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Der Graf von Starrenberg durchmaß sein Zimmer mit großen Schritten.
Er hatte ein Schreiben in der Hand, welches eben angekommen war.
»Depesche auf Depesche!« sagte er vor sich hin. »Des Königs Lage wird schwierig. Die besten Männer rafft ihm Schlacht um Schlacht hinweg. Sein Ruf nach den alten Getreuen ergeht mit jedem Tage dringender! Ich muss die Reise beschleunigen, vor Anbruch des nächsten Morgens muss ich fort sein … Burghardt!« fügte er hinzu, als er diesen eben hereintreten sah.
»Befehlen, Herr Graf …«
»Bemühen Sie sich selbst zu Herrn Lotfahr. Entschuldigen Sie wenigstens mein Wegbleiben bei Tische. Depeschen des Königs riefen mich dringender ins Feld. Doch würde ich mir das Vergnügen nicht versagen, später eine Stunde in seinem Hause zuzubringen.«
»Zu Befehle!« sagte Burghardt und wollte sich entfernen.
»Noch ein Wort!« rief der Graf nach.
»Burghardt kehrte zurück.
»Ich werde wenig Zeit übrig behalten, Ihnen einzeln aufzutragen, was Ihres Amtes ist, wenn ich fort sein werde«, sagte Graf von Starrenberg. »Ich habe Sie im Feld wie zu Hause als wacker und verlässlich kennen gelernt, und so bedarf es auch nicht vieler Worte, indem ich Ihrer Aufsicht mein Haus übergebe. Sie kennen meine Wünsche, meine Grundsätze – unter meiner Aufsicht haben Sie die Ordnung dieses Hauses viele Jahre kennen gelernt, Sie werden sie mit erhalten als mein treuer Schlossamtmann.«
»Was Eifer und Treue vermögen, soll geschehen, Herr Graf.«
»Mehr verlangen hieße Unbilliges verlangen«, sagte der Graf und reichte Burghardt die Hand. »Sie haben mein Vertrauen – nehmen Sie meinen Dank im Voraus! … Wo ist mein Sohn?«
»Hier kommt er eben«, bemerkte Burghardt und zeigte nach einer Seitentüre, durch welche Junker Otto eintrat.
Er entfernte sich.
Der Junker erschien in sorgfältige geordnetem Festanzug und blieb in bescheidener Entfernung vor dem Vater blass und mit leicht gesenkter Stirne stehen.
»Mein Sohn«, sagte der Graf nach einer Pause und ließ sich in einem Armstuhl nieder: »Der Krieg ruft mich abermals ins Feld. Geschäh' es nicht aus besonderer Neigung für den König – ich bliebe weg – von Schlachten und Kämpfen, die, je länger sie dauern, umso schmerzlicher an Bruderkrieg erinnern, fremde Feinde auf deutschen Boden ziehen, das Wohl zweier Bruderländer erschüttern und die Blüte der lebenden Männer hinwegraffen … Otto, abermals lasse ich Dich als Stellvertreter im Hause unserer Ahnen zurück. Ich will glauben, was Dein Betragen zu erkennen gibt, was Deine reuevollen Worte oft genug versichert: dass die himmelschreiende Untat unter Deiner ersten Herrschaft Deine Vorsicht geschärft, Dein Vertrauen in die Menschen behutsam gemacht, Deinen männlichen Sinn gestählt hat gegen falsche Ratgeber, finstere Zeloten im Glauben, die nicht Vater und Mutter schonen, wenn es gilt, ihren blutigen Wahn gegen die menschliche Vernunft durchzusetzen!«
Er erhob sich von dem Stuhle.
»Otto«, fuhr er fort, »als eine Prüfung, nicht als ein Recht empfängst Du diesmal wieder ein so wichtiges Amt. Dir soll Gelegenheit werden zu beweisen, dass Du der Ahnen unseres Hauses würdig bist, die Recht und Licht überall hintrugen, wo sie das Schicksal Fuß fassen ließ; Du sollst beweisen, wie sehr nur Deine Jugend und Deine Unerfahrenheit von fanatischen Ungetümen missbraucht worden sind, als unter Deinen Augen die arme Lotfahr ein Opfer des Feuertodes wurde.«
»Mein Vater …« sagte Otto, die Augen niederschlagend.
»Nichts mehr von diesem schwärzesten Flecken Deines Lebens«, rief der Graf. »Ich würde die Erinnerung daran aus meinem Gedächtnisse tilgen, wäre meine Sehnsucht nicht zu groß, die Schuldigen dennoch einmal noch zu erreichen und dem tiefsten Ingrimm der beleidigten Gerechtigkeit zu überliefern … Ich habe dich vier Jahre nicht wert gehalten, mein Angesicht zu schauen – und seit ich Dich aus der Verbannung zurückgerufen, war es mein strenger Wille, dass Du Dich ferne halten solltest von der schwer geprüften Familie der Lotfahr, um durch Deinen Anblick alte Wunden nicht wieder aufzureißen … Diesem Willen sei mit dem heutigen Tage genug getan. Meine besten Bemühungen und ein auffallendes Glück haben endlich, wie ich glaube, im Hause Lotfahrs die Wunden geschlossen – und ich wünsche Dich heute dahin mitzunehmen. Dein Betragen und Deine Worte werden meine Bitte unterstützen, dass Lotfahr, während ich ferne bin, Deinem Schutze diesmal vertrauen möge!«
»Nur mit Dank vermag ich diese Güte zu erwidern«, sagte Otto und verneigte sich tief.
»Erwarte mich hier – mich zu begleiten«, sagte der Graf, sich entfernend, und Junker Otto hatte Zeit, seinem gepressten Herzen in einigen Worten Luft zu machen.
»Wäre dieser Besuch überstanden!« rief er aufatmend. »Trüb wie der Novemberhimmel liegt eine Verstimmung über mir, und ich fürchte, die festlichen Lichter werden sie nicht überhellen!«
Seine Nerven mussten in keinem beneidenswerten Zustande sein, da er über dem Geräusch von Fußtritten heftig zusammenschrak.
»Was gibt es? … Briefe – von wem?« fuhr er den eintretenden Diener an.
»Dies ist Ew. Gnaden, Herr Junker«, erwiderte der Diener, übergab ihm einen Brief und ging mit einem zweiten in das Zimmer des Grafen.
Der Junker hatte kaum einen Blick auf die Adresse geworfen, als er überrascht und erschrocken ausrief:
»Ist das nicht Braggens Hand? Er wagt es, an mich zu schreiben?«
Hastig erbrach er nun den Brief und las:
»Die Kriegsfurie ist wieder los. Ihr Vater zieht ins Feld; in wenigen Stunden sind Sie wieder Herr und Meister in Ihrem Schloss. Die lange Demütigung unter der Zuchtrute des Vaters muss Sie lechzen lassen nach Freiheit, Ungebundenheit, Lust und Leben! Ich in nahe – Ihres Vaters Abzug ist mein Einzug im Schloss. Sie werden den alten Freund in neuer Gestalt, mit neuem Namen begrüßen – denn Sie werden ihn brauchen können. Auf Wiedersehen! Ihr Braggen!«
Junker Otto stand einen Augenblick wie betäubt da.
»Der Zudringliche! Der Verwegene!« rief er dann mit der Miene eines Reuevollen – »Glaubt er, die Jahre der Prüfung seien spurlos über mir hingezogen?«
Aber in dieser demütigen Stellung konnte er nicht verharren, denn plötzlich schnellte er aus seiner gebeugten Haltung empor, und aufbrausend enthüllte sich die wahre Gesinnung seines Herzens.
»Er hat recht!« rief er. »Wie aus tiefem Todesschlummer raffen sich alle Kräfte wieder auf zum Leben, zu wildem, schrankenlosem Leben – zu Freude und Genuss – zu jeder Willkür, die dem schmachtenden Verlangen Nahrung bietet! Ja, die nächsten Stunden sind meine Erlösung! Der Sklave sprengt seine Fesseln – und frei will ich über die Schranken der Zucht hinwegsetzen, welche beengende Gesetze und bornierte Tugendsatzungen mir entgegenstellen – sei es nur für Wochen, für wenige Tage!«
Ein Geräusch an der Türe des Eingangs machte ihn wieder zusammenschrecken – er blickte hin und sah den Kopf eines Husaren vorsichtig hereinspähen.
»Ich kann der Versuchung nicht widerstehen – Junker, sind Sie allein!« sagte der Husar.
»Wer ist's?« fragte der Junker.
»Sie sind allein?« wiederholte der Husar und trat ein.
Jetzt erkannte der Junker den seltsamen Gast und fuhr entsetzt zurück.
»Braggen!« rief er: »Du selbst wagst zu kommen?«
»Wer wird mich in dieser Maske gleich wieder erkennen?« sagte Braggen: »Ich muss Sie sehen – wenn auch nur für einen Augenblick!«
»Fort! Fort! Mein Vater kann jeden Augenblick erscheinen!«
»Dann bin ich eine Bekanntschaft aus der Zeit Ihrer Verbannung! Ich seh', Sie sind der Ängstliche noch wie ehedem!«
»Nein, nein, hinweg!« drängte der Junker mit Heftigkeit: »Mein Vater, obwohl er Dich einmal nur flüchtig gesehen, erkennt Dich wieder, sein Auge ist zu scharf! … Was führt Dich auch plötzlich hierher?«
»Was anders«, lachte Braggen, »als ein holdes Abenteuer? Ich folge der schönen Tochter des Präsidenten von Bergen, die hier einige Tage weilen wird … Göttliche Stunden, die mich erwarten!«
»Fort – ich höre kommen!« sagte der Junker zusammenfahrend.
»Wann sehen wir uns wieder?« fragte Braggen.
»Eine Stunde nach dem Abmarsch meines Vaters!«
»Warum stehen Eure Pferde gesattelt?«
»Ach«, sagte der Junker verdrießlich ausweichend – später davon – ein Besuch bei Kilian Lotfahr« …
»Was sagen Sie?« rief Braggen.
»Hinweg! … Himmel – es ist zu spät – schnell hinein auf mein Zimmer!«
Er drängte Braggen durch die Türe seines Zimmers und stellte sich wie früher in demütiger Haltung vor seinen eintretenden Vater.
»Gehen wir«, sagte der Graf, ein Billet in der Hand haltend. »Präsident v. Bergen teilt mir eben die Nachricht mit, dass er in Lotfahrs Hause angekommen ist als Gast und – künftiger Schwager!«
»Schwager?« fragte der Junker höchlichst überrascht.
»Der eminente Sohn Lotfahrs – der seine Karriere mit staunenswerter Raschheit macht – hat den stolzen Günstling des Fürsten bewogen, ihm die Hand seiner Tochter zuzusagen. Ich freue mich dieses Glückwechsels doppelt, da ich den jungen Lotfahr zuerst dem Präsidenten empfahl. Er ist ein feiner, fleißiger – ehrgeiziger junger Mann; – wie ich höre, wird er mit dem nächsten Avancement – auch ein Adelsdiplom vorfinden! – Freuen wir uns eine Stunde mit den Frohen!«
Graf von Starrenberg entfernte sich mit dem Junker – und Braggen, der es natürlich nicht unterlassen hatte, die letzten Mitteilungen des Grafen zu belauschen, kam lachend aus dem Zimmer Ottos zurück.
»Ha, ha, ha! Das Feld ist rein!« rief er. »Gute Unterhaltung, Herr Graf! Ich werde, wenn auch ungeladen, ins Haus der Freude folgen! … Sage noch jemand, das Schicksal habe keine Laune. Nach langer Irrfahrt, zum ersten Male wieder, betrete ich dieses Schloss und finde, dass die Wege des Junkers auch die Meinigen sind; nur betritt er Lotfahrs Schwelle an der Hand des Vaters, während ich an der Hand der Liebe dort erscheine! – Ja, Helene, Dir folge ich – auf Schritt und Tritt – Dir, die mir treu ist und bleiben wird trotz Verlobung und Heirat!«
Frech triumphierend sah er sich in dem ehrwürdigen Gemache um und setzte hinzu:
»Ja, seht mich nur verwundert an, ihr Wände – auf demselben Flecke, wo ich als Verbrecher ergriffen und fortgeschleppt worden – erschein' ich heut, wieder – ein munteres Weltkind, den Säbel an der Seiten, im Voraus entzückt von den Stunden, die meiner hier warten!«
Und damit eilte er davon.