaßt und doch zugleich in ihren bunten Einzelgebilden mit dem Pinsel des Genremalers auszuführen weiß. Darum sagt man etwa vom dritten Kapitel seiner »Geschichte Englands«: es liest sich wie ein Roman. Denn dieses Kapitel glänzt eben durch kulturgeschichtliche Genremalerei.
Der Novellist mag hier einen Fingerzeig sehen. Unser historisches Gefühl erträgt es nicht mehr, daß man uns große Staats- und Kriegsaktionen im Romane genrehaft ausmalt, daß die Haupthelden der Geschichte, deren Charaktere seit unseren Knabenjahren festgeformt vor unserem Geiste stehen, von dem Romandichter frei umgebildet oder in ihren Zügen klein ausgearbeitet werden. Der Dramatiker, der sich der idealeren Form des Verses bedient, den die Bühne zwingt, nicht auszumalen, sondern sein Gebilde breit, in großen Umrissen anzulegen, – der Dramatiker darf uns einen im Äußeren ungeschichtlichen Wallenstein oder Egmont bieten. Der Novellist dagegen, in der realistischen Prosa schreibend, gibt unserer historischen Bildung eine Ohrfeige, wenn er mit dem Anscheine, als erzähle er wirkliche Geschichte, weltbekannte Tatsachen umkehrt und nach Bedarf der Komposition große Männer klein zuschneidet und kleine in die Größe zieht.
In der Tragödie begehren wir Wahrheit der historischen Idee, im Roman und der Novelle neben dieser inneren Wahrheit auch noch eine äußere des geschichtlichen Kostüms.
Die alten historischen Romane, welche uns weltgeschichtliche Ereignisse, die sich allenfalls dramatisieren ließen, episch in Prosa erzählen, sind uns darum jetzt trocken und hohl geworden oder unwahr.
Mir dünkt, die Aufgabe der historischen Novellistik liege nach dieser Seite darin, auf dem Grund der Gesittungszustände einer gegebenen Zeit freigeformte Charaktere in ihren Leidenschaften und Konflikten walten zu lassen. Die Szene ist historisch. Es sind dann aber – kurz gesagt – erfundene Personen, die in den Vordergrund treten, die mit seinem Pinsel ausgemalt werden sollen, – eine erfundene Handlung, die sich episch frei gestalten kann, keine geschichtliche, wenigstens keine weltgeschichtliche. Denn in den Winkeln der Spezialgeschichte können wir allerdings noch Intrigen und Helden aufspüren, die novellistisch bildsam sind, ohne daß wir durch die poetische Freiheit das historische Bewußtsein der Nation beleidigen. Weltgeschichtliche Geschicke mögen von ferne hereinragen, weltgeschichtliche Personen im Hintergrunde über die Bühne des historischen Romanes schreiten. Der Boden aber, worauf sich die erfundene Handlung bewegt, ruhe auf den Pfeilern der Zeitgeschichte; die Luft, worin die erdichteten Personen atmen, sei die Luft ihres Jahrhunderts; die Gedanken, davon sie bewegt werden, seien ein Spiegel der weltgeschichtlichen Ideen ihrer Tage.
Dies nenne ich kulturgeschichtliche Novellistik.
Hier läßt sich die innere Wahrheit der historischen Idee und die genrehafte Treue des historischen Kostüms vereinigen, aber auch nur hier. Der Dichter kann ein durchgebildetes Kunstwerk hinstellen, dem das kulturgeschichtliche Detail eine handgreifliche Lebensfrische gibt, deren das Drama entbehren muß, – ein Kunstwerk, welches nicht bloß geschichtliche Zustände schildert, sondern in seinem Kern jenes höchsten sittlichen Inhaltes voll ist, der uns in jeglichem Menschengeschick die Hand des gerechten Gottes erkennen läßt. In solch echtem kulturgeschichtlichem Roman hat die Geschichte keine wächserne Nase, und die Poesie behält doch Hand und Fuß. Ich lebe der Überzeugung, daß die Zukunft der modernen Epik in dem kulturgeschichtlichen Roman gegründet werden muß.
In meinen »kulturgeschichtlichen Novellen« habe ich dieses neue Feld in einer vielleicht neuen Weise urbar zu machen versucht. Ein Kulturhistoriker hat diese Novellen geschrieben, dem sie aus seinen liebsten Studien, aus seinen traulichsten Jugenderinnerungen so unter der Hand hervorgewachsen sind: würde sich nun diese Hand zugleich als eine künstlerisch gestaltende erweisen, dann könnte man's ein glückliches Zusammentreffen nennen.
Vielleicht begehrt man Näheres über die Fundgruben, woraus ich das Material der Novellen geschöpft.
In dem »Stadtpfeifer«, »Ovid bei Hofe« und »Meister Martin Hildebrand« sind eine große Menge von Familienüberlieferungen verarbeitet. Nicht, was ich in Büchern gelesen, sondern was ich als Knabe im großväterlichen und väterlichen Hause erzählen hörte von der guten alten Zeit, wie sich dieselbe im kleinbürgerlichen Leben eines kleinen Fürstensitzes des vorigen Jahrhunderts abspann, die Hausmärchen meiner Jugend waren es, womit ich diesen Erzählungen individuelle Farbe gab. In solchen mündlichen Überlieferungen sind oft die feinsten Züge zur kulturgeschichtlichen Charakteristik einer Epoche erhalten und – begraben. Durch die Novelle können sie lebendig bewahrt bleiben, durch das Geschichtsbuch nicht. Denn es sind diese Züge meist so innig mit bestimmten Personen und zufälligen Ereignissen verknüpft, daß der Kulturhistoriker, auch wenn er noch so speziell und genrehaft arbeitet, doch nichts damit anfangen kann. Der kulturgeschichtliche Novellist dagegen wird in diesen persönlichen Anekdoten und Charakteristiken oft gerade die leisesten Atemzüge vergangener Geschlechter belauschen und uns ihr geheimstes Seelenleben in einer Wärme und Unmittelbarkeit mitempfinden lassen, bis zu welcher die Darstellungsmittel der Geschichte nicht mehr reichen.
Das historische Genrebild »Gräfin Ursula« gründet sich im Tatsächlichen auf die Mitteilungen, wie sie C. F. Keller aus neu eröffneten archivalischen Quellen in seinem Buche über den Dreißigjährigen Krieg in Nassau (Gotha 1854) gegeben. Dieser wertvollen, für den Kulturhistoriker äußerst ausgiebigen Schrift verdanke ich auch den Stoff oder Anregung zu manchem Detail in den »Werken der Barmherzigkeit«.
Die Novelle »Amphion« (die lediglich wie die leichten »Vorspielscherze« unserer modernen Dramatiker angesehen sein will) beruht auf einer historischen Anekdote, die unter dem Artikel »Ernst Gottlob Baron« in jedem Tonkünstlerlexikon zu lesen ist. Barons Schriften, unvergängliche Denkmale der aufgeblasenen Pedanterie der Zopfzeit, gaben die Züge zu seiner persönlichen Charakteristik. Für die mit der musikalischen Spezialgeschichte minder Vertrauten bemerke ich nur, daß die ästhetischen Grillen, Bizarrerien und Ungeheuerlichkeiten, wie ich sie hier gezeichnet, keineswegs Karikatur sind. In den Tagen Händels und Bachs ist die Modemusik und das Virtuosentum wirklich bis zu dieser Stufe künstlerischen Wahnwitzes aufgestiegen, ja ich habe eher gemildert als karikiert. Übrigens verwahre ich mich feierlich gegen die Unterstellung, daß »Amphion« eine Tendenznovelle sei und als habe ich etwa in dem Virtuosen Baronius eine Satire auf Franz Liszt und in dem mit symbolischer Musik gedankenmalenden Komponisten Baronius eine Satire auf Richard Wagner schreiben wollen. Nur die Zöpfe des achtzehnten, nicht des neunzehnten Jahrhunderts habe ich gezeichnet.
Zu der kleinen Erzählung »Im Jahr des Herrn« wurde ich durch die Fulder Annalen angeregt. Wenn man das bald strohdürre, bald alttestamentlich schwülstige Mönchslatein unserer alten Annalisten liest, dann fühlt man sich doch manchmal seltsam bewegt durch einen frischen Hauch aus dem deutschen Urwald, der plötzlich in die schwüle Luft der Klosterzelle hereinweht. Das empfand ich recht lebhaft bei der in den Annalen kannibalisch rohen und dennoch anziehenden Anekdote, die meiner Erzählung zugrunde liegt. Ich suchte menschlich und sittlich zu gestalten, was der Mönch von Fulda als eine Tat fast der reinen Bestialität berichtet, und doch auch den Personen jenes Gepräge der Urfrische und Urkraft zu bewahren, das uns selbst in der Wüstenei der späteren karolingischen Zeit noch als das Vermächtnis einer edleren Vergangenheit und als die Verheißung einer besseren Zukunft erquickt.
München, am 18. März 1856.
(Ludwig Richter gewidmet)
Ich habe dieses Buch »Geschichten« genannt; ich hätte es ebensogut mit vornehmerem Wort »Novellen« nennen können. Denn wenn das Wesen der Novelle darin besteht, ein Seelengeheimnis in der Verknüpfung und Lösung erdichteter Tatsachen zu enthüllen, dann sind diese Geschichten Novellen. Das deutsche Wort aber saß mir besser als das italienische; einmal, weil mir die gemütliche deutsche Art des Erzählens zunächst in der Seele klang, dann aber auch, weil es ein heilsames Mahnwort ist. Die »Geschichte« mahnt nämlich, daß fort und fort etwas geschehe, daß nicht die Reflexion, sondern die Tat den Knoten schlinge und löse und daß die Lust am Erzählen nicht von der verführerischen Lust des Grübelns und Schilderns überwuchert werde.
Wer aber wirklich erzählt, der sucht vor allem die feste, reine Linie der Handlung, deutet Licht und Schatten bloß an, läßt Schmuck und Beiwerk und die weite Fernsicht des Hintergrundes mehr erraten, als daß er sie ausspräche. Sein höchstes Ziel steht dahin, außen grob und inwendig fein zu sein, außen sparsam und innen reich. In diesem Urbilde begegnen sich die deutsche »Geschichte« und der echte Holzschnitt.
Sie aber, verehrter Freund, dem ich diese »Geschichten« widme, während ich ihm Novellen nicht dargeboten hätte, sind der Mann, welcher die echte Art des deutschen Holzschnittes vor andern wiedergefunden und volkstümlich gemacht hat. Gar oft suchte ich mich beim Erzählen im rechten Maß und Ton zu halten durch einen Blick auf Ihre Holzschnittblätter. Die feste, schlichte Form allein aber würde Ihnen doch das Herz des deutschen Volkes nicht gewonnen haben, wenn nicht so inniges Gemüt, so frischer Humor und ein so frommer, reiner Sinn aus Ihrer Zeichnung spräche; ja, die Vorzüge der Form sind Ihnen erst erwachsen aus jenen Vorzügen der künstlerischen Seele. Mein Empfinden und Streben rang bei diesen Geschichten nach einem Hauch des gleichen Geistes; wäre mir die Aussprache desselben auch nur annähernd heiter und tief gelungen, so würde mir dieses bescheidene Büchlein mehr Freude machen als alle meine früheren Schriften. Denn gute Menschen zu erheben, indem wir sie erheitern, bleibt doch die erquickendste und liebenswürdigste Aufgabe des schaffenden Mannes in der Schrift sowohl wie in der Kunst.
München, Neujahr 1862.
W. H. Riehl
(Geschrieben im Herbst 1874)
Vor zwanzig Jahren wohnte ich am Nordwestende von München; schräg gegenüber wohnte Emanuel Geibel und in einer der nächsten Straßen Paul Heyse. Da unsere übrigen literarischen Freunde allesamt tiefer in der Stadt sich niedergelassen hatten, so erschienen wir drei uns wie ein vorgeschobener Posten und nannten uns die Ecke. Wir hielten gute Nachbarschaft, und unter Geibels leitender Hand gewann die Ecke bald einen festen Kristallisationskern. Je am andern Sonntage kamen wir mit unseren Frauen in dem Salon einer befreundeten alten Dame zusammen, welche an der Spitze der Ecke wohnte. Da besprachen wir dann in heiterer Geselligkeit unsere neuesten Arbeiten und Entwürfe, lasen vor, was wir ganz oder halb vollendet hatten, und tauschten uns aus über die literarischen und künstlerischen Erscheinungen des Tages. Ein solcher Abend hieß ein »Ecken-Abend«. Und als mir damals ein Sohn geboren wurde, standen die anderen beiden Väter der Ecke zu Gevatter, und er erhielt den Namen »Eckbert«.
Dergleichen Eckenabende gab und gibt es wohl viele in Deutschland, aber selten werden sich dabei drei so grundverschiedene Naturen dennoch so harmonisch zusammenfügen. Kein geringes Verdienst um diese Harmonie hatte ohne Zweifel – neben unseren Frauen – die vorgedachte alte Dame, die treffliche Wirtin der Ecke. Frau Staatsrätin Elisabeth von Ledebour, die Witwe des berühmten Dorpater Botanikers, war eine der würdigsten und liebenswürdigsten Matronen. In kinderloser Ehe hatte sie ihr Leben der Mitarbeit an ihres Mannes Schaffen gewidmet und ihn auf seinen Forscherreisen durch die asiatischen Steppen, den Altai und die Krim begleitet, war aber in den Hallen westeuropäischer Kultur nicht minder heimisch als im Tartaren- und Mongolenzelt. Bei einer Dame aus einem vornehmen kurländischen Hause versteht sich feine und vielseitige Bildung fast von selbst; allein was sich wohl auch in Kurland nicht von selbst versteht, das war die Geistesfrische, welche unsere Freundin bis ins höchste Alter bewahrte. Mit achtzig Jahren war sie geistig noch immer nicht alt geworden. Wohlerhaltene alte Leute sind sonst in der Regel nur jugendlich, wenn sie sich in ihre eigene Jugend zurückversetzen und dieselbe zum zweitenmal in der Erinnerung durchleben. Frau von Ledebour besaß dagegen die Kunst, fortdauernd der Gegenwart anzugehören, und nur an ihrer beschaulichen Auffassung, an ihrem mild abwägenden Urteile merkte man, daß sie bei aller warmen Teilnahme doch mit dem objektiven Blick einer anderen Generation diese Gegenwart maß. Allein sie war und blieb jung mit uns jungen Leuten, sie verfolgte die Politik und Literatur der Zeit gespannten Auges und fand für die längst heimgegangenen Gefährten ihrer früheren Jahre einen Ersatz in unseren Familienkreisen, obgleich sie doch die Großmutter jedes einzelnen von uns hätte sein können. Bei diesem freundlichen Walten wurde sie aufs beste unterstützt durch ihre Pflegetochter, Fräulein Julie Dreuttel, ein allezeit fröhliches Heidelberger Kind, welche an den Eckenabenden die Honneurs machte und als Patenkind Hebels schon in der Wiege zu dem schwierigen Verkehr mit Dichtern vorbestimmt worden war.
Der Maler stellt »die Sage« als eine Matrone dar, welche der zu ihren Füßen gelagerten Jugend erzählt. Als Gegenbild erscheint mir jetzt unsere verklärte Freundin, wie sie den Erzählungen eines jüngeren Geschlechts in behaglicher Teilnahme lauscht. Denn nicht nur die Kunst zu erzählen, auch die Kunst, geduldig erzählen zu hören, wird dem friedvoll mit sich und der Welt abschließenden Alter verliehen.
Wir drei Männer glühten damals in vollster Schaffenslust: kein Wunder, daß sich unsere Gaben für die Eckenabende drängten. Da entwickelte Geibel den Plan seiner »Brunhild« und las einzelne eben vollendete Szenen des Dramas, oder er brachte uns eines seiner gedankenreichen erzählenden Gedichte, den »Tod des Tiberius«, den »Bildhauer des Hadrian«, wie er sie eben frisch geschrieben hatte. Heyse beschenkte uns mit der »Braut von Cypern« und den Novellen seines ersten und zweiten Bandes und ließ sich durch die Ecke zu seinem ersten Bühnenversuche ermutigen. Später trat auch noch Adolf von Schack als der vierte in unseren Kreis und las uns neue Poesien vor, während er, durch Heyse auf Genellis große und verkannte Künstlernatur aufmerksam gemacht, den ersten Grund zu seiner jetzt so berühmt gewordenen Bildergalerie legte.
Ich selber las die ersten Abschnitte meiner »Familie« in der Ecke, und wir machten Hausmusik. Ich las – und zwar las ich zum erstenmal vor; denn obgleich ich schon genug geschrieben, hatte – außer meiner Frau – bis dahin doch noch niemand begehrt, daß ich's ihm vorlesen möge. Und ich selbst konnte wie die meisten Männer nicht vorlesen hören. Nun aber empfand ich den vollen Reiz, mit einem noch nassen Manuskript lesend vor einen bedeutenden Kreis von Männern und Frauen zu treten. Und hiermit übte die Ecke einen unvermerkt folgereichen Einfluß auf mein Denken, Dichten und Schreiben. Die Ecke erschien mir wie das beste Publikum im Auszug, und ich hatte persönliche Fühlung mit demselben gewonnen.
Allein abhandelnde Prosa liest und hört sich doch niemals so gut wie schildernde und erzählende. Die poetische Luft, welche damals im München Maximilians II. überall mich anwehte, wirkte treibend, erregend: ich schrieb Novellen, zuerst für die Ecke, dann aus der Ecke.
Nicht als ob das meine ersten Novellen gewesen wären! Seit meinem achtzehnten Lebensjahre, wo ich meine erste, gottlob längst vergessene Novelle in einem belletristischen Blatte hatte drucken lassen, war ich unterderhand stets verschämter Novellist geblieben. Allein die meisten Novellen vor der Eckenzeit taugten nicht sonderlich viel. Und dennoch dachte ich immer mit Sehnsucht an das kindliche Glück zurück, welches mir die Abfassung meiner ersten Novelle bereitet hatte. Und sie war gedruckt, ja sie war sogar honoriert worden! Ich erhielt einen halben Kreuzer für die große Druckzeile, in Summa zehn Gulden, und für dieses Honorar machte ich eine Taunus-, Rhein- und Lahnreise von vierzehn Tagen, hatte in Frankfurt die Freude, meine liebste Oper, die Zauberflöte, zum erstenmal zu hören, und kaufte mir für den heimgebrachten Rest des Geldes noch Molières sämtliche Werke antiquarisch. Die Kunst, so billig zu reisen, habe ich in den »Glücklichen Freunden«, der ersten Novelle dieses Bandes, auf Grund vieljähriger Erprobung dargestellt.
Ein jeder Mensch reitet seine Steckenpferde; ich habe deren drei: Musik machen, Novellen schreiben und große Fußmärsche unternehmen. Mit diesen drei Dingen hatte ich aber lange Zeit sehr wenig Anklang gefunden: meine Musik wollte niemand hören, auf meinen Gewaltsmärschen niemand Schritt mit mir halten, und meine Novellen schrieb ich nur so verstohlen, als ob's eine Sünde wäre. Denn Studium und Beruf drängten mich zu anderen Arbeiten. Jene Steckenpferde bieten aber dennoch den Schlüssel zu meinem ganzen literarischen Wirken.
Schickte ich nun – in der Zeit vor der Ecke – eine Novelle an ein Feuilleton, so nahm sie die Redaktion zwar immer willig auf, wünschte aber hinterdrein jedesmal »etwas anderes« aus meiner Feder, – einen Leitartikel, einen Essay, eine Kritik, kurz alles mögliche, nur keine weitere Novelle. Und das war nicht sehr begeisternd!
In München stand aber die Sache ganz anders. Ich war Professor an der staatswirtschaftlichen Fakultät geworden: sollte ich da nicht endlich ein Recht haben, Novellen zu schreiben? Aber auch meine innere Befugnis zur Novelle war gewachsen. Vorher hatte ich zwar Novellen geschrieben, aber kaum jemals eine echte Novelle gelesen; ich hatte vielfach anregend verkehrt mit allerlei Künstlern, mit bedeutenden Malern, Musikern und Schauspielern, aber kaum mit einem namhaften Dichter. Jetzt war ich unter die Poeten geraten und hatte Novellen geschrieben und wußte gar nicht, was eigentlich eine Novelle ist, – wobei ich übrigens manchen gefeierten Novellisten zum Schicksalsgenossen hatte. Ich war im Schildern von Situationen und im Ausmalen von Charakteren steckengeblieben und hatte ganz vergessen, daß der Novellist erzählen soll. Die Kritik der Ecke öffnete mir hier zuerst die Augen, und ich danke es insbesondere meinem Freunde Heyse, daß er mir, wenn auch nur in flüchtigen Worten, zuerst ein Licht aufsteckte über Wesen und Kunstgeheimnis der Novelle. Das Beste, was wir können, haben wir ja nicht aus Büchern gelernt; es fliegt uns an im Umgang mit Natur und Menschen, und es fragt sich dabei nur, ob wir das Angeflogene auch uns anzueignen, festzuhalten und zu vertiefen wissen.
So wurden die ersten Novellen, welche ich des Aufbewahrens einigermaßen wert erachtete, für die Ecke geschrieben und geprobt und geläutert im kritischen Feuer der Ecke.
Doch ein Band wäre wohl noch lange nicht zum Abschluß gediehen, wenn ich nicht im Januar 1856 den landesüblichen Typhus bekommen hätte. Der Anfall war heftig, allein er verlief rasch, die Genesung dagegen desto langsamer. Wochenlang blieb ich gar matt und elend, schlich wie ein alter Mann von einem Stuhle zum anderen und blieb am liebsten ganz sitzen. Der Geist hingegen war weit rascher wieder frisch als der Körper. Trotzdem verbot mir der Arzt das Arbeiten. Wie man aber nach wohlbestandenem Typhus überhaupt sehr hungrig zu sein pflegt, so fühlte ich insbesondere einen wahren Heißhunger nach Arbeit. Nun dachte ich: Novellenschreiben ist keine Arbeit – im medizinischen Sinne. Und so begann ich zuerst schüchtern einige meiner verpfuschten älteren Novellen umzubilden, ging aber dann kräftiger ins Zeug, erfand neue und saß den ganzen Tag in meinem Sessel und schrieb Novellen. Sie kamen wiederum so recht aus der Ecke, die aber hier wie überall keine Schmoll- und Trotzecke sein sollte, sondern der trauliche Poetenwinkel weltvergessener Zurückgezogenheit. Ich schrieb mich rasch wieder ganz gesund, und als mich der Doktor endlich freisprach und nur noch zu einer kleinen Erholungsreise gen Süden schickte, wanderte zugleich das fertige Manuskript meiner »Kulturgeschichtlichen Novellen« nordwestwärts in die Druckerei. Das erste Exemplar sandte ich nachher dem Arzte als Beichte meiner Sünden. Das dankbare Frohgefühl der Befreiung, der Genesung, der Lust an meinem neuen Leben hatte meine damals geschriebenen Novellen durchdrungen, und ich hoffe, es ist auch allen späteren von jenem Grundzuge der Gesundheit und Lebensfreude etwas übriggeblieben.
Das Publikum nahm mein erstes Novellenbuch freundlich auf. Aber viele meiner treuesten Leser hatten etwas ganz anderes erwartet: einen weiteren Band Sozialpolitik oder Kulturgeschichte, eine gelehrte oder agitatorische Schrift, allenfalls auch eine musikalische. Und nun kamen Novellen.
Meine bisherigen Gönner waren viel zu ernsthafte Leute, um überhaupt Novellen zu lesen; die novellistische Lesewelt hatte sich dagegen nicht um meine bisherigen Bücher gekümmert. Ich mußte von vorn anfangen und mir ein neues Publikum werben. Mein Ehrgeiz stand aber gerade dahin, Leute, die für gewöhnlich keine Novellen lesen, dennoch zur Lektüre meiner Novellen zu bekehren. Ob mir's gelungen ist? Mein kleines Novellenpublikum in der Ecke war ja das feinste, erlesenste, ernsthafteste gewesen: ich hoffte, im großen Publikum ähnliche Elemente zu finden und mit der Zeit eine große Ecke um meine Novellen zu versammeln.
Zunächst mußte ich viel drollige Dinge hören. Ein Gelehrter meinte, ich habe mir etwas vergeben, indem ich zur Novelle hinabgestiegen sei; ein Poet dagegen, es sei eine Anmaßung, daß ich mich zu den Novellisten hinaufdrängen wolle.
Ich prüfte in meiner Ecke diese widersprechenden Urteile und hatte den Gewinn, hierdurch auf eine ganze Kette kulturgeschichtlicher Beobachtungen zu stoßen. Aus diesen aber wurde dann nach vielen Jahren ein Vortrag, welchen ich in Darmstadt improvisiert und zuletzt für die erste Sammlung meiner »Freien Vorträge« niedergeschrieben habe. Er führt den Titel: »Der Kampf des Schriftstellers und des Gelehrten.«
Man fragte mich auch nach dem Grunde, warum ich denn eigentlich Novellen schreibe. Ob als Stilübung? Oder um gute Sitten in anmutiger Form zu predigen? Und ich eckiger Mann gehörte noch zu der alten Schule, welche lehrte, daß man das Schöne um seiner selbst willen suchen und daß die Kunst sich selber Zweck sein müsse in ihren höchsten wie in ihren anspruchslosesten Werken!
Die schlimmste Absicht legten mir aber nicht selten meine besten Freunde unter. Sie glaubten, in Erzählungsform beabsichtige ich – Kulturgeschichte zu geben; sie wollten den Professor retten und behaupteten, ich schreibe Novellen, um Zeiten und Sitten zu schildern! Dieser wohlgemeinte Aberglaube hat mich wahrhaft verfolgt, er hat auf meinen Novellen gelastet, allein er hat mir auch manche heitere Stunde bereitet, besonders wenn ich um die »Quellen« meiner Stoffe befragt wurde.
So bat mich ein gelehrter Freund um Angabe jener (vielleicht bloß handschriftlichen?) Wetzlarer Chronik, woraus die Novelle vom »stummen Ratsherrn« geschöpft sei, die Geschichte jenes Hundes, der seinen Herrn erzogen hat. Ich mußte ihm antworten, daß jener Hund kein anderer gewesen als mein eigener ungezogener Rattenfänger, mit dessen Dressur ich mich entsetzlich geplagt habe. Ich fand aber zuletzt, daß der Hund mich viel mehr bändigte als ich den Hund. Und hiermit hatte ich einen Novellenstoff, nur ließ sich derselbe phantastischer und psychologisch reicher in der phantastischen Welt des vierzehnten Jahrhunderts ausführen als in der Gegenwart, wo wir so gute Schulen haben, daß wir einer Erziehung durch unsere Hunde kaum mehr bedürfen. Die Kämpfe reichsstädtischer Zünftler und Patrizier boten mir allerlei unerwartete Fäden der novellistischen Verwicklung; also griff ich in diese Sphäre, schlug aber wiederum nicht erst Chroniken nach, denn wer die Chronik nicht im Kopfe trägt, wer nicht lebt in den fernen Räumen der Geschichte, der kann nur hölzerne historische Novellen schreiben. Der Hund aber, welcher in keiner Chronik steht, lebt gleichfalls heute noch und liegt neben meinem Schreibtisch; er hat die Freude, sich bereits in verschiedenen Auflagen gedruckt zu sehen, aber trotzdem daß er sozusagen ein literarischer Hund geworden, war es doch nur das Alter, was ihn zuletzt gebändigt hat.
So könnte ich fast Novellen über meine Novellenstoffe schreiben, und wenn ich dann eine richtig zur anderen reihte, so gäbe es ein Fragment novellistischer Selbstbiographie. Wäre ich freilich kein Professor der Kulturgeschichte, durchlebte ich nicht jahraus, jahrein unsere deutsche Geschichte, und zwar im Kreise der akademischen Jugend, so würden meine Novellen schwerlich das mannigfache historische Kolorit bekommen haben, welches sie jetzt, gut oder schlimm, auszeichnet.
Der Redakteur eines geschätzten belletristischen Blattes bat mich um eine Novelle unter dem charakteristischen Beifügen: »Im buchhändlerischen Interesse wäre es uns erwünscht, wenn dieselbe in der neueren Zeit spielte.« Also fürchtet man sich vor der Geschichte? Die große Masse unserer Feuilleton-Novellistik sucht allerdings die moralische Krankenstube der vornehmen modernen Salons. Allein da ist mir die Luft zu dick. Meine Antwort lautete: »Ich bin ein geborener Rheinländer, und am Rhein gilt uns eine Gegend für gar keine rechte Landschaft, wenn nicht hinten wenigstens eine alte Burg zu sehen ist. Im Vordergrunde genießen wir dann doch die Gegenwart so fröhlich wie irgend andere Deutsche. Ich erzähle Geschichten am liebsten aus einer Zeit, die selbst bereits Geschichte geworden. Denn die Geschichte breitet Frieden und Versöhnung über den Kampf, und ich möchte nicht im Byronschen Sinne aufregen, sondern im Goetheschen anregen, wenn ich erzähle. Doch billigen Wünschen verschließe ich mich nicht. Ich habe soeben eine Novelle aus dem elften Jahrhundert in der Feder; ich will sie beiseitelegen. Geben Sie mir von heute ab fünfthalbhundert Jahr zu, dann komme ich Ihnen aus dem elften Jahrhundert gleichfalls um fünfthalbhundert Jahre entgegen, und wir treffen in der Mitte zusammen: ich will Ihnen eine Novelle aus der Zeit des Kaisers Sigismund schreiben. Höher kann ich für diesmal nicht herab.« So geschah es. Aber ich merkte doch wieder, wie tief ich in der Ecke saß.
Von dieser figürlichen Ecke kehre ich wieder zu unserer wirklichen Münchener Ecke zurück. Sie besteht längst nicht mehr. Zuerst begruben wir die zwei jüngsten Frauen der Ecke, dann unsere gute alte Staatsrätin. Es kamen neue Zeiten, neue bedeutende Persönlichkeiten, welche uns nach dieser und jener Seite auseinanderzogen; Geibel ging nach Lübeck. Die Ecke ist eine verklungene Sage geworden, darum konnte ich nach meiner Art jetzt auch in einem Novellenbuch von derselben reden.
Die guten Lehren, die lebendigen Anregungen der Ecke habe ich aber niemals vergessen; ja, ich glaube novellistisch sogar fortgeschritten zu sein im Geiste der Ecke. Je mehr ich innerlich erlebte Novellen schrieb, um so klarer erkannte ich, daß die Novelle nichts anderes darstellen kann als die Konflikte eines psychologischen Problems, durch eine Geschichte gelöst, in der sparsamen, knappen Kunstform des erzählenden Vortrags. Je mehr und je wahrhaftiger einer zu erzählen hat, um so weniger wird er schildern und reflektieren, um so weniger Worte wird er machen.
Nun will aber niemand bloß sparsam, jeder möchte zugleich auch reich erscheinen, ja zeigen, daß er sogar ein Verschwender sein könnte, wenn er nur wollte. Das haben denn auch gute Novellisten getan: sie schrieben viele und vielerlei Novellen, da schloß sich ihr Reichtum auf. Hätte uns Boccaccio nur seine fünf besten Novellen hinterlassen, so wäre der arme Mann längst verschollen; allein er schrieb ein Buch von hundert Novellen, und das vermag nur ein reicher Mann. Unter jenen hundert ist freilich gar manche Geschichte, die wir heutzutage nur noch eine Anekdote nennen würden; denn wir fordern auch bei der knappsten Novelle doch mit Recht weit mehr Fülle und Tiefe als die alten Italiener vor fünfhundert Jahren. Allein fünfzig Novellen als Gesamtwerk, das wäre doch auch heute noch ein Wort, und der Verfasser könnte dabei zeigen, daß er nicht aus Armut sparsam im einzelnen war, sondern als ein kluger Haushalter, der seine Kapitalien ausnützt, indem er sie zusammenhält.
Nachdem ich darum die wahre Natur der Novelle erkannt hatte, beschloß ich, fünfzig Novellen zu schreiben zu einem Gesamtwerk, welches eine ernste Lebensaufgabe umschlösse und auf Grund dessen man mich einen Novellisten nennen könnte. Ich habe bis jetzt vierzig Novellen – seit den Tagen der Ecke – veröffentlicht, und wenn mir Gott Kraft und Lust und Leben läßt, dann hoffe ich's auch noch auf fünfzig zu bringen. Fünfzig scheint eine große Zahl, und es steckt auch eine große Summe von Fleiß und Mühe, hoffentlich ganz unbemerkt, dahinter. Bedenkt man aber alle die Neigungen, Leidenschaften, Launen und Torheiten, welche wir Menschen uns fortwährend zu novellistischen Problemen wechselsweise entgegenbringen, dann wird sie winzig klein. Und da ich mir überdies die deutsche Kulturgeschichte eines vollen Jahrtausends als stets wechselnde Bühne für das Spiel dieser Probleme ausersehen habe, so wäre es fast möglich, ich ginge sogar noch über die karge Ziffer fünfzig hinaus. Erfindungen und Pläne hätte ich leicht für fünfhundert; allein wer nicht zehnmal mehr auszuführen im Kopfe hat, als er hinterdrein wirklich ausführt, der soll bei solchen Dingen gar nicht anfangen.
Mancher wird über diese Gedanken lächeln und meinen, da stünde ich nun wieder recht wunderlich in der Ecke. Ich lächle mit – und erzähle weiter.
W. H. R.
An Herrn Kapellmeister ***
– – – Sie behaupten, meine Novellen seien zu kurz, und versichern mir, daß viele meiner Leser diese Ansicht teilen: – wenn man sich eben recht warm einzuleben beginne in eine Riehlsche Geschichte, dann sei die Geschichte aus.
Ich glaube aber nicht, daß meine Novellen zu kurz sind, sondern daß Sie, verehrter Freund, und viele andere dieselben zu geschwind lesen. Man lese sie nur langsam, so werden sie schon länger, und wenn sie dann immer noch nicht lang genug sind, so lese man sie gleich zweimal, dann werden sie ganz gewiß lang genug.
Die alten Sonatenkomponisten schrieben bei jedem Satz einer Sonate die Wiederholung vor, weil sie kurz und gedrungen arbeiteten. Die Kürze gehörte zum Wesen einer Sonate. Als die langen Sonaten kamen, war die Sonatenzeit vorbei. Heutzutage darf man keine kurzen Sonaten mehr schreiben: gottlob, daß wir noch kurze Novellen schreiben dürfen!
Ich habe meine Novellen allezeit sonatenhaft knapp und gedrungen gehalten; denn eine lange Novelle ist nicht, wie manche Leute meinen, ein Roman: sie ist nur eine mißgestaltete Novelle.
Es wäre in der Tat vortrefflich, wenn auch der Novellist Wiederholungszeichen setzen und da capo schreiben dürfte wie der Musiker. Eine Novelle, die man nicht zweimal lesen mag, verdient auch nicht, daß man sie einmal lese.
Übrigens trägt jede Novelle doch wieder ihr besonderes Lesetempo in sich, und es scheint mir fast zweckmäßig, daß der Dichter die Tempi seiner Novellen vorzeichnete wie der Komponist die Tempi seiner musikalischen Sätze. Für den vorliegenden Novellenband mache ich folgenden Versuch: Das verlorene Paradies – Allegro con spirito. Wanda Zaluska – Larghetto. Seines Vaters Sohn – Allegro moderato e comodo. Mein Recht – Grave. Burg Neideck – Tempo di Menuetto. Der alte Hund – Andante religioso.
Diese Überschriften sind nicht erst hinterdrein ersonnen; schon beim ersten Entwurf einer Novelle schwebt mir immer ein charakteristisches Tempo vor, wohl auch das Bild einer Tonart in Dur oder Moll. Bei der Gliederung der Kapitel verfahre ich architektonisch-musikalisch, als ob es Tonsätze wären, und baue den Gesamtplan am liebsten auf zwei thematische Motive, im doppelten Kontrapunkt, wie aufmerksame Leser schon längst entdeckt haben.
Doch zurück zum Tempo! Der Pulsschlag des Zeitmaßes deutet in der Musik wie anderswo zugleich den Pulsschlag der Stimmung an, die das Werk durchdringt und beherrscht, und so erraten Sie denn aus jenen Überschriften nicht nur, ob Sie eine Novelle langsamer oder geschwinder lesen sollen, sondern auch, ob dieselbe Ihrer eigenen augenblicklichen Stimmung sympathisch sein dürfte oder nicht.
Es wechselt in dem Buche Scherz und Ernst, lichter und dunkler Farbenton, und es wäre schlimm, wenn sechs Novellen nicht auf sehr verschiedenen Grundakkorden der Stimmung ruhten; trotzdem strebte ich, daß allen eines gemein sei: die Stimmung des heiteren Behagens, der tiefinneren Versöhnung, des reinen, klaren Abendfriedens.
In diesem Sinne nannte ich das Buch: »Am Feierabend«. Nicht weil ich als Novellist nunmehr Feierabend hätte machen wollen, »Schicht machen«, wie die Bergleute sagen, – auch nicht, weil ich die sechs Geschichten so nebenher am Feierabend geschrieben hätte, wann ich eben nichts Gescheiteres zu tun gewußt, sondern weil der Friede des Feierabends in meiner Seele einzog, sooft ich die Feder zu diesen kleinen Gebilden ansetzte, und weil ich den Feierabend auch in die Seele meiner Leser tragen möchte.
München, am Silvesterabend 1880.
W. H. Riehl
Dieses Buch beschließt den Zyklus meiner »Fünfzig Novellen«, die, in sieben Bänden nach und nach veröffentlicht, ein Ganzes bilden, an welchem ich zweiundvierzig Jahre lang gearbeitet habe.
Ich will zuerst von dem Gesamtwerk ein paar Worte reden, bevor ich von dem vorliegenden Schlußband spreche.
Mein Plan war, als Novellist einen Gang durch tausend Jahre der deutschen Kulturgeschichte zu machen, vom neunten Jahrhundert bis ins neunzehnte, und es ward mir vergönnt, diesen Gang hiermit zu Ende zu führen. Jede meiner Novellen ist für sich nur ein kleines Genrebild, aber eine jede hat ihren zeitgeschichtlichen Hintergrund, und so verbinden sich alle schließlich doch zu einem großen historischen Gesamtgemälde. Vielleicht erlebe ich es noch, die sämtlichen fünfzig Novellen als ein einheitliches Werk gedruckt zu sehen unter dem Titel: »Durch tausend Jahre«. Dann werden sie vielleicht auch als ein Ganzes beurteilt werden, was ich jetzt noch niemand zumuten kann.
Die Stationen meines Weges waren folgende:
Älteste Zeit: Liebesbuße. König Karl und Morolf. Das Buch des Todes. Im Jahr des Herrn.
Romantisches Mittelalter: Der alte Hund. Die Gerechtigkeit Gottes. Damals wie heute. Der Dachs auf Lichtmeß. Die Ganerben. Der stumme Ratsherr. Das Spielmannskind.
Reformation und Renaissance: Die vierzehn Nothelfer. Vergelt's Gott. Die Lehrjahre eines Humanisten. Die zweite Bitte. Mein Recht. Jörg Muckenhuber. Wanda Zaluska.
Zeit des Dreißigjährigen Kriegs: Der Fluch der Schönheit. Die rechte Mutter. Die Werke der Barmherzigkeit. Gräfin Ursula.
Rokokozeit: Reiner Wein. Die Hochschule der Demut. Fürst und Kanzler. Ovid bei Hofe. Rheingauer Deutsch. Der Leibmedikus. Ungeschriebene Briefe. Amphion. Die Lüge der Geschichte. Burg Neideck. Der Hausbau. Der Stadtpfeifer. Demophoon von Vogel. Meister Martin Hildebrand.
Revolutionszeit: Gespensterkampf. Der Zopf des Herrn Guillemain. Das Quartett. Die glücklichen Freunde. Trost um Trost.
Neuzeit: Abendfrieden. Gradus ad Parnassum. Der verrückte Holländer. Seines Vaters Sohn. Der Märzminister. Das Theaterkind. Dichterprobe. Das verlorene Paradies. Am Quell der Genesung.In unserer Ausgabe wurden einige Umstellungen vorgenommen. Der Herausgeber.
Die sieben Bände, in welchen diese fünfzig Novellen nach und nach erschienen sind, führten je ihren besonderen Titel. Auch diese Titel haben ihre kleine Geschichte, sie ergänzen und erläutern sich und bilden zusammen eine Signatur des Gesamtwerkes.
Ich begann zu erzählen aus Lust am Erzählen. Dies war und blieb immer meine wichtigste »Tendenz«. Wir erzählen aber am liebsten von dem, was uns lieb ist, und lieb war mir vor allem unser deutsches Land und Volk. Darum blieb ich stets auf deutschem Boden.
Das Volk ist aber niemals bloß Gegenwart; es lebt und webt unablässig im Werden und Vergehen der Geschichte, und wer sein Volk als lebendiges Ganze erfassen will, der wird ebenso fest auf die entschwundenen Geschlechter blicken wie auf das lebende; er wird selbst in der Gegenwart immer zugleich die Vergangenheit und Zukunft sehen. Die alten Romantiker flüchteten sich von der Gegenwart in eine oft nur erträumte Vergangenheit: das war beschränkt. Heute glauben viele Dichter und Künstler, die Kunst müsse die Vergangenheit fliehen, um sich ganz in die Taten und Charaktere unserer Zeit einzuspinnen: das ist ebenso beschränkt. Ich wahrte mir in diesen Novellen den größeren, freieren Horizont, indem ich die Vergangenheit unseres Volkes suchte und seine Gegenwart nicht floh.
Die Personen einer jeden Novelle sind immer kulturgeschichtliche Charaktere, sie wurzeln in ihrer Zeit und in ihrem Lande. Und jede Zeit hat ihre besonderen Leidenschaften, ihr besonderes Glauben, Lieben und Hassen in und neben dem allgemein Menschlichen, ihre besonderen Konflikte, kurzum ihre besonderen Novellenstoffe und Novellenfiguren. Die erzählende wie die dramatische Dichtung wird arm und einseitig, wenn sie es aufgibt, die Kämpfe und Rätsel des Menschendaseins in jener unendlichen Mannigfaltigkeit darzustellen, wie sie durch den bewegenden Geist der Geschichtsepochen bedingt werden.
Solche Einseitigkeit trachtete ich zu meiden, und in diesem Sinne habe ich den ersten Band meiner Novellen »Kulturgeschichtliche Novellen« genannt. Das war zu einer Zeit (1856), wo die Wissenschaft der Kulturgeschichte einen neuen Aufschwung nahm und wo man mich selber einen »Kulturhistoriker« zu nennen begann.
Allein ich fand bald, daß jener Novellentitel mißverstanden wurde. Man suchte in meinen Novellen Kleinmalerei alter Sitten und Bräuche, Schilderung geschichtstreuester Szenerie, echtesten Kostüms, ein Museum von Privataltertümern – und gerade das alles hatte ich nach Kräften geflohen oder doch nur ganz leise angedeutet und in den Hintergrund gedrängt. Ich wollte ja erzählen, nicht schildern, und der historische Geist der Menschen war mir wichtiger als ihr Rock. Ich habe viel gesündigt, allein in der Manier der»Butzenscheiben-Novellistik« sündigte ich niemals, obwohl ich kraft meines Berufes hier die schönsten Sünden mühelos hätte aus dem Ärmel schütteln können. Um solchem Mißverständnis zu entgehen, gab ich dem zweiten und dritten Bande meiner Novellen einen ganz anderen Titel und nannte sie: »Geschichten aus alter Zeit«. In einer Geschichte soll vor allen Dingen etwas geschehen; der Gang der Handlung, die Erfindung ist die Hauptsache. Eine Geschichte soll gut erzählt werden; der gute Erzähler aber ist knapp in seinem Vortrag, er bleibt bei der Stange und schweift nicht aus in Betrachtungen und Malereien, er regt Stimmungen und Gedanken an und überläßt es dem Zuhörer, sich seine weiteren Stimmungen und Gedanken danach selbst zu machen. Ein Vortrag, entsprechend dem Stil des alten Holzschnitts, sitzt darum solchen knappen Geschichten besonders gut; deswegen wollte ich jene beiden Bände anfangs sogar »Holzschnitte« nennen, allein der Verleger fand den Titel allzu kühn. Und da mir hierbei ganz besondere Holzschnitte nach der Kunst und Art eines der edelsten und deutschesten modernen Künstler – Ludwig Richters – vorschwebten, so hatte ich meine Geschichten Ludwig Richter gewidmet.
Diese »Geschichten« sind viel echtere Novellen als die vorhergegangenen »Kulturgeschichtlichen Novellen«; ja, ich war durch sie erst zum Bewußtsein der eigentlichen Novellenform gekommen. Allein statt des etymologisch nichtssagenden italienischen Namens Novelle hatte ich den bedeutsameren gut deutschen der Geschichte gewählt, der »Geschichten«, wie man sie sich am häuslichen Herde erzählt.
Hiermit wurde ich wiederum erst recht mißverstanden. Es wäre ja auch höchst langweilig in dieser Welt, wenn sich die Menschen nicht fortwährend mißverständen. Manche Leser glaubten, die »Geschichte« solle eine novellistische Kleinigkeit, eine Bagatellnovelle bezeichnen, etwa wie man die Sonatine neben und unter die Sonate stellt. Andere faßten im Gegenteil den Titel viel zu feierlich und meinten, historische Tatsachen, welche ich in Chroniken und Archiven aufgespürt, seien der Kern meiner Geschichten, und manche wünschten wohl gar einen Anhang von Quellenbelegen, indes doch die meisten und besten Quellen nur in meinem Kopf zu suchen waren. Trotzdem hätte ich auch zahlreiche und mitunter recht interessante literarische Quellenzitate beifügen können; ja zu den sämtlichen fünfzig Novellen ließe sich leicht ein ganzer Band voll solcher gelehrter Hobelspäne zusammenbringen. – Ich werde mich wohl hüten, dies zu tun. Um die falschen Auffassungen der »Geschichten« zu zerstreuen, nannte ich den vierten Band kurzweg »Neues Novellenbuch«, mit vollstem Akzent auf der »Novelle«. Ich hielt damals einen Vortrag »Novelle und Sonate«, der im zweiten Band meiner »Freien Vorträge« abgedruckt ist und in welchem ich das Wesen der Novelle durch das geist- und formverwandte Wesen der Sonate zu erläutern suchte. Dies war wiederum verkehrt: um das Bekanntere klarzustellen, verglich ich es mit dem Unbekannteren. Denn es gibt heutzutage doch viel mehr Leute, welche wissen, was eine Novelle, als solche, die da wissen, was eigentlich eine Sonate ist. Und zwar wissen letzteres unsere Sonatenkomponisten oft am allerwenigsten, sonst machten sie ihre Sonaten nicht so lang und breit.
Der fünfte Band trägt die Aufschrift: »Aus der Ecke«. Ich zeigte in dessen Vorwort, wie ich novellistische Schule gemacht habe in dem fröhlichen Verkehr eines künstlerischen Freundeskreises, der sich »die Ecke« nannte, und wie ich den eigensten Inhalt meiner Novellen, gleichviel in welchem Jahrhundert sie spielen, zuletzt doch aus meinen persönlichsten Erlebnissen geschöpft habe als ein Mann, der am liebsten behaglich in seiner Ecke steht und von dort frei hinausblickt in das Getümmel der Welt. Als Novellist muß ich nämlich immer versichern, daß ich kein Professor bin, und als Professor, daß ich kein Novellist bin. Zu Schillers Zeiten wären dergleichen Verwahrungen noch überflüssig gewesen.
Der Titel des sechsten Bandes »Am Feierabend« tritt ergänzend zu dem vorigen. Ich erzählte alle meine Novellen in Feierabendstimmung und wünsche, daß sie diese Stimmung beim Leser erwecken möchten. Ich huldige nämlich der seltsamen Ansicht, daß die Kunst uns mit uns selbst und mit Gott und der Welt versöhnen solle, indem sie uns in allen Dissonanzen des Lebens doch zuletzt die hohe Harmonie von Gottes schöner Welt zu Gemüte führt, daß sie also nicht berufen sei, uns niederzudrücken, indem sie uns quält, sondern uns zu erheben, indem sie uns erfreut.
Wir stehen, leben und weben in unserem Volke und in der Zeit, und so zeichnete ich die Einzelcharaktere und ihre Schicksale in ihrem Zusammenhange mit dem Volkscharakter und der historischen Epoche. Aber jedes kleinste Menschendasein gehört auch der ganzen Welt und allen Zeiten, denn es steht inmitten der großen göttlichen Weltordnung, die uns in den Geschicken unseres eigenen kleinen Daseins gerade als das größte Rätsel erscheint. Mögen wir die heiterste oder die ernsteste Geschichte in uns selbst erlebt oder bei anderen beobachtet haben, mag sie zu komischem oder zu tragischem Schlusse führen: – der Zufall hatte doch immer seine Hand im Spiel.
Der Zufall!
Ein religiöses Gemüt kennt keinen Zufall, denn der Zufall ist ihm gerade das Notwendigste, über unserem freien Willen stehend – im Willen Gottes –, das kleine Rätsel im großen Welträtsel. Und so gibt jede echte Novelle bei aller klarsten Lösung der psychologischen Probleme – gleichviel ob sie mit unseren Grillen und Launen spielt oder die dämonischen Tiefen der Leidenschaft enthüllt – dem Leser doch immer zugleich ein Lebensrätsel auf. In diesem Sinne wählte ich den Titel dieses letzten Bandes und schloß das Gesamtwerk, welches den Leser durch tausend Jahre führt, mit einer Rittergeschichte, die aber heute wie gestern, die zu allen Zeiten spielt; sie heißt: »Die Gerechtigkeit Gottes«.
Starnberg, am 11. August 1888.
W. H. R.