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Das erste Buch unserer »Geschichte der Anfänge des Christentums«»Das Leben Jesu« von Ernest Renan, Reclams Universal- Bibliothek Nr. 2921-23. führte die Ereignisse bis zu dem Tode und der Grablegung Jesu vor. Wir müssen nun den Gegenstand von jenem Punkte aufnehmen, wo wir ihn dort zurückgelassen haben, nämlich von Samstag, den 4. April des Jahres 33. Eine Zeitlang wird dies eine Art Fortsetzung des Lebens Jesu sein. Nächst den Monaten froher Begeisterung, während welcher der große Gründer die Grundsteine zu einer neuen Ordnung für die Menschheit legte, waren diese Jahre die entscheidendsten in der Geschichte der Welt. Wieder ist es Jesus, der durch das heilige Feuer, dessen Funken er in das Herz einiger Freunde verpflanzt hat, Institutionen von ganz besonderer Eigenart schafft, die Seelen bewegt, umgestaltet, und auf alles sein göttliches Siegel aufdrückt. Wir haben zu zeigen, wie unter diesem stets thätigen und über den Tod sieghaften Einfluß der Glaube an die Auferstehung, an den Einfluß des heiligen Geistes, an die Gabe der Sprachen und an die Macht der Kirche sich festsetzt. Wir werden die Organisation der Kirche von Jerusalem, ihre ersten Prüfungen, ihre ersten Eroberungen und die ältesten aus ihrem Schoße hervorgehenden Missionen darstellen. Wir werden dem Christentum in seinem raschen Fortschritte nach Syrien bis Antiochien folgen, wo sich eine zweite Hauptstadt bildet, wichtiger in gewissem Sinne als die von Jerusalem und bestimmt diese zu verdrängen. In diesem neuen Mittelpunkt, wo die bekehrten Heiden die Mehrheit bilden, werden wir sehen, wie das Christentum sich endgiltig vom Judentum trennt und einen Namen erhält; wir werden ferner noch den großen Gedanken von fernen Missionen zur Welt kommen sehen, die bestimmt sind, den Namen Jesu in die Welt zu tragen. Wir werden bei dem feierlichen Moment verweilen, in welchem Paulus, Barnabas, Johannes Markus zur Ausführung dieser großen Absicht fortziehen. Dann werden wir unsere Darstellung unterbrechen, um einen Blick auf die Welt zu werfen, welche diese kühnen Sendlinge zu bekehren unternehmen. Wir werden versuchen uns Aufschluß zu verschaffen über den geistigen, politischen, moralischen, religiösen und gesellschaftlichen Zustand des römischen Reiches gegen das Jahr 45, ein Zeitpunkt, in dem wahrscheinlich die Abreise Paulus zu seiner ersten Mission stattgefunden hat.
Dies ist der Gegenstand des zweiten Buches, das ich »Die Apostel« betitelt habe, weil es die Periode gemeinschaftlicher Thätigkeit schildert, während welcher die kleine durch Jesus geschaffene Familie vereint vorgeht und sich moralisch um einen einzigen Punkt, Jerusalem, gruppiert. Das nächste Buch, das dritte, wird uns aus diesem Kreise heraustreten lassen und uns fast nur den Mann zeigen, der mehr als jeder andere das erobernde und wandernde Christentum darstellt: den heiligen Paulus. Obgleich er sich von einem gewissen Zeitpunkt an den Titel eines Apostels beigelegt hatte, kam er ihm doch nicht so, wie den »Zwölf« zu; er ist ein Arbeiter zweiten Grades und fast ein Eindringling.Der Verfasser der Apostelgeschichte giebt Paulus kein einziges Mal den Titel eines Apostels. Dieser Titel wird von ihm ausschließlich nur für die Mitglieder des Hauptkollegiums von Jerusalem verwendet. Der Zustand, in welchem die geschichtlichen Schriften uns überliefert wurden, versetzt uns hier in eine gewisse Täuschung. Da wir unendlich mehr über Paulus als über die »Zwölf« wissen; da wir seine authentischen Schriften sowie ursprüngliche Mitteilungen von besonderer Genauigkeit über einige Epochen seines Lebens besitzen, so messen wir ihm eine Bedeutung ersten Ranges bei, welche die von Jesus fast überragt. Das ist ein Irrtum. Paulus ist ein großer Mann und er spielte bei der Gründung des Christentums eine der bedeutendsten Rollen. Er kann jedoch nicht mit Jesus, ja nicht einmal mit dessen unmittelbaren Jüngern verglichen werden. Paulus hatte Jesus nicht gesehen; er hatte nicht die Ambrosia der galiläischen Verkündungen gekostet. Der mittelmäßigste Mensch, der an dem himmlischen Manna teilgenommen hatte, war daher dem überlegen, der nur den Nachgeschmack zu verspüren bekam. Nichts ist unrichtiger als die heutigentags zur Mode gewordene Ansicht, wonach Paulus der wahre Gründer des Christentums wäre. Der wahre Begründer des Christentums war Jesus. Die ersten nachfolgenden Plätze müssen dann für jene großen, dem Dunkel entnommenen Genossen Jesu bewahrt bleiben, für jene treuen, leidenschaftlich ergebenen Freunde, die dem Tode zum Trotz an ihn glaubten. Paulus war im ersten Jahrhundert eine gewissermaßen vereinzelte Erscheinung. Er hinterließ keine organisierte Schule, er hinterließ im Gegenteil heftige Widersacher, die ihn nach seinem Tode gewissermaßen aus der Kirche bannen wollten und ihn mit Simon den Magier gleichstellten.S. die pseudo-clementinischen Homilien XVII, 13–19. Man nahm ihm was wir als sein eigenes Werk betrachten: die Bekehrung der Heiden;Justin. Apol . I, 39. In der Apostelgeschichte herrscht auch der Gedanke vor, daß Petrus der Heidenapostel gewesen sei, s. besonders Kap. X. Vergl. 1. Petr. I, 4. die Gemeinde von Korinth, die er allein gegründet hatte (I. Kor. III 6, 10, IV 14, 15, IX 1, 2; II. Kor. XI, 2 ec.), behauptete, ihren Ursprung ihm und dem heiligen Petrus zu verdanken.Brief von Dionys von Korinth, bei Eusebius Hist. eccl. II, 25. Im zweiten Jahrhundert erwähnen Papias und der heilige Justin nicht einmal seinen Namen. Später erst, als die mündliche Überlieferung ihren Wert verloren hatte, als die Schrift über alles galt, nahm Paulus in der christlichen Theologie eine Hauptstelle ein. Paulus hat in der That eine Theologie; Petrus und Maria Magdalena haben keine. Paulus hinterließ beträchtliche Werke; die Schriften der andern Apostel können den seinigen, weder was Wichtigkeit, noch was Authenticität betrifft, den Rang streitig machen. Auf den ersten Blick hin scheinen die Urkunden für die von diesem Band umfaßte Periode selten und völlig ungenügend zu sein. Die direkten Zeugnisse beschränken sich auf die ersten Kapitel der Apostelgeschichte, Kapitel, deren geschichtlicher Wert Anlaß zu ernsten Einwänden giebt. Aber das Licht, das auf diesen dunkeln Zeitraum von den letzten Kapiteln der Evangelien und besonders von den Episteln Pauli verbreitet wird, vermindert ein wenig diese Finsternis. Eine alte Schrift kann dazu dienen nicht nur die Zeit des Entstehens, sondern auch die vorhergegangene Epoche kennen zu lernen. Jede Schrift giebt in der That retrospektive Andeutungen über den Gesellschaftszustand, aus dem sie hervorgegangen ist. Die etwa in der Zeit vom Jahre 53 bis 62 verfaßten Episteln Pauli sind voll von Andeutungen über die ersten Jahre des Christentums. Da es sich übrigens hier um große Gründungen ohne bestimmte Daten handelt, so ist das Wesentlichste, die Bedingungen darzustellen, unter denen sie sich gebildet haben. Bei dieser Gelegenheit muß ich ein für allemal bemerken, daß die laufenden Jahreszahlen, die an der Spitze jeder Seite stehen, nie anders als »ungefähr« zu gelten haben. Die Chronologie dieser ersten Jahre giebt nur eine geringe Anzahl bestimmter Angaben. Indessen, dank der Sorgfalt des Verfassers der Apostelgeschichte, mit der er die Reihenfolge der Thatsachen sich nicht verschieben ließ; dank der Epistel an die Galater, in welcher sich einige höchst wertvolle Zahlenangaben befinden; dank dem Josephus, der uns die Daten von Geschehnissen der Profangeschichte in Verbindung mit einigen die Apostel betreffenden Thatsachen giebt – gelangt man dahin, für die Geschichte dieser letztem einen sehr wahrscheinlichen Rahmen zu erhalten, wo die Gelegenheit zum Irrtume zwischen ziemlich engen Grenzen sich bewegt.
An der Spitze dieses Buches wiederhole ich, was ich zum Beginn meines »Leben Jesu« bemerkt habe: In historischen Darstellungen dieser Art, wo einzig nur das Ganze gewiß ist und wo beinahe alle Einzelheiten zufolge des legendären Charakters der Urkunden mehr oder minder den Zweifel zulassen, ist die Hypothese unerläßlich. Für die Epochen, von denen wir gar nichts wissen, läßt sich keine Hypothese aufstellen. Der Versuch eine Gruppe antiker Statuen darzustellen, die zweifellos vorhanden war, wovon uns jedoch auch keine Trümmer überliefert wurden und auch keine schriftliche Schilderung vorhanden ist, würde ein ganz willkürliches Werk ergeben. Allein der Versuch, die Giebeltafeln des Parthenon mit den Überresten unter Benutzung des alten Textes, der im 17. Jahrhundert angefertigten Zeichnungen, mit allen Mitteln, kurz gesagt, zu denen der Stil dieser unnachahmlichen Bruchstücke begeistert, und das Streben erweckt, Seele und Leben dessen zu erfassen – mit alledem sie wieder herzustellen: was wäre berechtigter als das? Allerdings ließe sich dann nicht sagen, man habe das Werk des alten Bildhauers aufgefunden; allein es wurde doch das gethan, was nötig ist, dem näher zu kommen. Ein solcher Vorgang ist in der Geschichtschreibung viel berechtigter, denn die Sprache erlaubt zweifelhafte Formen, die der Marmor nicht zuläßt. Es ist sogar kein Hindernis vorhanden, dem Leser die Wahl zwischen verschiedenen Annahmen zu lassen. Das Gewissen des Schriftstellers kann beruhigt sein, wenn er das Gewisse als gewiß, das Wahrscheinliche als wahrscheinlich, und das Mögliche als möglich darbietet. In den Teilen, wo der Fuß zwischen Geschichte und Legende dahingleitet, ist es nur der allgemeine Eindruck, der beachtet werden muß. Unser drittes Buch, für das wir entschieden historische Urkunden besitzen, wo wir die Charaktere in kräftigen Strichen zeichnen und bestimmt ausgedrückte Thatsachen schildern werden, bietet eine viel kräftigere Erzählung. Man wird indessen sehen, daß im Ganzen genommen die Physiognomie dieser Periode nicht mit größerer Bestimmtheit bekannt ist. Die erfüllten Thatsachen sprechen viel lauter als die biographischen Einzelheiten. Wir wissen sehr wenig von den unvergleichlichen Künstlern, welche die Meisterwerke der griechischen Kunst geschaffen haben. Aber diese Meisterwerke bekunden uns viel mehr über die Persönlichkeiten der Verfertiger und über das Publikum, welches diese Werke zu würdigen verstand, als es die ausführlichsten Erzählungen, die authentischsten Schriften zu thun vermöchten.
Für die Kenntnis der entscheidenden Thatsachen, welche während der ersten Tage nach Jesus Tod sich ereignet hatten, sind die letzten Kapitel der Evangelien die Urkunden, die die Erscheinung des wieder erstandenen Christus enthalten.Zur Kenntnis der Sache und zur Vergleichung sei dem Leser empfohlen: Strauß, »Leben Jesu«, Abt. III, Kap. 4, 5, und sein »Neues Leben Jesu« I § 46; II § 97. Ich brauche hier wohl nicht zu wiederholen, was ich in der Einleitung meines »Leben Jesu« über den Wert solcher Dokumente bemerkt habe. Für diesen Teil haben wir glücklicherweise eine Kontrole, die uns im »Leben Jesu« oft genug gefehlt hat; ich spiele hier auf eine Hauptstelle bei Paulus an (I. Kor. XV, 5–8), die feststellt: erstens, die Wirklichkeit der Erscheinung, zweitens, im Gegensatz zu den Erzählungen der synoptischen Evangelien, die lange Dauer der Erscheinung, und drittens, entgegen Markus und Lukas, die Verschiedenheit der Örtlichkeiten, wo diese Erscheinungen stattgefunden haben. Das Studium dieses Grundtextes, verbunden mit vielen andern Gründen, bekräftigt mich in der Ansicht, die ich über die wechselseitigen Beziehungen der Synoptiker und des vierten Evangeliums ausgesprochen habe. Was die Erzählung der Auferstehung und der Erscheinungen betrifft, bewahrt das vierte Evangelium jene Superiorität, die es für den ganzen Rest des Lebens Jesu besitzt. Will man eine fortgesetzte logische Erzählung finden, die mit Wahrscheinlichkeit dasjenige zu mutmaßen erlaubt, was sich hinter den Illusionen verbirgt, so muß es hier gesucht werden. Ich komme nun dazu, die schwierigste der Fragen zu berühren, welche sich auf den Ursprung des Christentums beziehen: »Welches ist der historische Wert des vierten Evangeliums?« Der Gebrauch, den ich davon in meinem »Leben Jesu« gemacht habe, ist der Punkt, der den aufgeklärtesten Kritikern Anlaß zu den meisten Einwänden bot. Fast alle Gelehrten, die bei der Geschichte der Theologie die rationelle Methode anwenden, weisen das vierte Evangelium als in jeder Hinsicht apokryphisch zurück. Ich habe neuerdings über dieses Problem viel nachgedacht und ich konnte in gar keiner bemerkenswerten Weise meine erste Meinung abändern. Nur weil ich mich hinsichtlich dieses Punktes von dem allgemeinen Gefühl trenne, habe ich es mir zur Pflicht gemacht, die Gründe meiner Beharrlichkeit in ihren Einzelheiten darzustellen. Ich werde diesen Gegenstand in einem Anhang am Schlusse einer durchgesehenen und verbesserten Ausgabe vom »Leben Jesu«, die nächstens erscheinen soll, behandeln.
Die Apostelgeschichte ist das wichtigste Dokument für die Geschichte, welche wir zu erzählen haben. Ich muß mich daher hier über den Charakter des Werkes, über seinen historischen Wert und über den Gebrauch, den ich davon gemacht habe, erklären.
Als zweifellos gilt, daß die Apostelgeschichte denselben Verfasser hat, wie das dritte Evangelium, dessen Fortsetzung sie auch ist. Es ist daher nicht nötig sich mit dem Beweis dieser Annahme, die nie ernstlich bestritten wurde, zu beschäftigen.Die Kirche hat dies schon frühzeitig anerkannt. S. Kanon von Muratori ( Antiq. Ital. III, 854), kollationiert von Wieseler, verbessert von Laurent. »Neutestamentliche Studien«, Gotha 1866, Zeile 35. Die an der Spitze dieser zwei Schriften befindlichen Vorreden, die Widmung der einen und der andern an Theophilius, die vollkommene Ähnlichkeit des Stils und der Gedanken liefern in dieser Hinsicht reichliche Beweise.
Eine zweite Annahme, die zwar nicht dieselbe Sicherheit hat, jedoch als wahrscheinlich gelten kann, ist die, daß der Verfasser der Apostelgeschichte ein Jünger des Paulus war und ihn häufig auf seinen Reisen begleitet habe. Auf den ersten Blick hin erscheint diese Annahme zweifellos. An vielen Stellen vom 10. Vers des XVI. Kapitels an gebraucht der Verfasser der Apostelgeschichte in der Erzählung das Fürwort »wir«, womit er bekundet, daß er wenigstens damals zu der apostolischen Schar gehörte, die Paulus umgab. Dies scheint beweisend zu sein. In der That bietet sich nur ein einziger Ausweg, um der Macht eines derartigen Arguments zu entweichen, und der ist, anzunehmen, daß die Stellen, worin das Fürwort »wir« vorkommt, durch den letzten Textordner der Apostelgeschichte von einer früheren Schrift, von Original- Aufzeichnungen eines Jüngers von Paulus, z. B. von Timotheus, abgeschrieben wurden, und daß der Textordner aus Unachtsamkeit vergessen habe für »wir« den Namen des Erzählers zu setzen. Diese Erklärung ist aber nicht sehr annehmbar. Man könnte eine derartige Nachlässigkeit höchstens nur in einer groben Kompilation begreifen. Aber das dritte Evangelium und die Apostelgeschichte bilden ein sehr gut redigiertes Werk, das mit Bedacht, sogar mit Kunst von derselben Hand und nach einem Plan geschrieben wurde (Luk. I,1–4, Apostelg. I, 4). Die beiden Bücher vereint bilden ein gleichartiges stilistisches Ganze, weisen dieselben Lieblingsausdrücke auf und dieselbe Art, die heilige Schrift zu citieren. Ein so anstößiger Redaktionsfehler, wie der, um den es sich hier handelt, wäre unerklärlich. Man ist daher unwiderstehlich zu schließen genötigt, daß der, welcher das Ende des Werkes geschrieben hat, auch den Anfang verfaßt hat und daß der Erzähler ganz derselbe ist, der »wir« in den erwähnten Stellen sagt.
Es wird das noch erkennlicher, wenn man bei einigen Umständen bemerkt, wie der Erzähler sich derart in die Gesellschaft des Paulus versetzt. Die Anwendung des »wir« beginnt in dem Moment, wo Paulus zum erstenmal durch Makedonien zieht (XVI, 10); sie endet im Moment, wo Paulus von den Philippern fortzieht. Sie beginnt wieder im Moment, wo Paulus, zum letztenmal Makedonien besuchend, noch einmal durch Philippi zieht (XX, 5, 6). Von da an trennt sich der Erzähler bis zum Ende nicht mehr von Paulus. Wenn man ferner noch bemerkt, daß die Kapitel, wo der Erzähler den Apostel begleitet, einen besondern präcisen Charakter haben, so zweifelt man nicht mehr, daß der Erzähler ein Macedonier oder vielmehr ein Philipper war,S. besonders Apostelg. XVI, 12. der während der zweiten Mission zu Paulus nach Troas kam, bei der Abreise des Apostels in Philippi verblieb, und während dessen letzten Durchzugs durch diese Stadt (dritte Mission) sich mit ihm vereinigte, um ihn nicht wieder zu verlassen. Läßt sich annehmen, daß ein in der Ferne schreibender Schriftordner sich in dieser Weise durch die Erinnerungen eines andern hätte beherrschen lassen? Diese Erinnerungen würden das Ganze trüben. Der Erzähler, der »wir« sagte, hätte seinen Stil, seine eigentümliche Ausdrucksweise gehabt;Man weiß, daß bei den Schriftstellern des Neuen Testaments die Armut der Ausdrucksweise sehr groß ist, sowie daß jeder sein eigenes kleines Wörterbuch hat. Daher die wertvolle Regel, nach der sich der Verfasser selbst sehr kurzer Schriftstücke bestimmen läßt. er wäre paulinischer als der Schriftordner. Dies ist aber nicht der Fall; das Werk bietet eine vollkommene Homogenität.
Vielleicht wundert man sich, daß eine scheinbar so deutliche These Widerspruch begegnet hat. Aber die Kritik des Neuen Testaments bietet viele solcher Deutlichkeiten, die sich jedoch bei einer Prüfung voll von Ungewißheiten zeigen. Was Stil, Gedanken und Lehrsätze betrifft, ist in der Apostelgeschichte nicht das zu finden, was sich von einem Jünger des Paulus erwarten läßt. Sie gleichen in nichts den Episteln dieses letztern. Nicht eine Spur der kühnen Doktrinen, die das Ursprüngliche des Heidenapostels bilden. Das Temperament Pauli ist das eines starren, persönlichen Protestanten; der Verfasser der Apostelgeschichte dagegen macht auf uns den Eindruck eines guten Katholiken, geschickt, optimistisch, jeden Priester »heiligen Priester«, jeden Bischof »großen Bischof« nennend, bereit eher jede Fiktion anzunehmen, als anzuerkennen, daß diese heiligen Priester, diese großen Bischöfe sich streiten und mitunter heftig befehden. Trotz der großen Bewunderung für Paulus, vermeidet es der Verfasser der Apostelgeschichte ihm den Titel eines Apostels zu verleihen (die Anwendung dieses Wortes Apostelg. XIV 4, 14 ist recht unbestimmt) und er meint, daß die Initiative zur Heidenbekehrung Petrus zuzusprechen sei. Man könnte ihn, im Ganzen genommen, eher für einen Jünger Petri als Pauli betrachten. Wir werden bald sehen, wie ihn bei zwei oder drei Anlässen sein Vermittlungsprinzip veranlaßt an der Lebensbeschreibung von Paulus ernstliche Fälschungen zu begehen. Er begeht UnrichtigkeitenVgl. z. B. Apostelgeschichte XVII, 14–16, XVIII, 5 mit I. Thess. III,1,2. und besonders Weglassungen, wie sie für einen Jünger des letztern seltsam scheinen.I. Kor. XV, 32; II. Kor. I, 8; XI, 23 etc.. Römer XV, 19; XIV, 3 etc. Er erwähnt auch nicht einer Epistel; er preßt in der auffälligsten Weise die wichtigsten Mitteilungen zusammen.Apostelg. XVI, 6, XVIII, 22, 23, verglichen mit der Epistel an die Galater. Selbst in jenem Teile, wo er der Genosse Pauli sein muß, ist er manchmal sonderbar trocken, mangelhaft berichtet und wenig angeregt.Der Aufenthalt zu Cäsare z. B. ist im Dunkeln gelassen. Endlich, die Weichlichkeit und die Verschwommenheit gewisser Erzählungen, die Nachgiebigkeit, die sich bei ihm vorfindet, würden einen Verfasser annehmen lassen, der weder direkte noch indirekte Beziehungen zu den Aposteln hatte und der gegen das Jahr 100 oder 120 schrieb.
Müssen diese Einwände in Betracht gezogen werden? Ich glaube nicht; und ich meine, wie vorher, daß der letzte Schriftordner der Apostelgeschichte der Jünger Pauli sei, der in den letzten Kapiteln mit »wir« spricht. Alle Schwierigkeiten, wie unlöslich sie auch scheinen mögen, müssen, wenn nicht beseitigt, so doch durch ein ebenso entscheidendes Argument, wie es das Wörtchen »wir« ist, in Schwebe gehalten werden. Fügen wir noch dazu, daß man, die Apostelgeschichte einem Genossen Pauli zusprechend, zwei wichtige Eigentümlichkeiten erklärt: einerseits das Mißverhältnis der Teile des Werkes, wovon mehr als drei Fünftel Paulus gewidmet ist; anderseits wieder das Mißverhältnis, das in der Biographie des Paulus selbst sich bemerkbar macht, indem seine erste Mission in großer Kürze dargestellt ist, während gewisse Partien der zweiten und dritten Mission, besonders die letzten Reisen selbst mit den geringsten Einzelheiten dargestellt sind. Ein Mensch, dem die apostolische Geschichte vollkommen fremd war, hätte nicht solche Ungleichheiten geäußert. Sein Werk wäre im Ganzen besser gestaltet worden. Was die aus Dokumenten geschöpfte Geschichte von der ganz oder teilweise aus Originalen verfaßten Geschichte unterscheidet, das ist eben das Mißverhältnis: der Stubenhistoriker benutzt die Ereignisse selbst als Rahmen seiner Darstellung; der Verfasser von Memoiren benutzt seine Erinnerungen oder wenigstens seine persönlichen Beziehungen als Rahmen. Ein Kirchenhistoriker, eine Art Eusebius, um das Jahr 120 schreibend, würde uns ein Buch geschaffen haben, das vom 13. Kapitel an ganz anders als dieses gestaltet wäre. Die wunderliche Weise, in der die Apostelgeschichte von diesem Moment an aus dem Kreise tritt, in welchem sie sich bis dahin bewegte, erklärt sich meines Erachtens nur aus der eigentümlichen Situation des Autors und seinen Beziehungen zu Paulus. Dieses Ergebnis würde sich natürlich bestätigen, fänden wir unter den bekannten Mitarbeitern Pauli den Namen des Verfassers, dem die Tradition unsere Schrift zuspricht.
Das findet nun tatsächlich statt. Die Handschriften und die Überlieferung nennen als Autor des dritten Evangeliums einen gewissen Lucanus (Mabillon, Mus. Ital. I,1, S. 109) oder Lukas. Aus dem, was gesagt wurde, ergiebt sich, daß wenn Lukas wirklich der Verfasser des dritten Evangeliums ist, er gleichfalls der Autor der Apostelgeschichte ist. Diesem Namen Lukas begegnen wir aber auch als den eines Genossen Pauli in der Epistel an die Kolosser (IV, 14), in der an Philemon (24) und in der zweiten an Timotheus (VI, 11). Letztere Epistel ist von einer sehr zweifelhaften Echtheit. Die Epistel an die Kolosser und an Philemon dagegen sind wohl wahrscheinlich echt, indes sind sie nicht die unbezweifeltsten Episteln des heiligen Paulus. Aber in jedem Falle sind diese Schriften aus dem ersten Jahrhundert und dies genügt, um unbestreitbar zu beweisen, daß sich unter den Jüngern Pauli ein Lukas befand. Der Hersteller der Episteln an Timotheus ist in der That sicherlich nicht derselbe, der die Episteln an die Kolosser und an Philemon verfaßt hat (wenn man, entgegen meiner Ansicht, voraussetzt, daß letztere apokryphisch sind). Anzunehmen, daß ein Fälscher dem Paulus einen imaginären Genossen zugesellt habe, wäre schon unglaublich; und sicherlich würden verschiedene Fälscher sich nicht über ein und denselben Namen geeinigt haben. Zwei Bemerkungen geben dieser Folgerung eine besondere Kraft. Die erste ist, daß der Name Lukas oder Lucanus unter den ersten Christen selten vorkam und sich nicht zu ähnlich lautenden Verwechslungen eignet; die zweite, daß der Lukas der Episteln sonst keine Berühmtheit aufwies. An die Spitze einer Schrift einen berühmten Namen schreiben, wie man es für die zweite Epistel Petri und sehr wahrscheinlich auch für die Episteln Pauli an Titus und Timotheus gethan hat, das mochte den Gewohnheiten jener Zeit nicht entgegen sein. Aber an die Spitze einer Schrift einen falschen Namen setzen, einen unbekannten obendrein, das ließe sich nicht begreifen. Wäre es die Absicht des Fälschers gewesen, die Schrift mit der Autorität des Paulus zu decken? Warum verwendete er dann nicht den Namen Paulus selbst, oder wenigstens die Namen von Titus oder Timotheus, Jünger, die vertrauter mit dem Heidenapostel waren? Lukas hatte keine Stelle in der Tradition, in der Legende, in der Geschichte. Die drei aus den Episteln angeführten Stellen konnten nicht genügen, um aus ihm einen von allen anerkannten Bürgen zu machen. Die Episteln an Timotheus wurden wahrscheinlich nach der Apostelgeschichte geschrieben. Die Erwähnungen des Lukas in den Episteln an die Kolosser und an Philemon sind nur einer an Wert gleich zu erachten, denn diese beiden Schriften bilden ein Ganzes. Ich glaube daher, daß der Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte wirklich Lukas, der Jünger Pauli sei.
Dieser Name selbst, Lukas oder Lucanus, und der ärztliche Beruf, den der Jünger Pauli der Benennung nach ausübte (Kol. IV, 14), entsprechen ganz gut den Anzeichen, welche die beiden Bücher über ihren Verfasser liefern. Wir haben tatsächlich gezeigt, daß der Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte wahrscheinlich von Philippi war (s. oben S. 11), einer römischen Kolonie, in der das Lateinische vorherrschte.Fast alle Inschriften sind dort lateinisch, ebenso in Neapolis (Cavala), dem Hafen von Philippi. Vgl. Heuzey »Mission de Macédoine« S. 11 ect. Die merkwürdigen nautischen Kenntnisse des Verfassers der Apostelgeschichte (s. vor allem Kap. 27 u. 28) lassen glauben, er sei aus Neapolis gewesen. Überdies kennt der Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte das Judentum (z. B. Apostelg. X, 28) und die palästinischen Angelegenheiten schlecht (V, 36, 37); er versteht nicht hebräisch;Die Hebräismen seines Stils mögen von einem fleißigen Lesen der griechischen Übersetzungen des Alten Testaments herkommen, und mehr noch von dem Lesen der von seinen Glaubensgenossen in Palästina zusammengestellten Schriften, die er oft wörtlich abschreibt. Seine Citate aus dem Alten Testament sind ohne Kenntnis des Urtextes angebracht (z. B. XV, 16 etc.). er ist mit den Ideen der heidnischen Welt vertraut,Apostelg. XVII, 22 etc. und er schreibt das Griechische ziemlich richtig. Das Werk wurde fern von Judäa verfaßt, für Leute, die mit dessen Geographie nicht vertraut waren,Luk. I, 26; IV, 31; XXIV, 13. S. auch die vorhergehende Note. die sich um die gründliche rabbinische Wissenschaft ebenso wenig kümmerten, wie um die hebräischen Namen.Luk. I, 31, vgl. Matth. I, 21. Der Name Johanna, den nur Lukas kennt, ist sehr verdächtig. Es ist nicht wahrscheinlich, daß der Name Johann damals ein entsprechendes Femininum besaß. Indes s. Talmud von Bab. Sota 22a. Der herrschende Gedanke des Verfassers ist, daß, wenn das Volk frei seiner Anschauung hätte folgen können, es sich zu dem Glauben an Jesus bekannt hätte, und daß es die jüdische Aristokratie war, welche das Volk daran hinderte (Apostelg. II, 47; IV, 33; V, 13, 26). Das Wort Jude gebraucht er stets im ungünstigen Sinne, als gleichbedeutend mit Feind der Christen (s. Apostelg. IX, 22, 23; XII, 3, 11; XIII, 45, 50 und viele andere Stellen. Dasselbe gilt auch für das vierte Evangelium, denn es wurde auch außerhalb Syriens verfaßt). Er zeigt sich sogar den ketzerischen Samaritanern gegenüber sehr wohlgesinnt (Luk. X, 33 etc.; XVII, 16; Apostelg. VIII, 5 etc. Ebenso im vierten Evangelium: Joh. IV, 5 etc. Vgl. Matth. X, 5, 6).
In welche Epoche aber läßt sich die Herstellung dieser Hauptschrift verlegen? Lukas erscheint zum erstenmal in der Gesellschaft Pauli während der ersten Reise des Apostels nach Makedonien, etwa gegen das Jahr 52. Nehmen wir an, er sei damals 25 Jahre alt gewesen, so ist nichts natürlicher, als daß er bis zum Jahre 100 gelebt habe. Die Erzählung der Apostelgeschichte endigt mit dem Jahre 63 (XXVIII, 30). Aber die Herstellung der Apostelgeschichte erfolgte sicherlich später als die des dritten Evangeliums, welche letztere mit ziemlicher Sicherheit in die der Zerstörung Jerusalems zunächstfolgenden Jahre versetzt wird (Jahr 70. – Vgl. »Leben Jesu« S. 12, 13); man kann daher nicht mutmaßen, daß die Herstellung der Apostelgeschichte vor dem Jahre 71 oder 72 stattgefunden habe.
Wäre es bestimmt, daß die Apostelgeschichte unmittelbar nach dem Evangelium zusammengestellt worden, so müßte man bei ihr Halt machen. Aber der Zweifel über diesen Punkt ist gestattet. Einige Thatsachen führen zu der Annahme, daß zwischen der Herstellung des dritten Evangeliums und der der Apostelgeschichte ein Zeitraum besteht; und in der That läßt sich zwischen den letzten Kapiteln des Evangeliums und dem ersten der Apostelgeschichte ein eigentümlicher Widerspruch erkennen. Nach dem letzten Kapitel des Evangeliums scheint die Himmelfahrt am Tage der Auferstehung stattzufinden (Luk. XXIV, 50, Mark. XVI, 19 bietet eine ähnliche Anordnung). Nach dem ersten Kapitel der Apostelgeschichte jedoch (3, 9) fand die Himmelfahrt erst nach vierzig Tagen statt. Es ist klar, daß diese zweite Version uns eine Form bietet, welche der Legende näher steht, eine Form, die man annahm, als man das Bedürfnis fühlte einen Raum für die verschiedenen Erscheinungen zu schaffen und dem Leben Jesu außerhalb des Grabes einen vollständigen und logischen Rahmen zu geben. Man wäre daher versucht anzunehmen, daß diese neue Auffassung nicht vom Autor herrühre, oder ihm erst in der Zeit zwischen der Herstellung beider Schriften eingefallen sei. Jedenfalls ist es höchst merkwürdig, daß der Verfasser einige Zeilen tiefer sich verpflichtet fühlt, seiner ersten Darstellung neue Umstände beizufügen und sie zu entwickeln. Wäre sein erstes Buch noch in seinen Händen gewesen, warum machte er dann nicht die Zusätze, die in ihrer Absonderung sich recht linkisch darbieten? Dies ist indessen nicht entscheidend und ein wichtiger Umstand läßt annehmen, daß Lukas gleichzeitig den Plan des Ganzen machte. Es ist dies nämlich das an der Spitze des Evangeliums stehende Vorwort, das beiden Büchern gemeinschaftlich anzugehören scheint.S. besonders Luk. I, 1 den Ausdruck: πεπληροφορημένων
Der bezeichnete Widerspruch erklärt sich vielleicht durch die geringe Sorgfalt, die einer genauen Zeitfolge gewidmet wurde. Daher kommt es, daß alle Erzählungen des Lebens Jesu außerhalb des Grabes in vollkommenem Widerspruch mit der Dauer seines Lebens sind. Man hielt so wenig darauf, historisch zu sein, daß es einem Erzähler nicht die geringsten Skrupel machte, nacheinander zwei unvereinbare Systeme vorzubringen. Die drei Darstellungen der Bekehrung Pauli in der Apostelgeschichte (10, 22, 26) bieten gleichfalls kleine Differenzen, die einfach bekunden, wie wenig der Autor sich um die Genauigkeit der Einzelheiten kümmerte.
Es scheint daher, daß man der Wahrheit recht nahe kommt, wenn man annimmt, die Apostelgeschichte sei um das Jahr 80 geschrieben worden. Der Geist dieses Buches entspricht in der That auch der Zeit des ersten Flaviers. Der Autor scheint alles vermeiden zu wollen, was die Römer verletzen könnte. Er liebt es zu zeigen, wie günstig die römischen Beamten der neuen Sekte gesinnt waren, daß sie sich manchmal sogar zu ihr bekannten (der Centurio Cornelius, der Prokonsul Servius Paulus), wie sie diese Sekte wenigstens gegen die Juden verteidigten, und wie die kaiserliche Rechtspflege gerecht und billig über den Leidenschaften der Lokalbehörden steht«.Apostelg. XIII, 7 etc., XVIII, 12 etc., XIX, 35 etc., XXIV, 7, 17; XXV, 9, 16, 25, XXVII, 2, XVIII, 17, 18. Er weist nachdrücklich auf die Vorteile hin, die Paulus seinem Titel eines römischen Bürgers verdankte.Apostelg. XVI, 37 etc.; XXII, 26 etc. Nur flüchtig teilt er in seiner Erzählung die Umstände vom Augenblick der Ankunft Pauli in Rom mit, vielleicht um nicht die Grausamkeiten Neros gegen die Christen berichten zu müssen.Ähnliche Vorsichtsmaßregeln waren nicht selten. Die Apokalypse und die Epistel Petri bezeichnen Rom mit verschleierten Worten. Der Kontrast mit der Apokalypse ist dabei auffällig. Diese, im Jahre 68 geschrieben, ist voll von Erinnerungen an die Infamien Neros; ein entsetzlicher Haß gegen Rom äußert sich daraus. Hier jedoch fühlt man den sanften Menschen, der in einer Epoche der Ruhe lebte. Vom Jahre 70 etwa bis zu den letzten Jahren des ersten Jahrhunderts war die Lage der Christen ziemlich gut. Einzelne Mitglieder der Familie der Flavier gehörten dem Christentum an. Wer weiß, ob nicht Lukas den Flavius Clemens gekannt hatte, ob er nicht einer seiner » familia « war, und ob die Apostelgeschichte nicht für diese mächtige Persönlichkeit geschrieben wurde, deren amtliche Stellung Rücksicht erforderte? Einige Anzeichen lassen glauben, das Buch sei in Rom verfaßt worden. Thatsächlich ließe sich behaupten, daß die Grundsätze der römischen Kirche auf dem Verfasser gelastet haben. Diese Kirche hatte vom ersten Jahrhundert an jenen politischen und hierarchischen Charakter, der sie immer ausgezeichnet hat. Der gute Lukas konnte in diesen Geist eingehen. Seine Anschauungen über die kirchliche Autorität sind sehr vorgeschritten, man sieht daraus schon, den Keim des Episcopats. Er schrieb die Geschichte in dem Tone eines alles übertreibenden Apologeten, wie er den offiziellen Geschichtsschreibern des römischen Hofes eigen war. Er that wie es ein ultramontaner Historiker von Clemens XIV. thun mag, indem er gleichzeitig den Papst und die Jesuiten lobt, uns durch eine erbauungsvolle Erzählung zu überzeugen versuchend, daß in diesem Kampfe von beiden Seiten die Grundsätze der Frömmigkeit beobachtet wurden. In zwei Jahrhunderten wird man in derselben Weise behaupten, Kardinal Antonelli und Herr de Merode hatten sich wie Brüder geliebt. Der Verfasser der Apostelgeschichte war mit einer unvergleichlichen Naivität der erste dieser gefälligen Erzähler, selig befriedigt, entschlossen, alles was in der Kirche vorgeht, der evangelischen Weise entsprechend zu halten. Zu redlich, um seinen Meister Paulus zu verdammen, zu orthodox, um sich nicht der herrschenden offiziellen Meinung zu fügen, verlöschte, er die Differenzen der Lehre, um nur das gemeinschaftliche Ziel sehen zu lassen, das alle diese großen Begründer in der That auf so entgegengesetzten Wegen und zwischen so entschiedenen Rivalitäten verfolgten.
Man begreift, daß ein Mann, der sich systematisch in einen solchen Gemütszustand versetzt, am wenigsten von allen befähigt ist, die Dinge so darzustellen, wie sie sich wirklich ereignet haben. Die historische Treue ist für ihn eine gleichgiltige Sache; die Erbauung ist allein das Wichtige. Lukas verbirgt das kaum; er schreibt »damit Theophilius die Wahrheit dessen erkenne, was seine Katecheten ihn gelehrt haben« (Luk. I, 4). Es gab also schon ein giltiges System der Kirchengeschichte, das offiziell gelehrt wurde und dessen Rahmen, ebenso wie der der evangelischen Geschichte selbst (Apostelg. I,22), wahrscheinlich schon festgestellt war. Der vorherrschende Charakter der Apostelgeschichte, wie der des dritten Evangeliums (s. »Leben Jesu« S. 30 etc.) ist eine milde Frömmigkeit, eine lebhafte Sympathie für die Heiden (was sich besonders in der Geschichte des Centurio Cornelius fühlbar macht), ein versöhnlicher Geist, eine außergewöhnliche Vorliebe für das Übernatürliche, die Liebe der Geringen und Demütigen, ein starkes demokratisches Gefühl, oder vielmehr die Überzeugung, daß das Volk seiner Natur nach christlich sei und nur die Großen es hindern, seinen guten Trieben zu folgen (Apostelg. II, 47, IV, 33, V, 13, 26. Vgl. Luk. XXIV, 19, 20), eine übertriebene Ansicht von der Macht der Kirche und deren Häupter und ein sehr merkwürdiger Geschmack für das gemeinsame Leben (Apostelg. II, 44, 45, IV, 43 etc., V, 1, etc.). Das Verfahren der Zusammenstellung ist bei beiden Werken dasselbe, so daß wir hinsichtlich der Geschichte der Apostel uns in derselben Lage befänden, wie hinsichtlich der evangelischen Geschichte, wenn wir für die Herstellung dieser nur einen einzigen Text hatten, das Evangelium Lukas.
Man fühlt das Nachteilige einer derartigen Situation. Das Leben Jesu nach dem dritten Evangelium allein geschildert, wäre äußerst mangelhaft und unvollkommen. Wir wissen dies, denn für das Leben Jesu ist uns ein Vergleich möglich. Von derselben Zeit, die Lukas darstellt, besitzen wir (ohne vom vierten Evangelium reden zu wollen) auch noch Matthäus und Markus, die, im Vergleich mit Lukas, wenigstens teilweise Urschriften sind. Wir deuteten auf das gewaltsame Verfahren hin, womit Lukas die Vorgänge verschiebt oder verquickt, auf die Art und Weise, in der er je nach seinen persönlichen Ansichten die Färbung gewisser Thatsachen abändert, auf die frommen Legenden, die er den authentischsten Überlieferungen beifügt. Ist es nicht klar, daß wenn wir einen derartigen Vergleich für die Apostelgeschichte vornehmen könnten, wir dahin gelangen würden, Fehler von analoger Beschaffenheit vorzufinden? Zweifellos würde uns dann die Apostelgeschichte in ihren ersten Kapiteln dem dritten Evangelium untergeordnet erscheinen; denn diese Kapitel sind wahrscheinlich mit Hilfe weniger zahlreichen und minder allgemein anerkannten Dokumenten zusammengestellt worden.
Eine gründliche Unterscheidung ist hier in der That nötig. Vom Standpunkt des historischen Wertes scheidet sich die Apostelgeschichte in zwei Teile: der eine enthält die ersten zwölf Kapitel und schildert die hauptsächlichsten Vorkommnisse der ursprünglichen Kirche; der andere enthält die übrigen sechszehn Kapitel, welche alle den Missionen des heiligen Paulus gewidmet sind. Dieser zweite Teil wieder enthält zwei Arten von Erzählungen: die eine, wo sich der Darsteller als Augenzeuge giebt, die andere, wo er nur was ihm mitgeteilt wurde berichtet. Es ist klar, daß selbst in letzterem Falle seine Autorität groß ist. Oft sind es die Gespräche mit Paulus, welche die Mitteilungen ergeben. Gegen den Schluß hauptsächlich nimmt die Darstellung einen Charakter erstaunlicher Schärfe an. Die letzten Seiten der Apostelgeschichte sind die einzigen vollkommen historischen, die wir über den Ursprung des Christentums besitzen. Die ersten dagegen sind die angreifbarsten des ganzen Neuen Testaments. Besonders diese ersten Jahre sind es, für die der Verfasser ähnlichen und selbst noch trügerischen Entschlüssen gehorcht, wie bei der Herstellung seines Evangeliums. Sein System der vierzig Tage, seine Erzählung der Himmelfahrt, die durch eine Art Entführung und theatralischer Feierlichkeit das phantastische Leben Jesu schließen; seine Art das Herabsteigen des heiligen Geistes zu erzählen und die wunderreichen Weissagungen, seine Art und Weise, die Gabe der Sprache zu verstehen, die so verschieden ist von der des PaulusI. Kor. XII-XIV. Vgl. Mark. XVI, 17 und selbst Apostelg. II, 4, 13, X, 46, XI, 15 XIX, 6. – dies alles bekundet die Voreingenommenheit einer verhältnismäßig niedrigen Epoche, wo die Legende sehr reif ist, gewissermaßen abgerundet in allen ihren Teilen. Alles geschieht bei ihm mit einer seltsamen Inscenierung und einem großen Aufwand an Wundervollem. Man muß bedenken, daß der Verfasser ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen schrieb, fern von dem Lande, wo sie erfolgten, über Thatsachen, die er nicht gesehen hat, die selbst sein Meister nicht gesehen hatte, nach Traditionen, die zum Teil fabelhaft oder umgeformt waren. Lukas gehörte nicht nur einer anderen Generation an als die ersten Gründer des Christentums, er war auch von einer andern Welt. Er war Hellenist, sehr wenig Jude, Jerusalem und die Geheimnisse des jüdischen Lebens waren ihm fast fremd, er kam nicht mit der ursprünglichen christlichen Gesellschaft in Berührung, ja er kannte kaum deren letzte Repräsentanten. Bei den Wundern, die er erzählt, fühlt man mehr die Erfindung a priori , als die umgestalteten Thatsachen; die Wunder Petri und Pauli bilden zwei sich entsprechende Reihen.Vgl. Apostelg. III, 2 etc. mit XIV, 8 etc.; IX, 36 etc. mit XX, 9 etc.; V,1 etc. mit XIII, 9 etc.; V, 15, 16 mit XIX, 12; XII, 7 etc. mit XVI, 26 etc.; X, 44 mit XIX, 6. Seine Persönlichkeiten sind einander ähnlich; Petrus unterscheidet sich in nichts von Paulus und Paulus nicht von Petrus. Die Reden, die er seinen Helden in den Mund legt, sind, obgleich den Umständen geschickt angepaßt, von gleichem Stil und gehören eher dem Autor an als denjenigen, welchen er sie beimißt. Man findet hier selbst Unmöglichkeiten.In den Worten, die der Verfasser Gamaliel sagen läßt, bei einem Umstande, der etwa im Jahre 36 vorkam, ist die Rede von Theudas, dessen Unternehmen entschieden als vor dem des Juda des Galoniters erfolgt dargestellt wird (Apostelg. V, 36, 37). Indes erfolgte der Aufstand des Theudas im Jahre 44 (Jos. Ant. XX, 5, 1) und jedenfalls viel später als der des Galoniters (Jos. Ant. XVIII, 1, 1; B.J. II, 8, 1). Mit einem Worte: die Apostelgeschichte ist eine dogmatische Geschichte, angeordnet, um die orthodoxen Lehren jener Zeit zu unterstützen, oder um die Gedanken einzupflanzen, die der Frömmigkeit des Autors am meisten behagten. Fügen wir noch dazu, daß es nicht anders sein konnte. Man kennt den Ursprung jeder Religion nur durch die Erzählungen der Gläubigen. Nur der Skeptiker vermag Geschichte ad narrandum zu schreiben.
Das sind nicht einfache Vermutungen, Konjekturen einer excessiv mißtrauischen Kritik. Es sind gefestete Induktionen: so oft es uns möglich ist die Mitteilungen der Apostelgeschichte zu kontrolieren, finden wir sie fehlerhaft und systematisch. Die Kontrole, die wir thatsächlich von den synoptischen Schriften nicht verlangen können, vermögen wir aber von den Episteln Pauli zu fordern, besonders von der Epistel an die Galater. Es ist klar, daß in dem Falle, wo die Apostelgeschichte und die Episteln nicht übereinstimmen, der Vorzug stets den letzteren gegeben werden muß, Schriften von entschiedener Echtheit, älter, vollkommen aufrichtig und ohne Legenden. In der Historik sind Dokumente um so gewichtiger, je weniger historische Form sie haben. Die Autorität aller Chroniken muß vor der einer Inschrift, Münze, Karte, eines echten Briefes weichen. Von diesem Gesichtspunkt aus sind die Episteln gewisser Autoren oder gewisse Daten die Grundlage der ganzen Geschichte des Ursprungs des Christentums. Man kann sagen, daß ohne sie der Zweifel selbst das Leben Jesu bedrohen und gänzlich vernichten würde. Über zwei sehr wichtige Umstände verbreiten die Episteln ein merkwürdiges Licht und zwar die besonderen Bestrebungen des Verfassers der Apostelgeschichte und sein Wunsch, die Spuren der Spaltung zwischen Paulus und den Aposteln zu Jerusalem zu verwischen.Wer da die deutschen Schriften von Baur, Schneckenburger, de Wette, Schwegler, Zeller, wo die auf die Apostelgeschichte sich beziehenden kritischen Fragen eine fast bestimmte Lösung erhalten, nicht zu lesen vermag, der wird mit Erfolg die »Etudes historiques et critiques sur les origines du christianisme« von A. Stap lesen; ferner: Etudes critiques sur la Bible. Nouveau Testament von Michel Nicoles, »Hist. de la théologie chrét, au siècle apostolique« von Reuß, verschiedene Arbeiten von Kayser, Scherer, Reuß in der »Revue de théologie« . Straßburg, Serie I, Bb. 2 u. 3; Serie II, Bd. 2 u. 3.
Überdies will der Verfasser der Apostelgeschichte, daß Paulus nach dem Ereignis bei Damaskus (IX, 19 etc.; XXII, 17 etc.) zu einer Zeit nach Jerusalem gekommen sei, wo man kaum seine Bekehrung kannte; daß er den Aposteln vorgestellt worden sei; daß er mit den Aposteln und den Getreuen mit größter Herzlichkeit verkehrt habe; daß er öffentlich gegen die hellenistischen Juden gesprochen habe; daß ein Komplott dieser und eine himmlische Offenbarung ihn bestimmt habe sich von Jerusalem zu entfernen. Indes lehrt uns Paulus, daß die Dinge sich ganz anders zugetragen haben. Um zu beweisen, daß er nicht von den Zwölfen abhängig sei und daß er seine Lehre und seine Mission Jesu selbst verdanke, versichert er (Gal. I, 11 etc.), daß er nach seiner Bekehrung vermieden habe bei irgend Einem Rat sich zu holenBetreffs der Stelle ού προσανεδέμην σαρχί vgl. Matth. XVI 17. und sich nach Jerusalem zu denen zu begeben, die schon früher, als er, Apostel waren; daß er in Hauran aus eigenem Antrieb und ohne Sendung von jemandem predigen wolle; daß er wohl drei Jahre später die Reise nach Jerusalem vornahm, um die Bekanntschaft des Kephas zu machen; daß er vierzehn Tage bei ihm blieb, ohne jedoch einen andern Apostel zu sehen, es sei denn Jakobus, Bruder des Herrn, so daß sein Antlitz den Gemeinden von Judäa unbekannt sei. Die Bemühungen, die Schroffheiten des rauhen Apostels zu mildern, ihn als Mitarbeiter der Zwölf darzustellen, der in Jerusalem mit ihnen gemeinschaftlich gewirkt habe, treten hier deutlich hervor. Man macht aus Jerusalem seine Hauptstadt und seinen Ausgangspunkt; man will, daß seine Lehre so vollkommen identisch mit der der Apostel sei, daß er sie gewissermaßen bei den Verkündungen ersetzen könne; man beschränkt sein erstes Apostolat auf die Synagogen von Damaskus; man will, daß er Schüler und Zuhörer gewesen sei, was er nie war;Er selbst erklärt dies feierlichst. S. hauptsächlich Kap. I u. II der Epistel an die Galater. man kürzt die Zeit zwischen seiner Bekehrung und seiner ersten Reise nach Jerusalem; man verlängert seinen Aufenthalt in dieser Stadt; man läßt ihn zur allgemeinen Befriedigung predigen; man unterstellt, er habe mit allen Aposteln vertraulich verkehrt, obgleich er selbst versichert, er habe nicht mehr als zwei gesehen; und man weist darauf hin, daß die Brüder von Jerusalem über ihn wachen, obgleich Paulus erklärt sein Antlitz sei ihnen unbekannt.
Der Wunsch, aus Paulus einen fleißigen Besucher von Jerusalem zu machen, ein Wunsch, der unseren Autor veranlaßt hatte, dessen ersten Aufenthalt in dieser Stadt nach seiner Bekehrung vorzurücken und zu verlängern, scheint ihn auch verleitet zu haben dem Apostel eine Reise zu viel zuzuschreiben. Nach ihm wäre Paulus mit Barnabas nach Jerusalem gekommen, um während der Hungersnot im Jahre 44 die Gaben der Gläubigen dahin zu bringen (Apostelg. XI, 30, XII, 25). Nun aber erklärt Paulus ausdrücklich, daß er zwischen der Reise, die drei Jahre nach seiner Bekehrung stattfand, und der Reise in der Beschneidungsangelegenheit nicht nach Jerusalem gekommen sei (Gal. I, II). Mit andern Worten, Paulus schließt förmlich jede Reise zwischen Apostelg. IX, 26 und XV, 2 aus. Wollte man ohne jede Begründung die Identität der Gal. II, 1 ect. erzählten Reise mit der Apostelg. XV, 2 ect. dargestellten läugnen, so ergäbe sich nicht der geringste Widerspruch. »Drei Jahre nach meiner Bekehrung,« sagt der heilige Paulus, »zog ich nach Jerusalem um die Bekanntschaft des Kephas zu machen. Vierzehn Jahre später zog ich wieder nach Jerusalem« ... Man könnte zweifeln, ob der Zeitpunkt der Abreise die Bekehrung oder die Reise sei, welche nach einem dreijährigen Zwischenraum erfolgte. Nehmen wir die erste Hypothese an, welche die günstigere für einen Verteidiger der Darstellung der Apostelgeschichte ist. Es würden daher nach Paulus wenigstens elf Jahre zwischen seiner ersten und zweiten Reise, oder zwischen dem, was Apostelg. IX, 26 etc. und dem was XI, 30 berichtet wird, liegen. Wollte man dies aber aller Wahrscheinlichkeit entgegen aufrecht erhalten, so verfiele man in eine andere Unmöglichkeit. Thatsächlich erfolgt das, was Apostelg. XI, 30 mitgeteilt wird, gleichzeitig mit dem Tod des Jakobus, Sohn des Zebedäus (Apostelg. XII, 1), ein Vorfall, der uns das einzige bestimmte Datum der Apostelgeschichte liefert, weil er kurze Zeit vor dem Verscheiden Herodes Agrippa I., im Jahre 44 erfolgte (Jos. Ant. XIX, 8, 2; B. J. II, 12, 6). Die zweite Reise Pauli fand mindestens vierzehn Jahre nach seiner Bekehrung statt; und wenn Paulus diese Reise wirklich im Jahre 44 vorgenommen hätte, so würde die Bekehrung im Jahre 30 stattgefunden haben, eine ganz unsinnige Annahme. Es ist demnach unmöglich aufrecht zu erhalten, daß die Apostelg. XI, 30 und XII, 25 erzählte Reise wirklich unternommen wurde.
Dieses Gehen und Kommen scheint von unserem Verfasser in einer sehr ungenauen Weise erzählt zu werden. Vergleicht man Apostelg. XVII, 14–16, XVIII, 5 mit I. Thess. III, 1, 2, so findet man einen andern Widerspruch. Da jedoch dieser von keinen dogmatischen Gründen abhängig ist, so brauchen wir uns hier damit nicht zu beschäftigen.
Was die Hauptsache unseres Gegenstandes ist, was der Kritik in dieser schwierigen Frage über den historischen Wert der Apostelgeschichte einen Lichtstrahl verleiht, das ist der Vergleich, der auf die Beschneidungsangelegenheit sich beziehenden Stellen in der Apostelgeschichte (Kap. XV) und in der Epistel an die Galater (II). Nach der Apostelgeschichte wären die Brüder aus Judäa nach Antiochien gekommen, um die Notwendigkeit der Beschneidung der bekehrten Heiden zu behaupten, wo dann eine aus Paulus, Barnabas und mehreren andern bestehende Abordnung von Antiochien nach Jerusalem gesandt wurde, um sich mit den Aposteln und Ältesten über diese Frage zu beraten. Sie wären von jedermann herzlichst aufgenommen worden; eine große Versammlung hätte stattgefunden. Von einem Meinungszwiespalt ist kaum etwas zu merken, da er von dem Ausdruck gegenseitiger Neigung und von dem Glück, sich vereint zu finden, unterdrückt wird. Petrus verkündet eine Ansicht, wie man sie aus dem Munde Pauli erwarten mag, daß nämlich die bekehrten Heiden den Gesetzen Moses nicht unterworfen seien. Jakobus bringt dieser Meinung nur einen geringfügigen Einwand entgegen.Das Citat aus Amos (XV, 16, 17) das von Jakobus gemäß der griechischen Übersetzung, aber mit dem Hebräischen nicht übereinstimmend gemacht wurde, zeigt übrigens ganz gut, daß diese Erörterung eine Fiktion des Verfassers ist. Paulus spricht nicht und er hat in Wahrheit gesagt, auch nicht nötig zu reden, da hier seine Lehre dem Petrus in den Mund gelegt wird. Die Ansicht der Brüder von Judäa wird von keinem unterstützt. Der Meinung Jakobus gemäß wird ein feierlicher Beschluß gefaßt, der den Kirchengemeinden durch eigens dazu erwählte Abgeordnete mitgeteilt wird.
Vergleichen wir damit die Erzählung Pauli in der Epistel an die Galater. Paulus meint, daß die Reise, die er diesmal nach Jerusalem machte, die Wirkung einer spontanen Entschließung und selbst das Resultat einer Offenbarung gewesen sei. In Jerusalem angelangt, teilte er sein Evangelium denen, die ein Recht darauf hatten, mit und hatte da besondere Zusammenkünfte mit denjenigen, die beachtenswerte Persönlichkeiten zu sein schienen. Man kritisierte ihn nicht im geringsten; man teilte ihm nichts mit; man heischte von ihm nur, daß er der Armen von Jerusalem gedenke. Wenn Titus, der ihn begleitet hatte, sich der Beschneidung unterzieht,Wir werden später zeigen, daß dies der wahre Sinn ist. In jedem Falle hat der Zweifel über die Frage, zu wissen ob Titus beschnitten war oder nicht, nur wenig Bedeutung für die hier erfolgende Erörterung. so erfolgte dies aus Rücksicht gegen »die eingeschlichnen falschen Brüder«. Paulus machte ihnen dieses vorübergehende Zugeständnis, aber er unterwarf sich ihnen nicht. Was die wichtigen Männer betrifft (Paulus spricht von ihnen nur mit einer Nuance von Ärger und Ironie), so haben sie ihn nichts Neues gelehrt. Mehr noch! Als Kephas später nach Antiochia kam, trat ihm Paulus »offen entgegen, weil er im Unrecht ist«. Anfangs aß Kephas tatsächlich auch ohne Unterschied mit jedem. Es kamen Abgesandte von Jakobus; Petrus verbarg sich, den Unbeschnittenen ausweichend. Da er sah, »daß er nicht mehr den rechten Weg der Wahrheit des Evangeliums wandelte,« stellte Paulus den Kephas vor allen Leuten zur Rede und machte ihm bittere Vorwürfe über sein Betragen.
Man sieht den Unterschied. Auf der einen Seite eine völlige Eintracht, auf der andern schlechtverhaltener Zorn und äußerste Empfindlichkeit. Hier eine Art Concilium, dort wieder nichts, was dem ähnlich wäre. Hier ein von einer anerkannten Autorität gefaßter förmlicher Beschluß, dort verschiedene Meinungen, die sich unbeugsam gegenüberstehen und höchstens nur in der Form nachgeben. Es ist unnötig zu sagen, welcher Version der Vorzug gebührt. Die Darstellung der Apostelgeschichte ist kaum wahrscheinlich, da nach ihr das Concilium einen Streit zum Anlaß hat, von dem man, sobald es versammelt ist, auch nicht die Spur mehr gewahr wird. Die beiden Redner äußern sich in einer Weise, die im Widerspruch ist mit dem, was wir sonst von ihrem Thun wissen. Der Beschluß, den das Concilium gefaßt haben soll, ist sicherlich eine Fiktion. Wenn dieser Beschluß, dessen Wortlaut Jakobus festgestellt haben sollte, wirklich veröffentlicht worden wäre, warum scheut sich dann der gute und schüchterne Petrus vor Leuten, die von Jakobus abgesandt wurden? Warum verbirgt er sich? Er und die Christen von Antiochien handeln ja in völliger Übereinstimmung mit dem Beschluß, dessen Wortlaut von Jakobus selbst festgesetzt wurde. Die Beschneidungsangelegenheit fand gegen das Jahr 51 statt. Einige Jahre später, gegen 56, ist der Streit, den der Beschluß beigelegt haben sollte, heftiger als je. Die Kirchengemeinde von Galatien wird von neuen Abgesandten der jüdischen Partei von Jerusalem gestört (vgl. Apostelg. XV, 1; Gal. I, 7, II, 12). Paulus antwortet auf diesen erneuten Angriff seiner Feinde durch seine heftige Epistel. Wenn der Apostelgeschichte XV mitgeteilte Beschluß wirklich vorhanden gewesen wäre, so hätte Paulus ein einfaches Mittel gehabt, den Erörterungen ein Ende zu machen: er brauchte ihn nur zu citieren. Indes läßt alles, was er sagt, auf das Nichtvorhandensein dieses Dekrets schließen. Im Jahre 57, als Paulus an die Korinther schrieb, beachtete er nicht dieses Dekret und verletzte selbst dessen Vorschriften. Das Dekret befahl, sich des den Götzen geopferten Fleisches zu enthalten. Paulus dagegen war der Ansicht, man könne dieses Fleisch recht gut verzehren, wenn es bei keinem Anstoß erregt; daß man sich dessen nur enthalten müsse, wenn es anstößig wäre (1. Kor. VIII, 4, 9, X, 25-29). Im Jahre 58 schließlich, als Paulus seine letzte Reise nach Jerusalem vornahm, ist Jakobus hartnäckiger als je (Apostelg. XXI, 20 etc.). Einer der charakteristischesten Züge der Apostelgeschichte, ein Zug, der recht gut beweist, daß es dem Autor weniger darauf ankommt, die historische Wahrheit zu bieten und der Logik zu genügen, als den frommen Leser zu erbauen, ist der Umstand, daß die Frage über Zulassung der Beschneidung stets gelöst zu sein scheint, ohne es aber jemals zu sein. Sie ist es erst durch die Taufe des Eunuchen der Candace, dann durch die Taufe des Centurio Cornelius, beide wunderhaft angeordnet; dann durch die Gründung der Kirche in Antiochien (XI, 19 etc.), dann durch das angebliche Konzil zu Jerusalem, was jedoch nicht hindert, daß auf den letzten Seiten des Buches (XXI, 20, 21) die Frage noch in Schwebe ist. In Wahrheit gesagt, blieb sie immer in diesem Zustande. Die beiden Fraktionen des werdenden Christentums vereinigten sich nie; nur daß die eine von ihnen, die, welche die Regeln des Judäismus beibehielt, unfruchtbar blieb und im Dunkel erlosch. Paulus war so weit davon entfernt von allen anerkannt zu sein, daß nach seinem Tode ein Teil der Christenheit ihn verfluchte und mit Verleumdungen verfolgte.Hauptsächlich die Eboniten. S. die pseudo-clementinischen Homilien. Irenäus, Adv. haer. I, 26, 2; Epiph. Adv. haer., haer. 30; Hieronymus, In Matth. XII anfangs.
In meinem nächsten Werke werde ich mit allen Einzelheiten diese Grundfrage behandeln, die mit diesen merkwürdigen Vorfällen in Verbindung steht. Hier wollte ich nur einige Beispiele von der Art und Weise geben, in welcher der Verfasser der Apostelgeschichte die Geschichte zusammenfaßt, von seinem Vermittlungssystem, von seinen vorgefaßten Ansichten. Muß man daraus schließen, daß die ersten Kapitel der Apostelgeschichte jeder Autorität entbehren, wie es die Meinung berühmter Kritiker ist? Daß hier die Fiktion so weit gehe, aus allen Stücken Persönlichkeiten zu schaffen, so den Eunuchen der Candace, den Centurio Cornelius und selbst den Helfer Stephanus und die fromme Tabitha? Ich glaube es keineswegs. Es ist wahrscheinlich, daß der Autor der Apostelgeschichte die Persönlichkeiten nicht erfunden habe;Ich opfere indes freiwillig Ananias und Sapphira. aber er ist ein geschickter Advokat, der schreibt, um zu überzeugen, und der sich Mühe giebt, aus Thatsachen Nutzen zu ziehen, von denen er reden gehört, um seine Lieblingsthesen zu beweisen: die Legitimität seiner Berufung der Heiden und die göttliche Institution der Hierarchie. Ein solches Dokument will mit größter Vorsicht benutzt sein; allein es vollständig zurückweisen, wäre ebensowenig kritisch, wie ihm blindlings folgen. Übrigens haben einige Paragraphen selbst in diesem ersten Teil einen allgemein anerkannten Wert und stellen authentische Memoiren dar, die von dem ersten Schriftordner ausgezogen wurden. Besonders Kapitel XII ist recht gehaltvoll und scheint von Johannes Markus herzurühren.
Man sieht, in welcher Verlegenheit wir uns befänden, hätten wir als Urkunden dieser Geschichte nur ein so legendenhaftes Buch. Glücklicherweise haben wir noch andere, die sich direkt wohl auf die Periode beziehen, welche der Gegenstand des nächsten Buches sein wird, jedoch schon auf dieses eine große Klarheit verbreiten. Es sind das die Episteln Pauli. Die Epistel an die Galater vor allem ist ein wahrer Schatz, die Grundlage jeder Chronologie dieser Zeit, der Schlüssel, der alles öffnet, das Zeugnis, welches den größten Skeptiker über die Wirklichkeit der anzweifelbaren Dinge beruhigen kann. Ich bitte die ernsten Leser, welche etwa geneigt wären zu glauben, ich übertreibe oder ich sei zu leichtgläubig, die ersten zwei Kapitel dieser eigentümlichen Schrift durchzulesen. Sicherlich sind sie die beiden wichtigsten Blätter für das Studium des werdenden Christentums. Die Episteln des heiligen Paulus haben in der That einen Vorzug ohnegleichen in dieser Geschichte: das ist ihre absolute Echtheit. Seitens der ernsten Kritik ist nie ein Zweifel über die Echtheit der Epistel an die Galater, der zwei Episteln an die Korinther und der Epistel an die Römer erhoben worden. Die Gründe für die Bestreitung der Epistel an die Thessalonicher und der an die Philipper sind ohne Wert. Zu Beginn des nächstfolgenden Buches sollen die Einwände näher erörtert werden, obgleich sie ebensowenig entscheidend sind, wie die, welche gegen die Epistel an die Kolosser und den Brief an Philemon vorgebracht wurden; ferner das besondere Problem, welches die Epistel an die Epheser bietet; schließlich die kräftigen Beweise, welche die Verwerfung der Episteln an Timotheus und an Titus veranlassen. Die Episteln, von welchen wir in diesem Band Gebrauch machen werden, sind von einer unanzweifelbaren Echtheit; und wenigstens die Schlüsse, die wir aus den andern ziehen, sind unabhängig von der Frage, ob sie von Paulus diktiert worden sind oder nicht.
Es ist unnötig, auf die Methode der Kritik, die bei der Herstellung dieses Werkes befolgt wurde, hier zurückzukommen, da sie schon in der Einleitung zum »Leben Jesu« erörtert wurde. Die ersten zwölf Kapitel sind in der That ein den synoptischen Evangelien analoges Dokument, und sie wollen auch in derselben Weise behandelt sein. Diese Art von Urkunden, halb historisch, halb legendenhaft können weder ganz als Legende, noch ganz als Geschichte betrachtet werden. Fast alle Einzelheiten sind unrichtig, aber nichtdestoweniger ist es erlaubt, diese köstlichen Wahrheiten hinzunehmen. Diese Erzählungen ganz einfach zu übersetzen: das hieße nicht Geschichte schreiben. Tatsächlich wird ihnen oft durch andere beglaubigtere Schriften widersprochen; folglich sind wir selbst dort, wo wir nur einen einzigen Text besitzen, zu mutmaßen berechtigt, daß, wenn es noch andere gäbe, der Widerspruch nicht vorhanden wäre. Was das Leben Jesu betrifft, so wird die Darstellung des Lukas von den zwei andern synoptischen Evangelien und von dem vierten stets kontroliert und berichtigt. Ist es nun nicht wahrscheinlich – ich wiederhole es – daß, wenn wir für die Apostelgeschichte die Analogie der synoptischen Evangelien und des vierten besäßen, jene bezüglich einer Menge von Punkten, über die wir jetzt nur ihr Zeugnis besitzen, zurücktreten müßte? Was alle andern methodischen Regeln betrifft, so werden wir uns in unserem dritten Buche, wo wir völlig auf historischem Boden stehen können und wobei wir ursprüngliche Angaben und zuweilen auch autobiographische in Händen haben, nur von diesen leiten lassen. Wenn Paulus selbst die Erzählung einer Episode seines Lebens giebt, die er in diesem oder jenem Lichte darzustellen kein Interesse hat, so ist es klar, daß wir, nach der Methode von Tillemont, in unserer Erzählung nur den genauen Wortlaut einzufügen brauchen. Wenn wir es aber mit einem Erzähler zu thun haben, der für ein System voreingenommen ist und der schreibt, um gewisse Ideen zu fördern, der in einer kindischen Weise die Zusammenstellung vornimmt und mit unsicheren weichen Zügen, in verschwommenen Farben darstellt, was immer auch die Legende bietet – da ist es die Pflicht der Kritik, sich nicht an den Wortlaut zu halten; es wird zur Pflicht, zu entdecken zu versuchen, was die Schrift Wahres enthält, ohne je überzeugt zu sein, die Wahrheit auch gefunden zu haben. Der Kritik eine derartige Deutungsweise verbieten zu wollen wäre ebenso unvernünftig, wie einem Astronomen befehlen zu wollen, sich nur mit dem scheinbaren Zustand des Himmels zu beschäftigen. Die Astronomie besteht im Gegenteil darin, die Parallaxe, die von der Stellung des Beobachters verursacht wird, zu ordnen und nach einem scheinbaren, täuschenden Zustand einen wirklichen und wahrhaftigen zu errichten.
Übrigens, wie kann man fordern, daß dem Buchstaben eines Schriftstückes gefolgt werde, in welchem sich Unmöglichkeiten befinden? Die ersten zwölf Kapitel der Apostelgeschichte sind ein Gewebe von Wundern. Als absolute Regel der Kritik aber gilt es, in der historischen Darstellung wunderhaften Umständen nicht Raum zu gewähren. Das ist nicht die Folge eines metaphysischen Systems; das ist einfach eine Sache der Beobachtung. Man hat noch nie derartige Thatsachen nachweisen können. Alle angeblichen Wunder lösen sich, näher geprüft, in Täuschung oder Betrug auf. Wenn auch nur ein einziges Wunder bewiesen worden wäre, so könnte man nicht alle, die in der alten Geschichte vorkommen, in Bausch und Bogen verwerfen; denn schließlich, nähme man auch an, daß eine sehr große Zahl derselben falsch wäre, so ließe sich doch glauben, daß manche andere als echt sich erwiesen. Doch es ist nicht so! Alle erörterungsfähigen Wunder verschwinden. Ist man daher nicht zu folgern berechtigt, daß alle durch Jahrhunderte von uns getrennten Wunderthaten, die nun außerhalb des Bereichs jeder Erörterung liegen, gleichfalls der Wirklichkeit entbehren? Mit andern Worten: es giebt nur Wunder, wenn man an sie glaubt; was das Übernatürliche macht, das ist der Glaube. Der Katholicismus, der behauptet, die Wunderkraft sei in seinem Schoße noch nicht erloschen, unterwirft sich selbst dem Einfluß dieses Gesetzes. Die Wunder, die er zu verrichten vorgiebt, geschehen nicht dort, wo es sein sollte. Wenn man ein so einfaches Beweismittel hat, warum bedient man sich nicht dessen vor aller Welt? Ein in Paris vor kompetenten Gelehrten vollbrachtes Wunder würde allen Zweifeln ein Ende machen. Aber ach, das ist, was nie geschehen will! Nie wurden Wunder vor der Menge vollbracht, die bekehrt werden sollte, das heißt vor den Ungläubigen. Die Bedingung des Wunders ist die Leichtgläubigkeit des Zeugen. Auch wurde noch kein Wunder vor jenen ausgeführt, die es hätten erörtern und beurteilen können. Es giebt dafür keine einzige Ausnahme. Cicero sagte mit seiner Klugheit und gewöhnlichen Feinheit: »Seit wann ist diese geheime Kraft verschwunden? Sollte das nicht geschehen sein, seitdem die Menschen weniger leichtgläubig geworden sind? De divinatione II, 57).«
Man könnte sagen: »Wenn es unmöglich ist zu beweisen, daß es je eine übernatürliche Thatsache gegeben habe, so ist es doch auch unmöglich zu beweisen, daß es keine gegeben habe. Der positive Gelehrte, der den übernatürlichen Vorgang leugnet, urteilt daher ebenso willkürlich wie der Gläubige, der ihn annimmt.« Keineswegs. Wer etwas behauptet, hat den Beweis dafür zu erbringen. Der, vor dem es behauptet wird, hat dabei nur ein einziges zu thun: den Beweis abzuwarten und ihm nachzugeben, wenn er brauchbar ist. Wäre man zu Buffon mit der Aufforderung gekommen, in seiner »Histoire naturelle« den Sirenen und Centauren eine Stelle einzuräumen, so hätte er sicherlich geantwortet: »Zeigt mir ein Exemplar dieser Wesen und ich werde sie aufnehmen; bis dahin aber existieren sie für mich nicht.« – »Beweisen Sie, daß sie nicht existieren!« – »An euch ist es, den Beweis ihrer Existenz zu liefern.« Die Pflicht, den Beweis in der Wissenschaft zu erbringen, lastet auf dem, der eine Thatsache behauptet. Warum glaubt man nicht mehr an Engel, Dämonen, trotzdem unzählige geschichtliche Schriften deren Vorhandensein annehmen? Weil niemals die Existenz eines Engels, eines Dämons bewiesen worden ist.
Um die Wirklichkeit der Wunder zu verteidigen, beruft man sich auf Erscheinungen, von denen behauptet wird, daß sie nach natürlichen Gesetzen vor sich gehen könnten, die Schöpfung des Menschen zum Beispiel. »Die Schöpfung des Menschen,« sagt man, »konnte nicht anders als durch ein direktes Eingreifen der Gottheit erfolgen; warum sollte daher diese Intervention nicht auch in anderen entscheidenden Momenten der Weltentwickelung erfolgt sein?« Ich werde mich nicht bei dieser seltsamen Philosophie und bei diesem kleinlichen Begriff von der Gottheit, welche aus einer derartigen Erörterungsweise sich äußern, aufhalten, denn die Geschichtschreibung muß ihre von jeder Philosophie unabhängige Methode haben. Ohne auch nur im geringsten den Boden der Theodicee zu betreten, ist es leicht zu beweisen, wie mangelhaft eine derartige Argumentation ist. Sie ist der Behauptung gleich, daß alles, was nicht in dem aktuellen Zustand der Welt geschehe, alles, was wir nicht von dem aktuellen Zustand der Wissenschaft begreifen können, wunderhaft sei. Dann aber wäre die Sonne ein Wunder, denn die Wissenschaft ist noch weit davon entfernt sie erklärt zu haben; die Empfängnis jedes Menschen wäre dann ein Wunder, denn die Physiologie schweigt noch über diesen Punkt; das Gewissen wäre ebenfalls ein Wunder, denn es ist ein absolutes Geheimnis; jedes Tier wäre ein Wunder, denn der Ursprung des Lebens ist ein Problem, worüber uns beinahe selbst eine begründete Annahme fehlt. Antwortet man, daß jedes Leben, jede Seele thatsächlich einer höheren Ordnung der Natur angehöre, so ist das nur ein Spielen mit Worten. Wir wollen indes die Sache derart auffassen; allein dann muß das Wort Wunder näher erörtert werden. Was ist ein Wunder, das jeden Tag und zu jeder Stunde stattfindet? Das Wunder ist nicht das Unerklärte; es ist vielmehr eine förmliche Abweichung von bekannten Gesetzen im Namen eines besonderen Willens. Was wir leugnen, das ist das Wunder als Ausnahme, das sind die besonderen Eingriffe, wie die eines Uhrmachers etwa, der eine Uhr angefertigt hat, welche wohl sehr schön ist, bei der es jedoch nötig ist, daß er von Zeit zu Zeit Hand anlegt, um über die Ungenüglichkeit des Räderwerks fortzuhelfen. Daß Gott in jedem Ding, besonders in allem was lebt, dauernd vorhanden sei, das ist gerade unsere Theorie; wir behaupten nur, daß kein besonderes Dazwischentreten irgend einer übernatürlichen Kraft jemals erwiesen wurde. Wir leugnen die Realität des besonderen Übernatürlichen bis dahin, wo uns eine derartige Thatsache dargelegt wird. Diese Thatsache vor der Erschaffung des Menschen zu suchen, um dem Nachweis geschichtlicher Wunder auszuweichen, über das Gebiet der Geschichte hinaus zu flüchten, nach Epochen, wo jeder Nachweis unmöglich ist: das heißt so viel, wie sich hinter einer Wolke verbergen; eine dunkle Sache mit einer andern noch dunkleren zu prüfen, das heißt ein bekanntes Gesetz um einer uns unbekannten Thatsache willen bestreiten. Man beruft sich auf Wunder, die stattgefunden haben sollen, bevor noch ein Zeuge existierte, statt einen anführen zu können, der es bekräftigen mag.
Zweifellos haben sich in entfernten Epochen Erscheinungen dargestellt, die sich heute nicht mehr bieten, wenigstens nicht in derselben Weise. Aber diese Erscheinungen haben ihren Grund des Bestehens zu einer Zeit, wo sie sich äußerten, gehabt. Wir finden in den geologischen Formationen eine große Zahl von Mineralien und kostbaren Steinen, die heutzutage in der Natur nicht mehr hervorgebracht zu werden scheinen. Und doch haben die Herren Mitscherlich, Ebelmann, de Sénarmont, Daubrée die meisten dieser Steine auf künstlichem Wege hergestellt. Wenn es zweifelhaft ist, daß es jemals gelingen werde, das Leben künstlich hervorzubringen, so hängt das davon ab, daß die Wiederholung der Umstände, unter welchen das Leben begonnen hat (wenn es überhaupt begonnen hat) vielleicht für immer über den menschlichen Mitteln stehen wird. Wie sollte man den Zustand des Planeten, wie er vor vielen Jahrtausenden bestanden hat, herbeiführen? Wie einen Versuch machen, der Jahrhunderte währt? Die Verschiedenheit des Mediums und die Jahrhunderte langsamer Entwickelung, das ist es, was man vergißt, wenn man die Erscheinungen Wunder nennt, welche sich einst ereignet haben und heute nicht mehr vorkommen. In irgend einem Himmelskörper mögen heute Thatsachen stattfinden, die sich bei uns schon vor unendlich langer Zeit ereignet haben. Sicherlich, die Bildung der Menschheit wäre die anstößigste, die widersinnigste Sache, wenn man annähme sie sei plötzlich, augenblicklich erfolgt. Sie tritt zu den allgemeinen Analogien (ohne aufzuhören geheimnisvoll zu sein), wenn man in ihr das Ergebnis eines langsamen Fortschrittes durch unberechenbare Perioden sieht. Man darf auf das embryonale Leben nicht die Lebensgesetze des reifen Alters anwenden. Der Embryo entwickelt nacheinander alle seine Organe; der gereifte Mensch dagegen schafft sich keine Organe mehr. Er schafft sie nicht mehr, weil er sich nicht mehr im Schaffensalter befindet, ebenso wie die Sprache nicht mehr zu erfinden ist, weil dies schon geschehen. – Doch was taugt es, Gegnern zu folgen, welche die Frage verrücken? Wir verlangen ein historisch beglaubigtes Wunder und man antwortet uns, daß solche vor der geschichtlichen Zeit sich ereignet haben müssen. Sicherlich, wenn es für gewisse Seelenzustände eines Beweises der Notwendigkeit übernatürlichen Glaubens brauchte, so ergäbe es die Thatsache, daß Geister, welche für alle anderen Angelegenheiten so scharfsinnig sind, den Bau ihres Glaubens auf einem so verzweifelten Argument ruhen lassen konnten.
Andere, das Wunder physischer Ordnung aufgebend, ziehen sich hinter das Wunder der moralischen Ordnung zurück, ohne welches ihrer Angabe nach diese Ereignisse nicht erklärt werden könnten. Gewiß, die Bildung des Christentums ist die bedeutendste Thatsache der Religionsgeschichte der Welt. Aber deswegen ist sie kein Wunder. Der Buddhaismus, der Babismus haben ebenso zahlreiche, ebenso exaltierte, ebenso entschlossene Märtyrer gehabt wie das Christentum. Die Wunder der Gründung des Mohammedanismus sind von ganz anderer Beschaffenheit und ich bekenne, daß sie mich nur sehr wenig berühren. Es muß jedoch bemerkt werden, daß die mohammedanischen Gelehrten aus der Gründung ihres Glaubens, aus dessen einem Lauffeuer gleichenden Verbreitung, aus seinen raschen Eroberungen, aus der Kraft, die ihm überall eine vollkommene Herrschaft gab, dieselben Schlüsse ziehen, wie die christlichen Apologeten aus der Gründung des Christentums, daß sie darin deutlich den Finger Gottes erkennen wollen. Geben wir indes zu, wenn man es fordert, daß die Gründung des Christentums eine einzige Thatsache sei. Eine andere absolut einzige Thatsache ist der Hellenismus, wenn unter dieser Bezeichnung das Ideal der Vollkommenheit in Litteratur, Kunst und Philosophie verstanden wird, das Griechenland verwirklicht hat. Die griechische Kunst schwang sich über alle andern Künste empor, so wie das Christentum über alle anderen Religionen; und die Akropolis von Athen, eine Sammlung von Meisterwerken, neben welchen alle anderen nur ein ungeschicktes Tasten, oder ein mehr oder minder gelungenes Nachahmen sind, ist vielleicht das, was in seiner Art jedem Vergleich am meisten trotzen kann. Der Hellenismus, mit andern Worten gesagt, ist ebenso ein Wunder an Schönheit, wie das Christentum ein Wunder an Heiligkeit ist. Eine einzige That ist keine Wunderthat. Gott ist auf verschiedenen Stufen in allem, was schön, gut und wahr ist. Er erscheint jedoch niemals in irgend einer seiner Offenbarungen in so ausschließlicher Weise, daß die Anwesenheit seines Hauches von einer religiösen oder philosophischen Bewegung als ein Vorrecht oder eine Ausnahme betrachtet werden müßte.
Ich hoffe, daß ein Zeitraum von zweiundeinhalbes Jahr, der seit der Veröffentlichung des »Leben Jesu« seither verflossen ist, gewisse Leser veranlassen wird, sich mit mehr Ruhe mit diesem Problem zu beschäftigen. Religiöse Streitigkeiten sind immer, ohne daß man es weiß oder will, unaufrichtig. Es handelt sich für sie nicht darum, mit Unabhängigkeit zu diskutieren, mit Ängstlichkeit zu suchen; es handelt sich darum, eine Lehre zu verteidigen, zu beweisen, daß der anders Meinende ein Ignorant oder ein unaufrichtiger Mensch sei. Verläumdung, Unsinn, Begriffs- und Schriftenfälschung, triumphierende Äußerungen über Dinge, die der Gegner nicht behauptet hat, Siegesjubel ob der Irrtümer, die er nicht begangen hat – nichts scheint denen unloyal, die da glauben das Interesse der absoluten Wahrheit in Händen zu haben. Ich wäre sehr unwissend in der Geschichte, wenn ich mich nicht auf alles das gefaßt gemacht hätte. Ich habe genug Kaltblütigkeit, um dafür ziemlich unempfindlich zu sein und einen genug lebhaften Sinn für Glaubenssachen, um mit Sanftmut dasjenige aufzunehmen, was sich zuweilen rührend in dem Gefühle äußerte, das meine Widersacher begeisterte. Oft, wenn ich so viel Naivität, eine so fromme Sicherheit, einen Zorn, der so offen aus so schönen und guten Seelen kam, oft, wenn ich dies sah, habe ich, wie Johannes Huß beim Anblick einer alten Frau, die ein Reisigbündel für seinen Scheiterhaufen herbeischleppte, ausgerufen: » O sancta simplicitas !« Ich habe nur gewisse Emotionen bedauert, die nicht anders als unfruchtbar sein konnten. Nach dem schönen Wort der Schrift ist »Gott nicht im Sturme.« Wahrlich, wenn dieser ganze Trubel dazu beitragen würde die Wahrheit zu entdecken, so könnte man sich über diese lebhafte Aufregung trösten. Aber es ist nicht so; die Wahrheit ist nicht für den leidenschaftlichen Menschen geschaffen worden. Sie ist denjenigen Geistern vorbehalten, die ohne Parteilichkeit, ohne unerschütterliche Liebe und ohne dauernden Haß suchen, die mit einer absoluten Freiheit und ohne Hintergedanken auf die Richtung der menschlichen Angelegenheiten zu wirken streben. Diese Probleme gehören zu den zahllosen Fragen, deren die Welt voll ist und die von den Neugierigen untersucht werden. Man beleidigt niemanden, wenn man eine theoretische Meinung äußert. Diejenigen, welche ihren Glauben wie einen Schatz wahren, haben ein einfaches Mittel ihn zu verteidigen: sie kümmern sich nicht um Schriften, die in einem andern Sinne als in dem ihrigen geschrieben sind. Die Scheuen aber thun besser gar nicht zu lesen.
Es giebt praktische Leute, die bei einem wissenschaftlichen Werke fragen, welcher politischen Partei der Verfasser damit dienen wolle, die fordern, daß ein poetisches Werk eine moralische Lehre enthalte. Diese Leute geben nicht zu, daß man für etwas anderes als für eine Propaganda schreibe. Der Begriff der Kunst und der Wissenschaft, die außerhalb jeder Politik stehend, nur das Wahre finden, das Schöne verwirklichen wollen, ist ihnen fremd. Zwischen uns und solchen Leuten sind Mißverständnisse unvermeidlich. »Diese Leute nehmen,« wie ein griechischer Philosoph sich äußerte, »das in ihre Linke, was wir ihnen mit der Rechten bieten.« Ich habe eine Unzahl von Briefen erhalten, die mit rechtlichem Gefühl geschrieben sind, und deren Inhalt kurz gefaßt folgender ist: »Was wollen Sie denn? Welches Ziel haben Sie sich gesteckt?« Du lieber Himmel! dasselbe, was man sich bei jeder historischen Darstellung vornimmt. Verfügte ich über mehrere Leben, so würde ich eines der Schilderung Alexanders widmen, ein anderes der Geschichte Athens, und ein drittes, entweder der Darstellung der französischen Revolution oder des Franziskanerordens. Welches Ziel ich mir bei der Schaffung solcher Werke abstecke? Ein einziges: das Wahre zu finden, es zu beleben, zu bearbeiten, daß diese großen Dinge der Vergangenheit möglichst genau bekannt und in würdigster Weise dargestellt werden. Der Gedanke, den Glauben irgend eines Menschen erschüttern zu wollen liegt mir weltenfern. Diese Werke müssen mit einer höheren Indifferenz geschrieben werden, als schriebe man für einen verödeten Planeten. Jede Nachgiebigkeit gegenüber dem Bedenken einer niedriger stehenden Ordnung ist ein Vergehen gegen den Kultus der Kunst und der Wahrheit. Wer erkennt nicht, daß die Abwesenheit des Proselytismus die Eigenschaft und der Fehler in solchem Geist verfaßter Werke ist?
Das oberste Prinzip der kritischen Schule ist in der That, daß jeder in Glaubenssachen das annehme, was er anzunehmen das Bedürfnis habe, daß er gewissermaßen daraus ein Lager für seine Glaubensansichten schaffe, das im Verhältnis zu seiner Größe und Gestalt sich befindet. Sollten wir thöricht genug sein uns in das zu mischen, was von Umständen abhängt, über die niemand etwas weiß? Kommt einer auf unsere Prinzipien, so geschieht es, weil er den nötigen Geist und die nötige Erziehung hat, um dahin zu gelangen; all unser Bemühen könnten diesen Geist und diese Erziehung dem nicht geben, der ihn nicht besitzt. Die Philosophie unterscheidet sich von dem Glauben, indem dieser durch sich selbst zu wirken scheint, unabhängig von dem Verständnis, welches man für Dogmen hat. Wir aber glauben im Gegenteil, daß eine Wahrheit nur dann Wert besitze, wenn man von selbst zu ihr gelangt, wenn man die ganze Gedankenreihe übersieht, mit der sie verbunden ist. Wir verpflichten uns nicht diejenigen unserer Meinungen zu verschweigen, welche nicht mit dem Glauben eines Teils von unseresgleichen übereinstimmen. Wir bringen den Forderungen der verschiedenen Orthodoxien nicht das geringste Opfer, aber wir wollen sie auch nicht provozieren oder angreifen: wir thun, als ob sie nicht vorhanden wären. Was mich betrifft – der Tag, wo man mir nachweisen könnte, daß ich mich bemühe, auch nur einen, der nicht freiwillig kommen will, zu meinen Ansichten zu verleiten, wäre der schmerzlichste meines Lebens. Ich müßte daraus schließen, daß sich entweder mein Geist in seinem freien, deutlichem Gehaben stören ließ, oder daß etwas anderes mich beschwere, da ich nicht mehr fähig wäre mich mit der heiteren Betrachtung der Welt zu begnügen.
Übrigens, wer sieht nicht ein, daß, wenn mein Ziel wäre die bestehenden Kulten zu bekriegen, ich einen andern Weg suchen müßte, daß ich nur auf die Unmöglichkeiten und Widersprüche der für heilig gehaltenen Texte und Dogmen hinweisen müßte. Diese verdrießliche Arbeit wurde schon tausendmal verrichtet, sehr gut verrichtet. Im Jahre 1856 (Vorrede zu »Études d'histoire religieuse«) schrieb ich folgendes: »Ich protestiere ein für allemal gegen die falsche Deutung, die man meinen Arbeiten gäbe, wenn man die verschiedenen Aufsätze über die Religionsgeschichte, die ich veröffentlicht habe, oder die ich noch künftig veröffentlichen werde, als polemische Arbeiten betrachten würde. Ich wäre der erste, der sie, als polemische Werke betrachtet, für sehr ungeschickt hergestellt halten würde. Die Polemik erfordert eine Strategie, die mir fremd ist: man muß die schwache Seite seines Gegners zu wählen wissen, sich daran halten, niemals unsichere Fragen berühren, sich jeder Konzession enthalten, kurz, auf alles verzichten, was die Essenz des wissenschaftlichen Geistes bildet. Das ist nicht meine Methode. Die Grundfrage, in der die religiöse Erörterung sich zu ergehen hat, d. h. die Frage der Offenbarung und des Übernatürlichen berühre ich niemals. Nicht als ob diese Frage für mich nicht mit voller Sicherheit beantwortet wäre, sondern weil die Erörterung einer solchen Frage nicht wissenschaftlich ist, oder besser gesagt, weil die unabhängige Wissenschaft sie schon als vorher beantwortet betrachtet. Sicherlich, wenn ich irgend einen polemischen oder proselytischen Zweck verfolgen würde, so wäre dies ein Hauptfehler, es hieße auf den Boden der zartesten und dunkelsten Probleme eine Frage verpflanzen, die sich beweiskräftiger in den gröbsten Ausdrücken behandeln läßt, wohin sie gewöhnlich Kontroversisten und Apologeten versetzen. Fern davon die Vorteile zu bedauern, die ich dermaßen gegen mich selbst schaffe, freue ich mich vielmehr, wenn es die Theologen zu überzeugen vermag, daß meine Schriften anders geartet sind als die ihrigen, daß sie nur die reinen Nachforschungen historischen Wissens erkennen lassen, angreifbar wie diese, wo man zuweilen versucht die Regeln der Kritik, die man auf andern Gebieten der Geschichte und Philosophie befolgt, auf die jüdische und christliche Religion anzuwenden. Was die Erörterung rein theologischer Fragen betrifft, so werde ich mich nicht darauf einlassen, wie die Herren Burnouf, Creuzer, Guigniaut und viele andere historische Kritiker der alten Religionen sich nicht verpflichtet hielten, die Widerlegung oder die Apologie der Kulte, mit der sie sich beschäftigen, vorzunehmen. Die Geschichte der Menschheit ist für mich ein großes Ganzes, wo alles wesentlich ungleich und verschieden ist, wo aber alles von derselben Ordnung ist, aus denselben Ursachen entsteht und denselben Gesetzen gehorcht. Diese Gesetze suche ich ohne andere Absicht als ihre genaue Färbung zu entdecken. Nichts wird mich veranlassen können eine dunkle, aber für die Wissenschaft fruchtbare Rolle, gegen die Rolle eines Kontroversisten zu vertauschen, eine Rolle die leicht ist, weil sie dem Schriftsteller eine Gunst bei denjenigen Personen sichert, die glauben, Krieg dem Krieg entgegenstellen zu müssen. Diese Art Polemik, deren Notwendigkeit zu bestreiten mir ferne liegt, die aber weder meinem Geschmack noch meinen Fähigkeiten entspricht, genügt einem Voltaire. Man kann nicht gleichzeitig ein guter Kontroversist und ein guter Historiker sein. Voltaire, der so schwach als Gelehrter ist, Voltaire, der uns jedes Gefühls für das Altertum bar zu sein scheint, uns andern, die an eine bessere Methode gewöhnt sind – Voltaire ist zwanzigmal Sieger über Gegner, denen die Kritik noch mehr mangelt als ihm selbst. Eine neue Ausgabe der Werke dieses großen Mannes würde dem Bedürfnis genügen, das der gegenwärtige Moment zu haben scheint, um dem Ansturm der Theologie zu erwidern; eine an und für sich schlechte Antwort zwar, aber dem angepaßt, welches es zu bekämpfen gilt: eine veraltete Antwort einer veralteten Wissenschaft. Wir alle, die Liebe zum Wahren und ein hehres Streben besitzen, können Besseres thun. Überlassen wir diese Debatten jenen, die Gefallen daran finden; arbeiten wir für die geringe Zahl solcher, die in der großen Richtung des menschlichen Geistes dahinschreiten. Ich weiß wohl, die Popularität wendet sich mit Vorliebe Schriftstellern zu, die, statt der höchsten Form der Wahrheit zu folgen, gegen die Meinungen ihrer Zeit kämpfen; aber des rechten Rückschlags zufolge haben sie keinen Wert mehr, sobald die von ihnen bekämpfte Wahrheit aufgehört hat zu sein. Diejenigen, welche die Magie und gerichtliche Astrologie des 16. und 17. Jahrhunderts bekämpften, haben der Vernunft einen immensen Dienst geleistet, und doch sind ihre Schriften heutigentags unbekannt und selbst ihr Sieg ist vergessen worden.
Ich werde unveränderlich dieser Verhaltungsregel treu bleiben, die einzige, welche der Würde des Gelehrten entspricht. Ich weiß, daß die Untersuchungen der Religionsgeschichte lebendige Fragen berühren, die eine Lösung zu fordern scheinen. Leute, die mit der freien Spekulation weniger vertraut sind, begreifen nicht die ruhige Langsamkeit des Gedankens; die praktischen Geister werden ungeduldig gegen die Wissenschaft, die nicht ihrer Hast genügt. Wahren wir uns vor dieser eiteln Überhast. Hüten wir uns etwas begründen zu wollen. Bleibe jeder in seiner Kirche, ziehe er Nutzen aus ihrem hundertjährigen Kultus und aus ihrer traditionellen Tugend, nehme er teil an ihren guten Werken und erfreue er sich der Poesie ihrer Vergangenheit. Weisen wir nichts als ihre Unduldsamkeit zurück. Verzeihen wir selbst dieser Unduldsamkeit, denn sie ist, wie die Selbstsucht, eine der Notwendigkeiten der menschlichen Natur. Anzunehmen, daß sich nunmehr neue religiöse Gemeinschaften bilden werden, oder daß das Größenverhältnis zwischen den bestehenden einem bedeutenden Wechsel unterliegen werde, wäre gegen den Anschein. Der Katholicismus wird bald von großen Schismata erregt werden; die Zeiten von Avignon, der Gegenpäpste, der Clementiner und Urbanisten mögen wiederkehren. Die katholische Kirche wird ihr 14. Jahrhundert wiederholen; aber trotz der Spaltungen wird sie die katholische Kirche bleiben. Es ist wahrscheinlich, daß in einem Jahrhundert die Verhältniszahl der Protestanten, der Katholiken, der Juden sich nicht empfindlich verändert haben wird. Aber ein großer Wechsel wird stattgefunden haben, oder wird vielmehr den Augen aller sichtbar geworden sein. Jede dieser religiösen Gemeinschaften wird zwei Arten Gläubige haben: die einen von absolutem Glauben, wie im Mittelalter, die andern aber, welche den Buchstaben opfern und nur den Geist bewahren. Dieser letztere Teil wird in jeder Gemeinde sich vergrößern und, wie der Geist in demselben Maße näher bringt, in welchem der Buchstabe trennt, so werden die Spiritualisten jeder Gemeinde dahin gelangen sich dermaßen zu nähern, daß sie außer acht lassen werden sich gänzlich zu vereinigen. Der Fanatismus wird sich in einer allgemeinen Duldung verlieren. Das Dogma wird zu einer geheimnisvollen Lade, die nach Übereinkunft niemals geöffnet werden soll. Ist die Lade leer – was liegt daran? Eine einzige Religion, befürchte ich, wird dieser dogmatischen Weichlichkeit widerstehen: der Islam. Es giebt bei gewissen Mohammedanern der alten Schule, bei einzelnen vorzüglichen Männern Konstantinopels, es giebt besonders in Persien Keime eines großen, versöhnenden Geistes. Wenn diese Keime durch den Fanatismus der Ulema unterdrückt werden, so wird der Islam verderben, denn zwei Dinge sind offenbar: erstens will die neuere Civilisation nicht, daß die alten Kulten ganz vergehen; zweitens wird sie nicht dulden, daß sie in ihrem Thun durch alte religiöse Einrichtungen behindert werde. Diese haben die Wahl nachzugeben oder zu vergehen.
Was die reinere Religion betrifft, die weder eine Sekte noch eine besondere Kirche sein will – warum sollte sie sich den Unbehaglichkeiten einer Stellung fügen, deren Vorteile sie nicht hat? Warum sollte sie Fahne gegen Fahne erheben, wenn sie weiß, daß das Heil überall und allen möglich ist, indem es nur von dem Grad des Edelsinns abhängig ist, den jeder in sich trägt? Man begreift, daß der Protestantismus im 16. Jahrhundert zu einem offenen Bruch geführt wurde. Der Protestantismus ging von einem sehr absoluten Glauben aus. Weit davon entfernt eine Schwächung des Dogmatismus zu bedeuten, entspricht die Reformation einer Wiedergeburt des strengsten christlichen Geistes. Die Bewegung des 19. Jahrhunderts dagegen geht von einem Gefühle aus, das dem Dogmatismus entgegen ist; sie wird nicht zu Sekten oder zu besonderen Kirchen führen, sondern zu einer allgemeinen Milderung aller Kirchen. Scharfe Trennungen erhöhen den Fanatismus der Orthodoxie und fordern die Reaktion heraus. Männer wie Luther, Calvin schufen einen Caraffa, Männer wie Ghislieri, Loyola einen Philipp II. Wenn unsere Kirche uns zurückstößt, so rächen wir uns nicht. Lernen wir die Sanftmut der neueren Gesittung schätzen, die diesen Haß unschädlich gemacht hat; trösten wir uns, indem wir jener unsichtbaren Kirche gedenken, welche die exkommunicierten Heiligen, die besten Geister jedes Jahrhunderts, umschließt. Die Verbannten einer Kirche sind stets die Erlesensten; sie eilen ihrer Zeit voraus. Der Ketzer von heute ist der Orthodoxe von morgen. Was bedeutet übrigens die Exkommunikation der Menschen? Der himmlische Vater schließt nur die trockenen Seelen und die engen Herzen aus. Weigert sich der Priester uns auf seinem Friedhof aufzunehmen, so sei unserer Familie verboten dagegen aufzutreten. Gott ist es, der richtet. Die Erde ist eine gute Mutter, die keinen Unterschied macht; der Leichnam eines edlen Menschen, der in einem ungeweihten Winkel ruht, trägt die Weihe in sich.
Zweifellos giebt es Umstände, wobei es schwer ist, diese Grundsätze anzuwenden. Der Geist weht, wo er will; der Geist, das ist die Freiheit. Es giebt jedoch Leute, die an den absoluten Glauben sozusagen angeschmiedet sind; ich meine damit Leute, die einem heiligen Orden angehören oder ein geistliches Amt bekleiden. Aber selbst dann weiß eine schöne Seele einen Ausweg zu finden. Ein würdiger Landgeistlicher gelangt durch seine einsamen Studien und durch die Reinheit seines Lebens dahin, die Unmöglichkeit des Buchstabenglaubens zu erkennen; soll er nun diejenigen beunruhigen, die er bisher getröstet hat, schlichten Leuten Veränderungen erklären, die sie nicht fassen können? Gott bewahre! Es giebt nicht zwei Menschen in der Welt, die genau dieselben Pflichten hätten. Der gute Bischof Colenso hat einen Akt der Rechtlichkeit, wie ihn die Kirche bis dahin noch nicht erkannt hatte, begangen, indem er die ihm aufsteigenden Zweifel sofort verzeichnete. Aber der demütige katholische Geistliche in einem Lande, wo der Geist beengt und schüchtern ist, muß schweigen. Ach, wie viele verschwiegene Gräber um die Dorfkirchen verbergen derart poetisches Zurückhalten und engelhaftes Schweigen. Werden diejenigen, deren Pflicht es gewesen ist zu reden, das gleiche Verdienst mit dieser nur Gott allein vertrauten Verschwiegenheit haben?
Die Theorie ist nicht die Praxis. Das Ideal muß Ideal bleiben; es muß befürchten, sich durch die Berührung mit der Wirklichkeit zu beschmutzen. Gedanken, die gut sind für diejenigen, welche ihr Edelsinn vor jeder sittlichen Gefahr bewahrt, können nicht unbedenklich in ihrer Anwendung bei solchen sein, die von der Niedrigkeit besteckt sind. Man vollbringt Großes nur mit genau bestimmten Ideen, denn die menschliche Fähigkeit ist beschränkt; der Mensch absolut ohne Vorurteil wäre machtlos. Erfreuen wir uns der Freiheit der Kinder Gottes, aber hüten wir uns, Mitschuldige bei der Abnahme der Tugend zu sein, die einträte, wenn das Christentum geschwächt würde. Was wären wir ohne dieses? Was könnte die großen Schulen des Ernstes und der Achtung ersetzen, aus denen der hingebungsvolle Dienst der barmherzigen Schwestern hervorgeht? Wie sollte man nicht durch die Herzensdürre und Kleinlichkeit entsetzt sein, welche die Welt verheeren? Der Unterschied zwischen unserer Meinung und der der Anhänger positiver Religionen ist eigentlich nur wissenschaftlich; unser Herz geht mit ihnen; wir haben nur einen Feind und das ist auch der ihrige: ich meine, den gemeinen Materialismus, die Niedrigkeit selbstsüchtiger Menschen.
Friede denn, im Namen Gottes! Mögen die verschiedenen menschlichen Ordnungen Seite an Seite leben, nicht, indem sie ihren eigenen Genius fälschen und sich gegenseitig Zugeständnisse machen, welche sie herabwürdigen könnten, sondern indem sie sich gegenseitig unterstützen.
Nichts herrsche hienieden, was den anders Meinenden ausschließt, keine Macht soll andere unterdrücken können. Die Harmonie der Menschlichkeit ist aus dem freien Ausdrucke der voneinander abweichendsten Töne zusammengesetzt. Sollte es der Orthodoxie ermöglicht sein, die Wissenschaft zu töten, so wissen wir, was dann kommen mag; die mohammedanische Welt und Spanien sterben dahin, weil sie diese Aufgabe zu gewissenhaft erfüllt haben. Sollte der Rationalismus die Welt beherrschen wollen, ohne Rücksicht auf das religiöse Bedürfnis der Seele, so kann uns die Erfahrung aus der französischen Revolution über die Folgen eines solchen Fehlers belehren. Der bis zur größten Feinheit gebrachte, aber ohne Rechtschaffenheit gebliebene Instinkt der Kunst machte aus dem Italien der Renaissance eine Banditenhöhle, einen berüchtigten Ort. Langeweile, Dummheit und Mittelmäßigkeit sind die Strafe gewisser protestantischer Länder, wo unter dem Vorwande der Vernunft und des christlichen Geistes die Kunst unterdrückt, die Wissenschaft zur Unbedeutendheit verringert wurde. Lukretia und die heilige Therese, Aristophanes und Sokrates, Voltaire und Franz von Assisi, Raphael und Vincenz de Paula haben ein gleiches Recht zu sein, und die Menschheit wäre geringer, wenn auch nur ein einziges Element ihrer Zusammensetzung fehlte.