Ernest Renan
Die Apostel
Ernest Renan

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Achtes Kapitel.

Erste Verfolgungen. – Tod des Stephanus. – Zerstörung der ersten Gemeinde von Jerusalem.

Es war unvermeidlich, daß die Predigten der neuen Sekte, selbst wenn sie mit großer Zurückhaltung erfolgten, den Zorn erweckten, der sich gegen den Gründer gesammelt hatte, und der auch dessen Tod herbeigeführt. Die sadducäische Familie von Hannas, die Jesus töten ließ, regierte noch immer. Joseph Kaiphas nahm bis zum Jahre 36 das Hohepriesteramt ein, dessen wirkliche Macht er seinem Schwiegervater Hannas und seinen Verwandten Johannes und Alexander überließ (Apostelg. IV, 6. S. »Leben Jesu« Seite 283). Diese anmaßenden und mitleidlosen Männer sahen mit Ungeduld, wie eine Schar guter und frommer Leute, ohne Amtstitel, die Gunst der Menge gewannen (Apostelg. IV, 1–31, V, 17–41). Ein- oder zweimal wurden Petrus, Johannes und andere Hauptglieder des apostolischen Kollegiums ins Gefängnis geworfen und zur Geißelung verurteilt. Es war dies die für Ketzer bestimmte Züchtigung. Die Erlaubnis der Römer war zu deren Anwendung nicht nötig. Wie sich wohl denken läßt, hatten diese Brutalitäten nur die Wirkung, den Eifer der Apostel zu vermehren. Sie entfernten sich von dem Sanhedrin, wo sie die Geißelung empfangen hatten, voll Freude, ein Leid für den, welchen sie liebten, erduldet zu haben (Apostelg. V, 41). Ewige Kinderei, diese körperlichen Strafen für Dinge, welche die Seele betreffen! Sie galten zweifellos als Ordnungsmänner, als Muster der Klugheit und Weisheit, jene Thoren, die im Jahre 36 ernstlich wähnten, das Christentum mit einigen Peitschenhieben zur Raison gebracht zu haben.

Diese Gewaltthaten gingen hauptsächlich von den Sadducäern aus (Apostelg. IV, 5–6, V, 17. Vgl. Jak. II, 6), d. h. von der hohen Geistlichkeit, die den Tempel umgab und aus ihm einen immensen Gewinn zog (Γένος άρχιερατικόν Apostelg. I. c ; άρχιερερετς; in Jos. Ant . XX, 8, 8 ). Es ergiebt sich nicht, daß die Pharisäer gegen die Sekte jene Feindseligkeit entwickelt hätten, die sie Jesus gegenüber gezeigt haben. Die neuen Gläubigen waren fromme, strenge Leute, die in ihrer Lebensweise den Pharisäern selbst ziemlich nahe kamen. Die Wut, welche letztere gegen den Gründer fühlten, kam von der Überlegenheit Jesu her, die dieser zu verbergen nicht bemüht war. Sein feiner Spott, sein Geist, seine Liebenswürdigkeit, sein Widerwille gegen Frömmler hatte jenen wilden Haß entzündet. Den Aposteln dagegen mangelte der Geist; sie wandten nie die Ironie an. Die Pharisäer waren ihnen zuweilen sogar günstig gesinnt und mehrere ihrer wurden Christen (Apostelg. XV, 5, XXI, 20). Die fürchterlichen Flüche Jesu gegen die Pharisäer waren noch nicht verzeichnet und die Überlieferung der Worte des Meisters war weder allgemein noch gleichlautend.Fügen wir noch dazu, daß die gegenseitige Abneigung zwischen Jesus und den Pharisäern von den Synoptikern etwas übertrieben worden zu sein scheint, vielleicht der Ereignisse wegen, die bei dem großen Kriege die Flucht der Christen nach dem jenseitigen Ufer des Jordans herbeiführten. Man kann nicht leugnen, daß Jakobus, Bruder des Herrn, fast ein Pharisäer war.

Diese ersten Christen waren übrigens so harmlose Leute, daß mehrere Mitglieder der jüdischen Aristokratie, ohne gerade der Sekte sich anzuschließen, ihnen wohlgesinnt waren. Nikodemus und Joseph von Arimathia, die Jesus gekannt hatten, blieben zweifellos mit der Kirchengemeinde in brüderlicher Verbindung. Der berühmteste jüdische Gelehrte jener Zeit, Rabbi Gamaliel der Ältere, ein Enkel Hillels, ein Mann von weitem Gesichtskreis und sehr freisinnigen Anschauungen, soll, wie erzählt wird, im Sanhedrin zu gunsten der Freiheit evangelischer Lehren aufgetreten sein (Apostelg. V, 34). Der Verfasser der Apostelgeschichte unterstellt ihm eine treffliche Äußerung, die von jeder Regierung gegenüber neuen Erscheinungen auf intellektuellem oder moralischem Gebiete angewendet werden sollte: »Ist es Menschenwerk, so wird es vergehen; ist es aber von Gott, so könnt ihr ihm nicht widerstehen, damit ihr nicht erscheinet, als ob ihr wider Gott streiten wollet.« Gamaliel fand wenig Gehör. Die freisinnigen Geister hatten inmitten eines gegnerischen Fanatismus keine Aussicht auf Erfolg.

Ein fürchterlicher Ausbruch wurde durch den Diakon Stephanus hervorgerufen (Apostelg. VI, 8, VII, 59). Es scheint, daß seine Predigten großen Erfolg hatten. Die Menge scharte sich um ihn, und diese Ansammlungen endigten stets mit lebhaften Streitigkeiten. Hauptsächlich waren es die Hellenisten oder die Proselyten, die sich gewöhnlich in der Synagoge der »Libertini« aufhielten (wahrscheinlich Abkömmlinge der nach Rom als Sklaven fortgeführten und später freigelassenen Juden. Philio Leg. ad Caium § 23; Tacit. Ann. II, 85), Leute aus Cyrene, Alexandria, Cilicien und Ephesus, die sich bei diesen Wortgefechten erregten. Stephanus hielt leidenschaftlich daran fest, daß Jesus der Messias gewesen sei, daß die Priester ein Verbrechen begangen hätten, indem sie ihn zum Tod verurteilten, daß die Juden Rebellen seien, Söhne von Rebellen, die das Erwiesene verleugneten. Die Behörden beschlossen, diesen kühnen Redner zu vernichten. Zeugen wurden ausgesendet, um in seinen Worten irgendetwas gegen das Gebot Moses festzustellen. Natürlich fanden sie, was sie suchten. Stephanus wurde verhaftet und dem Sanhedrin vorgeführt. Das Wort, welches ihm zum Vorwurf gemacht wurde, war fast dasselbe, was die Verurteilung Jesu herbeigeführt hatte (s. »Leben Jesu« 24. Kap.). Man beschuldigte ihn, gesagt zu haben, daß Jesus von Nazareth den Tempel zerstören und die Moses zugeschriebenen Traditionen ändern werde. Es ist in der That leicht möglich, daß Stephanus eine solche Rede geführt habt. Einem Christen dieser Epoche könnte es nicht eingefallen sein, direkt gegen das Gesetz zu sprechen, das alle noch beobachteten. Was aber die Traditionen betrifft, so konnte sie Stephanus bekämpfen, wie es Jesus selbst gethan hatte. Indes wurden diese Traditionen von den Orthodoxen thörichterweise auf Moses zurückgeführt, und man schrieb ihnen einen gleichen Wert zu wie der Schrift selbst (Matth. XV, 2 etc.; Mark. VII, 3; Gal. I, 14).

Stephanus verteidigte sich damit, daß er die christliche Lehre mit einem großen Aufwand von Anführungen aus den Gesetzen, den Psalmen und den Propheten nachwies; und er schloß damit, daß er den Mitgliedern des Sanhedrin den Mord von Jesus vorwarf. »Ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herzen und Ohren,« rief er ihnen zu, »ihr widerstrebt allzeit dem Heiligen Geist, ihr, wie eure Väter. Welche Propheten haben eure Väter nicht verfolgt und getötet, die da verkündet haben die Ankunft des Gerechten, an dem ihr Verräter und Mörder geworden seid! Ihr habt das Gesetz empfangen aus der Engel Mund und habt es nicht gehalten.«Vgl. Gal. III, 19; Hebr. II, 2; Jos. Ant. XV, 5, 3 . Man glaubte, Gott selbst habe sich nicht in den Theophanien des Alten Gesetzes gezeigt, jedoch habe er an seine Stelle eine Art Vermittler, den »Maleak Jehovah«, eingesetzt. Vgl. in den hebr. Wörterbüchern das Wort מלאד Ein Wutschrei unterbrach diese Worte des Stephanus. Er jedoch war immer erregter geworden und verfiel in einen jener Anfälle von Begeisterung, die Eingebungen des Heiligen Geistes genannt wurden. Seine Augen starrten in die Höhe; er sah die Glorie Gottes und Jesus an der Seite seines Vaters und er rief aus: »Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen!« Alle Anwesenden verstopften sich die Ohren und warfen sich zähnefletschend auf ihn. Man schleppte ihn aus der Stadt und steinigte ihn. Die Zeugen, welche nach dem Gesetze die ersten Steine auf ihn werfen sollten (5. Mos. XVII, 7), zogen ihre Kleider aus und legten sie zu Füßen eines jungen Fanatikers Namens Saul oder Paul, der mit innerlicher Freude des Verdienstes gedachte, das er sich erwarb, indem er an der Tötung eines Gotteslästerers teilnahm (Apostelg. VII, 59, XXII, 20, XXVI, 10).

In alledem wurde buchstäblich das Wort der Schrift (2. Mos. XIII) beobachtet. Allein vom Standpunkt des bürgerlichen Gesetzes aus betrachtet war diese lärmhafte Vollstreckung eines Todesurteils ohne Beistand der Römer nicht regelrecht (Joh. XVIII, 31). Was Jesus betrifft, so haben wir gesehen, daß das Urteil die Bestätigung des Prokurators brauchte. Vielleicht wurde eine Bestätigung auch hinsichtlich des Stephanus erlangt, und die Exekution folgte nicht so unmittelbar dem Urteile, wie es der Erzähler der Apostelgeschichte darstellt. Vielleicht auch, daß die römische Autorität in Judäa schlaffer geworden war. Pilatus war seines Amtes enthoben, oder doch nahe daran. Die Ursache dessen war eben die Straffheit, die er in seiner Verwaltung gezeigt hatte (Jos. Ant . XVIII, 4, 2 ). Der jüdische Fanatismus hatte ihm das Leben unerträglich gemacht. Vielleicht war er es müde, diesen Tobenden die geforderten Gewaltthaten zu verweigern, und die stolze Familie des Hannas war schon dahin gelangt, zur Fällung eines Todesurteils nicht mehr eine Erlaubnis nötig zu haben. Lucius Vitellius – der Vater dessen, der Kaiser wurde – war damals kaiserlicher Legat in Syrien. Er suchte die Gunst der Bevölkerung zu gewinnen und ließ auch den Juden die Gewänder des Hohenpriesters zurückgeben, die seit Herodes dem Großen in dem Turm Antonia aufbewahrt worden sind (Jos. Ant . XV, 11, 4 , XVIII, 4, 2 . Vgl. XX, 1, 1, 2 ). Fern davon, Pilatus in seiner Strenge zu unterstützen, gab er den Beschwerden der Eingeborenen Recht und schickte Pilatus nach Rom, damit er sich dort gegen die Anklagen seiner Untergebenen verantworte (anfangs des Jahres 36). Ihre Hauptbeschwerde war, daß der Prokurator ihrem unduldsamen Verlangen nicht genug entgegenkommend gewesen sei. (Der ganze Prozeß Jesu beweist dies. Vgl. Apostelg. XXIV, 27, XXV, 9.) Vitellius setzte provisorisch als Stellvertreter seinen Freund Marcellus ein, der zweifellos mehr bedacht darauf war, die Juden nicht unzufrieden zu machen und folglich eher ihre Religionsmorde zuließ. Der Tod des Tiberius (16. März 37) mochte Vitellius in dieser Politik nur bestärken. Die beiden ersten Regierungsjahre Caligulas waren eine Periode allgemeiner Schwächung der römischen Autorität in Syrien. Die Politik dieses Fürsten, bevor er wahnsinnig wurde, war, den Völkern des Orients ihre Autonomie und ihre eingeborenen Fürsten wiederzugeben. Darum errichtete er die Königreiche oder Fürstentümer des Antiochus von Commagene, des Herodes Agrippa, des Socheym, des Kotys, des zweiten Polemon, und ließ das des Hareth vergrößern. (Suet. Caius 16; Dio Cassius LIX, 8, 12; Jos. Ant . XVIII, 5, 3 , 6, 10 ; 2. Kor. XI, 32.) Als Pilatus in Rom anlangte, fand er die neue Regierung schon begonnen. Es ist wahrscheinlich, daß Caligula ihm Unrecht gab, da er die Regierung von Jerusalem einem neuen Funktionär, Marullus, anvertraute, der seitens der Juden nicht so heftigen Anklagen ausgesetzt gewesen zu sein scheint, welche den armen Pilatus in Verlegenheit brachten und ihn mit Verdruß erfüllten. (Ventidius Cumanus hatte ganz ähnliche Schicksale erlebt. Freilich übertreibt Josephus, wenn er von der Ungnade aller, die seinem Volke entgegen waren, spricht.)

Was jedenfalls wichtig zu bemerken, ist, daß in der Zeit, von der hier die Rede ist, nicht die Römer die Verfolger des Christentums sind, sondern die orthodoxen Juden. Die Römer beobachteten inmitten dieses Fanatismus die Grundsätze der Toleranz und der Vernunft. Wenn etwas den kaiserlichen Behörden zum Vorwurf gemacht werden kann, so ist es, daß sie zu schwach waren und nicht vom Beginn her die bürgerlichen Folgen eines Blutgesetzes gehemmt haben, das die Todesstrafe für religiöse Vergehen befahl. Doch die römische Herrschaft war damals noch keine vollkommene Macht, wie sie es später wurde; sie bildete eine Art Protektorat oder Suzeränetät. Man ging mit der Nachgiebigkeit so weit, auf die Münzen, die unter den Landpflegern geschlagen wurden, nicht den Kopf des Kaisers zu setzen, nur um nicht bei den jüdischen Ideen Anstoß zu erregen (Madden, Hist. of Jewish Coinage S. 134 etc.). Rom versuchte damals noch nicht, wenigstens nicht im Orient, den besiegten Völkern seine Gesetze, seine Götter, seine Sitten aufzuzwingen; es ließ sie bei ihren örtlichen Bräuchen, die außerhalb des römischen Rechts sich befanden. Ihre halbe Unabhängigkeit war nur ein Zeichen mehr ihrer Schwäche. Die kaiserliche Macht im Orient glich in dieser Epoche so ziemlich der türkischen Herrschaft, und der Zustand der Eingeborenen dem der Rajahs. Der Begriff gleicher Rechte und gleicher Bürgschaften für alle existierte nicht. Jede Provinzialgruppe hatte ihre Jurisdiktion, wie heutigentags die verschiedenen christlichen Kirchen und die Juden im ottomanischen Reiche. Es sind erst wenige Jahre her, daß in der Türkei die Patriarchen der verschiedenen Rajahgemeinden, wenn sie sich nur einigermaßen mit der Pforte verständigten, hinsichtlich ihrer Untergebenen souverän waren und gegen sie die grausamsten Strafen verhängen konnten.

Das Todesjahr des Stephanus schwankt zwischen 36–38; man weiß daher nicht, ob Kaiphas die Sache zu verantworten hat. Kaiphas wurde von Lucius Vitellius im Jahre 36, kurz nach dem Abgang des Pilatus, abgesetzt (Jos. Ant . XVIII, 4, 3 ); allein der Wechsel war nicht bedeutsam. Er hatte zum Nachfolger seinen Schwager Jonathan, Sohn des Hanan. Dieser wieder hatte zum Nachfolger seinen Bruder Theophil, Sohn des Hanan (Jos. Ant . XVIII, 5, 3 ), der das Pontifikat dem Hause Hanan bis zum Jahre 42 bewahrte. Hanan lebte noch und als eigentlicher Machthaber hielt er in seiner Familie die Prinzipien des Stolzes, der Härte und des Hasses gegen die Neuerer aufrecht, die in ihr gewissermaßen erblich waren.

Der Tod des Stephanus übte einen bedeutenden Eindruck aus. Die Proselyten nahmen unter Thränen und Seufzern sein Begräbnis vor. (Apostelg. VIII, 2. Die Worte άνήρ ευλαβής bezeichnen einen Proselyten und nicht einen Juden reiner Rasse. Vgl. Apostelg. II, 5). Die Trennung zwischen den neuen Sektirern und dem Judentum war noch nicht gänzlich erfolgt. Die Proselyten und Hellenisten, weniger streng in der Orthodoxie als die reinen Juden, hielten sich verpflichtet, öffentliche Huldigungen einem Menschen zu widmen, der ihre Körperschaft ehrte und dessen besondere Glaubensansichten ihn nicht außerhalb des Gesetzes stellten.

So eröffnete sich die Ära christlicher Märtyrer. Das Märtyrertum war keine ganz neue Sache. Ohne von Johannes dem Täufer und Jesus zu reden, hatte das Judentum in der Epoche des Antiochus Epiphanes seine bis zum Tod getreuen Zeugen. Aber die Reihe der mutigen Opfer, die sich mit Stephanus eröffnete, hat auf die Geschichte des menschlichen Geistes einen besonderen Einfluß ausgeübt. Sie führte in der occidentalen Welt ein Element ein, das ihr fehlte: den ausschließlichen und absoluten Glauben, den Gedanken, daß nur eine einzige Religion gut und wahr ist. In diesem Sinne haben die Märtyrer die Ära der Intoleranz eröffnet. Mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit läßt sich behaupten, daß der, welcher sein Leben für seinen Glauben hingiebt, als Herrschender sich unduldsam erweisen werde. Das Christentum, das drei Jahrhunderte der Verfolgungen durchlitten, wurde, zur Herrschaft gelangt, ein ärgerer Verfolger als es irgendeine Religion gewesen war. Wenn man sein Blut für eine Sache vergossen hat, ist man nur zu geneigt, das Blut anderer zur Erhaltung des eroberten Schatzes zu vergießen.

Übrigens war der Mord des Stephanus keine vereinzelte Thatsache. Die Schwäche der römischen Beamten benutzend, ließen die Juden eine wahre Verfolgung auf der Kirchengemeinde lasten.Apostelg. VIII, 1., XI, 19. Apostelg. XXVI, 10 ließe annehmen, daß noch andere Tötungen außer der des Stephanus stattgefunden hätten. Allein man darf bei einer so unbestimmten Ausdrucksweise von den Worten keinen übermäßigen Gebrauch machen. Vgl. Apostelg. IX, 1, 2 mit XXII, 5 und XXVI, 12. Es scheint, daß diese Verfolgungen hauptsächlich gegen die Hellenisten und Proselyten gerichtet waren, deren freies Gehaben die Orthodoxen außer sich brachte. Die Gemeinde von Jerusalem, die bereits so stark organisiert war, mußte sich nun zerstreuen. Die Apostel, einem Grundsatze gemäß, der in ihrem Geiste gefestigt gewesen zu sein scheint (vgl. Apostelg. I, 4, VIII, 1,14, Gal. I, 17etc.), verließen nicht die Stadt. Dasselbe ist auch wahrscheinlich von jener Gruppe reinblütiger Juden, die »Hebräer« genannt wurden.Apostelg. IX, 26–30 beweist in der That, daß im Sinne des Autors die Ausdrücke in VIII, 1 nicht so absolut gelten, wie es scheinen mag. Allein die große Gemeinschaft mit ihren gemeinsamen Mahlzeiten, ihren Diakonendiensten, ihren verschiedenen Übungen hörte von dieser Zeit an auf zu sein, um sich nie wieder nach seinem ersten Vorbild zu erneuern. Sie währte drei oder vier Jahre. Es war für das werdende Christentum ein großes, unvergleichliches Glück, daß seine ersten wesentlich kommunistischen Verbindungsversuche so bald zerstört wurden. Derartige Versuche bringen so anstößige Mißbräuche mit sich, daß die kommunistischen Anstalten verdammt sind, in kurzer Zeit zusammenzubrechen (wie es bei den Essäern erfolgte), oder bald das Prinzip, welches sie geschaffen hat, zu verkennen (wie es bei den Franziskanern erfolgte). Dank der Verfolgung vom Jahre 37 wurde der klösterlichen Gemeinde von Jerusalem die Zeitprobe erspart. Sie fiel in ihrer Blüte, bevor die inneren Schwierigkeiten sie untergraben konnten. Sie blieb als ein glänzender Traum zurück, dessen Erinnerung in ihrem Prüfungsleben alle, die daran teilgenommen hatten, beseelte, als ein Ideal, nach welchem das Christentum unaufhörlich streben wird, ohne es jemals zu erreichen (1. Thess. II, 14). Wer da weiß, welch unermeßlichen Schatz die Erinnerung an Menilmontant für die Mitglieder der Saint-Simonistischen Gemeinde später noch bildete, welche Freundschaft sie zwischen ihnen schuf, welche Freude aus ihren Augen leuchtete, wenn man davon sprach – der wird die Macht des Bandes begreifen, das die neuen Brüder durch die Thatsache verband, daß sie vereint geliebt und gelitten hatten. Große Lebensläufe haben fast stets zur Grundlage einige Monate, in welchen man Gott fühlte, und deren Duft ausreichend ist, um Jahre mit Kraft und Sanftmut zu erfüllen.

Die Hauptrolle in den erwähnten Verfolgungen gehörte dem jungen Saulus, der, wie wir bereits gesehen haben, so viel er vermochte, zum Tode des Stephanus beitrug. Dieser Wüterich, ausgerüstet mit der Erlaubnis der Priester, drang in die Häuser, wo man Christen vermutete, bemächtigte sich gewaltsam der Männer und der Frauen und brachte sie ins Gefängnis oder vor das Tribunal (Apostelg. VIII, 3, IX, 13, 14, 21, 26, XXII, 4, 19, XXVI, 9 etc.; Gal. I, 13, 23; 1. Kor. XV, 9; Phil. III, 6; 1. Tim. I, 13). Saulus rühmte sich, daß kein Mensch seiner Zeit so eifrig wie er für die Tradition gewirkt habe (1. Gal. I, 14; Apostelg. XXVI, 5; Phil. III, 5). Oft wohl ließ ihn die Sanftmut und Resignation seiner Opfer erstaunen; er fühlte etwas wie Gewissensbisse; es dünkte ihn, er höre jene frommen, das Reich Gottes erhoffenden Frauen, die er ins Gefängnis werfen ließ, nächtlich mit sanfter Stimme ihm zurufen: »Warum verfolgst du uns?« Das Blut des Stephanus, das fast auf ihn gespritzt war, störte manchmal seinen Blick. Manches, was er von Jesus erzählen hörte, berührte sein Herz. Dieses übermenschliche Wesen in seinem ätherischen Leben, aus dem es manchmal heraustrat, um sich durch kurze Erscheinungen zu offenbaren, verfolgte ihn wie ein Gespenst. Aber Saulus wies mit Entsetzen solche Gedanken von sich; er festigte sich mit einer Art Wahnsinn in dem Glauben an seine Traditionen, und er sann auf neue Grausamkeiten für die, welche sie angriffen. Sein Name war der Schrecken der Gläubigen geworden; man befürchtete von ihm die grausamsten Gewaltthaten, die blutigste Niedertracht (Apostelg. IX, 13, 21, 26).


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