Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre – Vierter Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Am Quell der Genesung

1880

I.

Herr Eugen Milett war ein glücklicher Mann: es fehlte ihm gar nichts.

Und doch war er nicht ganz glücklich, eben weil ihm gar nichts fehlte. Er wußte nicht, wie glücklich er war!

Wer niemals unter die Traufe gekommen ist, der weiß nicht, wie es wohltut, ein trockenes Hemd auf dem Leibe zu haben; und dieses Gefühl ist so behaglich, so erquickend, daß man sich sogleich auf die Haut naß regnen lassen möchte, um hinterdrein recht wonnig in einem trockenen Hemde schwelgen zu können. Herr Milett aber war niemals unter die Traufe gekommen, und weil ihm gar nichts fehlte, so fehlte ihm eben dieses.

Er konnte tun, was er wollte; darum wußte er häufig nicht, was er tun solle. Jetzt befand er sich auf einer Reise nach Wien; nach Wien aber reiste er lediglich aus dem Grunde, weil er noch niemals dort gewesen war. Er kannte Rom und Neapel, Paris und London, Berlin und Amsterdam; nur wenn die Rede auf Wien kam, dann mußte er allemal sagen: »Zu meiner Schande bekenne ich, daß ich Wien noch nicht gesehen habe.« Er wollte die Schande dieses Bekenntnisses loswerden, und zwar gründlich, er wollte Wien gründlich kennenlernen, Wien studieren, denn Herr Eugen Milett war ein hochgebildeter und bildungsbedürftiger Mann; wie hätte er sonst auch glücklich sein können, da er weder ein Bauer noch ein Kapuziner war?

Aber er kannte auch Kopenhagen nicht, und Kopenhagen soll gleichfalls eine sehr sehenswerte Stadt sein. Er schwankte lange, ob er zuerst nach Kopenhagen gehen solle und dann nach Wien oder zuerst nach Wien und dann nach Kopenhagen; er schwankte sogar noch auf der Reise und reiste darum langsam, auf Umwegen, mit Unterbrechungen, die großen durchgehenden Schnellzüge vermeidend, die ihn mit impertinenter Rücksichtslosigkeit sofort entweder nach Wien oder nach Kopenhagen geschleudert hätten.

»Es ist ein' harte Reis',
Wenn man den Weg nicht weiß«,

so sangen früher die wandernden Handwerksburschen.

Unser Reisender kam aus dem Nordwesten, aus dem Hannoverschen, wo seine großen Landgüter lagen. Da ihn nun aber das Fatum der Lokalfahrpläne bereits bis nahe zur böhmischen Grenze geführt hatte, so schwand endlich die Qual der Wahl, und er war am dritten Reisetage fest entschlossen, zunächst die Kaiserstadt an der Donau zu besuchen.

Der Tag war wunderschön, ein prächtiger Junitag, wie auserlesen zum vergnüglichen Fahren und Wandern, der Himmel wolkenlos, die Luft erfrischt durch ein Nachtgewitter; goldener Sonnenschein lag auf den grünen Saatfeldern, die Lerchen wirbelten, die Kinder spielten im Schatten, und die Alten mähten in der Sonne das erste Gras so frohgemut, als ob auch ihnen die Arbeit heute ein Spiel wäre.

Herr Milett schaute aus dem offenen Fenster des Coupés in die helle Landschaft, die so lustig vorüberrollte und die er so bequem genießen konnte, denn er saß ganz allein in einem Wagen erster Klasse. Und er konnte sich die erste Klasse wohl gönnen, ja er wußte gar nicht, wie es tut, wenn man zweiter oder dritter oder gar vierter Klasse fahren muß: – die Steuer, welche er jährlich dem Staate bezahlte, belief sich höher als das Jahresgehalt eines Kommandierenden Generals. Er war ein geborener Passagier erster Klasse.

Trotzdem fand er diese Klasse höchst unbequem und räsonierte darüber angesichts all der Frühlingssonnenpracht. Er »räsonierte inwendig«, – und gerade beim Eisenbahnfahren kann man so gut inwendig räsonieren! Mit dem Sausen der Wagen, mit dem Rasseln der Räder wächst unser Zorn, und die Hetzjagd unserer grollenden Gedanken verbindet sich mit der Flucht und Jagd des Zuges zu einer rasenden Doppelfuge.

»Wir prahlen heutzutage so gern mit dem Wunderwerke unserer Eisenbahnen« – so räsonierte Herr Milett – »und blicken mitleidig auf die Großvaterzeit der Postkutschen. Unsere Enkel aber werden uns wiederum bemitleiden über diese Eisenbahnen, die ihnen nicht besser dünken dürften wie uns die alte gelbe Kutsche; sie werden es nicht begreifen, wie wir uns solch plumpen, unbequemen, gefährlichen Bahnzügen anvertrauen mochten, mit Staub und Rauch und Ruß bedeckt, in allen Nerven erschüttert, in enge Coupés hilflos zusammengepfercht. Denn binnen fünfzig Jahren wird man riesig fortgeschritten sein im Wettkampf der Erfindungen, man wird ein unendlich vollkommeneres Fuhrwerk besitzen. Die Wagen der elektrischen Bahn werden aus Kautschuk bestehen und sanft und unhörbar über die Schienen gleiten; stoßen zwei Züge zusammen, dann werden die Passagiere einen angenehmen Druck empfinden wie von einer kräftigen Umarmung, aber rasch wieder aufatmen, und stürzt ein Zug vom Bahndamm herab, dann springt er unten auf wie ein Gummiball und steht sofort wieder auf den Rädern, und die Fahrgäste, welche etwas durcheinandergerüttelt wurden, setzen sich wieder auf ihre Plätze und lachen über den lustigen Zwischenfall.«

Herr Milett, der die Räder seiner eigenen Equipage ohnehin schon mit Gummi hatte beziehen lassen, dachte sich einen solchen Gummizug als den Triumph der Zukunft und meinte, wir könnten ihn auch schon als einen Triumph der Gegenwart haben, wenn wir nur die Hälfte der Millionen, die wir für verbesserte Mordwerkzeuge ausgeben, auf dieses Gummi verwenden wollten.

Er philosophierte dann weiter über den Fortschritt, den unendlichen Fortschritt der Menschheit. Und beim Eisenbahnfahren philosophiert sich's so gut.

Demungeachtet konnte er den unendlichen Fortschritt nicht rund kriegen, diesen unendlichen Fortschritt, der ja der letzte Trost des modernen Menschen ist wie die ewige Seligkeit der letzte Trost der altmodischen Leute. Denn bei tieferem Sinnen fand Herr Milett, daß endloser Fortschritt, genau besehen, eine endlose Qual wäre, weil nur die Gewißheit eines erreichbaren Zieles, weil nur das Ziel selber uns beglücke, – und die ewige Seligkeit eine unselige Langeweile, weil Kämpfen nur und Ringen, weil nur der Fortschritt uns befriedet.

Diese Gedanken, die im Zirkel liefen, hatten etwas Austrocknendes. Herr Milett öffnete deshalb seinen Handkoffer und entkorkte eine Flasche Portwein. Er war gut, hätte jedoch besser sein können. Unsere Nachkommen im zwanzigsten Jahrhundert – rastlos fortschreitend – werden ohne Zweifel weit besseren Portwein trinken als wir.

»Seltsamer Trost eines Fortschrittes der Menschheit, den wir nicht erleben, den wir nicht mitgenießen werden! Hätten wir nur wenigstens die Gewißheit, dereinst vom Himmel herab mit ansehen zu dürfen, wie aus unserer Mühe und Plage künftigen Geschlechtern ein beglückteres Dasein erblüht, blieben wir nur über das Grab hinaus in bewußtem Zusammenhang mit dieser fortschreitenden Menschheit, dann könnten wir uns wohl trösten über das elende Dasein, welches uns traf, weil wir zufällig ein paar tausend Jahre zu früh geboren wurden! Doch für diese Hoffnung vermögen wir höchstens im dunkeln Glauben zu schwärmen – genau so wie für andere Ideale des gläubigen Gemüts. Und so wirft uns die klare Erkenntnis des Fortschrittes der Menschheit zuletzt doch wieder in ein Schattenspiel der Phantasie und Vorstellung zurück, dem wir durch eben diese Erkenntnis entrinnen wollten!«

So dachte Herr Milett, ließ sich aber trotzdem den mittelmäßigen Portwein der Gegenwart vortrefflich munden.

Da jedoch im rätselhaften Kreislauf des Lebens das Trinken hungrig macht wie andererseits das Essen durstig, so öffnete er den Handkoffer zum zweitenmal und enthüllte ein kleines Päckchen, in welchem drei gebratene Krammetsvögel höchst appetitlich eingeschlagen waren. – Krammetsvögel im Juni!

Im Juni fängt man bei uns bekanntlich keine Krammetsvögel. Allein wenn man die im Oktober gefangenen Vögel leicht brät und dann in Butter eingießt, so erhalten sie sich bis in den Sommer. Vor dem Verspeisen läßt man sie noch einmal ganz leicht aufbraten. Feine Zungen finden solche eingebutterte Krammetsvögel weit köstlicher als die frischen, ja sie ziehen sie sogar der Schnepfe vor.

Herr Milett hätte bei seinen Vögeln schon zufrieden sein können. Sie schmeckten ihm auch ganz gut, und er saß so breit auf dem weichen Polster, und ein kühles Lüftchen spielte ihm durchs Wagenfenster erquickend um die Stirn.

Allein er dachte nach über die Mängel der Weltordnung, die uns arme Sterbliche im Dunkeln tappen läßt und also für uns nur eine große Unordnung ist, und über die Weltvernunft, die ihm sehr unvernünftig dünkte, als er beim dritten Krammetsvogel den letzten Becher leerte.

Der unglückliche Mann! – wenn ihm nur etwas gefehlt hätte. Aber es fehlte ihm gar nichts.

Hätte Arthur Schopenhauer nicht so bequem von seinen Renten gelebt, so wäre ihm der Pessimismus schwerlich eingefallen. Elende Zeiten und arme Menschen klagen sich selber an und loben den lieben Gott; gesegnete Zeiten und reiche Leute loben sich selbst, aber unser Herrgott macht's ihnen in allen Ecken nicht recht.

Und wir leben in einer gesegneten Zeit, und Herr Milett war ein reicher Mann.

Er war auch obendrein noch ein junger Mann. Fünfundzwanzig Jahre alt, erfreute er sich des köstlichsten Gutes, der Jugend, und zwar eben in den schönen Tagen, wo wir nicht mehr älter zu sein begehren – wie die Kinder – und noch nicht jünger zu sein wünschen – wie die Leute in jenen »besten Jahren«, die wir mit melancholischem Selbstbetrug die besten nennen, weil wir nicht Wort haben wollen, daß sie eigentlich der Anfang der schlechten sind.

Und stand Eugen Milett im schönsten Alter eines jungen Mannes, so stand vollends seine Frau im allerschönsten der weiblichen Jugend, im zwanzigsten Lebensjahre. Der Glückliche, welcher alles besaß, hatte nämlich auch eine reizende, liebenswerte und geliebte Frau, die den schönen Namen Doris führte.

Sie war seine Kusine, und sie war in seinem Elternhause erzogen worden. Aus Kinderfreundschaft war ihre Liebe erwachsen, ganz still und leise, wie die Knospe Blüte wird über Nacht, man weiß nicht, wie es gekommen ist. Er hatte ihr »das erste Du« gesagt, als er sie zum erstenmal sah, und sie hatte ihr erstes Du erwidert, als sie die ersten Worte zu stammeln begann; sie hatten sich den ersten Kuß gegeben, unbekannt wann! in jener mythischen Vorzeit der Kinderschule, von der sie selbst nichts Genaues mehr wußten.

Eine Liebe ohne äußere Kämpfe und doch voll innerer Schmerzen und Seligkeiten, eine Leidenschaft ohne Katastrophen und doch voll Glut und Flammen, eine vorbestimmte Heirat und doch die harmonische Ehe: – in Romanen hält man dergleichen gar nicht für möglich, aber im Leben soll es manchmal vorkommen.

Seit zwei Jahren verheiratet, hatte sich das zärtliche Paar bis jetzt noch niemals auf längere Zeit getrennt. Unternahm er eine kleine Reise, so war sie mitgereist. Auch diesmal hätte Doris ihren Eugen gerne begleitet; sie deutete es schüchtern an, und sie selber wünschte es anfangs. Denn was ist entzückender und beglückender als eine Vergnügungsreise in Gesellschaft einer Frau, die man von Herzen liebt, die man hinausführt in die frische, freie Welt, eine Reise ganz allein mit der Geliebten und doch nicht ganz allein mit ihr, denn ein dritter reist unsichtbar mit – Amor als Reisemarschall.

Allein andererseits hat es doch auch wieder seine besonderen Annehmlichkeiten, zur Abwechslung einmal ohne Frau zu reisen. Und so reiste Herr Milett diesmal allein.

Am ersten Tage hatte er kaum an seine Frau gedacht; er schickte ihr nur gegen Abend ein Telegramm.

Am zweiten Tage erinnerte er sich lebhaft, wie schön es früher gewesen, wenn sie zusammen reisten; er schrieb ihr abends eine Postkarte.

Heute am dritten Tage sehnte er seine Frau bereits herbei in das einsame Coupé und beschloß, ihr am Abend einen Brief zu schreiben. Über diesem Sehnen vergaß er ganz, daß es doch nirgends jämmerlicher zugehe als in der Welt.

Er sann darüber nach, was Doris wohl gerade jetzt tun werde, um elf Uhr dreißig Minuten vormittags. Sie saß ohne Zweifel am Schreibtische und schrieb an ihn, gewiß, sie schrieb weiter an dem langen Brief, den sie vorgestern schon begonnen hatte. Zwei Jahre bereits verheiratet, war dies doch der erste Brief, den sie ihm als Frau schrieb; denn sie waren ja noch nie getrennt gewesen. Wie anmutig saß sie da im leichten Morgenkleide! Jetzt hebt sich das Köpfchen, – das treue blaue Auge blickt durchs offene Fenster sinnend, träumend in die Ferne, – sie schaut ihn leibhaft im Geiste, so hell und klar, wie er sie eben sieht. Dann schreibt sie fort mit jener fliegenden Feder, die nur Frauenhände führen, – gleich einer Schlittschuhläuferin gleitet die Stahlspitze über die glatte Fläche des Briefbogens. Beneidenswerte Grazie der leichten weiblichen Hand! Wenn er selber Briefe schrieb, dann war es ihm vielmehr zumute, als wate seine Feder im tiefen Sande. Doch jetzt springt Doris wieder auf und starrt in die Wolken, als erhasche sie von dort neue Bilder, neue Gedanken – für ihn.

Ganz versunken in diese Vision hatte Herr Milett gar nicht bemerkt, daß der Zug an einer Station hielt. Die Wagentüre öffnete sich, und eine hünenhafte Gestalt schob sich herein, ein dicker, breitschulteriger Mann, sechs Fuß hoch, vermutlich ein vornehmer Bierbrauer. Er sagte nicht einmal guten Tag, sondern setzte sich ohne weiteres dem verblüfft aufwachenden Herrn Milett bolzgerade gegenüber, als sei er ganz allein auf der Welt und im Coupé. »Muß sich der grobe Mensch mir gerade vor die Augen setzen!« dachte der unglückliche Vergnügungsreisende und wollte in die andere Ecke rücken, allein dort brannte die Sonne. Er blickte den dicken Mann durchbohrend an, er maß ihn von Kopf zu Fuße. Das kümmerte jenen gar nicht, sein Gegenüber schien ihm Luft zu sein! »Nun gut! dann sollst auch du mir Luft sein!« dachte Herr Milett. Er wollte den Fremden, welchen er eben erst in Grund und Boden zu sehen versucht hatte, nun gar nicht mehr sehen und begann mit offenen Augen von seiner Doris weiterzuträumen.

So schön und liebreizend hatte sie kaum jemals vor seinen leiblichen Augen gestanden wie jetzt vor seinen geistigen! Die Ferne verklärt, – aber doch nur auf eine Weile. Denn zwischendurch muß die Nähe wieder hinzukommen und der Ferne neue Verklärungskraft geben. Endlose Ferne wird zur Qual wie der unendliche Fortschritt, stete Nähe wird langweilig wie die ewige Vollendung. Es gehört zu den unausstehlichsten Impertinenzen der Logik, daß etwas nicht zu gleicher Zeit sein und nicht sein kann. Hätte Herr Milett seine Frau zu gleicher Zeit bei sich gehabt und nicht bei sich gehabt, dann wäre er jetzt ganz zufrieden gewesen.

Er schwelgte in diesem undenkbaren Gedanken, als ihm der Hüne, der vornehme Bierbrauer, ins Gesicht gähnte, ohne die Hand vor den Mund zu halten. Man braucht nur ein paar Stunden auf der Eisenbahn zu fahren, um zu entdecken, daß unter hundert Menschen erster und zweiter Klasse kaum fünf gut erzogen sind.

Der ganze Zauber seiner Vision war in den Abgrund dieses Gähnens versunken, die paradiesische Ferne verschlungen von der schauderhaften Nähe! Glaubte er seiner Doris lichtblondes Haar zu sehen, dann schimmerte des Gegenmannes Glatze hindurch; schaute er in ihr quellenklares Auge, dann schoben sich des Bierbrauers rotumränderte Kalbsaugen dazwischen, und die stahlgraue Morgenrobe, welche des geliebten Weibes zierliche, schlanke Gestalt umwallte, verkehrte sich in des Ungeheuers großkarierten Sommerrock, der auch stahlgrau war.

Allein der Mann hatte ein Recht auf seine Glatze, auf seine Augen, auf seinen karierten Rock und vorab ein Recht auf seinen Platz. Und eben dieses Recht ärgerte Herrn Milett ganz grimmig. Das Schlimmste des Schlimmen bei unseren Eisenbahnreisen ist, daß wir jeden beliebigen Nachbar dulden müssen und daß der Nachbar uns wiederum dulden muß, – eine Zwangsgesellschaft wie im Zuchthause. Wenn einmal Herrn Miletts elektrische Gummizüge unhörbar durch die Länder gleiten werden, dann wird man Gesellschaftsräume und Einzelstübchen bei jeder Fahrt zur Auswahl haben können und zu anständigen Preisen. Und dann wird das Reisen auch wieder ein Vergnügen sein.

Inzwischen zündete sich der Eindringling ganz ungefragt eine Zigarre an und blies die dicksten Wolken in die Luft.

Und dazu hatte der Mann kein Recht. Denn an der Wand stand geschrieben, daß man in der ersten Klasse nur unter Zustimmung sämtlicher Mitreisenden rauchen dürfe.

Jener Mensch hatte Herrn Milett beim Einsteigen nicht einmal guten Tag gesagt; dafür wollte Herr Milett ihm jetzt das erste und letzte Wort sagen, indem er ihm die Zigarre verbot. Doch im selben Augenblick hielt der Zug. »Station Huppenberg!« rief der Schaffner, und der Fremde stieg aus.

Nun konnte Herr Milett nicht einmal seinem Ärger Luft machen, indem er den Grobian ärgerte. Doch war er wenigstens den widerwärtigen Gesellen los.

Allein kaum begann er sich in diesem Gedanken zu trösten, als der Schaffner auch ihn zum Aussteigen aufforderte. Huppenberg war Kreuzungsstation, und der Zug nach Böhmen ging erst in zwei Stunden ab.

Mittag! – heißester Sonnenbrand! – das Stationsgebäude ein kleines Haus auf kahler, schattenloser Fläche! – keine Stadt, kein Dorf weit und breit sichtbar – und zwei Stunden Aufenthalt!

»Das nennt man eine Vergnügungsreise!« seufzte der arme Mann, indem er seinen Handkoffer herabnahm und murrend den Wagen verließ.

II.

Shakespeare läßt die verkleidete Viola von sich selber sagen:

»Und so in bleicher Schwermut saß sie da
Wie die Geduld auf einem Monument.«

Es ist vielleicht noch keinem Bildhauer eingefallen, die Geduld plastisch, monumental darzustellen. Und doch wäre ein Denkmal der Geduld eine lohnende Aufgabe. Man könnte das Standbild in Zinkguß billig vervielfältigen zum ortsgemäßen Schmuck einer großen Zahl deutscher »Warte-Bahnhöfe«. Huppenberg verdiente ein solches Standbild vor allen.

Man kann Huppenberg nicht mit der Wartestation Hagen vergleichen, wo man im Getümmel sich selbst verliert; nicht mit der Geduldstation Oberhausen, wo sich uns die schönste Gelegenheit bietet, nach stundenlangem Warten in den falschen Zug zu geraten; nicht mit der Kreuzungs- und Kreuzstation Löhne, wo der Reisende, welcher von Osnabrück nach Bielefeld fährt, Zeit genug hat, dem erwarteten Zuge auf eine Station gemütlich entgegenzuspazieren; nicht mit Bebra, wo uns der prächtige Heldentenor, womit der weltbekannte Pförtner die Züge ausruft, das Warten musikalisch verkürzt; nicht mit Lehrte, Heudeber, Wunstorf, Scherfede, Kreiensen, in deren mehr oder minder schönen Hallen viele hunderttausend Menschen schon eine unendliche Größe von Langeweile zusammengewartet haben. Huppenberg ist nur mit sich selbst vergleichbar.

Herr Milett trat zunächst ins Wartezimmer, wo er wenigstens Schatten zu finden hoffte. Allein in dem engen Raum kochte eine Bruthitze, welche durch eine großgedruckte Empfehlung des Apollinariswassers, den einzigen Schmuck der Wände, nicht gemildert wurde. In der Ecke saß eine einsame Dame und bewachte ihr Handgepäck mit einer Ausdauer, die einer besseren Sache würdig war. Unser Reisender prallte zurück und ging in das Restaurationslokal. Dort aber prallte er noch stärker zurück: es war vollgepfropft mit biertrinkenden, rauchenden Bauern.

Er suchte das Freie, frische Luft und Schatten. Doch nur das kleine Stationshaus warf hier überhaupt einen Schatten, und der fiel gerade auf die Schienen. Nebenan war allerdings eine öffentliche Anlage, der schüchterne Versuch eines Gartens zur Erholung für das Wartepublikum. Sandige Wege schlängelten sich zwischen verdorrtem und zertretenem Rasen, der hie und da durch kleine, verkümmernde Birken- und Tannenbäumchen belebt wurde. Eine Allee von dünnen, größtenteils abgestorbenen Ebereschen verband den »Park« mit dem Hause.

Herr Milett lachte hellauf über diese Karikatur eines Parks, und es jammerten ihn die armen Tannen- und Birkenbäumchen, die offenbar schon lange gepflanzt waren, aber nicht gedeihen wollten. Sahen sie doch aus, als verzehre sie in dieser Einöde das Heimweh nach den Waldesbergen, welche in duftblauer Ferne am Horizont aufstiegen.

Da erspähte er am äußersten Ende der Anlagen einen Holunderbusch, eine Art Laube. Dort kann er Zuflucht finden. Er tritt hinzu und prallt abermals zurück: – ein Mann und ein Knabe saßen dort bereits auf der dürftig beschatteten Bank.

Allein der Mann hat ihn bemerkt, er steht auf und ersucht ihn, Platz zu nehmen. Die Einladung war so freundlich, daß Herr Milett Folge leistete und sich neben den beiden niederließ. Er begann das Gespräch, indem er über das unangenehme Warten an so öder Stätte klagte. Der andere aber entgegnete, er habe sich vielmehr auf die zwei Raststunden in Huppenberg gefreut; er komme jedes Jahr einmal hierher, und da habe er sein Vergnügen an den Birken- und Tannenbäumchen, die er nun schon seit acht Jahren beobachte. »Sie wollten anfangs gar nicht gedeihen; nun wachsen sie doch, mühselig genug, aber sie wachsen, sie werden gesünder. Ach, sie schienen anfangs so krank und unrettbar verloren!«

Bei diesen Worten ward seine Stimme bewegt, er warf einen Blick auf den Knaben und fügte hinzu: »Mein Fritz ist jetzt auch acht Jahre alt!«

Nun wandte Herr Milett das Auge auch auf das Kind. Der arme Junge sah in der Tat den kümmerlichen Bäumchen nur allzu ähnlich. Das Gesicht war so blaß, die Händchen so mager; er schaute den Fremden so wehmütig an mit den großen glänzenden Kinderaugen. Dann rutschte er von der Bank, ergriff eine Krücke, die nebenan gestanden, und hinkte aus der Laube hinaus. Das linke Bein war etwas verkürzt, und das Gehen fiel ihm offenbar sehr schwer.

»Er wird nicht müde, sich die Bäumchen zu betrachten, von denen ich ihm so oft erzählt habe«, sprach nun der Vater. »Das ist alles eine neue Welt für ihn, er wird den heutigen Tag in seinem Leben nicht vergessen, den ersten Tag seiner ersten Reise. Und auch für mich ist heute ein Freudentag; ich genese mit dem genesenden Kinde. Vor einem Monat noch glaubte ich, meinen armen Fritz nur mehr auf einem Weg noch begleiten zu können, auf dem Wege zum Kirchhof. Herr! begreifen Sie, was das für mich jetzt heißt, diese frische, freie Luft frei wieder atmen zu dürfen mit meinem Kinde? unter diesem blauen Himmel dahinzufahren mit ihm in diesem hellen, warmen Sonnenschein? ›Die Sonne meint's gut!‹ sagen die Bauern, wenn sie sticht und brennt, daß man umsinken möchte, und der liebe Gott meint's auch gut mit uns!«

Der Alte schwieg, und auch Herr Milett sprach kein Wort; es war ihm ganz feierlich zumute. Nach langer Pause begann dann jener zu erzählen, daß er mit dem Kinde zur Nachkur ins Bad Rimselrain reise. Es liege drüben in den Waldbergen und besitze eine lauwarme Schwefelquelle von wunderbarer Kraft. Die Badeanstalt in tiefster Waldeinsamkeit biete alles, was bescheidene Leute zu einem gesunden, fröhlichen Leben brauchten, vom Luxus und Schwindel der Modebäder finde sich keine Spur; Rimselrain sei eben noch ein gemütliches Bad nach guter, alter Art, ein rechtes Wildbad, kein Kunstbad. Das wisse er von zuverlässigen Leuten, denn dort gewesen sei er selber noch nicht.

Auch Herr Milett bekannte, noch nicht dort gewesen zu sein und überhaupt in seinem Leben noch kein Wort von dem Schwefel- und Wildbad Rimselrain gehört zu haben.

Der andere fuhr fort: »Der Badebesitzer – er schreibt sich Zacharias Oberg'schwendner – ist ein wahrer Patriarch, wie es deren wenige mehr gibt. Als vor Jahren eine regierende Kaiserin oder Königin die Schwefelkur in Rimselrain gebrauchen wollte und durch ihren Hofmarschall Zimmer bestellen ließ, schrieb Herr Oberg'schwendner zurück, es sei ihm lieber, wenn Ihre Majestät nicht komme, denn sonst müsse er allerlei Verbesserungen machen lassen; ihm und seinen Gästen gefalle es am besten, wenn alles beim alten bleibe.«

Herr Milett hörte staunend zu. Auf dieser Station Huppenberg erschloß sich nicht nur dem kleinen Fritz, sondern auch ihm eine neue Welt. Er war hier einem Menschen begegnet, der sich auf die Wartestunden in dieser Einöde gefreut hatte und diesen sandigen Garten voll Besenreiser merkwürdig zu machen wußte. Und dieser seltsame Mann reiste in ein Bad, dessen offenbar noch seltsamerer Besitzer den Besuch einer Kaiserin abgelehnt hatte, damit ihm und seinen Gästen die Gemütlichkeit nicht gestört werde!

Jetzt erst betrachtete er den Fremden genau mit prüfendem Blick. Derselbe war ärmlich und altmodisch gekleidet, fast wie ein zurückgekommener Handwerker. Aber der Kopf war bedeutend, die tiefgefurchte Stirn zeugte von Gedankenarbeit, die harten, bereits gealterten Züge von schweren Lebenskämpfen; die kleinen Augen lugten scharf unter den starken Brauen hervor, der Mund war fein und sprechend, auch wenn die Lippen schwiegen. Der Mann mochte ein hoher Fünfziger sein.

Diese Betrachtungen blitzten Herrn Milett nur so durch den Kopf. Er wollte nicht weiter rätseln; als der Jüngere stellte er selbst sich rasch dem Fremden vor und nannte seinen Namen, Stand und Wohnort. Und jener erwiderte lächelnd: »Ich heiße Philipp Schmidt, – das ist kaum ein Name, aber ich habe keinen besseren, und er war mir immer gut genug. Ich lebe gegenwärtig in ***« – er nannte eine Stadt der Nachbarschaft. – »Was meinen Stand betrifft, so bin ich eigentlich gar nichts. Doch gehe ich darum nicht müßig: ich gebe lateinische Privatstunden für kleine Jungen, die aufs Gymnasium gehen wollen, um dort etwas zu lernen, und für größere Jungen, die schon längere Zeit dort waren und nichts gelernt haben. Meine Stunden sind gesucht, ich kann von ihrem Ertrage zur Not bescheiden leben. Sonst habe ich nichts.«

»Aber warum suchten Sie bei solchen Kenntnissen kein öffentliches Lehramt?«

»Ich fühle mich glücklicher in meiner Unabhängigkeit, zudem würde meine Methode höheren Orts nicht genehmigt werden. Ich locke meine Schüler zu den Sprachen und lehre sie die großen Alten lieben und suche sie zu Menschen zu erziehen; an unserem Gymnasium schreckt man sie mit den Sprachen und drillt sie in der Furcht der Grammatik zu künftigen Bürokraten. Ich habe gar nichts, aber ich habe meinen eigenen Kopf. Von Haus aus bin ich auch kein Philolog, und in letzter Zeit mußte ich leider meinen Lehrberuf sehr vernachlässigen, weil ich mein armes krankes Kind ärztlich behandeln und pflegen mußte. Es hatte ein schweres Nervenfieber mit verwickelten Nebenleiden; ich habe meinen Patienten glücklich durchgebracht – von hundert Ärzten hätten ihn vielleicht neunundneunzig aufgegeben!, – und mit Gottes Hilfe hoffe ich durchs Schwefelbad nun auch die Kur ganz vollenden zu können.«

»Also waren Sie ursprünglich wohl Arzt?«

»Keineswegs! Ich bin nur gewohnt, alles selber zu tun, was ich irgend vermag. Selbst ist der Mann. Übrigens war ich vorzeiten fünf Jahre Krankenwärter in einem Spital, wo viele Nervenfieber behandelt wurden. Da merkte ich mir den Gang der Krankheit und schrieb mir die Rezepte ab, welche ich zum Apotheker tragen mußte. In unserer naturwissenschaftlichen Zeit sollte die Kunst, ein Nervenfieber zu behandeln, mindestens ebensogut zur ›allgemeinen Bildung‹ gehören wie die Kunst des Klavierspiels. Mein eigentliches Fach war aber die Rechtswissenschaft, welche ich – es ist schon lange her – in Heidelberg schulgerecht studiert habe. Begeistert für die Hoheit des Rechts, war es das Ideal meiner Jünglingsjahre, ein Richter zu werden. Ich halte den Richter für den vornehmsten, weil für den unabhängigsten Beamten.«

»Und warum wurden Sie kein Richter?«

»Weil ich nach beendeten Rechtsstudien selber zum Tode verurteilt ward.«

Herr Milett fuhr zurück. War der Mann verrückt?

Philipp Schmidt lächelte. »Ich verließ die Universität im Jahre achtundvierzig. Und nun werden Sie's begreifen! – oder Sie begreifen's auch nicht. Das heutige Geschlecht begreift die Begeisterung nicht mehr, die uns damals erfaßt hatte. Mit Sturm und Brausen war der Frühling über Nacht ins Land gekommen, die Natur war erwacht, wir selber waren erwacht und lebten hoch wie im Traum. Wie flüchtig war dieser Traum! Wir glaubten an den Sieg der Freiheit und ein neues Deutsches Reich. Und über der Freiheit ging das Reich verloren. Im heißen Zorne wollten wir Jünglinge uns opfern, um beides zu retten. Es war im Mai 1849. Das Volk erhob sich für die Reichsverfassung, wie man damals sagte. Ich glaubte, daß nur diesem Ziel der Aufstand gelte; es war mir so heiliger Ernst um das Reich. In einer Volksversammlung, wo unter Gottes freiem Himmel Tausende sich scharten, sprach ich glühende Worte wider die Regierungen, die sich dem Reichstag und dem Reich nicht beugen wollten. Meine Glut entzündete die Massen. Da erschien ein Beamter und forderte uns auf, auseinanderzugehen. Als Antwort fiel ein Schuß – man erfuhr niemals, wer ihn abgefeuert, – der Beamte brach tot zusammen. Was soll ich weiter erzählen? Der offene Kampf entbrannte. Ich mußte den Aufständischen folgen, deren Führer etwas anderes erstrebten als ich; denn die Reichsverfassung war ihnen nur ein Vorwand, sie wollten die Republik. Von meinen eigenen Genossen beargwöhnt und mißhandelt, gelang es mir unter großen Gefahren, in die Schweiz zu entfliehen. Inzwischen wurde mir zu Hause der Prozeß gemacht: als moralischer Anstifter der Ermordung des Beamten in Übung seines Dienstes ward ich zum Tode verurteilt. Und nun erst erfuhr ich, daß jener Beamte der nächste Freund meines Vaters gewesen war, der Freund und Wohltäter meiner Kindheit! Um mich zu retten, hatte er sich allzu unvorsichtig unter die wütende Menge gewagt. Ich verzweifelte, indem ich dies alles erwog, und doch fand ich später Trost in meinem Gewissen. Was ich getan, war verkehrt gewesen, ich hatte für die Gegner gestritten, vergebens für meine Sache gelitten, und was ich erstrebte, war verloren. Aber was ich gewollt hatte, war doch das Beste. In der Schweiz fristete ich kümmerlich mein Leben – –«

Fritz hinkte eilends herbei und rief: »Der Zug kommt!«

Die beiden Männer sprangen auf. »Wir fahren noch eine Station miteinander«, rief Herr Milett, »Sie müssen weitererzählen!«

Der Vater ergriff den Sohn, hob ihn auf den Arm und lief im Sturmschritt voran, daß sein Begleiter kaum folgen konnte. »Erzählen Sie weiter!« rief dieser hintendreinkeuchend.

»Ich ernährte mich kümmerlich in der Schweiz durch Sprachunterricht, dann in England als Krankenwärter – –«

»Die zwei traurigsten Berufe – ein Schulmeister und ein Spitaldiener!« stöhnte Herr Milett, dem der Atem ausging.

»Die zwei schönsten!« verbesserte Schmidt, stolz zurückblickend. »Was gibt es Schöneres, als Kinder in das Leben des Geistes einzuführen und armen Kranken den Abschied vom Leben zu erleichtern? – Aber nehmen Sie mir den Fritz ein wenig ab, ich muß meinen Reisesack holen.«

Der Zug stand bereits auf den Schienen, und Herr Milett stand regungslos davor, mitten im Sonnenbrand, den Knaben auf dem Arm, und dachte, welch ein begnadeter Mann doch dieser Philipp Schmidt sei, der jedem Ding die beste Seite abzugewinnen wisse, ein armer Mann und doch so reich in Gedanken.

»Einsteigen!« drängte der Schaffner.

»Aber wie ging es mit dem Todesurteil?« rief Milett dem Alten entgegen, der einen ungeheuren Reisesack heranschleppte.

»Nach zwanzig Jahren wurde ich begnadigt auf Grund erneuter Prüfung meines Prozesses und dann noch amnestiert dazu, als ganz Deutschland selbst erneuter Prüfung entgegenging.«

Der Schaffner mahnte zum letztenmal, – und da Herr Schmidt mit einem Billett dritter Klasse sich nicht zu Herrn Milett in die erste Klasse setzen konnte, so blieb diesem in der Eile nichts anderes übrig, als zu jenem in die dritte Klasse zu steigen.

Doch dort war alles überfüllt; nur noch zwei freie Plätze, und sie kamen zu dreien. Es blieb keine Wahl, die Lokomotive pfiff, sie zwängten sich hinein. Fritz wurde quer über beider Schoß gelegt, denn mit hängenden Beinen konnte das arme Kind nicht sitzen. Die Nachbarn saßen Schulter an Schulter – lauter Bauern in Hemdärmeln –, ein Tabaksrauch, den man schneiden konnte, erfüllte das Coupé, die Hitze war äquatorial.

Herr Milett bemerkte das alles gar nicht; er sprach mit seinem neuen Freunde über den Wandel der Zeiten seit achtundvierzig. Schmidt schilderte, wie er anfangs trostlos gewesen sei über unser geschlagenes Volk, allein was er zumeist ersehnt, das habe sich endlich doch erfüllt, nur in etwas unerwarteter Form. »Wir fahren etwas unbequem, Herr Milett, – ich meine hier im Wagen – oder auch im Reich, – aber wir fahren doch! Ein Deutsches Reich unter Preußens Führung und in guter Freundschaft mit Österreich – das ist ja unser gutes altes Gagernsches Programm, und Heinrich Gagern war doch mehr als eine ›Phrasengießkanne‹, er war Bismarcks Prophet. Aber die Jungen verstehen uns Alte nicht und wir Alten die Jungen vielleicht noch weniger. So war es immer, und so wird es bleiben. Ja, darin liegt das Geheimnis des Fortschrittes der Menschheit, daß immer erst die Enkel das Mißverstehen von Vater und Großvater zu lösen vermögen.«

»Das mag wohl sein!« rief Herr Milett. »Andererseits entdecke ich soeben, daß ich meinen Handkoffer in Huppenberg stehengelassen habe. Ich vergaß ihn, derweil ich den Fritz in den Wagen trug.«

Herr Schmidt bedauerte lebhaft dieses Mißgeschick, zu welchem er den Anlaß gegeben. Allein Herr Milett beschwichtigte ihn. »Es ist ganz gut, daß ich den Koffer vergaß. Ich schwankte soeben noch, ob ich nicht mitfahren soll in das berühmte Schwefelbad. Nun ist es entschieden. Wien mag warten, und der Koffer wird telegraphisch nach Rimselrain beordert. Den Zacharias Oberg'schwendner möchte ich kennenlernen, vorab aber noch etwas länger und ganz ruhig mit Ihnen plaudern, und hier spricht sich's so schwer, und beim Gerassel des Wagens und dem Schreien der Bauern muß man selber schreien wie in der Mühle. Aber die Leute haben ein Recht hier zu schreien, ein Recht zu rauchen, wie mein Nachbar ein Recht zu haben scheint, bereits eine Viertelstunde lang auf meinem linken Bein zu sitzen, während Fritz auf dem anderen liegt, das ist Eisenbahnsozialismus dritter Klasse, aber – wir fahren doch! – wie Sie richtig bemerkten.«

In der Tat fand es Herr Milett höchst ergötzlich, nun auch einmal so schlecht zu fahren, nachdem er sich so oft gelangweilt hatte, so gut zu fahren. Trotzdem war er froh, als sie in Kopsburg den Wagen verließen, um dort im ›Goldenen Lamm‹ noch vier Stunden auf den Stellwagen zu warten, der sie abends nach Rimselrain führen sollte.

Der alte Schmidt war offenbar erfreut über Miletts Entschluß, und dieser freute sich nun wieder, daß sich der andere freute. Herr Milett ließ sich's auch nicht nehmen, den neuen Freund mit dem Besten zu bewirten, was das Wirtshaus bot. Dieses Beste war freilich nur ein zäher Kalbsbraten und ein saurer Wein nebst einem Eierkuchen für den Knaben. Allein die beiden aßen so tapfer und stillvergnügt, daß es Herrn Milett beim bloßen Zusehen besser schmeckte als heute morgen, da er die köstlichen Krammetsvögel selber aß.

Schon dämmerte es; da erschien endlich der Stellwagen, ein Marterkasten mit zwei Schimmeln bespannt, von denen der eine blind, der andere spatig war.

Beim Einsteigen fiel es Herrn Milett heiß ein, daß er den Brief an seine Frau nun heute doch nicht mehr schreiben könne, denn bis sie nach Rimselrain kamen, war es Mitternacht.

Der Wagen stieß entsetzlich, obgleich er kaum von der Stelle kam und bei jedem Stoße dichter Staub von den Ritzen des Bodens aufquoll; die Bänke waren nicht weich, dafür aber um so höher und schmäler. Allein in Gesellschaft eines so trefflichen Mannes wie Philipp Schmidt und des Kindes, dessen verschwiegenes Dulden und stille Freundlichkeit jedes Herz gewann, ließ sich's schon aushalten. Weitere Fahrgäste kamen nicht; der Fremdenstrom nach Rimselrain stockte wohl zur Zeit ein wenig.

Mit einigem Widerstreben erzählte Schmidt auf Miletts Andrängen noch gar manches aus seinem reich und schwer bewegten Leben. Er hatte des Bitteren so viel erfahren! – »Aber das Bitterste«, so meinte Herr Milett fragend, »war doch immer jene Katastrophe im Jahre neunundvierzig?« »Vom Bittersten«, entgegnete jener, »sprach ich noch nicht und wollte es auch nicht tun. Doch Sie sind so teilnahmvoll, und ich will es aussprechen. Ich hatte eine Braut; sie war erst siebzehn Jahre alt, ich fünfundzwanzig, als mich jener unselige Maitag in Schmach und Verbannung warf. Dies war das Bitterste, daß ich wußte, wie sie sich um mich gräme, noch halb ein Kind, der Welt und der ganzen Lage unkundig, wie sie meine Qualen doppelt und dreifach mitlitt, lange schwankend, ob auch sie mich verdammen solle gleich den anderen! Sie tat es nicht; sie harrte aus und blieb mir treu. Als ich nach zwanzig Jahren heimkehrte, verschmähte sie es nicht, mein karges Los zu teilen: wir verheirateten uns. Und diese verspätete Ehe ward noch mit einem Kinde gesegnet: – ach, ich habe es doch gut gehabt!«

Er hielt ein und blickte lange auf den Knaben, der in der Wagenecke sanft eingeschlummert lag, und fügte dann hinzu: »Möge Gott mir diesen Trost erhalten!«

»Und Ihre Frau?«

»Sie ist vor zwei Jahren gestorben.«

»Gestorben!« wiederholte Herr Milett tief bewegt.

»Sie möchten fragen, ob ihr Tod nicht doch das Allerbitterste gewesen sei? Hart war diese Trennung fürwahr, doch das Härteste war sie nicht. Ich glaube fest, meine Luise wiederzusehen und mit ihr wiedervereinigt zu werden. Früher zweifelte ich an der persönlichen Fortdauer des Menschen, dieses Stäubchens auf einem Sandkorn, das wir Erde nennen. Seit Luisens Tod glaube ich an das ewige Leben. Ich will Ihnen etwas Merkwürdiges erzählen: Als wir uns zum erstenmal unsere Herzen erschlossen, da schwuren wir uns ›ewige Liebe‹. Sie werden dies gar nicht merkwürdig finden, sondern sehr alltäglich, da es im Grunde jedes liebende Paar zu tun pflegt. Und doch ist dieser Schwur so merkwürdig. Denn auch der kälteste Denker und Zweifler, wenn er wahrhaft liebt, wird in jenem Augenblicke ein Ende des Liebesbundes für undenkbar halten, er wird an die Ewigkeit glauben, wenn er wahrhaft liebt. Lieben heißt im Endlichen die Schauer der Unendlichkeit ahnen. Darum sind es zwei Stunden, wo unser Glaube an die Ewigkeit am festesten steht: Die Stunde, wo die Geliebte uns gegeben, und die Stunde, – wo die Geliebte uns genommen wird.«

Der Mondschein fiel auf das schlafende Kind, die Sterne zogen leise ihren Weg, ob sie gleich stillzustehen schienen, erfrischender Tannenduft strich durch die Fenster des Wagens; – die beiden Männer schwiegen.

Die Nacht ist das stille, tiefe Geheimnis der Natur, dunkel und doch von Lichtfunken durchzittert. Der Glaube ist das stille, tiefe Geheimnis der Menschenseele – die Nacht der Menschenseele – mit ihrem Sternenhimmel.

III.

Als unsere Reisenden in Rimselrain ankamen, würde die Glocke zwölf geschlagen haben, wenn eine solche vorhanden gewesen wäre. Der Mond war untergegangen, alles tief dunkel. Sie wußten nicht, wie sie hierhergekommen und wo sie waren.

Der Eingang ins Badehaus war nicht besonders einladend, der Empfang durch eine verschlafene Magd nicht sehr freundlich. Das ganze Schwefelbad schlief. Doch wurden die müden Reisenden vorläufig untergebracht, und bald lagen auch sie in tiefem Schlafe.

Schon um fünf Uhr stand Herr Milett auf und schlich, da alles noch stille war, aus seinem Zimmer, um die Badeanstalt samt der Umgegend etwas näher in Augenschein zu nehmen.

Das Haus, alt und verwahrlost, halb bäuerlich, halb städtisch, stand hart an einer kahlen Berglehne. Die Fenster der Wohnzimmer gingen rückwärts gegen den öden Abhang; von den Fenstern der Hausgänge, der Küche und anderer Räume, in denen man nicht lange verweilt, öffnete sich dagegen der herrlichste Ausblick über waldige Talschluchten und Felsen und Wiesen hinüber zu den hohen Kuppen des Böhmerwaldes. Hinter dem Hause, wo man nichts sah, standen Tische und Bänke für die Kurgäste; vor dem Hause, wo die entzückende Landschaft sich erschloß, standen Ställe und Schuppen. Es schien, als ob eine gewisse Enthaltsamkeit im Naturgenuß zur Kurdiät von Rimselrain gehöre.

Der Brunnen lag nicht fern vom Hause, um aber morgens zur Trinkstunde dorthin zu gelangen, mußte man über die Wiese durch tauiges Gras gehen. Auf dem Fassungsrand der reichlich sprudelnden Quelle stand ein einsames Glas – vor Diebstahl sicher, denn es hatte einen großen Sprung und war mit einer festen gelblichen Kruste überzogen als Beweis der Kraft des Schwefels. Der Henkel war abgebrochen. Wollten sich darum die Kranken den Heiltrank selber schöpfen, so mußten sie mit dem Glase zugleich die Hand ins Wasser tauchen.

Seitab der Quelle schattete ein kleiner Tannenwald, die Kurpromenade. In den Boden gerammte Pflöcke zeigten, daß hier vormals Tische und Bänke gewesen waren; die boshaften Bauernbursche des Nachbardorfes hatten sie zerstört. Wer sich jedoch ein Brett mitbrachte, der konnte es noch immer auf vier Blöcke legen und hatte dann einen trockenen Sitz. Am Ende der Promenade war ein mit Stangen umzäunter Raum, in welchem sich mehrere Mutterschweine mit ihren Ferkelchen tummelten. Der Anblick dieser bald spielenden, bald kämpfenden Tiere bot den Kurgästen gewiß oft recht anregende Unterhaltung.

Beim Rückweg von diesem Entdeckungsgang begegnete Herr Milett dem Herrn Zacharias Oberg'schwendner, der auf seinen Gruß mürrisch dankte. Ein rechter Bauer, war er auch als Badebesitzer und Wirt seinen bäuerlichen Sitten rühmlich treu geblieben; nur im Punkt der Zeche hatte er seine Gäste schon ganz städtisch zu behandeln gelernt. Sein Bauernhof lag nur zwanzig Minuten vom Kurhause entfernt, und das Bad, eines der ältesten Bauernbäder, war schon seit Jahrhunderten im Besitz und Betrieb seiner Familie. Die Quelle erfreute sich historischen Rufes in der ganzen Nachbarschaft, und bereits zur Reformationszeit mochte hier so ziemlich dieselbe Kurordnung geherrscht haben wie heutzutage.

Herr Milett sagte dem gewichtigen Mann einiges Schmeichelhafte über sein schönes Besitztum; Herr Oberg'schwendner aber erwiderte, das Bad sei ihm eine rechte Last und für zwanzigtausend Mark verkaufe er den ganzen Kram lieber heut als morgen. Die »hohe Kur« falle immer genau in die Zeit der Ernte, wo er auf den Äckern nötiger zu tun habe als bei dem »schmeckenden Wasser«. Doch könne er die Direktion keinem anderen überlassen. Das sei ihm unbequem genug. Lieber wäre es ihm, wenn die Leute ihre Kur in den Winter verlegen wollten. Da er gehört habe, daß es in anderen berühmten Bädern auch eine Winterkur gebe, so habe auch er voriges Jahr den Versuch damit gemacht, es sei aber kein Mensch gekommen.

Auf Miletts Frage, ob es denn auch einen Badearzt in Rimselrain gebe, ward Herr Oberg'schwendner ganz zornig und meinte, wo die Quelle so gut sei, da brauche man nicht auch noch einen Doktor dazu. Die meisten Kranken begnügten sich mit dem Schäfer-Sepp, der täglich herüberkomme und auch das Vieh behandle. Wer aber durchaus einen studierten Doktor haben wolle, der möge nur in die Stadt schicken, sie sei nur dritthalb Stunden entfernt, und dort gäbe es Doktoren übergenug.

Herr Milett freute sich königlich über den groben Mann mit seinem historischen Wildbad, welches auch nicht sein war. Er kannte Wiesbaden, Baden-Baden, Ems und Kissingen, aber ein so naturwüchsig origineller Kurort war ihm noch nicht vorgekommen. Ihm dünkte, er sei, aus dem alltäglichen Leben über Nacht in eine Märchen- und Zauberwelt versetzt, plötzlich von den Höhen in die Tiefen des Daseins hinabgestiegen, in ein Reich von Kobolden und Erdgeistern, bei denen es etwas flegelhaft und schmutzig herzugehen pflegt, aber auch sehr abenteuerlich. Man läßt sich's gern da unten einmal gruseln, vorausgesetzt daß man ebenso geschwind wieder heraufkommen kann, wie man hinabgefahren ist.

Er ließ sich die Zimmer zeigen, welche der Wirt für ihn und seinen immer noch schlafenden Gefährten bestimmt habe. Es waren überhaupt nur noch zwei Räume verfügbar in dem bis unters Dach besetzten Hause, und obgleich der Wirt nur ein Bauer, so hatte er doch mit dem Scharfblick eines gewiegten Oberkellners Herrn Milett sofort die schönste und größte Stube zugedacht, seinem Begleiter dagegen eine jämmerliche kleine Spelunke. Die eine sollte drei Mark täglich kosten, die andere eine Mark. Milett erklärte, die kleine Kammer für sich behalten zu wollen; das große schöne Zimmer dagegen möge der Wirt dem anderen Herrn geben unter der Bedingung, daß er jenem das kleine Zimmer, ihm das große täglich in Rechnung setze. Zacharias Oberg'schwendner staunte über diesen Edelmut; der Gast schien ihm ein ebenso fabelhafter Reisender, wie er dem Gaste ein fabelhafter Wirt. Ein sehr vornehmer Mann mußte der Fremde ohne Zweifel sein, da er so närrisch war; – vielleicht war er gar ein verkappter Fürst! Herr Oberg'schwendner beschloß darum, demselben möglichst grob entgegenzutreten, damit die Gemütlichkeit von Rimselrain durch gesteigerten Luxus nicht gestört werde, genehmigte aber den Tausch der Zimmer und der Rechnungen.

Das Frühstück wurde von der ganzen Badegesellschaft gemeinsam im Freien eingenommen. Auch der alte Schmidt mit seinem Kinde erschien nunmehr und setzte sich zu Herrn Milett, der in heiterster Laune bereits eine Tasse tiefschwarzen Zichorienkaffees genossen hatte.

»In meiner Jugend«, sprach der Alte, »blätterte ich spielend oft in Beckers ›Taschenbuch zum geselligen Vergnügen‹ und fand dort eine Novelle von Stephan Schütze ›Drei Wochen im Bade‹, von welcher ich aber nur den Titel las. Sie war illustriert von Heinrich Ramberg, dem unermüdlichen Almanachzeichner, durch kleine figurenreiche Kupfer, welche das Karlsbader Badeleben darstellten aus der Zeit, da Goethe und Metternich dort an der Spitze der Kurliste standen. Diese Bildchen weckten in mir den heißesten Wunsch, doch auch einmal drei Wochen im Bade zu verleben. Was man in der Jugend begehrt, hat man im Alter die Fülle: endlich bin ich nun auch in ein Bad gekommen und gar auf vier Wochen! Der Traum meiner Jugend erfüllt sich – – leider durch die Krankheit meines Kindes.«

Die Zuversicht des gestrigen Tages fehlte dem wehmutvollen Tone, der aus den letzten Worten klang.

Milett musterte lächelnd die Badegäste – arme, kranke, bleiche Menschen, verkümmerte bäuerliche und kleinbürgerliche Gestalten, mehrenteils Frauen und Kinder – sie sahen nicht ganz so aus wie die Karlsbader Gesellschaft zu Goethes und Metternichs Zeiten. Allein er gelobte sich, dem neuen Freunde diese erste Badekur dennoch ganz unvermerkt recht schön, ja so karlsbadisch wie möglich zu machen. Er wußte bereits, wie winzig die Mittel waren, die jener sich abgekargt hatte für Rimselrain; er wußte aber auch, wie fein der stolze Mann fühlte, und spann danach seinen Plan. War das nicht reizend? Die Welt kam ihm heute schon bedeutend besser und harmonischer vor als gestern.

Nicht so dem besorgten Vater. Da Fritz eben seitab mit anderen Kindern spielte, so schüttete er Herrn Milett ganz leise sein bekümmertes Herz aus und erzählte ihm genau die Krankheitsgeschichte des Kleinen. Während des Nervenfiebers hatte sich eine Eiterung am linken Beine des Knaben gebildet, sie verschwand mit dem Fieber. Nun aber zeigte sich der obere Schenkelknochen ganz erweicht und verkümmert. Und dagegen sollte die Nachkur helfen. »Schwefelbäder für ein Knochenleiden!« rief Milett erstaunt. Doch Schmidt belehrte ihn, daß dies neue Übel eine Folge des langen Liegens und zugleich auch skrofulöser Anlage sei. Und hier helfe Rimselrain allerdings. Er möge nur umherblicken: – das ganze Kurpublikum sei ja skrofulös. Dann sank er wieder in tiefes Brüten.

»Das Kind«, rief er endlich, »wurde seit seiner Geburt zu schlecht ernährt; mit allen Opfern konnte ich ihm nicht kräftigere Kost erschwingen – wir darbten ja miteinander. So entwickelte sich der Krankheitskeim. Es ist ein furchtbares Gesetz, daß die Schuld der Väter heimgesucht wird an den Kindern, aber ein noch furchtbareres, daß auch die unverschuldete Not der Eltern an den Kindern heimgesucht wird!«

Der Freund sann auf ein Wort des Trostes und fand keins. Der Himmel war so blau, die Luft so frisch und tannenduftig, als ob die Wälder ihren Morgengruß herüberschickten, – und ringsum doch so viel Elend! Hätte Herr Milett dem kleinen Fritz auch so ganz heimlich die Gesundheit erkaufen können, dann würde er sich vollkommen glücklich gefühlt haben in Rimselrain.

Er hatte nicht lange Zeit, darüber nachzudenken, weil eine Dame grüßend vor ihn trat, die bisher ganz unbeachtet beiseite gesessen hatte. Von schlanker Gestalt, vornehm gekleidet, mit feinen Zügen und sicherer Haltung, gehörte sie offenbar der »Gesellschaft« an, also durchaus nicht dieser Gesellschaft, die in Rimselrain zu baden pflegte. Sie begrüßte Herrn Milett bei Namen, fragte, ob er sich ihrer denn nicht mehr erinnere, und erkundigte sich nach seiner Frau, nach ihrer »lieben Doris«, wie sie dieselbe nannte. Herr Milett, der sich eben erst im stillen darüber gefreut hatte, daß ihn hier gewiß kein Mensch kenne, war etwas unangenehm überrascht und bedauerte, daß ihn sein schwaches Physiognomien-Gedächtnis schon wieder im Stich lasse. Allein es begegnen uns ja so viele Gesichter, die wir wieder vergessen, und das Gesicht dieser Dame war nur dadurch bemerkenswert, daß es weder jung noch alt, weder häßlich noch schön war.

Sie schien einen Augenblick empfindlich, nannte dann aber ihren Namen – Fräulein Ludmilla Azalinka – und fragte Herrn Milett, was ihn denn eigentlich hierherführe. Kurz angebunden erwiderte dieser: »Das Bad.«

Mit um so geläufigerer Zunge erklärte Fräulein Azalinka, daß sie kerngesund sei und keines Heilbades bedürfe; sie verweile vielmehr hier, um Naturstudien zu machen.

»Also Malerin?« fragte Milett.

Die Dame war schon wieder empfindlich berührt. Die deutsche Nation wußte doch schon längst, daß sie Dichterin, Novellistin sei, und dieser ungebildete Mann wußte es noch nicht!

»Malerin!« wiederholte sie achselzuckend – »in gewissem Sinne allerdings. Die Poesie umschließt alle Künste. Ich male Charaktere und Leidenschaften im Roman und in der Novelle. Allein man muß Romane leben, wenn man Romane schreiben will. Ich mache Naturstudien in Rimselrain, weil hier die Menschen noch Natur sind und die Natur selbst noch ganz natürlich ist. Stimmung, Situationen, Charaktere finden sich hier im Überfluß, nur eines vermisse ich: die Handlung. Es geht hier gar nichts vor: keine Intrige, keine Konflikte, keine Tragik der Leidenschaften, nichts Sensationelles, Phrenetisches! Ich möchte sagen: Rimselrain ist höchst anregend, aber gar nicht aufregend. Und die moderne Kunst soll aufregen, das Anregende gehört dem verblaßten Klassizismus – Goethe, Mozart! – überwundene Standpunkte! Die Kunstqual ist der wahre Kunstgenuß. Was sagen Sie zu Wagner? Ich schreibe übrigens keine Nibelungen- oder Wodansromane, auch nichts Hohenstaufisches. Nur Gegenwart! naturgetreue Gegenwart! Und diese Gegenwart ist so groß! so reich an Stimmung, so gesättigt von Lokaltönen! Aber die Handlung – da fehlt's! Die großen Taten der Nation, die großen Helden des Tages können wir doch noch nicht in den Roman schlachten, und in unserem polizierten Privatleben wird jede energische Tat – Entführung, Raub, Mord – sofort kriminalistisch, und ich verabscheue die Kriminalnovelle. So bleibt als Motiv sensationeller Handlung höchstens noch jener Betrug übrig, der so hochfein ist, daß ihn das Auge des Gesetzes nicht sehen kann, und die Glut und Wut verzückter und verrückter Liebe, welcher das Irrenhaus von ferne winkt. Ich dürste nach Handlung; sie allein fehlt mir noch zu einem Roman, der ganz an dieser Schwefelquelle spielt. Stimmung, Schilderung, Kolorit, alles ist fertig; ich pflege die Handlung immer zuletzt aufzusetzen wie die Maler die Lasuren und Glanzlichter. Ach, ich bin jetzt so vereinsamt unter diesem Bauernvolk! Vorgestern reiste eine österreichische Gräfin ab, der ich mich angeschlossen, ich kann sagen, angefreundet hatte.

Sie gebrauchte die Kur und gebrauchte den Schäfer-Sepp. Nun bin ich ganz verwaist! Welch ein Glück, daß ich Sie gefunden habe. Ich klammere mich an Sie, bester Herr Milett! Ich stelle mich ganz unter Ihren ritterlichen Schutz.«

Herr Milett war starr vor Schrecken; eine solche Dichterin war ihm noch gar nicht vorgekommen. Allein seinen ritterlichen Schutz konnte er ihr doch nicht weigern, zumal sie sich auch seiner Frau irgendeinmal »angefreundet« zu haben schien. Übrigens wußte er nicht, was da eigentlich zu schützen sei.

Fräulein Azalinka, die nach Handlung suchte, war doch nur ein flüchtiger Wolkenschatten im Sonnenschein des Badelebens der beiden Freunde, ein Wolkenschatten, der allerdings vier- bis sechsmal täglich aufzog.

Milett hatte nur ein paar Tage in Rimselrain bleiben wollen; da ihn aber der Ort so sehr ergötzte, beschloß er, eine volle richtige Badekur von vier Wochen durchzumachen, um recht rein nach Wien zu kommen. Auf der »Hausordnung«, die neben der Küchentüre angeschlagen war, lautet §1: »Jedes Zimmer wird nur auf vier Wochen vermietet, und müssen vier Wochen vorausbezahlt werden, gleichviel ob der Gast so lange bleiben will oder nicht«, und §11: »Jeder Gast hat täglich ein warmes Bad zu bezahlen, gleichviel ob er badet oder nicht.« Diese Paragraphen gaben den Ausschlag. Der Millionär sagte: Wenn ich vier Wochen bezahlen muß, so will ich auch vier Wochen bleiben, und wenn ich täglich das Bad bezahlen muß, so will ich auch täglich baden; Philipp Schmidt, der kein Millionär war, sprach ebenso, Fräulein Azalinka hatte längst so gesprochen; in Rimselrain badete alles, trank alles den Brunnen, Kranke und Gesunde. Ein freiwilliger Zwang ist auch eine Kur und unter Umständen eine ganz lustige.

Frühmorgens fünf Uhr ging Herr Milett nüchtern zum warmen Schwefelbade. Die Stunde mußte pünktlich eingehalten werden, denn später spendete der geizige Wirt kein warmes Wasser mehr. Nach dem Bade zog dann die ganze Gesellschaft über den nassen Grasweg zum Brunnen. Dies war zwar die verkehrte Welt, da man anderswo zuerst trinkt und nachher badet, allein in Rimselrain war alles verkehrt und eben darum höchst interessant.

An der Quelle bildeten sich bunte Gruppen, darunter ein halbes Dutzend ganz armer Patienten, die um den Viertelspreis schlecht genug verpflegt wurden und neben dem Hühnerstall eine elende Schlafstätte hatten; sie durften erst ganz zuletzt trinken. Milett unterhielt sich gern mit ihnen, trank mit ihnen und unterstützte sie insgeheim auf mancherlei Art. Sie machten vergnügte Gesichter, wenn sie ihn nur von weitem sahen.

Fräulein Ludmilla fand diesen Verkehr mit dem Pöbel abscheulich. Sie hätte so gerne ganz allein Herrn Miletts Gegenwart zu ihrem Schwefelwasser genossen. Nun aber zog er sich stets unter seine Armen zurück, die er seine Leibgarde nannte! Das verzieh sie ihm nicht.

Nach acht Tagen bemerkte man eine auffallende Veränderung am Brunnen. Das zersprungene Glas ohne Henkel war verschwunden, und statt seiner stand den Gästen eine ganze Auswahl hübscher neuer Gläser zur Verfügung, und ein nettes Bauernmädchen schöpfte das Wasser für alle. Das schönste Glas, rot mit eingeschliffenen Bildern, gehörte dem kleinen Fritz; das arme Kind war ganz glückselig über sein schönes Glas. Ja, noch mehr: der Weg zur Quelle fand sich eines Morgens mit Brettern belegt, so daß man trockenen Fußes hinüberkommen konnte, und in der Kurpromenade standen sogar etliche Bänke.

Und dies alles hatte, so hieß es, der grobe Wirt getan. Einige deuteten es als ein Vorzeichen seines nahen Todes, daß er seinen Sinn so ganz umgeändert habe; er nahm aber das Lob der Gäste schmunzelnd hin und schimpfte nur hinterdrein auf den ungemessenen Luxus dieser neuen Zeit.

Die Leser wissen freilich, daß nicht der Wirt, sondern Herr Milett der geheime Urheber dieser Verbesserungen war und dem Wirte tiefstes Schweigen auferlegt hatte, welches dieser auch mit einigen Flüchen gelobte. In seinem Geize ließ sich Zacharias Oberg'schwendner die geschenkten Gaben des närrischen Gastes gefallen. Doch als dieser auch die Küche insgeheim etwas verbessern wollte, widerstand er unbeugsam. Und mit Recht. Denn er dachte: wenn die Gläser allmählich zerbrechen und die Bänke verfaulen, dann nehmen die Leute das so hin als den Gang alles Fleisches und fordern keine neuen; wenn aber diese Bauern ein einzigmal besser gegessen haben, dann wollen sie für alle Zeiten besser essen.

Milett freute sich, überall vergnügtere und freudig überraschte Menschen zu sehen und sich selbst als den geheimen Schöpfer dieser Freude zu wissen, während er doch keinen Dank zu nehmen oder abzuwehren brauchte.

Ludmilla staunte über diese Dinge, die sie nur halb begriff. Sie wollte den seltsamen Mann zu einem Geständnisse zwingen, und er gestand gar nichts. Er war ihr sehr höflich – drei Schritt vom Leibe – und gab ihr seinen »ritterlichen Schutz« aus der Entfernung. Niemals ersuchte er sie um die Vorlesung einer ihrer Novellen; er behauptete sogar einmal, Männer könnten überhaupt nicht vorlesen hören, diese schöne passive Gabe besäßen nur die Frauen, und zwar in bewundernswertem Maß. Sie begann den Mann zu hassen, und seinen ungeschliffenen Freund, diesen Philipp Schmidt, haßte sie doppelt und dreifach.

Dem Wirt enthüllte sie, daß Herr Milett kein verkappter Fürst, überhaupt nichts Vornehmes sei, sondern nur ein bürgerlicher, aber steinreicher Mann. Hinter jenem Schmidt aber stecke ein Geheimnis, er führe einen falschen Namen, das kranke Kind sei auch offenbar nicht sein Sohn, dazu sei es viel zu zart und fein, sehe auch dem Grobian gar nicht ähnlich. Der Alte sei vermutlich ein Schwindler, ein Betrüger, der den törichten Milett bestricke und ausbeute, und das arme Kind sei gewiß das Opfer einer dunkeln Tat.

Sie witterte Handlung; sie spürte und spähte und zerbrach sich den Kopf und konnte doch keine Handlung finden. In ihrem Arger beschloß sie zuletzt, die Handlung selbst zu machen.

Nach der Brunnenpromenade und dem Kaffee begab sich Herr Milett regelmäßig auf sein Zimmer, um auf einer schmalen Bank, die ein Sofa darstellen sollte, etwas unbequem ausgestreckt der Ruhe zu pflegen. Da aber im ganzen Hause keine Tür und kein Fenster schloß, so strich die Zugluft des frühen Morgens so fröhlich durchs Zimmer, daß er nur mit dem Hut auf dem Kopfe sich niederlegen konnte, wie er auch bei stärkeren Regengüssen mit aufgespanntem Schirm im Schwefelbade saß, weil ihm sonst durch die löcherige Decke des Badekabinetts eine kalte Dusche auf den Kopf geträufelt wäre.

In jener Mußestunde studierte Milett anfangs noch den Stadtplan und einen Fremdenführer von Wien, weil er die Reise zur Kaiserstadt noch keineswegs aufgegeben hatte. Seit der zweiten Woche jedoch beschäftigten ihn andere Dinge; – er hatte sich mit dem Wirt in einen geheimnisvollen Verkehr gesetzt, prüfte Papiere, die ihm dieser übergab, schrieb und rechnete, erzählte aber von diesen Studien nicht einmal dem Freunde Schmidt eine Silbe.

Hatte denn Herr Milett seine Frau, seine geliebte Doris, ganz vergessen, die er vordem so heiß herbeigesehnt? Ganz und gar nicht. Er gedachte ihrer täglich und schrieb auch täglich an sie – in Gedanken. Nur das wirkliche Schreiben fiel ihm schwer. Am ersten Tage meldete er ihr, daß er nicht nach Kopenhagen reise, sondern nach Wien, in Rimselrain jedoch vorher ein wenig ausruhen wolle, am achten Tage, daß er nicht nach Wien reise, sondern in Rimselrain bleibe.

Was mußte die arme Frau dazu denken, zumal diese Nachrichten ganz kurz und trocken gefaßt waren! Er quälte sich vergebens, die unbekannten Reize dieses Wild- und Bauernbades zu schildern; er zerriß den Brief wieder. Hierauf wollte er Doris einladen, zu ihm zu kommen und die seltenen Genüsse von Rimselrain mit ihm zu teilen. Was wäre entzückender gewesen? Das schöne und geliebte Weib fehlte einzig und allein noch in dieser Idylle. Aber die Feder versagte ihm – Doris würde kein Verständnis für Rimselrain gehabt haben! Den Frauen und den Königen fehlt in der Regel der Sinn für den derben Humor, für das niedrig Komische, Genrehafte. Es gehört burschikoser Übermut dazu, geflissentlich wie ein armer Teufel zu leben, damit man sich im Geist um so erhabener fühle über all den Tand von feiner Welt. Und Frauen sollen nicht burschikos, sollen auch nicht übermütig sein. Doris würde Rimselrain nicht verstanden, und – was noch schlimmer – hier würde sie auch ihn nicht verstanden haben. Er erschrak bei diesem Gedanken; bisher hatte er's für ganz unmöglich gehalten, daß ihn seine Frau irgendwann und -wo nicht verstehe.

Kein Wunder, daß er die Fortsetzung der Korrespondenz auf eine bessere Stunde verschob.

Inzwischen kam endlich der lang erwartete lange Brief von Doris, ein Brief, wie ihn nur liebenswerte und liebebedürftige Frauen schreiben können, voll Herz und Gemüt und anmutigen Geplauders, überreich an Inhalt und reizend unordentlich in der Form. Das waren lauter echte, reine Ergüsse des Augenblicks! Er stand ihr so nahe in der Ferne, und sie stand ihm jetzt so fern.

Doch das sollte nicht sein. In der Freude seines Herzens über den langen Brief wollte er einen gleich langen schreiben, indem er begann, ihr seinen neuen Freund zu schildern. Allein das Bild ward so flach und schief, daß er auch diesen Brief wieder zerriß. Er hatte gemildert, geglättet, um jenen harten, eigensinnigen und doch so tüchtigen Charakter seiner Frau begreiflich zu machen, aber das Eigenste jenes Charakters war, daß er gar nicht geglättet werden konnte. Neuer Schreck: Doris hatte gewiß auch kein Verständnis für den neuen Freund. Und zum Ersatz für all die ungeschriebenen Briefe schickte er ihr endlich – eine magere Postkarte.

Allein er spann geheime Pläne hier in Rimselrain; von diesen hätte er doch wenigstens seiner Frau berichten können. Bisher hatte er noch gar kein Geheimnis vor ihr gehabt, er hatte ihr alle seine Pläne, selbst die rein geschäftlichen, schon im ersten Keime mitgeteilt. Nur diesmal nicht! Sie hatte kein Verständnis für Rimselrain, sie konnte auch kein Verständnis für seinen Plan haben. Er erschrak zum drittenmal vor sich selbst und schrieb abermals eine Postkarte mit der Nachricht, daß er täglich Schwefelbäder nehme und den Brunnen trinke, obgleich ihm eigentlich gar nichts fehle. Nun begann auch die Frau zu erschrecken: am Ende badete und trank sich der gesunde Mann noch krank!

Es ging jetzt überall in Rimselrain geheimnisvoll zu. Sogar Herr Oberg'schwendner, sonst die Öffentlichkeit selbst, hatte sichtbar sein Geheimnis – weit über die geheimnisvollen Brunnengläser und Gartenbänke hinaus. Er deutete das manchmal in halbverschluckten Worten an, und es schien ein sehr angenehmes Geheimnis zu sein. Er fluchte vor sich hin, behandelte die Gäste doppelt barsch und schalt die Dienstboten mehr als je, um seiner verschlossenen Freude Luft zu machen.

Von irgendeinem qualvollen Geheimnis hingegen war Ludmilla erfüllt. Sie ward trotziger, aber auch noch unsteter und hastiger als vorher. War sie bis dahin den beiden Männern nicht ganz angenehm gewesen, so wurde sie ihnen jetzt ganz unangenehm. Des Nachmittags verschloß sie sich in ihr Zimmer und schrieb – nicht an einem Roman, sondern Briefe, die vielleicht selbst ein Roman waren. Ihr unsicheres Wesen schien auch auf ihre sonst so sichere Feder übergegangen zu sein. Häufig zerriß sie wieder, was sie eben geschrieben, so daß an zerrissenen Briefen damals kein Mangel war in Rimselrain. Je mehr sie sich aber von Milett und Schmidt abgestoßen fühlte, desto vertrauter erschloß sie sich – Herrn Zacharias Oberg'schwendner, aber nur damit auch er sich ihr erschließe; sie schmeichelte ihm, sie wollte ihm offenbar Geheimnisse ablocken. Das sah nun nicht viel anders aus, als ob sie einem Holzpflock schmeichle. Und doch widerstand Zacharias nicht ganz; er gab ihr Aufschlüsse, delphisch dunkel und lakonisch kurz, allein er gab doch etwas, und die Phantasie des Fräuleins verstand das Dunkle hell und das Kurze lang zu machen.

Der einzige, welcher nach außen gar kein Geheimnis hatte, war Schmidt. Dafür marterte ihn eine innere Unruhe, die ihm selbst ein Geheimnis war: – er begann zum erstenmal an sich selber zu zweifeln! Fritz wurde täglich schwächer, das kranke Bein täglich schmerzhafter. Und der Knabe ertrug das alles mit so rührender Geduld.

»Bin ich denn wirklich der rechte Arzt?« fragte sich der Vater. Er wies diese Frage von sich, und sie drängte sich doch wieder auf, sie erschütterte ihn bis ins Mark. Er floh vor dieser Frage, weil sie sein eigenstes Wesen antastete.

Allein der Freund hielt sie ihm trotzdem wiederholt und ernstlich vor und beschwor ihn, einen Arzt aus der nahen Stadt zu Rate zu ziehen. Schmidt fühlte sich durch dieses Ansinnen tief gekränkt; hätte Milett ihm nicht so nahegestanden, so würde er fortan kein Wort mehr mit ihm gesprochen haben. Doch er verzieh ihm. Milett schwieg und dachte daran, auf eigene Faust einen Arzt zu holen. Das würde aber Schmidts Eigensinn nur noch mehr verhärtet und gar nichts genützt haben.

Einem hoffnungsvollen Kranken mochte das Badeleben selbst in Rimselrain reizend erscheinen und einem Gesunden noch viel reizender. Wer aber einem teuren Kranken helfen will und nicht helfen kann, dem wird auch der entzückendste Kurort zuletzt zur Marterstätte.

Um den Vater zu zerstreuen und das Kind zu vergnügen, veranstaltete Milett Spazierfahrten. Einen Wagen gab es nicht in Rimselrain. Zacharias Oberg'schwendner sagte: »Die Kranken sollen gehen, dann werden sie gesund, und wenn sie nicht gehen können, dann sollen sie liegen.« Ein Wirt in der Nachbarschaft besaß jedoch eine Kalesche; die mietete Herr Milett zum großen Verdruß seines eigenen Wirtes, der dem anderen spinnenfeind war. Herr Oberg'schwendner räsonierte grimmig und wollte anfangs den fremden Wagen gar nicht vorfahren lassen an seinem Hause, dann aber fügte er sich unbegreiflicherweise, lächelte vor sich hin und sprach: »Da schlage ein Donnerwetter drein! doch der Herr kann ja machen, was er will; ich weiß, was ich weiß!«

Obgleich aber dem Kinde der Sitz höchst bequem bereitet wurde, so empfand es doch nur wachsende Schmerzen bei der Fahrt, und der Vater hatte ohnehin keine Freude an dem vornehmen Umherkutschieren. Er fuhr nur Herrn Milett zu Gefallen mit, während dieser nur ihm zu Gefallen den Wagen gemietet hatte.

Lieber stieg er mit dem Freunde allein in eine nahe tiefdunkle Waldschlucht. Nur wo die Natur am düstersten, die Menschen am fernsten, da fand er noch Selbstvergessen und getrosten Mut.

Eines Tages kehrten beide von diesem Gange zurück, während Fritz unter den Tannen der Kurpromenade geblieben war, behaglich in einem Rollstuhl gelagert, der auch auf Miletts Zauberwink ganz unerwartet das Inventar von Rimselrain bereichert hatte.

Das Kind begrüßte die Heimkehrenden mit verklärtem Gesicht, seine Augen leuchteten, sein ganzes Wesen schien verändert. Es erzählte, als es so einsam dagelegen, sei ihm ein Engel erschienen, ganz weiß gekleidet, ein wunderschöner Engel, der habe es so mild und gütig angesehen und ihm mit der zarten Hand ganz leise über die Stirn gestrichen. Da sei es ihm ganz kühl geworden, ganz wohl und leicht, wie seit lange nicht. »Und der Engel hat mich gar freundlich gefragt, wie es mir gehe, und mich geküßt. Und dann sagte er, mir solle geholfen werden. Gewiß! ich soll wieder gesund werden!«

Der Alte erschrak. Das Kind hatte Sinnestäuschungen! Es mußte gefiebert haben, obgleich der dünne kleine Puls augenblicklich nicht mehr fieberhaft schlug. Schmidt war nicht abergläubisch; allein die Vision des Knaben erschien ihm wie eine Wahrsagung, die ihn tief erschütterte, wie die Wahrsagung, daß bald ein anderer Engel erscheinen werde, um den armen Kleinen von allem Leid zu erlösen – mit milder Hand – auf ewig!

Milett befragte Knecht und Magd, ob sie niemand hätten zu dem Knaben ins Wäldchen gehen sehen. Sie versicherten, es sei kein Mensch zu dieser Stunde hierhergekommen.

Da zeigte Fritz ein Bilderbuch und sagte, dies Buch habe ihm der Engel geschenkt, allein er habe das Buch wieder vergessen, weil der Engel so schön und gut gewesen sei, daß er nur an ihn habe denken müssen.

Und über einen Engel, der Bilderbücher schenkt, konnte man sich vorderhand schon beruhigen.

IV.

Am anderen Tage wiederholten die Freunde den Gang in die Schlucht und blieben länger dort als gewöhnlich. Fritz war wieder unter den Tannen geblieben. Milett hatte den Badeknecht beauftragt achtzugeben, ob der Engel seinen Besuch wiederhole.

Als sie zurückkamen, war das Kind verschwunden.

Niemand wußte, wohin es gekommen sei. Man durchsuchte das Haus, den Garten, die Wälder. Es war nicht zu finden. Der Vater war in Verzweiflung.

Man befragte wiederholt den Badeknecht, der am Eingang des Tannenwäldchens gearbeitet hatte, einen halb blödsinnigen Menschen, aus dem man nur verworrene Aussagen erpressen konnte. Früher auf dem Hofgute des Wirtes im Stalle beschäftigt, war er zuletzt so dumm geworden, daß man ihn beim Rindvieh nicht mehr brauchen konnte, weshalb ihn Herr Oberg'schwendner ins Kurhaus versetzt hatte. Endlich behauptete er allerdings, einen kleinen, hageren Mann gesehen zu haben mit großem Barte, von Kopf bis zu den Füßen weiß gekleidet wie ein Koch.

»Also Gewalttat, Kinderraub!« rief Ludmilla, »vielleicht nur der Wiederraub eines vordem geraubten Kindes.« Herr Schmidt schien ihr nun erst recht verdächtig. Die Handlung war da. Leider schien sie kriminalistisch zu werden.

Milett aber packte den Wirt am Arme und rief, die Aussage des blödsinnigen Knechtes genüge ihm nicht. Er habe den Verdacht, daß seit mehreren Tagen eine fremde Person im Hause gewohnt habe. Er habe sie nicht gesehen, nur gehört; es sei ihm gleichgültig gewesen, doch jetzt besinne er sich dessen.

Zacharias leugnete standhaft.

»So werde ich in die Stadt fahren und dem Gerichte die Anzeige machen!«

Der Wirt brach in eine ungeheure Kette von Flüchen aus. »So geht es, wenn man vornehme Leute beherbergt; da hat die Gemütlichkeit ein Ende! Das Gericht in meinem Hause? Bleibt mir vom Leibe mit dem Gericht! Ich will alles bekennen!«

Er erklärte nun, der dumme Knecht habe falsch gesehen. Der kleine Mann habe keineswegs weißen Rock und Hosen getragen wie ein Koch, sondern ein langes weißes Kleid, habe auch keinen großen Bart gehabt und sei überhaupt kein Mann gewesen, sondern eine Dame, und zwar eine ganz junge und feine. Wie sie heiße, wisse er nicht. »Sie hat drei Tage hier gewohnt und mich bewogen, dies vor aller Welt geheimzuhalten; sie ging nicht aus, außer wenn die Gesellschaft im Bade oder am Brunnen oder sonstwo war, und aß auf dem Zimmer. Daß sie eine Verbrecherin war, ist klar, denn sie gab dem Gesinde unmäßige Trinkgelder, um ihr Stillschweigen zu erkaufen. Der Henker hole das vornehme Volk! Gestern abend verreiste sie, aber heute scheint sie wieder dagewesen zu sein. Mehr weiß ich wahrhaftig nicht.«

Durch das Geständnis des Wirtes ermutigt, erzählte nun auch eine Magd, daß die Dame heut in einer prächtigen Kutsche mit zwei Rappen vorgefahren, dann ins Wäldchen gegangen und wieder abgefahren sei. Da habe sie ohne Zweifel den Knaben mitgenommen.

Als Ludmilla vernahm, daß der Koch eine Dame sei, wollte sie sich entfernen. Milett bemerkte es und rief: »Bleiben Sie, mein Fräulein! Wissen Sie vielleicht von jener Dame?«

Sie verneinte es, ward aber zusehends kleinlauter und sprach nicht mehr von Gewalttat und Kinderraub und endlich eingetretener Handlung. Die Handlung war zwar da, aber es schien ihr nun nicht die richtige.

Milett befahl dem Wirt: »Führen Sie uns auf das Zimmer der rätselhaften Dame. Hat sie ihr Gepäck mitgenommen?« – Er wußte es nicht. – »Das wissen die Wirte sonst doch sehr genau. Vielleicht finden wir dort eine Spur.«

Das Zimmer war verschlossen, der Schlüssel fehlte. Man rief nach einem Schlosser, doch den gab's nicht in Rimselrain, und man brauchte auch keinen. Der Wirt kam mit der Axt. Die Tür widerstand lange, sie war zufällig das einzige, was man gut, niet- und nagelfest im ganzen Schwefelbad nennen konnte. Endlich erlag sie den Streichen und fiel krachend ins Zimmer. Es war ganz leer. Alle standen verblüfft. Der Wirt hatte seine einzige gute Tür umsonst zusammengeschlagen.

Im selben Augenblick hört man das Rollen eines Wagens. Eine elegante Equipage fährt vor, zwei Damen sitzen darin, sie steigen aus, die eine trägt Fritz auf dem Arme. Die ganze Gruppe eilte ihnen entgegen. Nur Ludmilla sucht unbemerkt zu entschlüpfen, aber Milett sieht es und bietet ihr artig den Arm, daß sie ihm folgen muß. Doch als er der beiden fremden Damen genauer ansichtig wird, die eben ins Haus treten, hätte er in den Boden sinken mögen: es ist seine Frau! es ist Doris selber! und ihre Kammerjungfer trägt den Fritz. Doris befiehlt derselben, das Kind sofort auf ihr Zimmer zu bringen. Die sanfte Doris scheint hier schon ganz bekannt zu sein und an selbständiges Verfügen gewöhnt.

Ihr Gatte begrüßt sie mit einem Gemisch von Staunen, Freude und bösem Gewissen; sie begrüßt ihn mit der unbefangensten Zärtlichkeit.

Dann spricht sie mit so fester Stimme, wie sie ihr Mann noch gar nie von Ihr gehört hatte: »Das erste Wort muß ich mit Herrn Schmidt reden. Sie sind ein eigensinniger, starrer, stolzer, ein trefflicher, gerader, fester Mann, der beste und der schlechteste Vater! Sie waren auf dem Wege, Ihr Kind zum Krüppel zu machen, ja es zu töten aus lauter Vaterliebe und Eigensinn. Aber das Kind wird seine geraden Glieder wiederbekommen und leben – so Gott will. Ich konnte den Jammer nicht länger ansehen, darum nahm ich Fritz heimlich mit zur Stadt. – Sie hätten mir das nie erlaubt, Herr Schmidt, auch wenn ich noch so innig gebeten hätte. Ich mußte List und Gewalt brauchen; ich weiß von dem Kampf, der Sie zuletzt verzehrte, jetzt ist er entschieden: das Kind hat seinen Arzt, und Sie werden froh sein, daß es ihn hat. Auf der Reise hierher lernte ich Geheimrat *** kennen, den berühmten Spezialisten; ich schilderte ihm den Fall, der mich schon seit vierzehn Tagen lebhaft beschäftigte, schilderte ihn auf Grund genauer Berichte, die mir in Hannover zukamen; ich bewog den Geheimrat, einen halben Tag in der Stadt zu verweilen, bevor er seine Reise nach Teplitz fortsetzt. Soeben hat er Fritz genau untersucht. Ihre ganze Behandlung, Herr Schmidt, war grundverkehrt: das Bein muß in Eisen geschient, der Knochen wieder geradegebogen werden – da hilft kein Schwefelwasser! –, orthopädische Behandlung und innere Kräftigung ist geboten, und es ist die allerhöchste Zeit! Der Knabe muß eine weibliche Pflege haben; er hat bei Ihnen drei Väter für einen gehabt. Sie sind ein unvergleichlicher Vater, aber dem Kind fehlt eine Mutter.«

»Ihm fehlt eine Mutter!« wiederholte Schmidt tief bewegt.

»Und ich will seine Mutter sein«, vollendete Doris.

Fritz war auf dem Zimmer nicht zu halten gewesen, er kam herbeigeeilt, schmiegte sich an die anmutvolle junge Frau und rief: »Vater, das ist der Engel, der mir das Bilderbuch gegeben hat, und ich werde wieder gesund werden!«

Schmidt fand keine Worte, doch sein Auge strahlte Erlösung. Milett hätte seiner Doris um den Hals fallen mögen, bemeisterte jedoch sein Gefühl und fragte: »Aber woher, liebe Doris, kam dir denn so genaue Kunde von dem Knaben?«

»Von dir gewiß nicht!« antwortete sie mit schalkhaft strafendem Blick. »Seit zwei Wochen wußte ich genau, was du täglich, ja stündlich triebst; ich wußte genau, in wie schlechter Gesellschaft du hier verkehrtest, mit verdächtigen Personen, die dich ausbeuteten und zu kindischer Verschwendung lockten, die man dunkler Schuldtaten zeiht, mit diesem Kinde, aus dessen blassen Zügen ein an ihm begangenes Verbrechen spricht, mit einer Dame – – Fräulein Azalinka – Sie wollen sich entfernen? Ich bitte, bleiben Sie. Bin ich Ihnen doch zu Dank verpflichtet für die täglichen Briefe, die ich zwar nicht erbeten hatte, die mir aber die Lücken in meines Mannes Briefen vollständig ergänzten.«

»Hätten Sie meine zerrissenen Briefe gelesen! –« rief Ludmilla.

»Hättest du gar erst meine zerrissenen Briefe gelesen! –« unterbrach Milett.

»So würden Sie wissen, wie arg die notgedrungenen Anklagen mir das Herz zerrissen haben«, fuhr jene fort. »Wir Frauen haben den Naturtrieb der gegenseitigen Hilfeleistung. Ich konnte es dauernd nicht mit ansehen, Herr Milett, wie Sie in schlechter Gesellschaft hier Ihre Zeit vergeudeten, ohne daß sich das weibliche Pflichtgefühl in mir regte, Ihre Frau Gemahlin, die mir entfernt befreundet ist –«

»Sehr entfernt!« unterbrach Doris.

»Davon in Kenntnis zu setzen.«

»Ich errate!« rief Milett. »Das war also der Roman der Briefe, die Sie täglich schrieben! Das war die Handlung, die Sie suchten! Sie verdächtigten mich bei meiner Frau, lediglich damit doch etwas Handlung in die reine Stimmungsidylle von Rimselrain komme!«

»Nun, die Handlung mußte kommen auch ohne meine Briefe«, entgegnete Ludmilla boshaft. »Und jetzt scheint sie ja recht lustig anzufangen!«

»Sie endet eben jetzt«, verbesserte Doris.

»Ihre novellistischen Naturstudien im Schwefelbade griffen tief, mein Fräulein«, fuhr Milett unerbittlich fort. »Sie wollten Vivisektionen machen an meinem und meines geliebten Weibes Herzen. Ich mag dergleichen bei den armen Tieren nicht, bei mir selbst aber noch viel weniger. Ich bin Mitglied des Vereins gegen die Vivisektion.«

Als er sich nach der Angeredeten umsah, war sie verschwunden.

Es folgte eine Pause des Staunens und Lächelns.

»Meine Korrespondentin charakterisierte scharf«, fuhr dann Doris fort, »sie hat sogar Talent zur Karikatur. Mir ward himmelangst. Und dazu deine nichtigen Briefe! Eugen, welche Pein hast du mir bereitet! Begreifst du, daß es mich nicht länger zu Hause duldete? Die Unwahrheit der boshaften Berichte lag obenauf, und doch trug die Lüge zugleich den Stempel verhüllter Wahrheit. Das Fräulein fälschte, aber als eine Meisterin des Naturstudiums – sie fälschte nach dem Leben. Ich mußte mir Gewißheit verschaffen. Wir alle haben gefehlt – auch ich. Ich hätte dir die Lügenbriefe schicken sollen, daß du sie widerlegtest; allein deine eigenen Briefe verwirrten und lähmten mich. Ich reiste hierher, nicht um mit Vorwürfen in dein abenteuerliches Leben hereinzubrechen, sondern nur um ganz heimlich ein klein wenig zu lauschen – Frauen lauschen ja so gern! –, und wie gründlich habe ich euch drei Tage lang belauscht, wie oft bin ich dir ganz nahe gewesen, ohne daß du's merktest! Aus dem häßlichen Zerrbild der Briefe enthüllte sich Zug für Zug ein schönes, reines Bild! Aber ein wunderlicher Mann bist du doch – – und ein lieber Mann!« – fügte sie ganz leise hinzu, und ihr Blick sagte, daß sie ihn jetzt lieber habe als je zuvor, und sein Auge gab die gleiche Antwort.

»Wie war es dir nur möglich, hier den heimlichen Aufenthalt zu nehmen?« fragte er dann; »wie gelang es dir, Herrn Oberg'schwendner in ein Geheimnis zu ziehen, welches gleich deiner ganzen kurwidrigen Person die Gemütlichkeit dieses Schwefelbades zu stören drohte?«

»Unser biederer Wirt«, entgegnete Doris, »ist der einzige Charakter, den Fräulein Azalinka völlig verzeichnet hatte. Sie schilderte ihn so hart, so steinern, und er ließ sich doch erweichen durch Geld und gute Worte.«

»Zacharias Oberg'schwendner! habt Ihr wirklich einmal eine Kaiserin abgewiesen, damit die Gemütlichkeit Eures Bades nicht gestört werde?« donnerte Milett dem Wirte ins Ohr.

Ganz unerschüttert antwortete dieser: »Es war nur eine Prinzessin, und man hatte mir gesagt, Prinzessinnen verzehrten nicht viel. Das ist aber schon zwanzig Jahre her, und inzwischen könnte sie sich wohl zu einer Kaiserin ausgewachsen haben.«

Alle lachten. Dann sprach Milett zu seiner Frau: »Du glaubst nun, all mein geheimes Treiben durchschaut zu haben; du irrst dich. Ich hege noch ein Geheimnis – es wird dich vielleicht erschrecken. Gehen wir zu dem stillen Sitz dort unter den Tannen. Freund Schmidt begleitet uns.«

Als sie zu dreien im Schatten saßen, begann Milett: »Ich war mein Leben lang so glücklich und wußte selbst nicht, wie glücklich ich war, und eben darum war ich auf dem Wege, recht unglücklich zu werden. Unvermerkt hatte mich eine schwere Krankheit beschlichen: – ich war ›blasiert‹ geworden. Blasiert – ein garstiges Fremdwort! es gibt kein deutsches dafür, denn diese Seuche ist auf fremdem Boden gewachsen; von West nach Osten zog sie durch die Welt, entgegen dem Weltgang anderer Seuchen. Bei diesem prächtigen Manne« – er drückte Schmidt die Hand – »lernte ich, wie innerlich frei und hoch und gottversöhnt ein starkes Herz auch das schwerste Geschick ertragen kann. Im Schimmer meines Glückes erschien mir diese schöne Welt Gottes erbärmlich verpfuscht; das Unglück dieses Mannes ließ mich die Harmonie der Welt ahnen, die Harmonie, welche in uns liegt und aus unserer eigenen sittlichen Kraft quillt. Es war eine milde Kur, Doris; eine strengere hätte mir auch verhängt werden können durch das läuternde Feuer eigenen Unglücks. Das Schwefelbad ward mir zum Quell der Genesung. Auch du bist bereits wie genesen, seit du nur hierherkamst, und der kleine Fritz wird hoffentlich noch in späten Jahren von hier den Wiederbeginn seiner vollen Genesung rechnen. Und wird es nicht vielleicht auch Freund Schmidt, der Arzt, der an dir seine Ärztin gefunden? Ganz froh, ganz frei fühle ich mich nun aber doch erst, seit ich auch dich hier im Heilbad habe. Sollten wir nicht oft und gerne an dieses Rimselrain denken, ja sogar wiederkommen in seine kühlen Waldberge? Siehe, darum habe ich auch noch einem weiteren Menschen eine schwere Last abgenommen, ich habe noch einen Glücklichen gemacht: den Zacharias Oberg'schwendner; – ich habe ihm sein Schwefelbad abgekauft für zwanzigtausend Mark.«

Doris fuhr erschrocken auf: »Eugen! es ist unmöglich!«

»Wir wollen uns hier einen schönen Landsitz gründen, liebe Doris, einen Erinnerungstempel beseligender Tage. Und wenn wir ab und zu recht stillvergnügt und frei von der Welt einander leben wollen, dann reisen wir nach unserer Villa Rimselrain – auf vier Wochen.«

»Es kann dein Ernst nicht sein! es ist unmöglich, bester Mann!« rief Doris in wachsendem Entsetzen. »Welch ein Unglück, daß ich nicht bei dir war, dir den heillosen Plan auszureden. Hat denn das viele Schwefelwasser, welches du trankst, dich vergessen machen, daß wir bei Hannover wohnen? Eine Villa am Böhmerwald! – und dies abscheuliche Bad eine Villa! – Man riecht den Schwefel schon auf eine Viertelstunde.«

Milett lächelte und sah der erregten Frau recht tief in die Augen.

»Es war nur ein Scherz«, fuhr er fort –

»Gottlob, daß du das Bad nicht gekauft hast«, unterbrach Doris. »Wie konntest du mich so erschrecken!«

»Es war nur ein Scherz«, betonte der Gatte nachdrücklich, »daß ich uns hier einen Landsitz gründen wollte. Aber das Bad habe ich wirklich und wahrhaftig gekauft. Ich muß jedoch noch einiges von meinem Glück erzählen. Welchen Schatz ich an dir besitze, das glaubte ich immer zu wissen, und doch erfuhr ich's erst heute voll und ganz. Du fügtest dich stets meinem Willen, das ist wohl schön. Heute aber erfuhr ich, daß du auch deinen eigenen Willen haben und ihn glorreich zum Ziele führen kannst, und das ist fast noch schöner. Kaum hast du mir jemals widersprochen, und jetzt mit einemmal entfaltest du die Gabe des Widerspruchs in unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit« – und er flüsterte dem Freund ganz leise zu: »Sie muß doch eine kleine Strafe dafür haben, daß sie uns so listig belauscht hat.«

»Du bist grausam, unmenschlich mit deinem Spotte!« rief Doris.

»Im Gegenteil. Ich war vielleicht niemals milder und menschlicher gesinnt als eben jetzt. Hätte ich denn sonst Rimselrain gekauft? An dieser Schwefelquelle erfuhr ich zunächst, wie beglückend es ist, andere mit ungeahnter Freude zu überraschen, anderen zu helfen. Ich möchte solchen Glücks auch weiter dauernd teilhaftig bleiben. Rimselrain war ein Bad der Bauern und der Armen seit aller Zeit. Es ist schändlich heruntergekommen, es soll wieder emporsteigen. Hierauf gründet sich mein Plan. Wir haben voriges Jahr zu unserem übrigen Vermögen ein artiges kleines Kapital von zweimalhunderttausend Mark ererbt und sind reich genug, dieses Geld ohne Vorwürfe so nebenbei zu unserem Vergnügen ausgeben zu dürfen. Nun gut! ich mache mir das Vergnügen, das Geld in diesem Schwefelbad anzulegen. Schlicht und nett soll ein neues Badehaus sich erheben, die Quelle soll frisch gefaßt, die Bäder sollen zweckmäßig eingerichtet werden; bürgerlich einfach soll die Pflege sein, mäßig die Preise bei einem Dutzend Freistellen für die Armen. Ist es nicht ein beglückender Gedanke, mit unverdientem Geld geplagten armen Leuten jenes Traumbild zu verwirklichen, wie es im Buche stand, Freund Schmidt? – ›Drei Wochen im Bade‹? Auf Gottes Lohn und anderthalb Prozent rechne ich nebenbei für mich. Und besuchen wir dann einmal das verjüngte Rimselrain, dann wollen wir vergnügte Gesichter sehen. Ein Arzt darf nicht fehlen. Als Verwalter des Ganzen, als unseren Statthalter aber stellen wir unseren Freund an, der die Menschen kennt und ihre Leiden, der Leidende zu trösten weiß, weil er Leiden zu tragen verstand, ja der nebenbei sogar ein halber Arzt ist – –«

»Kein Arzt mehr!« unterbrach jener. »Zum Krankenwärter taugte ich einmal, zum Kurdirektor würde ich niemals taugen, selbst nicht in einem Wild- und Bauernbad. Laßt mich meiner Wege gehen. Ich bin ein eigensinniger Mann, wie Frau Doris richtig gesagt hat. Aber ich atme wieder freier. Diese zarte Frau hat mir einen Stein vom Gewissen gewälzt, den ich im Starrkrampf meines Stolzes mit aller Manneskraft nicht bewältigen konnte. Ein Engel hat meinem Kind die Genesung verheißen, und ich hoffe jetzt auf des Wortes huldreichste Erfüllung. Zwei Menschen fand ich hier, so gut, so lieb wie wenige, und in ihren hellen Augen spiegelt sich mir die Harmonie der Welt – wie unendlich viel fand ich mit euch an diesem Quell der Genesung! Die Statthalterschaft des neuen Heilbades gebt einem Würdigeren; ich erbitte mehr von euch: – schenkt und bewahrt mir eure Freundschaft bis in den Tod und laßt es euch zur kleinen Gegengabe an dem Dank und Segen eines armen Mannes genügen.«


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