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Der politische Zustand der Welt war der traurigste. Alle Gewalt war in Rom und in seinen Legionen angesammelt. Hier aber ereigneten sich die schändlichsten und entwürdigendsten Scenen. Die römische Aristokratie, welche die Welt erobert hatte, und die im großen und ganzen allein unter den Cäsaren die Staatsangelegenheiten lenkte, gab sich den schändlichsten Saturnalien an Verbrechen hin, welche die Welt bis dahin kennen gelernt hatte. Cäsar und Augustus hatten, indem sie das Kaisertum einführten, die Bedürfnisse ihrer Zeit vollkommen erkannt. Die Welt war unter den politischen Verhältnissen so erniedrigt, daß keine andere Herrschaft möglich war. Seitdem Rom unzählige Provinzen erobert hatte, konnte die alte Verfassung, die auf das Vorrecht der Patrizier, eine Art hartnäckiger, gehässiger Tories, begründet war, nicht mehr aufrecht erhalten bleiben (Tac. Ann. I, 2; Florus IV, 3; Pomponius in den Digesten I, 2, Fragm. 2). Aber Augustus hatte jeder rechten Politik entgegen gehandelt, indem er die Zukunft dem Zufall überließ. Ohne geregelte Erbfolge, ohne festgestellte Adoption, ohne Wahlgesetz, ohne konstitutionelle Beschränkungen, glich der Cäsarismus einem ungeheuren Gewicht auf dem Deck eines ballastlosen Schiffes. Die fürchterlichsten Erschütterungen waren unvermeidlich. Dreimal in einem Jahrhundert, unter Caligula, Nero und Domitian, kam die größte Erdenmacht, die je bestanden, in die Hände von ruchlosen oder verrückten Menschen. Daher das Entsetzen, wie es kaum von den Ungeheuern mongolischer Dynastien übertroffen wurde. Bei dieser Reihe unheilvoller Herrscher ist man fast geneigt, einen Tiberius zu entschuldigen, der erst gegen das Ende seiner Lebenszeit ein vollkommener Bösewicht wurde, einen Claudius, der nur bizarr ungeschickt und schlecht beraten war. Rom wurde eine Schule der Unsittlichkeit und der Grausamkeit. Es muß jedoch bemerkt werden, daß das Übel hauptsächlich aus dem Orient kam, eingeführt vou jenen Schmeichlern gemeinster Art, von jenen ehrlosen Leuten, die Egypten und Syrien nach Rom sandte,Helikon, Apelles, Eukäreus ec. Die »Könige« des Orients wurden von den Römern als Lehrmeister der Tyrannei ihrer schlechten Kaiser betrachtet. Dio Cass. LIX, 24. wo sie, von der Unterdrückung der echten Römer Nutzen ziehend, sich allmächtig fühlten neben den regierenden Schurken. Die anstößigste Schandthat des Kaisertums, die Apotheose des Kaisers, seine Vergötterung bei Lebzeiten rührte vom Orient her, besonders von Egypten, das damals eines der verderbtesten Länder der Welt war. (S. die Inschrift des Schmarotzers von Antonius in » Comptes rendus de l'Acad. des Inscrip. et B.-L. 1864, S. 166. Vgl. Tacit. Ann. IV, 55, 56.)
Doch der wahre römische Geist lebte in der That noch. Die menschliche Würde war keineswegs erloschen. Eine große Tradition von Kühnheit und Tugend pflanzte sich in einigen Familien fort, die mit Nerva zur Macht kamen, die dem Jahrhundert der Antoniden seinen Glanz verschafften, und deren beredter Dolmetsch Tacitus war. Eine Zeit, in der so gründlich rechtschaffene Geister wie Quinctilian, der jüngere Plinius, Tacitus, sich bilden konnten, ist keine Zeit, an der verzweifelt werden muß. Die Verdorbenheit der Oberfläche konnte nicht den tiefen Grund der Rechtschaffenheit und des Ernstes erreichen, der in der guten römischen Gesellschaft vorhanden war; einige Familien boten noch Muster der Ordnung, der Pflichterfüllung, der Eintracht und der gefestigten Tugend. Es gab in den edlen Häusern noch bewundernswerte Gattinnen und Schwestern.S. als Beispiel die Trauerrede, welche Turia von ihrem Gatten Q. Lucretius Vespillo gewidmet wurde, eine Inschrift, die Mommsen in den Verhandlungen der Berliner Akademie 1863, S. 455 ec. zum erstenmale mitgeteilt hat. Vgl. die Trauerrede für Murdia (Orelli, Inscr. lat . Nr. 4860) und die für Matidia von Kaiser Hadrian (Verh. der Berliner Akad. 1863, S. 483 ec.). Man läßt sich leicht irreführen durch die satirischen Bemerkungen der lateinischen Schriftsteller, wo die Fehler der Frauen grell beleuchtet werden. Das ist jedoch, als wollte man die Sitten des 17. Jahrhunderts nach Mathurin Regnier und Boileau beurteilen. Giebt es ein rührenderes Bild als das der jungen und keuschen Oktavia, Tochter des Claudius und Gattin des Nero, die inmitten dieser Gemeinheiten rein geblieben war und in ihrem zweiundzwanzigsten Jahre getötet wurde, ohne je eine Freude durchkostet zu haben? Die in den Inschriften als castissimae, univirae bezeichneten Frauen sind keineswegs selten.Orelli Nr. 2647 ec., besonders 2677, 2742, 4530, 4860; Henzen Nr. 7382 ec., besonders 7406; Renier, Inscrip. de l'Algérie Nr. 1987. Die Beiwörter mögen oft erlogen gewesen sein, aber sie beweisen wenigstens doch, welcher Wert der Tugend beigemessen wurde. Frauen begleiteten ihre Gatten in die Verbannung (Plin. Epist. VII, 19, IX, 13; Appian, Die Bürgerkriege IV, 36. Fannia folgte ihrem Gatten Helvidius Priscus zweimal ins Exil; nach seinem Tode wurde sie zum drittenmal verbannt); andere wieder teilten mit ihnen den edlen Tod. (Die Heldenthat der Arria ist bekannt.) Die alte römische Schlichtheit war nicht verloren gegangen; die Erziehung der Kinder war ernst und sorgsam. Die vornehmsten Frauen beschäftigten sich mit Handarbeiten in Wolle (Suet. Aug . 73; Trauerrede für Turia I, Zeile 30). Toilettesorgen waren in den guten Familien fast unbekannt (Trauerrede für Turia I, Zeile 31).
Die vorzüglichen Staatsmänner, die unter Trajan sozusagen aus der Erde wuchsen, waren nicht urplötzlich geworden. Sie hatten schon unter der früheren Regierung gedient, nur war ihr Einfluß gering, denn sie wurden von den Freigelassenen und den unfähigen Günstlingen des Kaisers in den Schatten gestellt. Also auch unter Nero nahmen Männer von hohem Werte wichtige Ämter ein. Der Stamm war gesund. Der Übergang zur Herrschaft schlechter Cäsaren, so unheilvoll diese auch war, genügte nicht, um den allgemeinen Lauf der Dinge und die Staatsgrundsätze zu verändern. Das Kaiserreich, fern davon, im Verfall zu sein, befand sich im Gegenteil in der Vollkraft robuster Jugend. Der Verfall sollte erst zwei Jahrhunderte später eintreten und, seltsame Erscheinung! unter Herrschern, die viel weniger schlecht waren. Nur die Politik in Betracht ziehend, zeigt sich die Situation ähnlich der von Frankreich, das seit der ersten Revolution eine festgeregelte Thronfolge entbehrt und gefährliche Krisen überwinden konnte, ohne daß seine innere Organisation und seine nationale Kraft viel darunter gelitten hätten. In moralischer Beziehung läßt sich auch die erwähnte Zeit mit dem 18. Jahrhundert vergleichen, eine Epoche, die man für ganz verderbt halten müßte, wollte man sie nur nach den Memoiren, der handschriftlichen Litteratur und den Anekdoten, die damals im Umlauf waren, beurteilen, während jedoch manche Häuser eine so große Sittenstrenge bewahrten.Die überstrenge Meinung des Paulus (Rom. I, 24 ec.) erklärt sich auf diese Weise. Paulus kannte nicht die vornehme Gesellschaft Roms. Übrigens sind das Scheltworte, wie sie Prediger zu äußern lieben und die nicht buchstäblich genommen werden dürfen.
Die Philosophie hatte sich mit den rechtschaffenen römischen Familien verbunden und leistete einen würdevollen Widerstand. Die stoische Schule brachte große Charaktere wie Cremutius Cordus, Thraseas, Arria, Helvidius Priscus, Annäus Cornutus, Musonius Rufus hervor, bewundernswerte Meister vornehmer Tugend. Die Schroffheit und die Übertreibungen dieser Schule rühren von der entsetzlichen Grausamkeit der Cäsarenherrschaft her. Der stete Gedanke des edlen Menschen war, sich gegen Leiden abzuhärten und auf den Tod vorzubereiten (Seneca, Epist. 12, 24, 26, 58, 70; De ira III, 15; De tranqu. animi 10). Lucian mit schlechtem Geschmack, Persius mit hervorragenderem Talent, drückten die hehrsten Empfindungen einer großen Seele aus. Seneca, der Philosoph, der ältere Plinius, Papirius Fabianus hielten eine erhabene Tradition der Wissenschaft und Philosophie aufrecht. Nicht alles beugte sich; es gab noch Weise. Aber nur zu oft hatten sie keinen andern Ausweg als den Tod. Die unedlen Teile der Menschheit gewannen zuweilen die Übermacht. Wahnsinn und Grausamkeit fluteten dann über und machten aus Rom eine wahre Höhle (Offenb. XVII; vgl. Seneca, Epist. XCV, 16 ec.).
Diese Herrschaft, so entsetzlich ungleich in Rom selbst, war in der Provinz viel besser. Man fühlte hier viel weniger die Stöße, welche die Hauptstadt erschütterten. Trotz ihrer Fehler war die römische Verwaltung viel besser als die der Königreiche und Republiken, welche die Eroberung unterdrückt hatte. Die Zeit municipialer Selbstherrschaft war schon seit Jahrhunderten vorüber. Diese kleinen Staaten hatten sich selbst zerstört durch ihre Selbstsucht, ihre Eifersucht, ihre Unwissenheit oder ihre Unachtsamkeit der persönlichen Freiheit. Das alte griechische Leben, voll Kämpfe, ganz nach außen gewendet, genügte keinem mehr. Es war zu seiner Zeit reizend gewesen, aber dieser glänzende Olymp einer Demokratie von Halbgöttern hatte seine Frische verloren, er war etwas Trockenes, Kaltes, Unbedeutendes, Leeres, Oberflächliches geworden, weil ihm Güte und gefestete Rechtschaffenheit fehlte. Daher läßt sich auch die Berechtigung der macedonischen Herrschaft und der späteren römischen Verwaltung ableiten. Das Kaiserreich kannte noch nicht das Übermaß der Centralisation. Bis zur Zeit des Diocletian ließ es den Provinzen und Städten große Freiheiten. Fast unabhängige Königreiche bestanden in Palästina, Syrien, Kleinasien, in Kleinarmenien, in Thracien unter Roms Schutz. Diese Königreiche wurden erst seit Caligula gefährlich, weil man hinsichtlich ihrer die von Augustus aufgestellten großen und wichtigen politischen Regeln vernachlässigt hatte (Suet. Aug. 48). Die freien Städte, und sie waren zahlreich, regierten sich nach ihren eigenen Gesetzen; sie besaßen gesetzgebende Macht und alle Verwaltungsrechte eines selbständigen Staates. Bis zum dritten Jahrhundert beginnen die municipialen Verordnungen mit der Formel: »Der Senat und das Volk ...«Die Inschriften bieten unzählige Beispiele hievon. Die Theater dienten nicht nur den Schauvergnügungen; sie waren überall auch der Ort, wo die öffentlichen Angelegenheiten besprochen wurden. Die meisten Städte waren unter verschiedenen Titeln kleine Republiken. Der Municipialgeist war sehr rege (Plut. Praec. ger. reipubl. XV, 3, 4; An seni sit. ger. resp. ganz). Sie hatten nur das Recht verloren, Krieg erklären zu dürfen, ein trauriges Recht, das die Welt zu einem Feld der Metzelei gemacht hat. »Die Wohlthaten des römischen Volkes am menschlichen Geschlecht« war das Thema der oft lobhudelnden Deklamationen; es wäre indes ungerecht, dem jede Wahrheit absprechen zu wollen.Jos. Ant. XIV, 10, 22, 23; vgl. Tacit. Ann. IV, 55, 56; Rutilius Numatianus, Itin. I, 63 ec. Der Kultus des »römischen Friedens«,» Immensa romanae pais majestas «, Plin. Hist. nat. XXVII, 1. der Gedanke an eine große, unter Roms Schutz organisierte Demokratie war die Grundlage dieses Gedankens. (Älius Aristides, Lobrede auf Rom, ganz; Plut., Abhandl. über das Schicksal der Römer, Beginn; Philo, Leg. ad C. § 21, 22, 39, 40.) Ein griechischer Rhetor versuchte mit großer Gelehrsamkeit zu beweisen, daß die Glorie Roms von allen Zweigen des hellenischen Stammes als eine Art gemeinschaftliches Vatererbteil betrachtet werde (Denys d'Halicarnasse, Antiqu. rom. I, Anf.). Was Syrien, Kleinasien, Egypten betrifft, so läßt sich sagen, daß die römische Eroberung hier keine Freiheiten zerstörte. Diese Länder waren schon seit langem für das politische Leben tot, sofern sie überhaupt ein solches gehabt.
Im ganzen genommen war die Welt, trotz der Erpressungen der Statthalter und den von einer absoluten Regierung unzertrennlichen Gewaltthaten, in manchen Beziehungen noch nie so glücklich gewesen. Eine von einem entlegenen Mittelpunkt ausgehende Verwaltung war ein so großer Vorteil, daß selbst die von den Prätoren aus der letzten Zeit der Republik verübten Räubereien sie nicht in Mißkredit zu bringen vermochten. Übrigens hatte die Lex Julia das Feld der Mißbräuche und Erpressungen stark eingeschränkt. Die Thorheiten oder Grausamkeiten der Cäsaren, die Neros ausgenommen, trafen nur die römische Aristokratie und die nächste Umgebung des Fürsten. Noch nie hatte ein Mensch, der sich nicht mit der Politik beschäftigen wollte, ruhiger leben können. Die Republiken des Altertums, wo jeder gezwungen war, sich mit den Parteistreitigkeiten zu beschäftigen, waren sehr unbequeme Aufenthalte gewesen (Plut., Leben Solons 20). Man war hier unaufhörlich in Wirrnissen oder gar geächtet. Diese Zeit jedoch schien für einen umfangreichen Proselytismus wie geschaffen, da die Streitigkeiten der kleinen Städte und die dynastischen Fehden zurückgedrängt waren. Angriffe auf die Freiheit erfolgten auch weit eher von den noch einigermaßen unabhängigen Provinzen und Städten, als von der römischen Verwaltung (s. Athénée XII, 68; Älian, Var. Hist. IX, 12; Suidas, unter dem Worte (Ἐπίκουρος). Wir hatten in dieser Darstellung Gelegenheit und werden sie noch öfter haben, dies zu erkennen.
In denjenigen eroberten Ländern, wo die politischen Bedürfnisse seit Jahrhunderten nicht mehr bestanden und wo man nur das Recht verloren hatte, sich in steten Kriegen zerfleischen zu dürfen, war das Kaiserreich eine Ära des Wohlbefindens und Gedeihens, wie sie bis dahin noch nicht erkannt wurde (Tacit. Ann. I, 2); ja, es ließe sich sogar, ohne paradox zu sein, hinzufügen: eine Ära der Freiheit. Einerseits wurde die Freiheit des Handels und der Industrie möglich, von der die griechischen Republiken keinen Begriff hatten; anderseits konnte unter der neuen Herrschaft die Gedankenfreiheit nur gewinnen. Diese Freiheit befindet sich immer besser, wenn sie es mit einem König oder Fürsten zu thun hat, als mit einer unduldsamen beschränkten Bürgerschaft. Die alten Republiken boten sie nicht. Die Griechen haben ohne sie Großes verrichtet, dank ihrem unvergleichlichen Genie, aber man darf nicht vergessen, daß Athen seine regelrechte Inquisition hatte. (Man studiere den Charakter des Euthyphron bei Plato.) Der Inquisitor war der König-Archont, das heilige Officium war der königliche Porticus, wo die Anklagen über »Gottlosigkeit« verhandelt wurden. Derartige Anklagen waren sehr zahlreich; das sind die Vorfälle, die bei den attischen Rednern am häufigsten zu finden sind. Nicht nur philosophische Vergehen, wie die Leugnung Gottes oder des Geschickes, sondern auch die geringsten Angriffe auf Lokalkulten, die Verkündung fremder Religionslehren, die kindischsten Übertretungen der skrupulösen Mysteriengesetze galten als todeswürdige Verbrechen. Die Götter, die Aristophanes auf der Bühne verspottete, töteten zuweilen. Sie töteten Sokrates; sie töteten beinahe Alcibiades. Anaxagoras, Protagoras, Theodorus der Atheist, Diagoras von Melos, Prodicus von Ceos, Stilpon, Aristoteles, Theophrast, Aspasia, Euripides,Diog. Laërtius II, 101, 116, V, 5, 6, 37, 38, IX. 52; Athénée XIII, 92, XV, 52; Älian, Var. Hist. II, 23, III, 36; Plut. Perikles 32; De plac. philos. I, 7, 2 ; Diod. Sic. XIII, 6, 7 ; Scol. des Aristophanes in den »Vögeln« 1073. wurden mehr oder minder ernst beunruhigt. Die Gedankenfreiheit war, kurz gesagt, die Frucht der aus der makedonischen Eroberung hervorgegangenen Königreiche. Die Attalier, die Ptolemäer waren es, die zuerst den Denkenden jene Freiheit gewährten, die ihnen keine der alten Republiken geboten hatte. Das Römerreich setzte diese Tradition fort. Unter dem Kaisertum fand zwar mehr als ein Akt der Willkür gegen die Philosophen statt, aber dies kam immer daher, weil sie sich mit der Politik beschäftigten.Besonders unter Vespasian; Beweis: Helvidius Priscus. Vergeblich wird man in der römischen Gesetzsammlung vor Konstantin eine Bestimmung gegen die Gedankenfreiheit suchen, in der Geschichte der Cäsaren einen Prozeß gegen abstrakte Lehren. Nicht ein Gelehrter wurde beunruhigt. Männer, die das Mittelalter verbrannt hätte, wie Galian, Lucian, Plotin, lebten ruhig, geschützt durch das Gesetz. Das Kaiserreich eröffnete eine Periode der Freiheit in dem Sinne, daß es die absolute Herrschaft der Familie, der Stadt, des Stammes beseitigte und diese Souveränetäten durch die des Staates ersetzte oder mäßigte. Nun ist aber eine absolute Macht um so bedrückender, in je engerem Kreis sie ausgeübt wird. Die alten Republiken, die Feudalherrschaft tyrannisierten das Individuum mehr, als es der Staat gethan hat. Wohl verfolgte das römische Reich in gewissen Zeiten das Christentum hart,Ich werde indessen später zu zeigen versuchen, daß diese Verfolgungen, wenigstens bis auf die durch Decius, übertrieben dargestellt wurden. aber es trat ihm nicht hindernd entgegen. Unter den Republiken wäre es nicht möglich gewesen; das Judentum hätte schon genügt zu seiner Unterdrückung, wenn es nicht unter der römischen Gewalt gestanden hätte. Was die Pharisäer verhinderte, das Christentum zu ertöten, das waren die römischen Behörden. (Die ersten Christen zeigen sich thatsächlich den römischen Behörden gegenüber sehr ehrfurchtsvoll. Röm. XIII, 1 ec.; 1. Petri IV, 14-16; bezüglich Lucas vgl. Einleitung S. 18 ec.)
Weitaus schauende Ideen von allgemeiner Brüderlichkeit, die hauptsächlich aus dem Stoicismus hervorgingen,Diog. Laërt. VII, 1, 32, 33; Euseb. Praep. evang . XV, 15, und im allgemeinen De leg . und De officiis von Cicero ein allgemeines Gefühl der Humanität waren die Frucht einer minder einschränkenden Herrschaft und einer minder ausschließenden Erziehung der Einzelnen.Terenz, Heantont . I, 1, 77 ; Cic. De finibus bon et mal . V, 23; Part. orat . 16, 24; Ovid, Fastes II, 684; Lucian VI, 54 ec.; Seneca, Epist . XLVIII, 95, 51 ec.; De ira , I, 5, III, 43; Arrian, Dissert. Epict . I, 9, 6 , II, 5, 26 ; Plutarch, Schicksal der Römer 2, Schicksal Alexanders I, 8, 9. Man träumte von einer neuen Ãra, von neuen Welten (Verg. Eccl . IV; Sen. Medea . 373 ec.). Der öffentliche Reichtum war groß und trotz der unvollkommenen volkswirtschaftlichen Kenntnisse jener Zeit war der Wohlstand sehr verbreitet. Die Sitten waren nicht so schlecht, wie man sich oft vorstellt. Wohl wurden in Rom alle Laster mit empörendem Cynismus dargestellt, besonders die Schauspiele hatten eine schändliche Korruption eingeführt,Tacit. Ann . II, 85; Suet. Tib . 35; Ovid, Fast . II, 497-514. und gewisse Länder, wie Egypten, waren ebenfalls auf die niedrigste Stufe der Gemeinheit herabgesunken. Aber es gab in den meisten Provinzen eine Mittelklasse, in der Güte, eheliche Treue, häusliche Tugenden und Rechtschaffenheit genügend verbreitet waren.Die Inschriften über Frauen enthalten die rührendsten Ausdrücke: » Mater omnium hominum, parens omnibus subveniens « in Renier, Inscr, de l'Algérie Nr. 1987; vgl. ebend. Nr. 2756; Mommsen, Inscr. R . V. Nr. 1431. » Duobus virtutis et castitatis exemplis«, Not. et mém. de la Soc. de Constantine 1865, S. 158. S. die Inschrift von Urbanille in Guerin, Voy. arch. dans la rég. de Tunis I, 289 und die köstliche Inschrift Orelli Nr. 4648. Mehrere dieser Texte rühren zwar aus der Zeit nach dem ersten Jahrhundert her, aber die Gefühle, die sie ausdrückten, waren nicht neu, als man sie niederschrieb. Existiert wo im Kreise rechtschaffener Kleinbürger ein köstlicheres Ideal von Familienleben, als es Plutarch uns hinterlassen hat? Welche Gutmütigkeit! welche Sittenmilde! welche keusche und liebenswürdige Einfachheit!Tischgespräche I, 5, 1 ; Leben des Demost. 2; der Dialog über Liebe 2; und hauptsächlich die Tröstung an seine Frau. Chäronea war sicherlich nicht der einzige Ort, wo das Leben so rein und unschuldig dahinfloß.
Die Gewohnheiten hatten, selbst außerhalb Roms, wohl noch etwas Grausames an sich, sei es als Überrest alter Sitten, die überall blutig waren, sei es unter dem besonderen Einflusse römischer Härte. Aber auch in dieser Beziehung gab es einen Fortschritt. Welches sanfte und reine Gefühl, welche zarte melancholische Empfindung hat nicht unter der Feder eines Vergil oder Tibull den schönsten Ausdruck gefunden! Die Welt wurde geschmeidiger, verlor ihre antike Härte, erwarb sich Weichheit und Empfindlichkeit. Die Grundsätze der Menschlichkeit verbreiteten sich;» Caritas generis humani «, Cicero, De finibus V, 23; » Homo sacra res homini «, Seneca, Epist . XCV, 33. Die Gleichheit, die abstrakte Idee der Menschenrechte wurden von den Stoikern laut verkündet (Sen. Epist . XXXI, XLVII; De benef . III, 18 ec.). Dank den Bestimmungen über die Mitgift im römischen Recht wurde das Weib immer mehr Herrin ihrer selbst; die Vorschriften für Sklavenbehandlung wurden milder.Tacit. Ann . XIV, 42 ec.; Suet. Claud . 25; Dio Cass. LX, 29; Plin. Epist . VIII, 16; Inschrift von Lavinium, Reihe 2, Zeile 1-4 (Mommsen, De coll. et sodal. Rom. Schluß). Seneca der Rhetor, Controv . III, 21, VII, 6; Seneca der Phil., Epist . XLVII, De benef . III, 18 ec.; Columella, De re rust . I, 8; Plut., Leben des älteren Cato 5; De ira 11. Seneca aß mit seinen Sklaven ( Epist .XLVII, 13). Dieser ist nicht mehr jenes notwendigerweise groteske, bösartige Wesen, als welches ihn die lateinische Komödie darstellt, um Gelächter zu erwecken, und das Cato wie ein Lasttier zu behandeln empfahl.Cato, De re rust . 58, 59, 104; Plut., Leben des Cato 4, 5; vgl. die fast ebenso harten Grundsätze in Sirach XXXIII, 25 ec. Die Zeiten haben sich verändert. Der Sklave ist moralisch seinem Herrn gleich, man giebt zu, daß er der Tugend, der Treue, der Ergebenheit fähig sei und er beweist es auch.Tacit. Ann . XIV, 60; Dio Cass. XLVII, 10, LX, 16, LXII, 13, LXIV, 14; Suet. Caius 16; Appian, Bürgerkr. IV, vom XVII. (bes. XXXVI ec.) bis Schluß des LI. Kap.; Juv. VI, 476 ec. schildert die Sitten der schlechtesten Gesellschaft. Die Vorurteile edler Geburt verwischen sich.Horaz, Sat . I, 6, 1 ec.; Cic. Epist . III. 7; Seneca der Rhetor, Controv . I, 6. Mehrere sehr humane und gerechte Gesetze werden selbst unter den schlechtesten Cäsaren gegeben (Suet. Caius 15, 16; Claud . 19, 23, 25; Nero 16; Dio Cassius LX, 25, 29). Tiberius war ein geschickter Finanzmann; er gründete auf vortrefflicher Basis eine Bodenkreditanstalt (Tacit. Ann . XI, 17, vgl. IV, 6). Nero brachte in das bisher ungerechte und barbarische Steuersystem Verbesserungen, die sogar unsere Zeit beschämen (Tacit. Ann . XIII, 50, 51; Suet. Nero 10). Der Fortschritt in der Gesetzgebung war beträchtlich, obgleich die Todesstrafe noch thörichterweise häufig in Anwendung kam. Mitleid mit den Armen, Teilnahme für alle und Almosenspenden galten als Tugenden.Grabschrift des Goldschmieds Evhodus ( hominis boni, misericordis, amantis pauoeris) Corp. inscr. lat. Nr. 1027, Inschrift aus der Zeit Augustus (vgl. Egger, Mém. d'hist. anc. et phil. S. 351 ec.; Perrot, Exploration de la Galatie ec. S. 118, 119; Trauerrede auf Matilda, von Hadrian (Verhandl. der Berliner Akademie für 1863, S. 489); Mommsen, Inscr. regni Neap. Nr. 1431, 2868, 4880; Seneca der Rhetor, Controv. I, 1, III, 19, IV, 27, VIII, 6; Seneca der Phil., De clem. II, 5, 6, De benef. I, 1, II, 11, IV, 14, VII, 31. Vgl. Leblant, Inscrip. chret. de la Gaule II, 23 ec.; Orelli Nr. 4657; Fea, Framm, de fasti consol. S. 90. R. Garrucci, Cimitero degli ant. Ebrei S. 44.
Das Theater war der unerträglichste Skandal und eine der Hauptursachen für den Widerwillen der Juden und jüdisch Gesinnten gegen die profane Civilisation jener Zeit. Diese riesigen Gärkufen schienen ihnen Kloaken zu sein, in denen alle Laster broodelten. Während vom ersten Rang Beifall gespendet wurde, äußerte sich oft auf dem oberen Abscheu und Entsetzen. Die Gladiatorenkämpfe konnten sich in den Provinzen nur mit Mühe festsetzen. Die hellenischen Länder wenigstens wiesen sie zurück und hielten sich gewöhnlich an die alten griechischen Übungen ( Corp. inscr. graec. Nr. 2758). Die blutigen Spiele bewahrten im Orient immer ein sehr ausgeprägtes Zeichen römischen Ursprungs (ebd. Nr. 2194b, 2511, 2759b). Als eines Tages die Athenienser, um mit den KorinthernBemerkt sei, daß Korinth in der Römerzeit eine Fremdenkolonie war, gegründet von Cäsar und Augustus an Stelle der alten Stadt. zu wetteifern, jene barbarischen Spiele nachahmen wollten, erhob sich, wie erzählt wird, ein Philosoph und stellte den Antrag, man möge vorher den Altar des Mitleids umstürzen (Lucian, Daemonax 57). Der Abscheu gegen das Theater, die Rennbahn, die Gymnasien, d. h. gegen die öffentlichen Orte, welche die wesentlichen Zeichen einer römischen oder griechischen Stadt waren, hatte sich demnach im Gefühle der Christen eingewurzelt, was auch die weittragendsten Folgen hatte. Die alte Civilisation war eine öffentliche; alles ging hier im Freien vor, angesichts der versammelten Bürger; es war dies der Gegensatz zu unseren Gesellschaften, wo das Leben ganz privat und im Hause abgeschlossen sich entwickelt. Das Theater war der Erbe der Agora und des Forums. Ein gegen das Theater geschleudertes Anathem fiel auf die ganze Gesellschaft. Eine tiefgehende Rivalität entstand daher zwischen Kirche und öffentlichen Spielen. Der Sklave, vom Spiele fortgejagt, begab sich zur Kirche. So oft ich mich noch in einer dieser düstern Arenen befand – gewöhnlich das besterhaltene Stück einer antiken Stadt – sah ich im Geiste den Kampf dieser beiden Welten: hier der rechtschaffene arme Mann, halb schon ein Christ, auf dem letzten Rang sitzend, das Gesicht verhüllend, unwillig forteilend; dort ein Philosoph, der sich plötzlich erhebt und dem Volke seine Gemeinheit vorwirft (Dio Cass. LXVI, 15). Diese Beispiele waren im ersten Jahrhundert wohl selten; allein der Widerspruch wurde schon laut.S. hauptsächlich Älius Aristides' Abhandlung gegen das Schauspiel I, 751 etc. Ausg. Dindorf. Das Theater sollte ein verrufener Ort werden.Merkwürdig ist, daß in mehreren Städten Kleinasiens die Ruinen der Theater noch heute die Schlupfwinkel der Prostitution sind. Vgl. Ovid, Ars amandi I, 89.
Die Gesetzgebung und administrativen Maßregeln des Reiches waren noch ein förmliches Chaos. Der centralistische Despotismus, die städtischen und provinzialen Freiheiten, die Laune des Statthalters, die Gewaltthätigkeiten der unabhängigen Gemeinden gerieten in seltsamster Weise aneinander. Aber die religiöse Freiheit gewann bei diesen Konflikten. Die gute, einheitliche Verwaltung, die seit Trajan sich gebildet hatte, sollte dem werdenden Kultus verderblicher sein als der unregelmäßige Zustand, voll Willkür, ohne strenge Polizeizucht, in der Zeit der Cäsaren.
Die Institutionen für öffentlichen Beistand, auf das Prinzip gegründet, daß der Staat väterliche Pflichten gegen seine Mitglieder habe, entwickelte sich in bedeutsamer Weise erst seit Nerva und Trajan.Orelli-Henzen Nr. 1172, 3362 etc., 6669; Guerin, Voy. en Tunisie II, 59; Borghesi, Oeuvres complètes IV, S. 269 etc.: E. Desjardins, De tabulis alimentariis (Paris 1854); Aurelius Victor, Epitome, Nerva ; Plinius, Epist. I, 8, VII, 18. Indes findet man einige Spuren bereits im ersten Jahrhundert.Inschriften in Desjardins erwähntem Werke II, Kap. 1. Es gab schon Beisteuern für Kinder (Suet. Aug . 41, 46; Dio Cass. LX, 21, LVIII, 2), Lebensmittelverteilung an Bedürftige, Bäckertaxen mit Vergütung für die Händler, Vorkehrungen für Verproviantierung, Prämien und Assekuranzen für Rheder, Brotanweisungen, gegen welche Getreide zu ermäßigtem Preis gekauft werden konnte.Tacit. Ann . II, 87, VI, 13, XV, 18, 39; Sueton, Aug . 41, 42; Claud . I, 8. Vgl. Dio Cass. LXII, 18, Orelli Nr. 3358 etc.; Henzen 6662 etc.; Forcellini, Artikel Tessera, frumentaria . Die Cäsaren zeigten ausnahmslos das größte Interesse diesen, wenn man will, untergeordneten Fragen, die jedoch in gewissen Zeiten alle andern überragen. Im hohen Altertum, könnte man sagen, brauchte die Welt die Mildthätigkeit nicht. Sie war damals jung, tapfer; das Krankenhaus war unnötig. Die gute, schlichte Homerische Moral, wonach der Gast, der Bettler von Jupiter (Odyss. VI, 207) gesandt werden, ist die Moral robuster, froher Jugend. In seiner klassischen Zeit sprach Griechenland die trefflichsten Maximen der Mildthätigkeit, des Mitleids, der Menschlichkeit aus, ohne darunter Gedanken socialer Besorgnisse und melancholischer Betrachtungen zu mischen. (Eurip., Suppl. V, 773 etc.; Arist., Rhetor. II, 8; Lehren an Nicom. VIII, 1, IX, 10. S. Stobäus, Anthol. XXXVII und CXIII und im allgemeinen die Bruchstücke von Menander und den griechischen Komikern). Der Mensch dieser Zeit war noch gesund und glücklich; man mußte die Übel nicht in Betracht ziehen. Übrigens waren hinsichtlich der Vorkehrungen für gegenseitige Hilfeleistungen die Griechen den Römern weit vor (Arist., Politik VI, 3, 4, 5). Niemals ist eine liberale, wohlwollende Verfügung von jenem grausamen Adel ausgegangen, der zur Zeit der Republik eine so bedrückende Macht ausgeübt hatte. Zur Zeit, von der hier die Rede ist, hatten die riesigen Reichtümer der Aristokratie, die großen Anhäufungen von Menschen an gewissen Punkten und vor allem die den Römern eigene Hartherzigkeit und ihre Abneigung gegen das Mitleid (Cic. Tusc. IV, 7, 8; Seneca, De clem. II, 5, 6), den »Pauperismus« geschaffen. Die Begünstigung des Pöbels zu Rom durch einige Cäsaren hatte das Übel nur vergrößert. Die Sporteln, die tesserae frumentariae ermutigten Laster und Trägheit, aber erwiesen sich nicht als Mittel gegen das Elend. Wie in vielen andern Dingen hatte auch hier der Orient den Vorrang vor der occidentalen Welt. Die Juden besaßen wirkliche Wohlthätigkeitsanstalten. Die Tempel zu Egypten scheinen zuweilen eine Armenkasse gehabt zu haben (Papyrus Louvre Nr. 37, Reihe 1, Zeile 21 in Notices et extraits , Bd. XVIII, T. II, S. 298). Das Kollegium der Einsiedler und Einsiedlerinnen des Serapeum zu Memphis (s. S. 103) war auch in gewisser Weise eine Wohlthätigkeitsanstalt. Die fürchterliche Krise, welche die Menschheit in der Hauptstadt des Reiches durchzumachen hatte, war in den fernen Ländern, wo das Leben viel einfacher geblieben war, nur wenig zu verspüren. Der Vorwurf, die Erde vergiftet zu haben, die Vergleichung Roms mit einer Dirne, welche der Welt den Wein ihrer Unsittlichkeit kredenzt, sie waren in mancher Beziehung gerechtfertigt (Offenb. XVII etc.). Die Provinz war besser als Rom, oder vielmehr die unreinen Elemente, welche von allen Seiten sich in Rom, wie in einer Pfütze, ansammelten, hatten die Stadt zu einem Ansteckungsherd gemacht, wo die alten Männertugenden erstickten, wo der von auswärts gekommene gute Samen nur langsam sich entwickeln konnte.
Der intellektuelle Zustand der verschiedenen Teile des Reiches war nur wenig befriedigend. In dieser Beziehung herrschte ein wirklicher Niedergang. Eine hohe Geisteskultur ist nicht so unabhängig von den politischen Verhältnissen, wie es die private Sittlichkeit ist. Man irrt auch, wenn man annimmt, daß der Fortschritt der hohen Geisteskultur und der der Sittlichkeit parallel laufen. Marc Aurel war sicherlich ein rechtschaffenerer Mann als alle alten griechischen Philosophen, und doch sind seine positiven Kenntnisse von den realen Erscheinungen der Welt geringer als die eines Aristoteles, eines Epikur, denn er glaubte zuweilen an Götter, die wie Personen begrenzt und unterschiedlich wären, an Träume und Weissagungen. In der römischen Epoche machte die Welt einen moralischen Fortschritt, war jedoch dabei einem wissenschaftlichen Verfall unterworfen. Von Tiberius bis Nerva ist dieser Verfall vollkommen ersichtlich. Der griechische Genius, mit einer Ursprünglichkeit, Kraft, einem Reichtum, der nie seinesgleichen fand, hatte seit Jahrhunderten die Encyklopädie der Vernunft, die normale Disziplin des Geistes geschaffen. Diese wundervolle Bewegung, die von Thales und den ersten jonischen Schulen ausging (600 Jahre vor Christus) war ungefähr im Jahre 120 unserer Zeitrechnung zum Stillstand gekommen. Die letzten Überlebenden dieser fünf Jahrhunderte des Genies: Apollonius von Perga, Eratosthenes, Aristarch, Hero, Archimedes, Hipparch, Chrysippos, Carneades, Panetius, waren gestorben, ohne Nachfolger hinterlassen zu haben. Ich sehe nur Posidonius und einige Astronomen die alten Traditionen von Alexandrien, Rhodos und Pergamus fortsetzen. So schöpferisch auch Griechenland war, es hatte weder aus seiner Wissenschaft noch aus seiner Philosophie eine populäre Unterweisung, ein Mittel gegen den Aberglauben zu ziehen gewußt. Im Besitze der bewundernswertesten wissenschaftlichen Anstalten, waren Egypten, Kleinasien, selbst Griechenland den thörichtsten Glaubensansichten ergeben. Wo aber die Wissenschaft den Aberglauben nicht zu beherrschen vermag, da erstickt der Aberglaube die Wissenschaft. Zwischen diesen beiden gegnerischen Mächten gilt es einen Kampf auf Leben und Tod.
Nachdem Italien die griechische Wissenschaft adoptiert hatte, wußte es sie für einen Moment mit einem neuen Gefühl zu beleben. Lukrez lieferte das Muster eines großen philosophischen Gedichts, Hymne und Lästerung zugleich, abwechselnd Frohsinn und Verzweiflung einstoßend, durchdrungen von jenem tiefen Gefühl für das Geschick der Menschheit, das den Griechen stets gefehlt hat. Diese, wahre Kinder wie sie waren, nahmen das Leben von einer so heiteren Seite, daß es ihnen nie beifiel, den Göttern zu fluchen oder die Natur ungerecht und treulos gegen die Menschen zu finden. Ernstere Gedanken traten bei den lateinischen Philosophen zu tage. Aber auch Rom wußte nicht besser als Griechenland die Wissenschaft zur Grundlage der volkstümlichen Erziehung zu machen. Während Cicero mit vorzüglichem Takt den von den Hellenen erborgten Ideen eine vollendete Form gab, Lukrez seine erstaunliche Dichtung schrieb, Horaz dem Augustus offen seine Ungläubigkeit bekannte, was diesen keineswegs erzürnte, Ovid die ehrwürdigsten Sagen als eleganter Libertin behandelte, während die großen Stoiker aus der griechischen Philosophie praktische Konsequenzen zogen – fanden die thörichtsten Chimären Glauben, war der Glaube an das Wundervolle ohne Grenzen. Niemals war man mehr beschäftigt mit Prophezeiungen und Wundern (Verg. Ecl . IV; Georg . I, 463 etc.; Horaz Od . I, 2; Tac. Ann . VI, 12; Suet. Aug . 31). Der schöne eklektische Deismus Ciceros,S. z. B. De repub. III, 22, citiert und erhalten in Lactane, Instit. div . VI, 8. durch Seneca noch weiter ausgebildet und vervollkommt,S. z. B. den bewundernswerten Brief XXXI an Lucilius. blieb der Glaube einer kleinen Zahl erlesener Geister und brachte auf sein Jahrhundert keine Wirkung hervor.
Bis auf Vespasian hatte das Reich nichts, was ein öffentlicher Unterricht genannt werden konnte.Sueton, Vesp . 18; Dio Cass. VI, 558 (Ausg. Sturz); Euseb. Chron . Jahr 89; Plin. Epist . I, 8; Henzen, Suppl. zu Orelli, S. 124, Nr. 1172. Was es später in dieser Art besaß, beschränkte sich fast nur auf langweilige grammatikalische Übungen; der allgemeine Verfall wurde hiedurch eher beschleunigt als verzögert. Die letzte Zeit der Republik und das Zeitalter des Augustus waren Zeugen einer so schönen litterarischen Bewegung, wie sie bisher noch nicht vorhanden war. Aber nach dem Tode des großen Kaisers trat der Verfall rasch oder, besser gesagt, plötzlich ein. Die intelligente, gebildete Gesellschaft der Cicero, Atticus, Cäsar, Mäcenas, Agrippa, Pollio war wie ein Traum entschwunden. Wohl gab es noch aufgeklärte Männer; Männer, die auf der Höhe des Wissens ihrer Zeit standen, die hervorragende gesellschaftliche Stellungen einnahmen, wie Seneca und der litterarische Kreis, dessen Mittelpunkt Lucilius, Gallion, Plinius waren. Das römische Corpus juris, eine codifizierte Philosophie, die praktische Anwendung des griechischen Rationalismus nahm seine majestätische Entwicklung. Die vornehmen römischen Familien hatten einen Fond gebildeter Religionsanschauungen und einen gewaltigen Abscheu vor dem Aberglauben bewahrt (Trauerrede auf Turia I, Z. 30, 31). Die Geographen Strabo und Pomponius Mela, der Arzt und Encyklopädist Celsius, der Botaniker Dioskorides, der Rechtsgelehrte Sempronius Proculus waren recht befähigte Köpfe. Aber sie bildeten Ausnahmen. Neben einigen Tausend aufgeklärter Leute war die Welt in völliger Unkenntnis der Naturgesetze versunken.S. hauptsächlich das erste Buch des Valerius Maximus, das Werk von Julius Obsequens über Wunder und die heiligen Reden des Älius Aristides. Leichtgläubigkeit war eine allgemeine Krankheit.Augustus (Suet. Aug. 90-92) und auch, wie man sagt, Cäsar (Plin. Hist. nat. XXVIII, 4, 7, doch ich bezweifle es) waren davon nicht frei. Die Litteratur beschränkte sich auf eine hohle, fruchtlose Rhetorik. Die hauptsächlich moralische und praktische Richtung der Philosophie schloß tiefsinnige Forschungen aus. Das menschliche Wissen, die Geographie ausgenommen, machte keinen Fortschritt. Der gebildete litterarische Dilettant ersetzte den gelehrten Schaffenden. Der größte Fehler der Römer ließ hier seinen verderblichen Einfluß fühlen. Dieses Volk, so groß im Staatswesen, nahm auf geistigem Gebiete nur eine zweite Stelle ein. Die unterrichtetsten Römer, Lucretius, Vetruvius, Celsius, Plinius, Seneca, waren im positiven Wissen Schüler der Griechen. Häufig sogar war es nur die mittelmäßigste griechische Wissenschaft, die mittelmäßig nachgeahmt wurde (Manilius, Hygin, Übersetzung von Aratus). Die Stadt Rom besaß niemals eine bedeutende wissenschaftliche Schule. Der Charlatanismus herrschte hier fast unbeschränkt. Und endlich, die lateinische Litteratur, die sicherlich ihre bewundernswerten Teile hat, blühte nur kurze Zeit und überschritt nie die occidentale Welt (Cicero, Pro Archia 10 ).
Griechenland blieb zum Glücke seinem Genius treu. Der verschwenderische Glanz römischer Macht hatte es geblendet, zum Schweigen gebracht, aber nicht vernichtet. In fünfzig Jahren wird es wieder die Welt erobern, aufs neue die Herrin aller Denker werden; es wird sich mit den Antoniden auf den Thron setzen. Jetzt aber hat selbst Griechenland eine seiner Stunden der Mattheit. Das Genie ist hier selten, die ursprüngliche Wissenschaft steht tiefer, als die vorhergegangene stand und als die im nächsten Jahrhundert folgende stehen wird. Die Schule von Alexandrien, seit zwei Jahrhunderten im Niedergang, die aber zu Cäsars Zeit immerhin noch einen Sosigenes besessen hatte, ist nun ganz verstummt.
Die Zeit vom Tode des Augustus bis zur Erhebung Trajans muß daher für eine Periode momentaner Erniedrigung des menschlichen Geistes gelten. Die antike Welt war noch weit davon entfernt, ihr letztes Wort gesprochen zu haben, aber die grausame Prüfung, die sie zu überwinden hatte, hemmte ihr Sprache und Herz. Kommen bessere Tage, so wird der von der trostlosen Cäsarenherrschaft befreite Geist wieder aufzuleben scheinen. Epiktet, Plutarch, Dio Chrysostomus, Quintilian, Tacitus, Plinius der Jüngere, Juvenal, Rufus von Ephesus, Aretäus, Galian, Ptolemäus, Hypsikles, Theo, Lucian werden die schönsten Tage Griechenlands wiederbringen, nicht des unnachahmlichen Griechenlands, das zum Leid und zur Lust jener, die das Schöne lieben, nur einmal existiert hat, aber ein noch immer reiches und fruchtbares Griechenland, das, seine Gaben mit denen des römischen Geistes verschmelzend, neue Früchte voll Ursprünglichkeit hervorbringen wird.
Der allgemeine Geschmack war sehr schlecht. Die großen griechischen Schriftsteller sind nicht da; die uns bekannt gewordenen lateinischen Schriftsteller sind, den Satyriker Persius ausgenommen, mittelmäßig und ohne Genie. Die Deklamation verdarb alles. Das Prinzip, wonach das Publikum geistige Werke beurteilte, war ungefähr dasselbe wie in unserer Zeit. Man suchte nur den glänzenden Zug. Das Wort sollte nicht mehr das schlichte Kleid des Gedankens sein, sein höchster Wert nicht mehr das vollkommene Ebenmaß mit dem auszudrückenden Gedanken. Man pflegte das Wort um seiner selbst willen. Das Ziel des Autors war, im Schreiben sein Talent zu zeigen. Man bemaß die Trefflichkeit einer »Recitation« oder öffentlichen Vorlesung nach der Zahl der eingestreuten Worte, die applaudiert wurden. Das große Prinzip, daß in der Kunst alles zum Schmuck dienen soll, aber alles, was einzig nur diesem Zwecke dient, schlecht sei, dieses Prinzip wurde gänzlich vergessen. Die Zeit war, wenn man just will, sehr litterarisch. Man sprach nur von Beredsamkeit, gutem Stil, und im Grunde genommen schrieb jeder schlecht; es gab keinen einzigen Redner, denn die guten Redner, die guten Schriftsteller sind Leute, die aus diesem wie jenem kein Handwerk machen. Im Theater nahm der Hauptdarsteller die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch; man strich das Stück zusammen, um nur die Kraftstelle, die cantica zu recitieren. Der Geist der Litteratur war ein nichtiger »Dilettantismus«; eine thörichte Eitelkeit nahm alle, bis zu den Kaisern, befangen, als geistreich glänzen zu wollen. Daher diese äußerste Langweiligkeit, diese unendlichen »Theseiden«, diese Dramen, die nur zum Vorlesen in Bekanntenkreisen geschaffen wurden, alles nur eine poetische Banalität, die man mit den Epopöen und »klassischen Dramen«, wie sie anfangs dieses Jahrhunderts bei uns im Schwang waren, vergleichen könnte.
Selbst der Stoicismus blieb von diesem Fehler nicht frei, wenigstens konnte er vor Epiktet und Marc Aurel keine geeignete Form zur Einkleidung seiner Lehren finden. Seltsame Denkmäler, diese Tragödien von Seneca, wo die höchsten Empfindungen im Ton eines litterarischen Charlatanismus, der dabei ermüdend ist, ausgedrückt sind, Zeichen eines moralischen Fortschritts und eines unheilbaren Niedergangs des Geschmackes zugleich. Dasselbe gilt von Lucanus. Die Seelenspannung, eine natürliche Wirkung dessen, was in der Situation an eminent Tragischem vorhanden war, rief ein schwülstiges Genre hervor, dessen einziges Streben war, mit schönen Sentenzen zu glänzen. Etwas Ähnliches erfolgte bei uns zur Zeit der Revolution; die heftigste Krise, die je durchgemacht wurde, brachte nur eine rhetorische, phrasenvolle Litteratur hervor. Man darf darüber nicht staunen. Neue Gedanken drücken sich zuweilen sehr anspruchsvoll aus. Der Stil Senecas ist nüchtern, einfach, klar, verglichen mit dem des heiligen Augustin. Wir aber verzeihen Augustin seinen oft abscheulichen Stil, seine geschmacklosen »Concetti« um seiner edlen Gefühle willen.
Allenfalls drang diese in mancher Beziehung edle und ausgezeichnete Bildung nicht ins Volk. Es wäre das kein großer Schaden gewesen, wenn das Volk wenigstens eine religiöse Nahrung gehabt hätte, etwas Ähnliches, wie der enterbteste Teil unserer Gesellschaft von der Kirche empfängt. Aber die Religion war in allen Teilen des Reiches sehr gesunken. Höchst vernünftig hatte Rom die alten Kulten bestehen lassen und nur das ausgeschieden, was unmenschlich (Suet. Claud. 25), aufreizend oder für andere verletzend war (Jos. Ant. XIX, 5, 3). Es hatte auf alles sozusagen einen offiziellen Firnis gelegt, der es einander ähnlicher machen und schlecht und recht verschmelzen sollte. Unglücklicherweise hatten diese, ihrem Ursprunge nach verschiedenen alten Kulten einen gemeinschaftlichen Zug: die Unmöglichkeit, zu einem theologischen Unterricht, zu einer angewandten Moral zu kommen, zu einer erbaulichen Predigt, einem für das Volk wirklich nützlichen Priesterdienst. Die Heidentempel waren keineswegs, was Synagoge und Kirche in ihrer schönen Zeit waren: Gemeindehaus, Schule, Herberge, Krankenhaus, Zufluchtstätte der Armen ( Bereschith rabba. , Kap. LXV, S. 65 b; du Cange, Wort matricularius ). Es war eine kalte » cella «, wo man nicht eintrat, wo man nichts lernte. Der römische Kultus war vielleicht noch der am wenigsten arge von allen, die geübt wurden. Reinheit des Herzens und des Leibes galten hier als Bestandteile der Religion (Cic. De legibus II, 8; Vopiscus, Aurel. 19). Durch seinen Ernst, seinen Anstand, seine Strenge stand dieser Kultus, abgesehen von einigen unseren Faschingsspielen ähnlichen Farcen, viel höher als die seltsamen, zum Lachen reizenden Ceremonien, welche die vom orientalischen Wahn befangenen Personen heimlich betrieben. Die Überhebung indessen, womit der römische Patrizier »die Religion«, d. h. seinen eigenen Kultus vom »Aberglauben«, d. h. den anderen Kulten unterschied, kommt uns ziemlich kindisch vor.» Religio sine superstitione «, Trauerrede auf Turia I, Z. 30, 31. S. Abhandl. über Aberglauben von Plutarch. Alle heidnischen Kulten waren wesentlich abergläubisch. Der Bauer, der heutzutage einen Pfennig in die Opferbüchse einer wunderthätigen Kapelle wirft, einen Heiligen zum Schutz für sein Rind oder Pferd anruft, bei gewissen Krankheiten ein gewisses Wasser trinkt, ist in dieser Beziehung ein Heide. Fast alle unsere abergläubischen Bräuche sind Überreste einer dem Christentum vorausgegangenen Religion, die von ihm nicht ausgerottet werden konnten. Will man in unseren Tagen noch ein Bild des Heidentums sehen, so muß man es in einem weltverlorenen, abseits von jedem Verkehr liegenden Ort suchen.
Da die heidnischen Kulten nur von schwankenden Volkstraditionen und von eigennützigen Priestern gehütet wurden, konnte es nicht fehlen, daß sie in niedrige Schmeichelei ausarteten.S. Meliton, Περί άλδείας im Spicilegium syriacum von Cureton, S. 43, oder Spicil. Solesmense von Dom Pitra II, 41 , um sich Rechenschaft über den Eindruck zu geben, den dies auf Juden und Christen machte. Augustus nahm es hin, obgleich mit Vorbehalt, in den Provinzen göttlich verehrt zu werden.Suet. Aug. 52 ; Dio Cass. LI, 20 ; Tacit. Ann. I, 10 ; Aurel. Victor, Caes. 1 ; Appian, Bell. Civ. V, 132 ; Jos. B. J. I, 21, 2, 3, 4, 7 ; Noris, Cenotaphia Pisana , Dissert. I , Kap. 4; Kalend. Cumanum in Corp. insc. lat. I, 310 ; Eckhel, Doctrina num. vet. II, Bd. VI, S. 100, 124 ect. Tiberius ließ unter seinen Augen den unedlen Wetteifer der asiatischen Städte gewähren, die sich um die Ehre stritten, ihm einen Tempel zu errichten (Tacit. Ann. IV, 55, 56 ; vgl. Valerius Maximus, prol. ). Die verrückten Gottlosigkeiten Caligulas (s.S. 180) brachten keine Reaktion hervor; außerhalb des Judentums fand sich nicht ein Priester, der diesen Tollheiten Widerstand geleistet hätte. Größtenteils aus einer primitiven Verehrung der Naturkräfte hervorgegangen, durch Vermischungen jeder Art und durch die Einbildungskraft des Volkes zehnmal umgeformt, waren die heidnischen Kulten durch ihre Vergangenheit beschränkt. Man konnte aus ihnen nicht herausziehen, was nie in ihnen war: den Deismus, die Erbauung. Die Kirchenväter nötigen uns ein Lächeln ab, wenn sie dem Saturn seine Missethaten als Vater, dem Jupiter als Gatten vorwerfen. Aber wahrhaftig, noch lächerlicher war es, Jupiter (d.h. die Atmosphäre) zu einem sittlichen Gott zu erheben, der befiehlt, verbietet, lohnt und straft. Was sollte in einer Welt, die sich nach einem Katechismus sehnte, ein Kultus wie der der Venus, hervorgegangen aus einer alten gesellschaftlichen Notwendigkeit der ersten seefahrenden Phönizier im Mittelmeer, der aber mit der Zeit ein Hohn auf das geworden war, was immer mehr als das Wesen der Religion betrachtet wurde.
In der That offenbarte sich von allen Seiten nachdrücklichst das Bedürfnis einer monotheistischen Religion, deren Grundlage die göttlich vorgeschriebene Moral ist. Es kam also eine Epoche, wo die naturalistischen Religionen, auf reine Kindereien und Zauberpossen zusammengeschrumpft, der Gesellschaft nicht mehr genügen konnten, eine Zeit, in der die Menschheit eine sittliche, philosophische Religion forderte. Der Buddhismus, die Lehre Zoroasters entsprechen diesem Bedürfnis in Indien, in Persien. Der Orpheismus, die Mysterien hatten dasselbe in der griechischen Welt versucht, ohne jedoch dauernden Erfolg zu haben. In der Epoche, von der hier die Rede ist, wurde das Problem gewissermaßen mit feierlicher Einmütigkeit und imponierender Größe von der gesamten Menschheit aufgeworfen.
Griechenland machte wohl in dieser Beziehung eine Ausnahme. Der Hellenismus war viel weniger abgenutzt als die andern Religionen des Reiches. Plutarch, in seiner kleinen böotischen Stadt lebend, fühlte sich im Hellenismus still, glücklich, zufrieden wie ein Kind, im religiösen Gewissen vollkommen beruhigt. Bei ihm war keine Spur von einer Krise, der Zerrissenheit, der Unruhe, der drohenden Umwälzung. Aber nur der griechische Geist war einer so kindlichen Unbefangenheit fähig. Stets mit sich selbst zufrieden, stolz auf seine Vergangenheit und auf jene glänzende Mythologie, von der es alle heiligen Orte besaß, nahm Griechenland nicht teil an den inneren Stürmen, welche die übrige Welt durchfuhren. Griechenland allein rief das Christentum nicht an, es allein wollte es entbehren; es allein behauptete, besseres vollbringen zu können.Korinth, die einzige Stadt in Griechenland, die im ersten Jahrhundert eine beträchtliche Christenheit aufwies, war zu dieser Zeit nicht mehr eine hellenische Stadt. Es kam dies von jener ewigen Jugend, von jener Vaterlandsliebe, jener Heiterkeit, die stets den echten Hellenen gekennzeichnet haben und die heute noch bemerken lassen, daß der Grieche die bittern Sorgen nicht kennt, die uns quälen. Der Hellenismus war dermaßen imstande, eine Wiedergeburt zu versuchen, wie sie kein anderer Kultus des Reiches hätte vornehmen können. Im zweiten, dritten und vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung bildete sich der Hellenismus durch eine Verschmelzung von griechischer Mythologie und Philosophie zu einem Religionssystem, und mit seinen thaumaturgischen Philosophen, seinen alten zu Offenbarungen erhobenen Weisen, seinen Legenden von Pythagoras und Apollonius machte er dem Christentum eine Konkurrenz, die, ob sie auch machtlos blieb, doch das gefährlichste Hindernis war, das die Religion Jesu auf ihrem Wege gefunden hatte.
Dieser Versuch zeigte sich zur Zeit der Cäsaren noch nicht. Die ersten Philosophen, die eine Art Bündnis zwischen Philosophie und Heidentum versuchten, Euphrates von Tyrus, Apollonius von Tyana und Plutarch lebten zu Ende des Jahrhunders. Euphrates von Tyrus ist uns nur wenig bekannt geworden. Ferner hat die Legende das echte Bild des Apollonius dermaßen verdeckt, daß man nicht recht weiß, ob man ihn zu den Weisen, den Religionsstiftern oder den Charlatanen zählen soll. Was Plutarch betrifft, so ist er weniger ein Denker, ein Erneuerer als ein maßvoller Geist, der alle Welt befriedigen will, indem er die Philosophie einschränkt und die Religion halbwegs mit der Vernunft in Einklang bringt. Er hat nichts von einem Porphyrus, einem Julian an sich. Die Versuche allegorischer Exegese der Stoiker sind recht schwach (Heraclides, Cornutus. Vgl. Cicero, De nat. deo. III, 23 – 25, 60, 62 – 64 ). Mysterien, wie die des Bacchus, wo unter zierlichen Symbolen die Unsterblichkeit der Seele gelehrt wurde,Plutarch, Consolatio ad uxorem 10, De sera numinis vindicta 22 ; Heuzey, Mission en Macédoine , S. 128, Revue archéol. , April 1864, S. 282. waren auf gewisse Länder beschränkt und hatte keinen ausgedehnten Einfluß. Der Unglaube gegen die offizielle Religion war in den aufgeklärten Klassen allgemein.Lucrez I, 63 etc.; Sallust, Catil. 52 ; Cic. De nat. deo. II, 24, 28 ; De div. II, 33, 35, 57 ; De haruspicum resp. fast ganz; Tuscul. I ,16 ; Juv. Sat. II, 149 – 152 ; Seneca, Epist. XXIV, 17 . Die Männer der Öffentlichkeit, die sich am meisten den Anschein gaben, als unterstützten sie den Staatskultus, verspotteten ihn mit beißenden Witzworten. ( »Sua cuique civitati religio est, nostra nobis.« Cic. Pro Flacco 28 .) Man verkündete offen das unmoralische System, daß die religiösen Fabeln nur für das Volk gut sind und seinetwegen erhalten bleiben müssen.Cic. De nat. deo. I, 30, 42 , De divinat. II, 12, 33, 35, 72 , De harus. resp. 6 etc.; Tit. Livius I, 19 ; Quintus Curtius IV, 10 ; Plutarch, De plac. phil. I, 7, 2 ; Diod. Sic. I, 2,2 ; Barron bei Augustinus, De civ. Dei IV, 31, 32, VI, 6 ; Denys d'Halic II, 20, VIII, 5 ; Val. Maximus I, 2 . Diese Vorsicht war höchst unnütz, denn der Glaube des Volkes war selbst gründlich erschüttert (Cic. De divinat. II, 15 ; Juv. II, 149 etc.).
Von der Erhebung des Tiberius an machte sich wohl eine religiöse Reaktion fühlbar. Es scheint, daß die Welt vor der Ungläubigkeit der Zeiten Cäsars und Augustus erschrak; man führte ein Vorspiel auf zu Julians mißlungenem Versuch; alle abergläubischen Ansichten wurden aus Staatsrücksichten rehabilitiert. (Tac. Ann. IX, 15 ; Plin. Epist. X, 97 am Ende. Studiere die Persönlichkeit des Serapion in Plutarchs De Phytiae oraculis . Vgl. Dei Ei apud Delphos , Anfang. S. hauptsächlich Val. Maximus Buch I ganz.) Valerius Maximus giebt das erste Beispiel eines niedrigen Schriftstellers, der sich zum Helfer einer sinkenden Theologie hingiebt, das erste Beispiel einer käuflichen oder schmutzigen Feder im Dienste der Religion. Aber die fremden Kulten waren es, die von dieser Umkehr den meisten Nutzen zogen.
Eine ernstliche Reaktion zu gunsten des graco-romanischen Kultus sollte erst im zweiten Jahrhundert hervortreten. Jetzt indessen wenden sich die von Besorgnis für die Religion erfüllten Klassen den aus dem Orient kommenden Kulten zu (Juv. Sat . VI, 489, 527; Tacit. Ann . XI, 15; vgl. Lucian, Die Versammlung der Götter; Tertul. Apolog . 6). Isis und Serapis finden mehr Gunst als je (Jos. Ant . XVIII, 3, 4; Tacit. Ann . II, 85; Le Bas, Inscr . V, Nr. 395). Betrüger aller Art, Thaumaturgen, Magier ziehen von diesem Bedürfnis Vorteil und strömen, wie das gewöhnlich in Epochen und Ländern vorkommt, in denen die Staatsreligion schwach ist, von allen Seiten herbei (Plutarch, De Pyth. orac . 25). Man gedenke nur der wirklich vorhanden gewesenen oder auch nur fiktiven Typen eines Apollonius von Tyan, Alexander von Abonotica, Peregrinus, Simon von Gitton (s. Lucian, Alexander seu pseudomantis et de morte Peregrini ). Selbst diese Irrtümer und Wahngebilde waren wie ein Gebet der in Arbeit begriffenen Erde, wie die unfruchtbaren Versuche einer Welt, die, ihre Regeln suchend, zuweilen in ihren konvulsiven Bemühungen auf monströse, der Vergessenheit bestimmte Schöpfungen verfällt.
Kurz, die Mitte des ersten Jahrhunderts ist eine der schlechtesten Epochen der alten Geschichte. Die griechische und römische Gesellschaft zeigte sich bezüglich des Vorhergegangenen im Verfall und bezüglich des Nachfolgenden gänzlich zurückgeblieben. Aber die Größe der Krise brachte auch manche seltsame und geheime Bildung hervor. Das Leben schien seine Triebkraft verloren zu haben; die Selbstmorde vermehrten sich (Seneca, Epict . XII, XXIV, LXX; Inschriften von Lavinium, Reihe 2, Zeile 5, 6; Orelli 4404). Niemals noch bot ein Jahrhundert einen derartigen Kampf zwischen Gutem und Bösem. Das Böse war ein fürchterlicher Despot, der die Welt Wüterichen und Tollen überlieferte; es war die Sittenverderbnis, die sich aus der Einführung der Laster des Orients nach Rom ergab; es war der Mangel an einer guten Religion und einem ernsten öffentlichen Unterricht. Das Gute, es war teils die Philosophie, die mit entblößter Brust gegen die Tyrannen kämpfte, den Ungeheuern trotzend, drei- oder viermal in einem halben Jahrhundert geächtet (unter Nero, Vespasian, Domitian. – Dio Cass. LXVI, 13, LXVII, 13; Suet. Domit . 10; Tacit. Agricola 2, 45; Plin. Epist . III, 11; Philostr. Leben des Apoll. I, VII ganz; Euseb. Chron. ad ann. Chr . 90); es waren teils wieder die Bemühungen der Volkstugend, das legitime Streben nach einem besseren religiösen Zustand, die Neigung zur Verbrüderung, zu den monotheistischen Kulten, die Rehabilitation des Armen, die hauptsächlich unter der Hülle des Judentums und Christentums sich äußern. Diese zwei großen Protestationen waren fern davon, in Übereinstimmung zu sein; die philosophische Partei und die christliche Partei kannten einander gar nicht und die Gemeinschaftlichkeit ihrer Bestrebungen war ihnen so wenig bewußt, daß, als erstere mit Nerva zur Macht gelangte, sie nichts weniger that, als das Christentum zu begünstigen. Wohl war das Streben der Christen viel radikaler. Die Stoiker, Herren des Reiches, reformierten es und standen ihm vor in den schönsten hundert Jahren der menschlichen Geschichte. Die Christen, Herren des Reiches seit Konstantin, sollten es gänzlich ruinieren. Der Heldenmut der einen darf uns jedoch nicht den der andern vergessen lassen. Das Christentum war so ungerecht gegen heidnische Tugenden, daß es selbst diejenigen herabzuwürdigen unternahm, die denselben Feind wie es selbst bekämpft hatten. In dem Widerstand, welchen die Philosophie im ersten Jahrhundert geleistet hat, äußerte sich ebenso viel Größe wie in dem des Christentums; aber der Lohn war hier anders als dort. Der Märtyrer, dessen Fuß die Idole umstieß, hat seine Legende. Warum haben nicht Annäus Cornutus, der Nero ins Gesicht sagte, daß seine Bücher nie denen des Chrysippus an Wert gleichkommen würden (Dio Cass. LXII, 29), Helvidius, der zu Vespasian sprach: »Du kannst töten, ich kann sterben« (Arrian, Abh. über Epiktet I, 2, 21), Demetrius der Cyniker, der dem gereizten Nero antwortete: »Du drohst mir mit dem Tod; aber die Natur bedroht auch dich damit« (ebend. I, 25, 22) – warum haben sie nicht ihr Denkmal unter den volkstümlichen Heroen, die von allen geliebt, verehrt sind? Verfügt die Menschheit über so viel Kräfte gegen Laster und Gemeinheit, daß es jeder Tugendschule gewährt sei, die Hilfe der andern zurückzuweisen und zu behaupten, sie allein habe das Recht, mutig, stolz und resigniert zu sein?