Ernest Renan
Die Apostel
Ernest Renan

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Siebentes Kapitel.

Die Kirche als eine Verbindung von Armen betrachtet. Die Institution des Diakonats. – Die Diakonissen und die Witwen.

Durch die vergleichende Geschichte der Religionen wird uns eine allgemeine Wahrheit offenbart: alle, die einen Anfang gehabt haben und nicht mit dem Ursprung der Ausdrucksweise gleichzeitig sind, werden viel eher aus socialen als aus theologischen Gründen gebildet. So war es sicherlich auch mit dem Buddhaismus. Was das besondere Glück dieser Religion bildete, war nicht die nihilistische Philosophie, die ihr als Grundlage dient, sondern ihre sociale Seite. Cakya-Muni und seine Jünger hatten anfangs ganz Indien hinter sich und später den größten Teil Asiens, weil er die Aufhebung der Kasten verkündete und, nach seinen Worten, »ein Gesetz der Gnade für alle« feststellte.S. die von Eugène Burnouf gesammelten und übersetzten Texte »Introd. à l'hist. du buddh. indien« I,137 und besonders 198, 199. Wie das Christentum war auch der Buddhaismus eine Bewegung der Armen. Der große Anziehungspunkt, der den Andrang hervorrief, war die den enterbten Klassen gebotene Leichtigkeit, sich durch das Bekenntnis zu einem Kultus, der sie erbaute und ihnen unversiegliche Quellen des Beistands und der Frömmigkeit bot, zu rehabilitieren.

Die Zahl der Armen war im ersten Jahrhundert unserer Ära in Judäa sehr beträchtlich. Das Land ist seiner Beschaffenheit nach von allen Mitteln entblößt, die Wohlstand herbeiführen. In diesen Ländern ohne Industrie hat fast jeder Reichtum reichlich ausgestattete religiöse Einrichtungen oder die Gunst der Regierung zum Ursprung. Die Tempelschätze waren seit langem ausschließlich für eine geringe Zahl von Vornehmen bestimmt. Die Asmonäer hatten um ihre Dynastie eine Gruppe reicher Familien gebildet; die Heroden erhöhten sehr den Luxus und das Wohlleben einer gewissen Gesellschaftsklasse. Aber der wahre theokratische Jude, welcher der römischen Civilisation den Rücken zukehrte, wurde nur noch ärmer. Es bildete sich eine ganze Klasse heiliger, frommer, fanatischer Männer, strenge Beobachter des Gesetzes und dabei in den erbärmlichsten äußeren Verhältnissen. Aus dieser Klasse traten die Sekten und fanatischen Parteien hervor, die in dieser Epoche so zahlreich waren. Der allgemeine Traum war die Herrschaft des treugebliebenen jüdischen Proletariats, die Demütigung des Reichen, der als ein Überläufer betrachtet wurde, als ein Verräter, der zu dem profanen Leben, zu der Civilisation von Außen übergetreten ist. Nie mochte ein Haß dem gleichkommen, welchen diese Gottesarmen gegen die glänzenden Bauten, die das Land zu bedecken anfingen, sowie gegen die Werke der Römer hegten. Um nicht zu verhungern, genötigt an diesen Bauten zu arbeiten, die ihnen Denkmäler des Stolzes und des verbotenen Luxus zu sein schienen, hielten sie sich für die Opfer böser, verdorbener, dem Gesetze untreu gewordener Reichen.

Man begreift, daß in einem solchen Gesellschaftszustand eine Verbindung zur gegenseitigen Hilfe rasche Verbreitung fand. Die kleine christliche Gemeinde mußte als ein Paradies erscheinen. Diese Familie von Brüdern, schlicht und einig, zog von allen Seiten Genossen an. Als Vergeltung dessen, was eingebracht wurde, erhielt man eine gesicherte Zukunft, eine sehr sanfte Bruderschaft und köstliche Hoffnungen. Der allgemeine Brauch war, seinen Besitz zu Geld zu machen, bevor man in die Sekte trat (Apostelg. II, 45, IV, 34, 37, V, 1). Dieser Besitz bestand gewöhnlich aus kleinen Landgütern, die nicht sehr produktiv waren und mühevoll bearbeitet werden mußten. Es war nur ein Vorteil, besonders für unverheiratete Leute, diese Grundstücke gegen eine Stellung mit Leibrente in einer Versicherungsgesellschaft, mit der Aussicht auf das Reich Gottes, umzutauschen. Auch einige verheiratete Leute traten dieser Einrichtung bei; Vorsichtsmaßregeln wurden ergriffen, damit die Verbandsmitglieder wirklich auch ihr ganzes Vermögen einbrachten und nichts außerhalb der gemeinschaftlichen Kasse behielten (Apostelg. V, 1 etc.). In der That, da jeder nicht im Verhältnis des Eingebrachten, sondern im Verhältnis seiner Bedürfnisse erhielt (Apostelg. II, 45, IV, 35) war jedes Zurückbehalten des Eigentums ein Diebstahl an der Gemeinschaft. Man sieht die auffallende Ähnlichkeit solcher Organisationsversuche des Proletariats mit gewissen Utopien, die in einer von uns nicht sehr fernen Epoche zum Ausdrucke kamen. Allein ein tiefer Unterschied lag darin, daß der christliche Kommunismus eine religiöse Grundlage hatte, während der moderne Sozialismus eine solche nicht hat. Es ist klar, daß eine Verbindung, wo der Anteil des Einzelnen im Verhältnis zu seinen Bedürfnissen steht und nicht zu dem von ihm eingebrachten Kapital, nur auf ein stark ausgeprägtes Gefühl der Selbstverleugnung und auf einen glühenden Glauben an ein religiöses Ideal beruhen kann.

In einer solchen gesellschaftlichen Konstitution mußten die administrativen Schwierigkeiten sehr zahlreich vorhanden sein, welches auch der herrschende Grad der Brüderlichkeit sein mochte. Zwischen beiden Fraktionen der Gemeinde, deren Sprache verschieden war, waren Mißverständnisse unvermeidlich. Es war schwer, daß die Juden echter Rasse nicht ein wenig Mißachtung gegenüber ihren minder vornehmen Glaubensgenossen gehabt hätten. Wirklich blieb auch das Murren nicht aus. Die »Hellenisten«, die mit jedem Tag zahlreicher wurden, beklagten sich, daß ihre Witwen bei der Verteilung nicht so gut behandelt würden wie die der »Hebräer« (Apostelg. VI, 1 etc.). Bisher hatten die Apostel dem Haushalt vorgestanden. Aber angesichts solcher Einwürfe fühlten sie die Notwendigkeit, diesen Teil ihrer Macht zu übertragen. Sie schlugen der Gemeinde vor, die administrativen Obliegenheiten sieben weisen und angesehenen Männern anzuvertrauen. Der Vorschlag wurde angenommen. Man schritt zur Wahl. Die sieben Erwählten waren: Stephanus, Philippus, Prochore, Nikanor, Timon, Parmenes und Nikolas. Letzterer war aus Antiochien, ein einfacher Proselyt. Auch bei Stephanus mochte das der Fall sein (s. Seite 122). Es scheint, daß hier das Gegenteil dessen, was bei der Wahl des Apostels Matthäus stattfand, zur Geltung kam; man nahm sich vor, die sieben Verwalter nicht aus der Gruppe der ursprünglichen Jünger zu wählen, sondern aus den Reihen der Neubekehrten, besonders aus denen der Hellenisten. Tatsächlich trugen alle auch rein griechische Namen. Stephanus war der angesehenste der Sieben, und in gewisser Beziehung ihr Oberhaupt. Man stellte sie den Aposteln vor, die nach einem bereits geheiligten Brauch über ihrem Haupte beteten, indem sie ihnen die Hände auflegten.

Man gab den so bestimmten Verwaltern den syrischen Namen »Schamaschin«, griechisch Διάκονοι. Man nannte sie oft auch zur Unterscheidung von den »Zwölf« die »Sieben« (Apostelg. XXI, 8). Dies war also der Ursprung des Diakonats, der ältesten kirchlichen Funktion, des ältesten der heiligen Orden. Alle später eingerichteten Gemeinden hatten, in Nachahmung von der zu Jerusalem, Diakonen. Die Fruchtbarkeit einer solchen Einrichtung war wundervoll. Die Sorge für die Armen war einem religiösen Dienste gleichgestellt. Es war die Verkündigung der Wahrheit, daß die socialen Fragen die ersten sind, mit denen man sich beschäftigen muß. Es war die Begründung der Nationalökonomie als religiöse Sache. Die Diakonen waren die besten Prediger des Christentums. Wir werden bald sehen, welche Rolle sie als Evangelisten spielten. Als Organisatoren, Ökonomen, Verwalter hatten sie noch ein viel wichtigeres Amt. Diese praktischen Männer, die in steter Verbindung mit den Armen, Kranken und Frauen standen, durchdrangen alles, sahen alles, ermahnten und bekehrten auf die wirksamste Weise (Phil. I, 1; 1. Tim. III, 8 etc.). Sie thaten viel mehr als die Apostel, die unbeweglich auf ihren Ehrenplätzen zu Jerusalem blieben. Sie schufen, was das Christentum am meisten Festes und Dauerhaftes besitzt.

Sehr bald wurden auch Frauen zu diesem Amte zugelassen.Röm. XVI, 1, 12; 1. Tim. III, 11, V, 9 etc.; Plin. Epist. X, 97. Die Episteln an Timotheus sind wahrscheinlich nicht vom heil. Paulus, aber sie sind allenfalls sehr alt. Sie führten, wie in unseren Tagen, den Namen »Schwestern« (Röm. XVI, 1; 1. Kor. IX, 5; Philem. 2). Anfangs waren es die Witwen, später zog man Jungfrauen für dieses Amt vor (1. Tim. V, 9 etc. – Const. apost. VI, 17). Der Takt, der in alledem die ursprüngliche Kirche leitete, war bewundernswert. Diese schlichten und guten Leute legten mit einer tiefen Erkenntnis, die aus dem Herzen kam, die Grundlage der großen christlichen Hauptsache: der Barmherzigkeit. Nichts hatte ihnen als Muster für solche Einrichtungen gedient. Ein großes Amt der Wohlthätigkeit und des gegenseitigen Beistands, zu welchem beide Geschlechter ihre verschiedenen Eigenschaften brachten und wobei sie in ihren Bemühungen das menschliche Elend zu lindern wetteiferten – das war die heilige Schöpfung, die aus der Arbeit dieser ersten zwei oder drei Jahre hervorging. Sie waren die fruchtbarsten in der Geschichte des Christentums. Man fühlt, daß der noch lebende Gedanke an Jesus seine Jünger erfüllte und sie in allen ihren Handlungen mit wundervoller Klarheit leitete. In der That, um gerecht zu sein, muß man die Ehre dessen, was die Apostel Großes thaten, auf Jesus zurückführen. Es ist wahrscheinlich, daß bei seinen Lebzeiten von ihm die Grundlage der Einrichtungen gelegt wurde, die sich bald nach seinem Tode höchst erfolgreich entwickeln sollten.

Die Frauen beeilten sich natürlich, sich einer Gemeinschaft zuzugesellen, in welcher der Schwache von so vielen Bürgschaften umgeben war. Ihre Stellung in der damaligen Gesellschaft war demütigend und unsicher (Sap. II, 10; Eccli. XXXVII, 17; Matth. XXIII, 14; Mark. XII, 40; Luk. XX, 47; Jak. I, 27); die Witwen besonders waren, trotz einiger Schutzgesetze, am meisten dem Elend preisgegeben und wenig geachtet. Manche Lehrer meinten, man möge der Frau keine religiöse Erziehung geben (Mischna, Sota III, 4). Der Talmud stellt die geschwätzige, neugierige Witwe, die ihre Zeit klatschend bei den Nachbarinnen verbringt, sowie die Jungfrau, die ihre Zeit mit Beten verliert, den Landplagen gleich.Talm. von Bab. Sota. 22a. Vgl. 1. Tim. V, 13; Buxtorf, Lex. chalm. rabb. die Worte צליכית und שוככית Die neue Religion schuf diesen armen Enterbten eine ehrenhafte und sichere Zufluchtsstätte (Apostelg. VI, 1). Einige Frauen nahmen in der Gemeinde einen sehr beträchtlichen Rang ein und ihr Haus diente als Versammlungsort (Apostelg. XII, 12). Was diejenigen betrifft, die kein Haus hatten, so wurde aus ihnen eine Art Orden oder presbyterianischer weiblicher Verein gebildet (1. Tim. V, 9 etc. Vgl. Apostelg. IX, 39, 41), der wahrscheinlich auch Jungfrauen enthielt, und bei der Organisation des Almosens eine bedeutende Rolle spielte. Die Einrichtungen, die man als die spätere Frucht des Christentums betrachtet, die Kongregation der Frauen, die Beguinen, die Barmherzigen Schwestern waren eine seiner ersten Schöpfungen, das Prinzip seiner Kraft, der vollkommenste Ausdruck seines Geistes. Der bewundernswerte Gedanke ganz besonders, durch eine Art religiösen Charakters diejenigen Frauen, die nicht verheiratet sind, zu weihen und einer regelmäßigen Disciplin zu unterwerfen, ist ganz christlich. Das Wort »Witwe« wurde mit einer religiösen, gottgeweihten Person gleichbedeutend und in der Folge auch mit »Diakonissin« (1. Tim. V, 3 etc.). In diesen Ländern, wo ein Weib von vierundzwanzig Jahren schon verblüht ist, wo es kaum einen Mittelzustand zwischen Kind und alte Frau giebt, war es wie ein neues Leben, das für die Hälfte, die Hingebungsfähigere, der Menschheit geschaffen wurde.

Die Zeit der Seleuciden war eine fürchterliche Epoche weiblicher Verirrung. Man sah bis dahin noch nie so viel Familiendramen, so viel Vergifterinnen und Ehebrecherinnen. Die Weisen von damals mußten das Weib als eine Geißel der Menschheit, als das Prinzip der Gemeinheit und Schande betrachten, als einen bösen Genius, dessen einziges Streben dahin zielt, alles, was Edles im anderen Geschlecht keimt, zu bekämpfen (Pred. Sal. VII, 27; Sirach VII, 26 etc., IX, 1 etc., XXV, 22 etc., XXVI, 1 etc., XLII, 9 etc.). Das Christentum änderte die Dinge. In einem Alter, das uns noch als Jugend gilt, wo aber das Leben der Frau im Orient so traurig, so verderblich der Einflüsterung des Bösen preisgegeben ist, konnte die Witwe, indem sie ihr Haupt mit einem schwarzen Tuch umhüllte,Was die Witwentracht in der orientalischen Kirche betrifft s. die griechische Handschrift Nr. 64 in der franz. Staatsbibliothek (alte Sammlung), S. 11. Die Tracht der Kalogries ist noch heute beinahe dieselbe. Der Typus der orientalischen Nonne war die Witwe, der Typus der lateinischen, die Jungfrau. eine achtbare Person werden, würdig beschäftigt, eine Diakonissin, gleichgestellt den geachtetsten Männern. Diese so schwierige Stellung der Witwe ohne Kinder erhob das Christentum und heiligte sie (vgl. der »Hirt« des Hermas II, T. IV). Die Witwe wird fast der Jungfrau gleich. Das war die »Kalogrie«, die »schöne Alte«, verehrt, nützlich, als Mutter behandelt. (Καλογρια, Name der Klosterschwestern der orientalischen Kirche. Καλός vereinigt hier die beiden Begriffe »schön« und »gut«.) Diese Frauen, die unaufhörlich gingen und kamen (s. 132, Anmerk.), waren bewundernswerte Missionare für den neuen Kultus. Die Protestanten täuschen sich, indem sie in die Beurteilung dieser Thatsachen unsern modernen Geist der Individualität tragen. Wenn es sich um christliche Geschichte handelt, so sind es Socialismus, Klostertum, die ursprünglich sind.

Der Bischof, der Priester, wie die Zeit sie geschaffen hat, existierten damals noch nicht. Aber das Hirtenamt, diese intime Seelenvertrautheit außerhalb der Bande des Blutes, waren schon begründet. Dies ist immer eine besondere Gabe Jesu gewesen und gleich einer Erbschaft von ihm. Jesus hatte oft wiederholt, daß er für jeden mehr als sein Vater, mehr als seine Mutter sei, daß man, um ihm zu folgen, die teuersten Wesen verlassen müsse. Das Christentum setzte etwas über die Familie: es schuf die Brüderlichkeit, die geistige Ehe. Die antike Ehe, welche die Gattin dem Gatten unbeschränkt, ohne Gegengewicht auslieferte, war eine wahre Sklaverei. Die sittliche Freiheit des Weibes begann mit dem Tage, wo die Kirche ihr einen Vertrauten gab, einen Führer in Jesus, der sie leitete und tröstete, der sie immer anhörte und zuweilen zum Widerstand aufforderte. Das Weib bedarf einer Leitung, es ist nicht glücklich, wenn es nicht gelenkt wird; aber es muß den lieben, der es leiten will. Das ist es, was weder die alten Gesellschaften noch der Judaismus, noch der Islam zu thun vermochten. Bis dahin hatte das Weib kein religiöses Bewußtsein, keine sittliche Individualität, keine selbstständige Meinung gehabt, wie dies im Christentum der Fall ist. Dank den Bischöfen und dem Klosterleben konnte eine Radegund Mittel finden, den Armen eines barbarischen Gatten zu entfliehen. Das Seelenleben geht über alles; es ist daher nur gerecht und vernünftig, daß der Geistliche, der die göttlichen Saiten zum Schwingen bringen kann, der geheime Ratgeber, der den Schlüssel des Gewissen hält, mehr sei als Vater, mehr als Gatte.

In einem Sinne war das Christentum eine Reaktion gegen die zu beengende Verfassung der Familie in der arischen Rasse. Nicht nur, daß die alten arischen Gesellschaften den verheirateten Mann kaum aufnahmen, sie faßten auch die Ehe im strengsten Sinne auf. Es war etwas Ähnliches wie das englische Familienleben, ein enger, abgeschlossener, bedrückender Kreis, ein Egoismus Mehrerer, der die Seele ebenso ausdörrt wie der Egoismus des Einzelnen. Das Christentum mit seinen göttlichen Begriffen von der Freiheit des Reiches Gottes verbesserte diese Übertreibungen; und vom Beginn her hütete es sich, die gemeinschaftlichen Pflichten der Menschen durchaus auf allen lasten zu lassen. Es sah ein, daß die Familie nicht der absolute Rahmen des Lebens ist, oder wenigstens ein Rahmen für alle; daß die Pflicht der Fortpflanzung des Menschengeschlechts nicht auf allen lasten muß; daß es auch Menschen giebt, die von dieser zweifellos heiligen, aber doch nicht für alle geltende Pflicht befreit sind. Die Ausnahme, welche die griechische Gesellschaft zu gunsten der Hetären von der Art einer Aspasia machte, welche die italienische Gesellschaft für die cortigiani von der Art einer Imperia machte, der Bedürfnisse einer verfeinerten Gesellschaft wegen – dieselbe Ausnahme machte das Christentum für den Priester, die Nonne, die Diakonissin im Hinblick auf das allgemeine Wohl. Es ließ in der Gesellschaft verschieden Zustände herrschen. Es giebt Seelen, die es süßer finden, sich zu fünfhundert zu lieben, als zu fünf oder sechs; für diese scheint die Familie nach ihrem gewöhnlichen Begriffe ungenügend, kalt, langweilig. Warum sollte man die Ansprüche unserer verdunkelten und mittelmäßigen Gesellschaft auf alle ausdehnen? Die zeitliche Familie genügt nicht dem Menschen. Er braucht auch Brüder und Schwestern außerhalb des Fleisches.

Durch ihre Hierarchie der verschiedenen gesellschaftlichen Funktionen (1. Kor. XII ganz) schien die ursprüngliche Kirche für einen Augenblick diese entgegenstehenden Forderungen zu vereinen. Wir werden nie begreifen können, wie glücklich man unter diesen heiligen Regeln war, welche die Freiheit stützten, ohne sie zu bedrücken, und gleichzeitig die Annehmlichkeiten des gemeinsamen Lebens mit dem des privaten möglich machten. Es war das Gegenteil des Mischmasch unserer gekünstelten, liebelosen Gesellschaften, wo sich die fühlende Seele oft so grausam vereinzelt fühlt. In diesen kleinen Winkeln, die man Gemeinden nannte, war die Atmosphäre warm und sanft. Man lebte vereint in demselben Glauben und in demselben Hoffen. Aber es ist auch klar, daß diese Bedingungen nicht auf eine große Gesellschaft Anwendung finden können. Als ganze Länder christlich wurden, da wurde diese Regel der ersten Kirchen zu einer Utopie und flüchtete sich in die Klöster. Das Klosterleben in diesem Sinne ist nur die Fortsetzung der ursprünglichen Kirche.Die pietistischen Verbindungen in Amerika, die im Protestantismus analog den katholischen Klöstern sind, erinnern gleichfalls durch viele Züge an die ursprünglichen Gemeinden. Vgl. Bridel » Récits americains « Lausanne 1861. Das Kloster ist die notwendige Folge des christlichen Geistes; ohne Kloster giebt es kein vollkommenes Christentum, weil das evangelische Ideal einzig nur hier sich verwirklichen kann.

Bei diesen großen Schöpfungen muß sicherlich ein beträchtlicher Teil dem Judentum zuerkannt werden. Jede dieser an den Küsten des Mittelländischen Meeres verstreut gelegenen jüdischen Gemeinden war schon eine Art Kirchengemeinschaft mit einer Kasse zur gegenseitigen Unterstützung. Das Almosenspenden, von den Weisen stets empfohlen,Sprüche Sal. III, 27 etc., X, 2, XI, 4, XXII, 9, XXVIII, 27; Pred. Sal. III, 23 etc., VII, 36, XII, 1, XVIII, 14, XX, 13, XXXI, 11; Tob. II, 15, 22, IV, 11, XII, 9, XIV, 11; Dan. IV, 24; Talm. von Jerus. Peah 15 b. war zur Vorschrift geworden; es erfolgte im Tempel und in den Synagogen (Matth. VI, 2; Mischna, Schekalim V, 6; Talm. von Jerus. Demaï 23 b.); es galt als die erste Pflicht des Proselyten (Apostelg. X, 2, 4, 31). Zu allen Zeiten hat sich das Judentum durch seine Vorsorge für die Armen und durch das Gefühl brüderlicher Barmherzigkeit ausgezeichnet.

Es ist ein hohes Unrecht, das Christentum dem Judentum als ein Vorwurf gegenüber zu stellen; denn alles, was sich in dem ursprünglichen Christentum befand, stammte aus dem Judentum. Wenn man an die römische Welt denkt, ist man erstaunt über die Wunder an Barmherzigkeit und freier Verbindung, die durch die Kirche vollbracht wurden. Niemals hat eine profane Gesellschaft, die nur die Vernunft als Grundlage anerkennt, so wundervolle Wirkungen hervorgebracht. Das Gesetz jeder profanen philosophischen Gesellschaft – wenn ich es so nennen darf – ist die Freiheit, zuweilen auch die Gleichheit, aber niemals die Brüderlichkeit. Die Barmherzigkeit, vom Gesichtspunkt des Rechts betrachtet, hat nichts Verpflichtendes an sich; sie beachtet nur das Individuum; man findet selbst bei ihr gewisse Unzukömmlichkeiten und man mißtraut ihr. Jeder Versuch, öffentliche Gelder für das Wohl der Proletarier zu verwenden, scheint Kommunismus zu sein. Wenn ein Mensch vor Hunger stirbt; wenn ganze Klassen im Elend schmachten – so beschränkt sich die Politik darauf, dies für sehr arg zu finden. Sie zeigt recht gut, daß es keine bürgerliche und politische Ordnung ohne Freiheit geben kann; nun ist aber die Folge der Freiheit, daß derjenige, der nichts hat und nichts erwerben kann, vor Hunger stirbt. Das ist wohl logisch, aber nichts widersteht dem Mißbrauch der Logik. Die Bedürfnisse der zahlreichsten Klasse endigen immer durch einen Aufstand. Die rein politischen und bürgerlichen Institutionen genügen nicht; die socialen und religiösen Bestrebungen haben auch ein Recht auf legitime Befriedigung.

Der Ruhm des jüdischen Volkes ist, dieses Prinzip ausdrucksvoll verkündet zu haben, aus dem der Ruin der alten Staaten erwuchs und das nicht mehr entwurzelt werden kann. Das jüdische Gesetz ist social und nicht politisch; die Propheten, die Verfasser der Offenbarungen sind die Anstifter socialer und nicht politischer Revolutionen. In der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts haben die Juden, der profanen Civilisation gegenüberstehend, nur einen einzigen Gedanken gehabt: die Wohlthaten des römischen Rechts zurückzuweisen, dieses philosophischen, atheistischen, für alle gleichen Rechts und die Trefflichkeit ihres theokratischen Gesetzes zu verkünden, das eine sittliche und religiöse Gesellschaft bildet. Das Gesetz macht das Glück: das ist die Idee aller jüdischen Denker, wie Philo und Josephus. Die Gesetze der anderen Völker wachen darüber, daß die Gerechtigkeit ihren Lauf nehme; wenig liegt daran, daß die Menschen gut und glücklich seien. Das jüdische Gesetz jedoch steigt bis zu den geringsten Einzelheiten der sittlichen Erziehung hinab. – Das Christentum ist nichts anderes als die Entwicklung desselben Gedankens. Jede Gemeinde ist ein Kloster, worin alle das Recht auf alles haben, wo es keine Armen und keine Bösen geben darf, wo sich folglich alle bewachen, alle sich befehlen. Das ursprüngliche Christentum läßt sich als eine große Verbindung von Armen definieren, als eine heldenhafte Bemühung gegen den Egoismus, auf den Gedanken begründet, daß jeder nur ein Recht auf das Notwendige habe, daß das Überflüssige denen gehöre, die nichts haben. Es läßt sich leicht erkennen, daß zwischen einem derartigen Geist und dem römischen Geist ein Kampf auf Leben und Tod entstehen muß, und daß das Christentum zur Weltherrschaft nur unter der Bedingung gelangen kann, daß es seine angeborenen Tendenzen und sein ursprüngliches Programm gründlich abändere.

Doch die Bedürfnisse, die es vertritt, werden ewig dauern. Von der zweiten Hälfte des Mittelalters an hat das gemeinschaftliche Leben dem Mißbrauch einer intoleranten Kirche gedient; das Kloster war nur zu oft ein Feudallehn oder die Kaserne einer gefährlichen und fanatischen Kriegerschaft; der moderne Geist hat sich hinsichtlich des Klosterwesens sehr streng erwiesen. Wir haben vergessen, daß es dieses gemeinschaftliche Leben ist, in welchem die Menschenseele die größte Freude verkostet hat. Das Lied: »Siehe wie fein und lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig beisammen wohnen« (Psalm 133) hat aufgehört unser zu sein. Wenn aber der moderne Individualismus seine letzten Früchte getragen haben wird; wenn die vergrämte, betrübte, ohnmächtig gewordene Menschheit zu den großen Institutionen und kräftigen Lehren zurückkehren wird; wenn unsere kleinliche bürgerliche Gesellschaft, nein! unsere Pygmäenwelt mit Peitschenhieben durch die heroischen und idealistischen Teile der Menschheit gejagt sein wird: dann wird das gemeinschaftliche Leben seinen vollen Wert wieder erhalten. Eine Menge großer Dinge, wie die Wissenschaft, wird sich klösterlich organisieren, mit Erbberechtigung außerhalb des Blutes. Die Wichtigkeit, die unsere Zeit der Familie beimißt, wird sich verringern. Die Selbstsucht, das wesentliche Gesetz der bürgerlichen Gesellschaft, wird den großen Seelen nicht genügen. Man wird den Sinn der Worte Jesu und der Ideen des Mittelalters über die Armut wiederfinden. Man wird verstehen, daß der Besitz für etwas Untergeordnetes gelten kann, und daß die Begründer des mystischen Lebens durch Jahrhunderte die Frage erörtern konnten, ob Jesus wenigstens »die Dinge, die sich im Gebrauch abnützen«, besessen habe. Diese franziskanischen Subtilitäten werden sich zu großen socialen Problemen erneuern. Das von dem Verfasser der Apostelgeschichte vorgezeichnete glänzende Ideal wird wie eine prophetische Offenbarung als Aufschrift über dem Eingang des Paradieses der Menschheit stehen: »Die Menge der Gläubigen aber hatte ein Herz und eine Seele und keiner von ihnen sagte von den Gütern, daß sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein. Auch war keiner unter ihnen, der Mangel hatte, denn wie viele auch ihrer waren, die Acker und Häuser besaßen, verkauften sie dieselben und brachten das Geld des verkauften Guts und legten es den Aposteln zu Füßen, und man gab jeglichem, was nötig war. Und sie brachen täglich das Brot in voller Eintracht, mit Freude und einfältigem Herzen« (Apostelg. II, 44–47, IV, 32–35).

Doch eilen wir nicht der Zeit voraus! Wir sind etwa bis zum Jahre 36 gelangt. Tiberius auf Capri hatte keine Ahnung von dem Feinde, der dem Reiche heranwuchs. In zwei, drei Jahren hatte die neue Sekte erstaunliche Fortschritte gemacht. Sie zählte mehrere tausend Gläubige (Apostelg. II, 41). Es war bereits leicht zu erkennen, daß ihre Eroberungen hauptsächlich nach der Seite der Hellenisten und Proselyten stattfinden würden. Die galiläische Gruppe, die den Meister vernommen hatte, bewahrte wohl ihre erste Stelle, aber sie wurde wie ertränkt von der Flut der griechisch sprechenden Neuangekommenen. Man fühlte bereits, daß diesen die Hauptrolle zufallen werde. Zur Stunde, in der die Darstellung sich befindet, ist noch kein Heide, das heißt kein Mensch, der nicht früher mit dem Judentum verbunden war, der Kirche beigetreten. Aber die Proselyten (s. Seite 123, 129) verrichteten hier sehr wichtige Funktionen. Der Kreis der Herkunft der Jünger hatte sich auch sehr erweitert. Es ist nicht mehr das kleine Kollegium aus Palästina; man zählte hier Leute aus Cypern, Antiochien, Cyrene (Apostelg. VI, 5, XI, 20). überhaupt fast von allen Punkten der östlichen Küsten des Mittelmeeres, wo jüdische Kolonien sich festgesetzt hatten. Ägypten allein war in dieser ursprünglichen Kirche nicht vertreten und sollte noch lange darin fehlen. Die Juden dieses Landes waren fast im Schisma mit Judäa. Sie lebten in ihrer eigenen Weise, in manchem denen von Palästina überlegen, und empfingen nur schwach den Widerschlag der religiösen Bewegungen zu Jerusalem.


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