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XVII.

Seit einer halben Stunde wartete Truckbrott nun bereits im Konferenzzimmer des Bürohauses Gordon. Eben kam der Sekretär wieder mit Akten unter dem Arm durch.

»Der Geheimrat noch nicht da?«

Der blieb stehen. »Ich weiß auch nichts. Draußen anzurufen, hat keinen Zweck, man bekommt doch keinen Anschluß. Der Geheimrat legt aber besonderen Wert auf die Besprechung, er hat angeordnet, daß ich Sie zurückhalten soll.«

»In einer Stunde fährt der Kölner Zug.«

Der drückte Truckbrott eine Denkschrift in die Hand. »Lesen Sie das inzwischen durch, damit Sie wissen, was Sie eigentlich in Köln sollen, die Details gibt der Geheimrat selbst. Vor einer Stunde ist der Generalkonsul von Lettau eingetroffen, natürlich auch später, als wir erwarteten.«

»Was will denn der hier?«

»Was er will?« Der Sekretär lachte und klopfte Truckbrott vertraulich auf die Schulter. »Sie kommen wohl vom Mond? Ich glaube, Sie sind der einzige Mensch in ganz Hamburg, der nicht weiß, daß Fräulein von Gordon morgen heiratet.«

Truckbrott sah ruhig vor sich hin. »Ich habe mich in Malmö um nichts gekümmert, was außerhalb meines Berufes lag.«

»Wirklich nicht?« Der junge Mann setzte sich burschikos auf die Tischecke. »Und ich dachte, Sie machen einen Witz. Sie standen den Gordons doch früher näher?«

»Sie irren.«

Der Sekretär horchte auf. »Ich glaube, er ist eben gekommen.« Und mit einer Verbeugung, als die Tür aufging. »Ich wollte Herrn Truckbrott soeben melden.«

Gordon haßte Verlegenheitsphrasen, er winkte ungeduldig. »Sie sehen, daß es unnötig ist. Ich will nicht gestört sein.«

Als sie allein waren, mit einer Handbewegung. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.« Er war heute ganz der kühl formelle Geschäftsmann, der ein Gebiet, das er verloren hatte, erst von neuem sondieren mußte.

Das Licht der Konferenzlampe fiel beiden voll ins Gesicht. Winkelzüge, die den Gegner in Nachteil brachten, wie Beleuchtungseffekte, mit denen ein weniger Sicherer die eigenen Züge verdunkelt hatte, verschmähte Gordon im Bewußtsein seiner Stärke.

»Eine Frage zuvor, die Sie verstehen werden, Herr Truckbrott. Sind Sie frei?«

Der hielt den forschenden Blick aus. »Sonst hätte ich die Anfrage der Union anders beantwortet.«

»Als wir einander das letztemal gegenübersaßen, lagen die Verhältnisse anders?«

»Ja.«

»Und heute?«

»Das hat wohl nichts mit unseren geschäftlichen Fragen zu tun.«

Der Geheimrat lächelte. Dann, um einen Grad herzlicher. »Verübeln Sie mir das Verhör nicht. Sie wissen, ich habe stets große Stücke auf Sie gehalten, Sie werden verstehen, daß mein Glaube seit damals ein wenig ins Wanken geraten ist.«

»Und Sie riefen mich trotzdem?«

»Ich bin ein wenig Menschenkenner. Man wird das in einem Leben, das mit den verschiedenartigsten Kreisen in Verbindung bringt. Und man lernt, sich ganz auf den persönlichen Eindruck zu verlassen. Den wollte ich heute gewinnen.«

Truckbrott blieb gelassen. »Was wäre geschehen, wenn dieser Eindruck – sagen wir – negativ ausgefallen wäre?«

»Dann hätte ich Ihnen einen andern Posten angeboten«, sagte der Geheimrat langsam. »Jetzt aber bitte ich Sie, an der morgigen Konferenz in Köln als Vertreter der Luftunion teilzunehmen. Rasch die Vorgeschichte: Wir leben in einer Ära des Wettbaus, der Geheimniskrämerei, des Konkurrenzneides, der eine Zeitlang wohl fördernd auf die Entwicklung des Luftverkehrs einwirken konnte, jetzt aber alle Beteiligten schädigt. In dieses letzte Stadium sind wir nach dem verunglückten Versuch Surewskis in Amsterdam eingetreten. Vor Schiphol bildete der Großflugzeugbau eine geschlossene Phalanx, der nur Surewski mit seinem ›Leviathan‹ gegenüberstand. Im besten Falle wäre daraus eine Rekordleistung geworden, die uns kaum beeinflussen konnte. Das ist jetzt anders. Das Surewskische Projekt wurde erstaunlicherweise von den Engländern aufgegriffen, Macmorris und MacKenney haben sich der Sache angenommen, der eine mit Kapital, der andere mit seiner überragenden fliegerischen Erfahrung. Es ist verständlich, daß Farman nicht tatenlos zugesehen hat – und so wird die Union gezwungen, um ihrer Weltgeltung willen ihr ruhig aufbauendes Programm zu unterbrechen. Wohl oder übel müssen wir, wenn keine Einigung zustande kommt, an dem Wettbauen teilnehmen. Das kostet viel Geld und ist gefährlich.«

Truckbrott unterbrach. »Bei unserer letzten Unterredung glaubte ich annehmen zu dürfen, daß die Union den Fehdehandschuh aufnehmen würde.«

»Das war kurze Zeit beabsichtigt. Während Sie in Schweden sich konstruktiv betätigt haben, ist in Deutschland praktische Arbeit geleistet worden. Bitte«, er legte beruhigend die Hand auf den Arm des andern. »Das soll kein Vorwurf sein. Innerhalb der deutschen Fabriken ist das Projekt des Riesenflugzeugs oft genug erörtert worden. Ich brauche Ihnen die Firmen und die einzelnen Konstruktionen nicht zu nennen. Dornier hat praktische Erfolge mit seinem Superwal erzielt, Rohrbach arbeitet, Fokker. Wir sind lange genug durch die Begriffsbestimmungen des Vertrages von Versailles gefesselt und gehandikapt worden. Das Ihnen besonders nahestehende Projekt der Sturmvogelwerke hat auch darunter gelitten. Kurz und gut, wir stehen vor der Frage: Wettbau oder Einigung. Das ist Sinn und Drehpunkt der Konferenz von Köln, Herr Truckbrott.«

»Es kann nicht zweifelhaft sein, welchen Weg man einschlagen muß.«

Der Geheimrat wartete ab. »Nun?«

»Wenn eine Einigung möglich ist –«

Die Spannung ließ nach. »Sie muß möglich sein. Betrachten wir es als einen Schritt vorwärts, daß die Konferenz möglich war. Sie werden in Köln Franzosen, Engländer, Italiener, Russen, Schweden und Deutsche finden. Ein Kongreß aller luftpolitisch aktiv tätigen Völker. Sie werden mit den hervorragendsten Vertretern der Industrie und der Fliegerei Zusammentreffen. Ziel ist die Gründung eines Pools, einer neuen Hansa.«

»Und Sie werden nicht selbst zugegen sein?«

Der Geheimrat wich aus. »Die Sitzungen dauern drei Tage, morgen sind Vorbesprechungen unverbindlicher Art vorgesehen. Am Abend erwartet mich ein Flugzeug, das mich am frühen Morgen nach Köln bringen wird.«

»Ich vergaß, was Sie hindert.«

»Meine Tochter heiratet, für den Industriellen wohl kein wichtiger Grund, aber für den Vater.«

»Ich bitte, dem gnädigen Fräulein meine Glückwünsche zu übermitteln.«

»Barbara hätte sich sehr gefreut, Sie zu sehen. Wenn die Zeit weniger bemessen wäre –«

Truckbrott erhob sich. »Mein Zug.«

Und Gordon: »Sie sind mein Trumpf, als Konstrukteur und als Flieger. Müssen wir wettbauen, dann wird die ›T 1000‹ als erste Maschine fertig werden. Nicht wahr?«

Während Truckbrott durch die Nacht fuhr, plagten ihn die Gedanken. Nicht die des bevorstehenden Abkommens, er sah Barbara vor sich, die stolze, kühle Barbara, die nun an der Seite ihres Mannes nach Ostasien gehen würde. Einem glänzenden Leben entgegen, in eine Welt, die ihm nur Hintergrund und Kulisse für die Frau zu sein schien. Ihre Wege gingen nun auseinander. Ihn würde es herumwirbeln und sie. Jahre rastloser Arbeit und Pflichterfüllung für ihn im Dienste der Idee. Der Irrgarten, in den er geraten war, lag hinter ihm. Einen Kameraden hatte er gesucht und eine große Enttäuschung gefunden, die er nun mit sich schleppen mußte.

Und sie? Auf Barbara wartete ein Geleise. Der Schwiegersohn des Präsidenten der Luftunion mußte Karriere machen. Gesandter, Botschafter, das waren für Lettau wohl nur Zwischenstationen, bis er als Minister, gestützt auf die allmächtige Industrie, in Berlin sitzen würde. Als Politiker.

Gordon kalkulierte scharf und pflegte Menschen zu Figuren auf seinem Schachbrett zu machen. Der Junge, der ihm damals verlegen gegenübergestanden hatte, war der König, den König stützte man bis zuletzt. Die Tochter – man gab ihr einen Ritter als Bedeckung. Die Diplomatie muß das Interesse der Industrie vertreten, ein grausames Gesetz des kapitalistischen Zeitalters.

Und er? Man konnte sich aussuchen, was man sein wollte. Turm oder Reiter oder Bauer. Für den Augenblick eine wichtige Figur und doch zur Seite geworfen, kaltblütig eingesetzt und verlorengegeben, wenn die Partie in Gefahr kam.

Am andern Mittag traf er in Köln ein. Ja, die fremden Gäste waren eingetroffen, aber man hatte einen Ausflug nach Königswinter und dem Drachenfels arrangiert.

Jawohl, die englischen Herren mit den Franzosen und den Schweden. Zwecklose Stunden lagen vor ihm. Truckbrott ging ziellos durch die Straßen, kam an einem engen Vorhof vorbei, folgte gedankenlos den Menschen, die da hineingingen, und stand plötzlich zwischen andern in einer engen Kapelle, vor einem goldüberladenen, prunkvollen Altar. Frauen, mit Wachskerzen in der Hand, drängten sich an ihm vorbei, schoben ein Fensterchen auf, entzündeten sorgfältig das Licht an einem der bereits brennenden und steckten es auf einen der Nägel. Die wenigen Bänke waren mit Betenden dicht besetzt.

Und die schwarze, wundertätige Madonna sah mit leeren Augen über all die Menschen.

Er wollte leise zurücktreten, aber da war etwas, das ihn hinderte, eine Kraft, die ihn zwang, stehenzubleiben. Er hörte eine halblaute Stimme in hartem Deutsch hinter sich.

»Herr Truckbrott.«

Das Goldglitzern vom Altar blendete ihn.

»Sie erkennen mich nicht mehr? Ich bin Olga Surewski.« Und ihn leise zur Seite schiebend. »Kommen Sie, ich will mit Ihnen sprechen.«

Erst auf der Straße konnte er seine Begleiterin mustern. Sie trug noch immer Schwarz, aber keine Trauerkleider mehr. Ein modernes Kostüm, das ihre Figur hob und ihre Haut wachsbleich erscheinen ließ.

»Ich wußte, daß ich Sie in Köln treffen würde«, sie musterte ihn. »Als wir uns das letztemal sahen, habe ich Ihnen ein Angebot gemacht, dieses Mal werden Sie zu mir kommen.«

Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Ich bin mit dem Viscount Macmorris heimlich verlobt und werde ihn heiraten, sobald das Trauerjahr vorbei ist. Ich sage Ihnen das, damit Sie sehen, daß ich meine Pläne nicht aufgegeben habe, daß ich kämpfen will, nach wie vor.«

»Ich will nicht kämpfen.«

»Ich weiß, warum Sie gekommen sind. Sie wollen nicht kämpfen, aber Sie werden es müssen. Jetzt wollen Sie uns einen Vorschlag machen, und jetzt werden wir ihn ablehnen.« In ihren Augen flackerte der alte Haß. »Jetzt sind wir bereit, und Sie haben Zeit verloren.«

»Sie greifen den Ereignissen des Kongresses voraus«, lächelte er.

»Sie wollen mich nicht ernst nehmen. Hören Sie, die andern haben eine Fahrt gemacht, ich bin hiergeblieben, ich wollte allein sein. Ich hätte Sie heute getroffen, ganz bestimmt. Wissen Sie, warum ich zu der schwarzen Madonna gebetet habe? – Sie erinnert mich an die schwarze in Kasan, die wir Russen anrufen, wenn wir eine besondere Hilfe brauchen. Wissen Sie, um was ich sie gebeten habe?«

»Ich will nicht in Ihre Geheimnisse eindringen, gnädige Frau.«

»Oh, Sie sind immer noch so wie früher«, ihre Stimme zitterte vor leidenschaftlicher Erregung. »Sie sind immer noch der kühle, pedantische Deutsche, der alles verachtet, was nicht in seine Lehrbücher paßt. Und Ihnen habe ich damals die geniale Idee Saschas geben wollen. Ihnen – gebettelt habe ich. Glauben Sie mir, Herr Truckbrott, eine Frau vergißt nicht, wenn sie einmal zurückgestoßen worden ist.«

»Sie waren in Ihrem Schmerz damals von Sinnen.«

»Nein, ich habe gewußt, was ich getan habe. Ich habe mich mit den Engländern verbündet. Die sind ebensolche Fischnaturen wie ihr Deutschen. Deshalb tat ich's. Jetzt kommen Sie zu uns mit Ihren Vorschlägen, und jetzt werden wir sie abweisen.«

Er wollte der Unterredung ein Ende machen. »Ich darf Sie zu Ihrem Hotel begleiten, gnädige Frau.«

Aber sie hatte schon einen Wagen herangewinkt und stieg ein. »Ich fahre allein, wir sehen uns noch wieder. Morgen.«

Im Gewühl der Hohenstraße lockten die schreienden Reklamen eines Kabaretts. Truckbrott scheute sich, den Abend allein in dem leeren Hotelzimmer zu verbringen. Er brauchte Ablenkung, um der Gedanken Herr zu werden, die auf ihn einstürmten.

Heute war Barbara Gordons Hochzeitstag.

Er gab seinen Mantel ab und nahm an einem Tisch dicht an der Bühne Platz, ließ sich mechanisch einen Wein vorschlagen, sein Abendessen.

In der Ecke klimperte ein junger Mensch auf dem Flügel.

Das übliche Publikum. Kleinbürger, die sich einen lustigen Abend machen wollten. Junge Leute, denen man das Büro ansah, neben Mädchen, die lüstern auf etwas Ungewisses warteten. Kokotten dazwischen mit gleichgültiger Maske, hinter der sich nur mühsam der lauernde Blick verbarg, der jeden Eintretenden abtaxierte. In den Logen wohl auch Gesellschaft.

Der Ansager mühte sich, mit eingelernten Improvisationen Stimmung für die auftretenden Künstler zu machen. Ein Versuch, der vorläufig an der frühen Abendstunde scheiterte. Die Menschen da unten dachten alle noch ihre Gedanken.

Auch als ein junges Wesen an einem Tischchen auf der Bühne Platz nahm und zu singen begann. Ein Stimmchen, kaum groß genug für den Raum, in seinen Nuancen in der Gleichgültigkeit erstickend.

Ein larmoyantes Lied von einer Hofdame und einem Prinzen, die aneinander vorbeigingen.

Die Augen der Sängerin suchten nach einem ruhenden Punkt, nach einer Hilfe. Glitten über ihn hinweg, kamen wieder, immer wieder.

Am Nebentisch saß ein kleiner Mensch mit ungeheurem Buckel. In abgetragenem Anzug, die Aktentasche auf den Knien, eine halbgeleerte Kaffeetasse vor sich.

Und zu dem sah sie nicht hin, obgleich seine Augen sich in sie hineinbohrten.

Die weißen Schultern zitterten leise, als fröstelten sie. Die Finger spielten nervös.

Menschen, die aneinander vorbeigehen – jetzt saß Barbara von Gordon neben ihrem Manne an der Hochzeitstafel, auch das Ziel neugieriger, forschender, suchender Blicke. Wehrlos, wie die da oben. Und vielleicht suchten ihre Augen auch nach einem Menschen, auf dem sie ausruhen konnten. Nach einem Kameraden. Der Mann neben ihr, dessen Namen sie nun seit Stunden trug, mußte ihr ja noch fremd sein. Ein Kampf stand ihr bevor, ein gegenseitiges Ineinanderaufgehen, ein Aufgeben und ein Finden, das für ein Menschenleben die Grundlage bilden sollte.

Auf Stunden hob etwas sie über die Masse hinaus, wie die da oben jetzt auf Minuten. Aber die Alltäglichkeit wartete und barg Ausgaben in sich, die schwer zu lösen waren.

Unbewußt klatschte er, als das Lied zu Ende war. Die Sängerin verbeugte sich tief, in ihr Kleid wie in einen Blumenkelch versinkend. Für ihn, für den Buckligen und für all die gleichgültig schwatzenden Menschen. Solange man auf der Bühne stand, durfte man die Haltung nicht verlieren.

Ein Verständigungsblick zu dem Pianisten hin – ein andres Lied. Sicher standen zwei im Kontrakt – und Kontrakte müssen erfüllt werden.

Wieder die Augen. – Ein Kamerad auf Stunden? Sie war ebenso allein wie er, diesen Monat hier, dann wartete eine andere Bühne und im Zuschauerraum das gleiche Publikum. Oder man saß in den Vorzimmern der Agenten, weil es genug gutgewachsene Frauen gab, die sentimentale Lieder von Hofdamen und Prinzen zu singen verstanden, die aneinander vorbeigingen.

Oder von Prinzessinnen und Kavalieren. –

Und er freute sich, als oben ein Mensch auftrat, der mit Hüten und Stöcken jonglierte und der die Gedanken nicht auf Irrwege führte.

Der Tisch des Buckligen aber war leer. –


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