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Nun fand Barbara keine Gelegenheit mehr, mit Truckbrott zu sprechen. Sobald sie das Flugfeld betreten hatten, wurde der Hauptweg abgesperrt, ein Durcheinander von Herren, die alle nach einer Seite hindrängten, wo soeben zwei Automobile vorfuhren. Legationsrat von Lettau war plötzlich neben ihr, dafür war der Vater jedoch verschwunden, und auch von dem Viscount war keine Spur zu sehen.
»Die Königin empfängt die Spitzen des In« und Auslandes«, erklärte Lettau. »Dahin wird es Ihren Vater auch verschlagen haben.«
»Und Sie?«
»Das diplomatische Korps ist heute zweite Garnitur.« Lettau konnte das Spotten nicht lassen. »Höchstens die Militärattachés haben heute ein Wort mitzureden. Weil wir eine solche löbliche Einrichtung jedoch nicht besitzen –«
»So begnügen wir uns mit der Kaufmannschaft.« Der leichte Ton beruhigte sie nach Truckbrotts schwerblütiger Art.
»Und treffen damit die eigentlichen Herren der Situation«, vollendete Lettau.
Es dröhnte und donnerte vom Flugplatz her. Zehn Militäreindecker rollten zu Ehren ihrer Königin über das Feld, hoben sich gleichzeitig und stiegen steil in die Luft, während die nahe der Halle aufgestellte Kapelle die Königshymne spielte.
Exakt und gleichmäßig, als handle es sich nicht um Maschinen, von denen jede ein Ding für sich war, sondern als sei das eine Anzahl aneinandergereihter Papierdrachen, schwenkten die Flugzeuge, flogen in Reihen zu einem, zu zweit, marschierten wieder auf.
Und doch, so sehr die Aufmerksamkeit der Menge zuerst gefesselt wurde, bald suchten die Augen wieder über den Platz nach der Ecke hin, in der man den ›Leviathan‹ vermutete – der immer noch im Hangar stand. Surewski, bereits im Fliegeranzug, trat zu Truckbrott und MacKenney.
»Darf ich die beiden hervorragenden Kollegen bitten, als Sportzeugen die Maschine abzunehmen und den Start zu kontrollieren«, sagte er.
Truckbrott sah sich um. »Ich glaube, daß die niederländischen Herren hier das Vorrecht haben.«
»Mister Surewski wird einen der Holländer dazu bitten«, lachte MacKenney. Der Russe wurde reserviert. »Wenn Sie es für nötig halten.« Dann folgte er dem Bürgermeister, der ihn der Königin vorstellen wollte.
»Man muß ihn heute schonen«, mahnte der Schotte. »Es ist keine Kleinigkeit, mit dem Ding da drüben in die Luft zu steigen.«
»Und warum lehnen Sie dann nicht ab?« brauste Truckbrott auf.
Achselzucken. »Dann tut's ein anderer.«
»Man muß gegen den Start protestieren.«
»Tun Sie das, starten wird er trotzdem. Aber wenn es Sie beruhigt, werden wir ein Protokoll aufnehmen.«
Wieder stand Olga Surewski in ihrer Nähe. »Mein Mann sagte mir, daß Sie die Kommission bilden werden. Was soll diese Kommission?«
Truckbrott mußte antworten, denn der Schotte verstand nicht. »Den Tatbestand aufnehmen, Gnädigste, mehr nicht.«
»Und sie gibt keine Garantie?«
»Eine Garantie des Erfolges ist unmöglich.«
Olga Surewski bat. »Und wenn Sie etwas finden, etwas Außergewöhnliches, etwas Besonderes, ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen?«
»Sehr gut, Gnädigste, aber ich vermute, Ihr Herr Gemahl wird sich darüber hinwegsetzen.«
»Begreifen Sie doch.« Sie mühte sich, die Worte rasch zu formen und sah ängstlich in die Richtung, in der ihr Mann verschwunden war. »Seit Jahren kämpft er – gegen alles. Gegen Mißgunst und Neid, gegen Menschen, die ihm den Erfolg nicht gönnen, gegen solche, die ihn ausbeuten wollen. Das macht einseitig und scharf.«
»Ich neide Herrn Surewski den heutigen Tag nicht«, entgegnete Truckbrott.
»Man sagte mir, Sie hätten selbst einen ähnlichen Plan gehabt, ein Riesenflugzeug?«
»Den habe ich noch, aber ich bin nur der Mitkonstrukteur.«
»Und er ist allein«, sagte Olga stolz. »In der Arbeit – und im Erfolg.«
Angestaunt von den Zuschauern begaben sich jetzt die Passagiere zu den fahrplanmäßigen Flugzeugen, die als zweite Programmnummer in rascher Folge starten sollten. Der Flugleiter stand mit der Flagge bereits am Flügel der sechs Kolosse, deren Motoren dröhnten.
»Fertig!«
Der Farman rollte über den Grasboden; sobald er aufgestiegen war, folgte die deutsche Maschine, ein Holländer, ein Engländer – und in großen Abständen umkreisten sie zum letzten Male das Flugfeld, während sich hoch über ihnen das Jagdgeschwader tummelte.
Barbara sah auf ihren Zettel. »Punkt drei, Start des ›Leviathan‹ zum Amerikaflug.«
»Das große Welttheater«, nickte Lettau.
Die Zeltwände des Hangars wurden aufgerissen, und langsam und majestätisch rollte die Riesenmaschine über das Feld an den Start, dicht vor der Königin stehenbleibend. Wassily saß vorläufig im Führersitz und winkte seinem Herrn zu.
Mister Robertson lief aufgeregt wie ein Schäferhund um die Maschine herum und suchte in aller Augen den Triumph zu lesen. Langsam schritten die drei Sportzeugen an den Flügeln entlang, befühlten, prüften. Der Russe folgte ihnen mit den Augen.
Als Truckbrott kopfschüttelnd vor den Schwimmern stehenblieb, die nur wenig über den Rädern schwebten, trat er an ihn heran. »Die Räder werden bei einer Zwischenlandung in Boulogne abmontiert.«
Truckbrott sprach mit dem Niederländer. »Ich halte den Start für gefährlich und protestiere.«
Der zuckte die Achseln.
Auch Barbara von Gordon war dicht herangetreten. »Man wird Ihnen den Protest verübeln«, stieß sie leise hervor.
»Das kann ich nicht ändern.«
Mit zusammengekniffenen Lippen trat sie zurück.
Jetzt nahm Alexander Surewski das Wort. »Ich stelle fest, daß die Herren Sportzeugen die Maschine begutachtet haben und daß nur ein Protest des deutschen Herrn vorliegt, der sich gegen die Bauart richtet, nicht gegen sportliche Mängel. Diese Bauart wird ihren Beweis der Richtigkeit am besten durch den Flug selbst erbringen.«
Olga Surewski hatte vergessen, daß tausend Augen auf sie und den Mann gerichtet waren, unbekümmert trat sie dicht an ihn heran.
»Du!«
Der beugte sich an ihr Ohr. »Ich will siegen, für uns.«
»Die heilige Mutter möge dich schützen.« Unwillkürlich machte sie die Zeichen vor Stirn und Brust, als kniee sie daheim in einer der goldstrahlenden Kirchen in Rußland. »Dich und mich.«
Die aufbrüllenden Motoren rissen ihr die Worte vom Munde. Noch einmal lag sie an ihres Mannes Brust, küßte ihn, dann sprang der in den Führersitz, hob die Hand.
»Fertig!«
Die Männer rissen die Holzpflöcke zur Seite, ließen die Flügel los, die Motoren tobten, der riesige Vogel setzte sich in Bewegung.
Und Olga sah alles. Den Mann im Führersitz, Wassily neben ihm, den Sturzhelm fest auf den Kopf gedrückt, die riesigen Buchstaben am Rumpf:
›Leviathan‹.
Alle Flaggen senkten sich auf der Flughalle, nur die Sterne und Streifen blähten sich im Winde.
MacKenney hatte die Startzeit gestoppt und wartete nun, den Daumen auf der Uhr, auf den Augenblick, in dem der Vogel sich in die Luft heben würde. Langsam rollte der ›Leviathan‹ über die Wiese – langsam – viel zu langsam.
Wie gebannt alle die Menschen, nur die Photographen und Kinoleute arbeiteten wie irrsinnig. Einer hatte sich da aufgestellt, wo die Räder mutmaßlich den festen Boden verlassen würden, andere liefen mit geschwungener Kamera hinterher.
MacKenney brummte: »Nicht gut.«
Jetzt schien der Führer Vollgas zu geben, das Seitensteuer schlug aus, irgend etwas geschah an den Verwindungen –
Da, ein Ruck – der Vogel schwankte, legte sich nach rechts –
Barbara sah neben sich eine Frau stehen mit schwarzen Haaren, die Hände verkrampft, mit bebenden Lippen. Sie erkannte Olga Surewski.
Sie mußte ein gutes Wort sagen. »Jetzt – jetzt –«
Weiter kam sie nicht, und doch vollzog sich all das, was nun geschah, in einer Ewigkeit. Der ›Leviathan‹ richtete sich wieder auf, hob sich, sprang – irgend etwas flog durch die Luft.
Ein Schrei. »Das Rad – das Rad!«
Dann ein jäher Aufstieg, als wolle der Vogel in den Himmel springen, und plötzlich starrte statt des Rumpfes das Schwanzteil hoch in die Luft.
Ein Mensch kollerte heraus, überschlug sich, einmal, noch einmal.
»Heilige Mutter Gottes, heilige Mutter Gottes!« Das mußte die Russin sein. Die Frau – seine Frau.
Ein Krachen, als der Flügel auf dem Boden aufprallte, plötzlich ein greller Feuerschein, eine himmelhohe Säule, schwarzer Rauch, Funken.
Springend und schwankend jagte ein Auto über den Flugplatz der Unfallstelle zu. Ein einziger Schrei stand in der Luft.
Und ein verzweifeltes Röcheln.
»Sascha! Sascha!«
Und während sich Barbara um die Ohnmächtige mühte, verkohlten drüben die letzten Reste des ›Leviathan‹.