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Eine Stunde später war die junge Kastanienallee des Hausgartens Zeugin der ersten und eigentümlichen Unterredung zwischen Lotfahr und seiner unerwartet heimgekehrten Tochter Burgei.
Burgei hatte genial und eigenartig, aber dabei geschmackvoll Toilette gemacht und trug ein weißes Kleid, welches zu der Fülle dunkler Locken vortrefflich stand.
»Du bist wieder da!« sagte Lotfahr mit dem Tone aufrichtiger Freude und stiller Bangigkeit zugleich: »Ich freue mich. Wir werden schöne Tage zusammenleben … Aber warum bist Du früher fort aus der Anstalt?«
»Weil ich Sehnsucht nach dem Vater hatte«, sagte Burgei, »weil mir bange um Sie wurde. Sie sind gut, und diese Welt ist schlecht … Zudem wollte ich aus einer Anstalt fort, in der man nicht erzogen, sondern verzogen wird!«
»Wieso?« fragte Lotfahr.
»Man betet zu viel und arbeitet zu wenig. Man treibt unnütze Dinge. Man langweilt sich; man ärgert sich täglich und merkt es bald, dass unsere guten Anlagen verkümmern.«
»Es ist die beste Klosterschule«, bemerkte Lotfahr: »Die Vorsteherin ist eine fromme Dame …«
»Die den ganzen Tag die Augen niederschlägt, statt frisch herumzublicken, wo es stockt und fehlt!« sagte Burgei mit einem Tone, der deutlich erkennen ließ, dass ihr Herz, bis jetzt in lieber, friedlicher Stimmung, wieder aufzuwallen begann.
»Du bist doch im Frieden geschieden?« fragte Lotfahr, der die Bewegung des Kindes merkte und fürchtete.
»Nein!«
»Warum?« fragte Lotfahr sanft und betrübt.
»Dieser Brief der Vorsteherin wird das Nähere sagen«, bemerkte Burgei und reichte dem Vater denselben. Lotfahr überflog den Inhalt des Briefes und sagte dann erschüttert:
»Du hättest die Vorsteherin so behandelt?«
»Ich habe ihr allen Respekt erzeigt – immer die Wahrheit gesagt und sie auf alle Mängel aufmerksam gemacht!« rief Burgei bestimmt.
»Du hättest die Ordnung des Hauses gestört«, zitierte Lotfahr aus dem Briefe.
»Weil es außer der Ordnung ist, wenn eine Anstalt – statt zu erziehen – nur Geld zusammenscharrt, die Zöglinge hungern und verdummen – und in ungesunden Räumen verkommen lässt!«
»Du hättest die ganze Schule gegen sie aufgeregt« –
»Die Aufregung war da – das Feuer glimmte schon, als ich hinkam. Ich hielt es für meine Pflicht, ein wenig Luftzug zu machen, damit das Ungeziefer: falsche Demut, scheinheilige Lüge, Hinterlist, Habsucht und nichtswürdige Unnatur von der hellen Flamme verzehrt würde. O Vater, es war eine Freude, die gute Natur der Zöglinge wieder aufleben zu sehen! Die Wahrheit kam zum Vorschein, und wir lebten schöne Tage der Anarchie!«
»Also bist Du fortgeschickt – in Ungnade entlassen worden? Dieser Brief …«
»Wurde erst geschrieben, als ich selbst auf meiner Heimkehr bestand. O, trotz der Rebellion hätte man mich gerne behalten – die Goldstücke meines Vaters waren zu willkommen!«
»Burgei!« rief Lotfahr schmerzlich.
»Die Wahrheit, Vater! Nichts als die Wahrheit! Als die letzten 200 Dukaten ankamen, hatte ich eben meine Lektion nicht gelernt – und trotzdem lautete meine Note an diesem Tage: vortrefflich!«
»Burgei!«
»Die Wahrheit, Vater, nichts als die Wahrheit!«
»Muss man die Wahrheit überall sagen? Wer würde es in der Welt noch aushalten können?«
»Die Verbesserlichen würden sich bessern, und die Unverbesserlichen würden sehen, wie sie zurechtkommen! O Tag der Wiedergeburt der Welt«, rief Burgei mit steigender Begeisterung, »wenn die Wahrheit wieder Fleisch würde und unter uns wandelte: die Herzen erquickend, die Geister stärkend und sonnenhell alles durchleuchtend! In wilden Scharen würden die Nacht und die Lüge und die finsteren Leidenschaften fliehen – das wahre Heil würde einziehen durch tausend Tore unter die Völker! Woher kam so viel Unheil in die Welt, als weil die Mächtigen die Wahrheit nicht hören konnten und – wenn die Wahrheit auf dem Throne saß – die Völker selbst lieber in Unwissenheit und Ammenglauben sich wiegten? Wie das frischeste Baumblatt krank wird und stirbt, wenn ein Wurm darauf nistet, so sterben Staaten und Völker vom Wurm der Unwahrheit und erstehen wieder im Lichte der Wahrheit! Auf den flüchtigen Spuren, die der Fuß des göttlichen Freundes der Wahrheit zwischen Jerusalem und dem See Genezareth in den Sand trat, fand die verfallende Menschheit den Weg zur höchsten Wiedergeburt wieder, und sein Tod für die Wahrheit wurde das Leben für Millionen! O«, fuhr sie in wilder Entzückung fort: Wer wie Er ein Märtyrium der Wahrheit erwerben – für sie sterben könnte – kommt heran, ihr Kränkungen und Martern, ihr Dolche und Schwerter – lächelnd drücke ich euch an meine Brust, die von den Süßigkeiten der Wahrheit sagen und wollen wird – wann werden sie kommen?«
»Spät, Vater, sehr spät!« sagte Burgei, und eine tiefe Wehmut stimmte ihre Begeisterung herab. »Die Unnatur ist zur zweiten Natur geworden. Schon unserer Jugend wird sie eingepflanzt – was habe ich heute erst hören müssen!«
»Auf Deiner Reise hierher?«
»Eine Institutsgefährtin war plötzlich Braut geworden. Sie wurde im eigenen Wagen abgeholt und nahm mich bis Kurtheim mit. Sie erzählte mir, dass sie ihren Bräutigam gar nicht kenne; dass sie verlobt worden, weil ihr Bräutigam Millionär und angehender Staatsrat sei. … Heute, sagte sie, werde ich mit ihm auf einem Gute zusammentreffen – ich kenne nicht einmal seinen Namen!«
»Ist das möglich?« sagte Lotfahr.
»So fragte ich auch«, erwiderte Burgei, »und wollte wissen, ob sie glaube, dass sie in die Heirat willigen könne. Warum nicht? sagte sie. Mein Bräutigam ist angesehen, reich – etwas mehr oder weniger gut von Charakter oder hässlich von Gestalt könne dabei nicht in Betracht kommen!«
»Solche Grundsätze in diesen Jahren!« rief Lotfahr tadelnd.
»O noch mehr!« fuhr Burgei fort: »Dieselbe Gefährtin erzählte mir, dass sie trotz ihrer künftigen Ehe – ihre Liebschaft mit einem Husarenleutnant nicht aufgeben werde!«
»Traurig – schlimm steht vieles!« sagte Lotfahr nachdenklich: »Der Himmel muss große Nachsicht haben!«
»Ja, Vater … und wie ich sehe – auch mit meinem Vaterhause«, sagte Burgei.
»Wieso, mein Kind?« fragte Lotfahr.
»Ich finde da alle Eingänge bekränzt – die Hallen und Treppen festlich geschmückt – ein hoher Freudentag scheint über unserem Hause aufgegangen – und doch ist heute – Vater! … Es ist der Todestag der Mutter heute!«
»Burgei – Kind – Du weißt nur nicht …« sagte Lotfahr betroffen und unruhig.
»Ich weiß nur«, fiel ihm Burgei in das Wort, »dass heute vor Jahren – um diese Stunde – während ich mit dem Bruder in dem Turme lag, ein Glöcklein im Schloss gezogen wurde, ein dumpfer Gesang der Priester erklang und die Mutter ihren letzten schweren Gang antreten musste … Man teilte mir mit, welche Stunde gekommen und ließ mich dann allein, darüber nachzudenken – und ich war mich zu Boden und wand mich in Schmerz und Not und drückte mit das Oh wund an der Wand – um vielleicht einen Laut – einen letzten Laut aus liebem Muttermunde zu vernehmen …«
»Burgei – Burgei!« rief Lotfahr schmerzlich aufgeregt und ergriff ihre Hände: »Nicht so – nicht das – Du weißt ja nicht …«
»Was weiter geschah – ich weiß es freilich nicht!« fuhr Burgei fort, die Blicke schwer von Tränen: »Bewusstlos lag ich da in meinem Turm und kam erst wieder zu mir, als ich befreit und zu Ihnen gebracht wurde, Vater.«
»Du triffst mein Herz ins Tiefste«, rief Lotfahr schmerzlicher bewegt: »Aber Du tust mir Unrecht. Der Graf – Du weißt, wie er das Ende der Mutter bedauert und für unser Wohl besorgt gewesen – der Graf soll wieder in den Krieg, alles ist bereit zum Abmarsch – und er wünsche noch einmal Gast in unserem Hause zu sein. Er selbst hat sich den heutigen Tag erbeten – er dachte freilich nicht daran, welches Schicksal sich uns heute jährt!«
»Sie hätten es ihm sagen sollen«, rief Burgei: »Gerade, weil er so viel Teilnahme für uns hegt, wäre er Ihnen für die Offenheit dankbar gewesen!«
»Einem so hohen Herrn den Tag verderben!« sagte Lotfahr bezeichnend: »Ihm, der fröhlich unser Gast sein will, die Türe weisen – vor seinem Abmarsch in den Krieg – aus dem er gar nicht wiederkommen könnte!«
In diesem Augenblicke erschien Tobias mit einem Briefe, dessen Inhalt dem Gespräche plötzlich eine höchst bedeutsame, überraschende Wendung gab …