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VIII.

Auf der Kurischen Nehrung riß der Herbststurm das Regiment an sich. Der kleine Dampfer, der jeden Tag über das Haff kam, hatte oft schwer zu kämpfen, bis er die schützende Mole von Rossitten erreichte. In ewiger Reise zogen die Krähen von Ost nach West über den Wald. Jeden Tag trat einer der Flugschüler in das Geschäftszimmer des Fliegerlagers und streckte dem Hauptmann die Hand hin.

»Ich muß nun gehen.«

Und Frau Ina sah bei den Mahlzeiten ihre Runde zusammenschmelzen. Sie sprach mit ihrem Manne. »Du mußt nun auch ans Packen denken.«

Der kramte in seinen Papieren und zog die Frau an sich. »Es wird uns in Königsberg nicht behagen, man gewöhnt sich an die Einsamkeit, hier sieht man sein Ziel täglich vor Augen. Man schafft und arbeitet – in der Stadt werden wir wieder Aktenmenschen werden.« Er griff nach ihrer Hand. »Aber du hast etwas anderes auf dem Herzen. Ist's einer von unsern großen Jungen?«

Sie nickte. »Ich wollte schon lange sprechen – und hab's doch nicht getan.«

»Ich hab's auch gesehen, Ina, Heimlichkeiten haben sie ja nicht gesucht – und wenn sie es auch getan hätten, die Augen blicken noch zu offen in die Welt, mit denen kann man sich nicht verstellen.«

Hand in Hand saßen sie nebeneinander an dem rohen Holztisch, auf dem der Hauptmann seine Arbeiten erledigte, und sahen sich an. Selbst noch junge Menschen, Wilhelmy hatte vor einem Jahr geheiratet, und manche hatten von einem Opfer gesprochen, als er mit seiner jungen Frau die zwei Zimmer oben in der ersten Etage des Fliegerlagers bezog. Aber Frau Ina war ein Mensch, der dem Leben nicht auswich. Während ihr Mann mit den Jungen drüben in der Werkstatt bastelte oder oben auf dem Berg unterrichtete, übernahm sie das Hauswesen, und aus der Gemeinschaft, die leicht verwildert wäre, wurde ein Heim, eine große Familie.

Und die junge Frau Ina hatte viele Kinder.

»Und nun?« fragte sie ihren Mann.

»Gordons Zeit ist bald abgelaufen, was hier zu lernen war, hat er gelernt. Er ist einer unserer besten Segler geworden, ein Mensch, auf den man sich verlassen kann. Etwas wird er von uns mitnehmen, auch wenn ihn sein Leben in andere Bahnen verschlagt.«

»Er wird auch etwas zurücklassen, Gerd.«

Die jungen Augen des Hauptmanns suchten. »Gisela.« Und dann sprach er vor sich hin, als ob er allein wäre. »Gordon ist mein Sorgenkind gewesen vom ersten Tage an. Zu reich, zu unabhängig. Manches, was ich befürchtet habe, ist nicht gekommen, denn er hat unsern Dienst nicht als Spielerei aufgefaßt. Er hat gearbeitet wie alle andern, und hat nichts für sich verlangt, was ich ihm hätte verwehren müssen. Und wenn die andern in die Dörfer zu den Mädels gegangen sind, ist er hier geblieben, ist mit Gisela durch den Wald gestreift, auf Elche, oder sie sind in der See geschwommen. Und weil er sie immer wie eine Schwester gehalten hat, habe ich nichts sagen können. Sie haben ja beide gewußt daß es einmal zu Ende geht. Gisela muß zurück auf die Universität, sie wird viel studieren müssen, um das Verlorene wieder einzuholen. Sie ist ein Pflichtenmensch und wird es tun. Zuerst schmerzt es, aber mit der Zeit wird es für sie eine schöne Erinnerung werden, etwas, an das man gern denkt.«

»Sie hat heute einen Brief bekommen und fährt morgen«, sagte Frau Ina. »Ich will ihr beim Packen helfen.«

»Tu das. Und wenn sie sprechen sollte – aber ich brauche meiner klugen Ina ja nicht zu sagen, wie man da die rechten Worte findet.«

Oben, in dem kleinen Zimmerchen, stand der Koffer mitten auf dem Boden. Schübe und Schränke waren offen, Kleider ausgebreitet, und auf dem Bett saß Gisela zwischen alldem und träumte. So fand sie Frau Ina.

Das Mädchen schrak auf. »Es ist nett, daß du kommst.« Sie mühte sich, unbefangen zu bleiben.

»Meinst du das wirklich?«

Gisela wurde rot. »Weil ich hier sitze und nichts tue, denkst du? Nun, es gibt Dinge, mit denen man sich auseinandersetzen muß.«

»Und das hast du getan?«

»Es mußte sein. Ich habe Ordnung geschafft – in mir. Morgen, wenn der Dampfer abfährt, wenn die Dünen immer niedriger werden, ist's vorbei.« Sie lehnte den Kopf an die Schulter der andern. »Aber heute ist's schon ein bißchen schwer.« Und nach einer Weile: »So ein wenig, Tante Ina, könntest du mir schon helfen. Die Jungen ziehen heute die ›Hannover‹ auf den Berg, die große Maschine, weißt du, Rainer will fliegen. Er muß ja nun auch bald fort und soll doch alle Prüfungen vorher ablegen. Er kennt die ›Hannover‹ am allerbesten, er und Onkel Wilhelmy, er ist ja auch schon oft mit einem Passagier geflogen. Und nun will er – will ich –«

»Kind, das geht nicht.«

Gisela bettelte. »Rainer geht zu Onkel Gerd und fragt ihn, ob ich mitfliegen darf. Hinüber an die littauische Grenze. Nur einmal – nur dieses eine Mal möchte ich alles noch von oben ansehen, die Dünen, das Dorf, unser Fliegerhaus hier. Das will ich mitnehmen in die staubigen Hörsäle. Ich will das Haff riechen und den Wald, ehe ich wieder in den Bücherstaub komme. Ich war doch so vernünftig die ganze Zeit – Tante Ina, kann man nicht ein einziges Mal ein ganz kleines bißchen unvernünftig sein?«

»Aber dein Vater …«

»Der ist auch einmal jung gewesen, er erzählt ja noch gern von seiner Studentenzeit. Wenn Onkel Gerd dich fragt, was wirst du ihm sagen?«

Ina stand auf. »Ich will mir's überlegen.«

Inzwischen stand Rainer Gordon vor dem Hauptmann. »Wenn es nur dieses Mal möglich wäre –«

Der sah wieder mit seinen scharfen Augen durch den Jungen hindurch. »Warum wollen Sie das?«

»Um ihr eine Freude zu machen«, kam leise die Antwort.

Der zwang sich zur Schärfe. »Und dann ist's vorbei, aus. Dann hat man einem Mädel Raupen in den Kopf gesetzt und geht fort. Das Mädel kann sich allein damit abfinden.«

Rainer wurde flammend rot. »So ist das nicht, Herr Hauptmann.«

»Haben Sie Gisela etwas gesagt, etwas versprochen?« forschte der.

»Wir haben uns nichts sagen brauchen und versprochen auch nicht. Wenn meine Schwester Barbara hier gewesen wäre, ich hätte sie nicht anders halten können. Ich bin nicht leichtsinnig, ich werde lernen, und Gisela wird lernen, wir werden uns wohl lange Zeit nicht sehen. Aber wir sind beide jung. Wir werden aneinander denken, und wir werden uns wiedersehen.«

»Schwacher Trost für das Mädel.«

Rainer fuhr aus. »Sie dürfen mich nicht beleidigen, Herr Hauptmann, auch Sie dürfen das nicht.«

Der war aufgestanden und hatte dem Jungen beide Hände auf die Schultern gelegt. »Lassen Sie nur, Rainer, manchmal muß man mehr fragen, als man möchte. Um Gewißheit zu haben, weil's nicht um einen Menschen allein geht, für den man die Verantwortung trägt. Sie sind noch sehr jung, und das Leben hat viele Straßen – und viele Kreuzwege. Vielleicht wird es einmal anders, als Sie heute glauben, Sie selbst werden das auch einmal mit andern Augen ansehen. Dann sollen Sie ohne einen bittern Geschmack im Munde an das Heute zurückdenken, und wenn's sich dann auch anders darstellt, Sie sollen nicht darüber spotten. Sollen sich die Heiligkeit der eigenen Vergangenheit bewahren. Und dem Mädel auch. Ich will Ihnen kein Versprechen abnehmen, aber wenn Sie mir jetzt ganz fest in die Augen sehen können und mir die Hand geben, dann sollen Sie fliegen.«

Es klang heiser, und Rainer mußte sich zusammenreißen vor dem Älteren. »Das kann ich –

Wilhelmy zog den kurzen Fliegerpelz über, griff nach den Windmessern und pfiff seinem Hunde. Im großen Saal wartete Ina.

»Nun?«

»Er wird's ihr schon selbst gesagt haben.«

Sie sah sich verstohlen um, ob sie auch wirklich allein waren, dann legte sie ihm beide Arme um den Hals und küßte ihn. »Mir will manchmal scheinen, man müsse doch einen älteren, gesetzteren Menschen hierherstellen.«

»Man bleibt zu jung.«

Ina sah ihm nach, als er durch den Sand stapfte. »Gerd, du wirst immer ein Kind bleiben«, flüsterte sie.

Und die Düne wanderte ruhelos. Ein scharfer, gleichmäßiger Wind stand über dem Haff, ließ die Wellen sich in weißen Kämmen überschlagen, prallte gegen den Steilhang, um mit Hui in die Höhe zu schießen, Sandwolken vor sich hertreibend.

Die Jungen zogen, alle, die noch da waren, der blonde Schwede, der Bauarbeiter aus Königsberg, der Monteur aus Elbing und neben ihm der junge Mensch, der einmal Offizier gewesen war, der gekommen war, um einen Sport zu treiben, wie er sein Auto steuerte oder sein Pferd ritt. Und der ein lieber, guter Kamerad geworden war.

Nur Rainer fehlte.

Der Königsberger hatte ihn beiseite genommen. »Wir schaffen die Kiste schon allein, geh du mit Gisela voraus.«

Die Räder wühlten sich tief in den Sand, die Jungen keuchten. Noch lag der lange Berg vor ihnen, und oben sahen sie die Silhouette des Hauptmanns, der mit ausgestreckten Armen die Meßapparate in den Wind hielt.

Die ganze Strecke lief er ab, versuchte es hier in der Mulde, dort, wo der Wind stärker blies, kehrte zurück, schritt ab, rechnete.

»Ich werde selbst zuerst starten«, murmelte er vor sich hin. Dachte an die beiden und an seine Frau. »Damit wir alle ruhige Gedanken behalten.«

Gisela ging neben Rainer durch den Herbstwald. Ihre Augen mochten gar nicht lachen. »Morgen noch, Rainer, dann sitze ich wieder über Büchern und muß mir die Welt mühsam zusammensuchen, die jetzt von allein zu mir gekommen ist. Einen ganzen Sommer lang.«

Sie hatten sich an den Händen gefaßt und sahen sich an. »Wenn ich durch Königsberg fahre, wirst du dann kommen, Gisela?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir wollen es uns nicht schwer machen.«

Und er: »Aber denken wirst du an mich?«

Sie blieb stehen, nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und küßte ihn – zum ersten Male auf den Mund. »Zwischen den Zeilen in meinen Büchern wird immer Rainer stehen«, lächelte sie.

Und als er den Arm um sie legen wollte: »Nein, du.«

Er mußte reden. »Papa hat mir einen langen Brief geschrieben, ich soll ihn in Berlin treffen. Wenn ich will, darf ich noch einen Motorkursus mitmachen. Er hat's mit Herrn Truckbrott besprochen.«

»Der wollte doch kommen, um deinen Prüfungsflug als Sportzeuge zu sehen, kommt er?«

»Ich glaube nicht. Ich habe ihm geschrieben, aber er hat nur sehr kurz geantwortet. Er wird an andere Sachen denken müssen.«

»Er ist auch geflogen mit deiner Schwester, war's nicht so?«

Rainer dachte nach. »Ich habe mir das oft überlegt, früher waren Truckbrott und Barbara Menschen, die sich verstanden haben, zwei Menschen überhaupt, die für mich stets zueinander gehörten. Und dann war das plötzlich zu Ende.«

»Hat er sie gekränkt?«

»Ich weiß nicht, seit Amsterdam ist es anders. Weißt du, seit damals, als das große Unglück mit dem Russen geschah. Barbara ist ehrgeizig und Truckbrott gerade und pflichttreu.«

»Wer ehrgeizig ist, will etwas für sich«, sagte Gisela. »Pflicht ist für die andern.«

Der Hanseat regte sich in ihm. »Wir sind so erzogen worden.«

»Ich weiß es.« Ihre Augen sahen geradeaus, als mieden sie es, ihn anzusehen.

»Gisela?«

»Du wirst auch ehrgeizig werden, du mußt es, wenn du es auch heute noch nicht so weißt. Sieh, ich werde in einer Bibliothek sitzen und Bücherkataloge zusammenstellen, und für andere, die studieren, das Material zusammensuchen. Es gibt Menschen, die erleben das Leben selbst, weil sie es bilden dürfen, und andere gibt's, die schreiben es auf und legen es in Büchern fest, und wieder andere, die verwalten diese Bücher. Das ist auch etwas Schönes, aber manchmal, wenn man das wirkliche Leben spürt, will es einem doch klein und winzig erscheinen.« Dann strich sie ihren schwarzen Schopf zurück, und ihre Augen lachten. »Heute wollen wir leben, Rainer.«

Die oben hatten das Gummiseil ausgezogen und die »Hannover« startfertig gemacht, der Hauptmann saß am Steuer.

»Fertig!«

Und zog seinen Vogel kraftvoll in die Luft.

Der Elbinger blickte ihm nach. »Mädels sollten nicht fliegen«, sagte er.

Da stand der untersetzte Königsberger vor ihm. »Gisela ist kein Mädel.«

»Was denn?«

»Hast du nicht abends mit unten gesessen und von der Nehrung gesungen, Wilhelm, und davon, daß wir alle hier Kameraden sind, he?«

»Jawohl, das habe ich getan.«

»Die Gisela ist unser Kamerad, merk' dir das. Und wenn du nach Elbing kommst und große Sachen erzählst, dann kannst du von dir meinetwegen aufschneiden, so viel du willst, aber von Gisela sag' ja nichts anderes.«

Ein paar maulten. »Er wird doch auch noch reden dürfen.«

Aber der Königsberger hatte sich der Länge nach in den Sand gestreckt und verfolgte einen Seeadler, der hoch oben im Blau stand. »Das können wir doch nicht«, sagte er.

Ohne viel beachtet zu werden, hatten sich Gisela und Rainer zu den andern gelegt. Einer stand auf und gab dem Mädchen eine Decke. »Es ist kalt.«

Und zu Rainer: »Sieh zu, wie der Hauptmann fliegt.«

Der Königsberger war nähergerückt. »Hier hast du Aufwind, Gordon, kannst genug Höhe gewinnen, aber vor Pillkoppen, an der Wiese, da mußt du aufpassen, da ist ein Loch, daß du nicht absackst.«

Der hörte kaum.

»Mit einem Passagier muß man doppelt vorsichtig fliegen.«

Als Wilhelmy die Maschine auf den Boden aufgesetzt hatte, sah er alle Verstrebungen noch einmal nach. »Du darfst nicht so weit auf das Haff zuhalten, da verlierst du Höhe.«

Nun saßen sie, Rainer am Steuer, Gisela fest eingepackt hinter ihm. Alle halfen sie, der Elbinger hatte sich an den Schwanzteil gekauert und hielt mit beiden Händen,

»Los!«

Giselas Augen leuchteten. »Rainer, wir fliegen!«

Die »Hannover« gehorchte dem leisesten Steuerdruck, mühelos stieg sie im Aufwind, legte sich in die Kurve, richtete sich auf, der Windmesser raste.

Die Düne flog unter ihnen dahin.

»Ist dir kalt, Gisela?«

»Schön ist's.«

»Gisela?«

»Ja, Rainer.«

»Jetzt sind wir ganz allein, so richtig, wie ein Mann und eine Frau zusammensein müssen. Ich halte das Steuer und lenke.«

»Und ich glaube an dich.«

»Auch wenn ich ehrgeizig bin?«

Sie beugte sich weit nach vorn, so daß ihr Kopf dicht neben dem seinen lag. »Auch dann, Rainer.«

Die Zeit verging ihnen. Weit hinten flogen sie über das Dorf, wendeten, die »Hannover« verlor Höhe, schoß metertief unter dem Hang entlang und mußte doch dem Steuer Rainers gehorchen, der sie mit eisernem Willen wieder nach oben zwang. Der jeden Aufwind nützte, jede Fallbö im voraus ahnte.

»Ich habe nicht gewußt, daß es so schön ist«, sagte sie.

»Und morgen?«

»Ich nehme es mit nach Königsberg und weiter in die Welt, wohin ich auch komme. Ich werde das nicht vergessen.« Ihre Augen tranken sich satt. Jetzt tauchte das Haus auf. »Dort steht Ina und winkt«, sagte sie. »Uns beiden. Ich möchte oben bleiben.«

Er legte den Apparat ganz auf die Seite, um die Kurve scharf zu nehmen. Sie redeten nicht mehr. Und mußten doch endlich landen.

Sie saß ganz still, als die andern herankamen. Der Hauptmann trat dicht an ihren Sitz heran. »Nun, Gisela?«

Die beugte sich zu ihm. »Onkel Gerd, ich weiß nun, daß er ein Mann werden wird.«

Als sie am andern Tage mit dem kleinen Wägelchen durch den Wald der Dampferhaltestelle zufuhr, sah sie Rainer wieder mit denselben lustigen Augen an wie am ersten Tage. Nur als sie dann ganz allein war, auf dem Haff, als der Schwarze Berg verschwand, und der Predien, und die Dünen alle, da legte es sich auf ihren Blick –

Wie ein ganz leichter Schleier.


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