Wilhelm Raabe
Pfisters Mühle
Wilhelm Raabe

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Zweiundzwanzigstes Blatt

Von Vater Pfisters Testament, der Mühlen Ausgang und Fortbestehen, und wozu doch am Ende das Griechische nützt.

Und da sitze ich wieder an meinem feststehenden, soliden Arbeitstisch, den ersten Packen korrigierter blauer Schulhefte auf dem Stuhl neben mir. Nun könnte ich mich selber literarisch zusammennehmen, auf meinen eigenen Stil achten, meine Frau und alle übrigen mit ihren Bemerkungen aus dem Spiel lassen und wenigstens zum Schluß mich recht brav exerzitienhaft mit der Feder aufführen. Wenn ich wollte, könnte ich jetzt auch noch das ganze Ding über den Haufen werfen und den Versuch wagen, aus diesen losen Pfisters-Mühlen-Blättern für das nächste Jahrhundert ein wirkliches druck- und kritikgerechtes Schreibekunststück meinen Enkeln im Hausarchive zu hinterlassen.

Und es fällt mir nicht ein – es fällt mir im Traume nicht ein! Ich werde auch jetzt nur Bilder, die einst Leben, Licht, Form und Farbe hatten, mir im Nachträumen solange als möglich festhalten!

So schreibe ich weiter, während ich Emmy nebenan fröhlich lachen und meine alte Wärterin und Pflegemutter »einen wahren Trost im Dasein« betitulieren höre.

Das alte, tapfere Mädchen, die Christine! Sie hat gottlob ihre Beschäftigungen gefunden, die auch in Berlin nicht leicht zu Atem und vielem Nachdenken über das Vergangene kommen lassen! Wir haben alle unsere Beschäftigung: Emmy in ihrem Haushalt und, merkwürdigerweise, in merkwürdig viel Nachdenken über die nächste Zukunft, ich in ebendem und meiner Quinta und Doktor A. A. Asche auf Lippoldesheim oder, wie er sonst sein großes »Etablissement« zu benamsen beliebt: Rhakopyrgos, arx panniculorum – Lumpenburg. Frau Albertine Asche, geborene Lippoldes, hat auch ihre Beschäftigung vom Morgen bis zum Abend in Lippoldesheim. –

»Lippoldesheim!« brummt der berühmte chemische Universalfleckenreiniger, Schön- und Neufärber. »Klingt es dir nicht auch etwas affektiert, Pfister, wenn man das deutsche Drama im allgemeinen und den wackern, armen, guten Teufel, meinen seligen Schwiegervater, im besondern dranhält. Ja, aber wie kommen Namen in die Welt!«

»Jawohl, wie kommen Namen in die Welt? Das ist eben eine solche Frage wie die: Wo bleiben alle die Bilder, Freund Adam!«

Da ist er selber, Doktor Adam Asche aus Lippoldesheim und von Rhakopyrgos. Er hat Geschäfte in der Stadt gehabt, sogar Börsengeschäfte, und ladet sich bei uns ein auf kleinbürgerlich Tagesglück und setzt Emmy und Christine glücklicherweise durchaus nicht dadurch in Verwirrung. Uns ladet er ein, am Nachmittag mit ihm hinauszufahren und den Abend und den morgenden Sonntag in der »schönen Natur« zu verbringen. Er hat die Stirn, die Umgebung seiner großindustriellen Fabrik eine »schöne Natur« zu nennen, und wir freuen uns wirklich sehr auf dieselbe und sind bereit zu der Fahrt, auch Jungfer Christine, auf die Samse sich unmenschlich freut.

Übrigens fängt mein Exmentor merkwürdig rasch an, beleibt zu werden, und das steht ihm gar nicht übel. Seine Nachmittagsruhe hält er seit lange nicht mehr unter jedem beliebigen Busch im Felde. Diesmal liegt er auf meinem Sofa nach Tisch; aber er hält die Arme noch nach alter Weise dabei unterm Hinterkopf und behält die Zigarre auch im tiefsten, süßesten Schlummer zwischen den Zähnen – einem bemerkenswert intakten Gebiß.

Die Stunden des Sonnabendnachmittags gehören mir mehr als alle übrigen der Woche; nun schreibe ich in ihnen, während das Leben weiter wühlt, von Vater Pfisters letzten Tagen. –

Krickerode war rechtskräftig verurteilt worden. Das Erkenntnis untersagt der großen Provinzfabrik bei hundert Mark Strafe für jeden Kalendertag, das Mühlwasser von Pfisters Mühle durch ihre Abwässer zu verunreinigen und dadurch einen das Maß des Erträglichen übersteigenden übeln Geruch in der Turbinenstube und den sonstigen Hausräumen zu erzeugen, sowie das Mühlenwerk mit einer den Betrieb hindernden, schleimigen, schlingpflanzenartigen Masse in gewissen Monaten des Jahres zu überziehen.

Das ist sehr gut für andere Flußanwohner, ob sie eine Mühle haben oder nicht; aber Vater Pfister macht wenig Gebrauch mehr von dem durch Doktor Riechei für ihn erfochtenen Sieg. Das hätte früher kommen müssen – an jenem Tage schon, an welchem er sich zum erstenmal fragte, wo eigentlich sein klarer Bach – der lustige, rauschende, fröhliche Nahrungsquell seiner Väter seit Jahrhunderten – geblieben sei und wer ihm so die Fische töte und die Gäste verjage. Zu lange hat zuerst der alte Mann das widerwärtige Rätsel selber sich lösen wollen. Zu sehr hat er sich ärgern müssen innerhalb und außerhalb seines sonst so lustigen Besitzes auf dieser Erde. Der Ärger über seine Nachbarschaft, seine Knappschaft und seine Gäste hat ihm das Herz abgefressen, und so mußte es ihm sogar zu einem Troste werden, daß »sein Junge doch nicht die alte Ehre, den alten Ruhm von seiner Vorfahren wackerm Erbteil aufrecht und im Getriebe halten könne, sondern, Gott sei Dank, einen Abweg ins Gelehrte durch die Welt eingeschlagen habe«.

Und noch ein schönerer Trost ist ihm gegeben worden, daß die Sonne im Scheiden, wenn nicht so vergnüglich wie sonst, doch ebenso schön, ja noch schöner als sonst über Pfisters Mühle leuchte: des armen, untergegangenen Poeten Kind, Albertine Lippoldes!

Es war im Herbst des Jahres, das der schlimmen Weihnacht folgte, nach welcher das heimatlose Mädchen als letzter, liebster Gast unter meines Vaters freundliches Dach eingeladen und in Zartheit und Sicherheit gebettet wurde. Ich hatte eben die Bekanntschaft meines jetzigen Schwiegervaters gemacht, und zwar infolge eines andern Miteinanderbekanntwerdens, über das sich Emmy heute noch nicht wenig verwundert stellt, wenn die Rede auf jene Zeiten kommt.

»Und wir dachten doch damals noch gar nicht aneinander«, pflegt mein Liebchen zu sagen; aber – dem sei nun, wie ihm wolle – ich ging eben schon in jenem Herbst zuerst mit Rechnungsrat Schulze auf seinem sonderbaren Spazierplatze lustwandeln, dachte aber freilich dabei an ihn selber nur so viel, als unumgänglich nötig war, was der Unterhaltung jedoch nicht Abbruch tat, sondern mich sogar bewog, so gesprächig als möglich zu sein und stets der Meinung des grauen, skurrilen Humoristen bei jedem Thema, welches er neben seinem Taxus und seinen Trauerweiden knarrend aufs Tapet brachte.

Es war zu Anfang Oktobers, und warme, sonnige Tage waren, wie die Götter sie nicht immer um diese Jahreszeit über Norddeutschland hinzubreiten belieben. Die Bäume schienen in diesem Jahre länger als sonst ihre Blätter, die Blumen, sowohl in den Gärten wie auf Vater Schulzes Friedhofe, länger ihre Blüten festzuhalten. Die Zeitungen brachten unter ihrem Vermischten in dieser Hinsicht merkwürdige Einzelheiten, und Fräulein Emmy Schulze sagte zu mir:

»Nein, Herr Doktor, Papa hat ganz recht, es ist eigentlich zu angenehm so! Und, Papa, rede nur nicht, das weiß ja jeder schon selber, daß es so hübsch nicht bleiben wird.«

Auf Vater Schulzes Kirchhofe hatte mich der Briefträger aus einem der Treppenfenster der umliegenden Häuser erspäht und kam, um mir den letzten Brief meines Vaters aus Pfisters Mühle über das Gitter zu reichen. Einen Brief in sehr veränderter Handschrift, doch im vollkommen unveränderten Stil des alten Herrn:

»Mein Junge, tust mir 'nen Gefallen, wenn Du für acht Tage Urlaub nimmst. In Familienangelegenheiten, kannst Du vorschieben. Und bring Doktern Asche möglichst mit. Hätte mit ihm auch einiges zu besprechen. Neuigkeiten nicht zu vermelden als eine Kuriosität, die ich aber auch schon öfters erlebt habe. Eine der Kastanien am Wasser, dritter Tisch in der Reihe rechts, blüht zum andernmal.

Wir grüßen Dich alle. Fräulein Albertine auch. Und sind recht gesund. Aber komm doch lieber auf ein paar Tage.

Dein Vater.«

Doktor Adam Asche hatte wie immer »alle Hände voll« in seinem merkwürdigen, aber gewinnbringenden Geschäft; als ich ihm jedoch diesen Brief aus der Heimat zu lesen gab, wunderte mich die Hast, mit der er ihn nahm, die Langsamkeit, mit der er ihn zurückreichte, und der Eifer, mit welchem er seine Bereitwilligkeit, mich zu begleiten, kundgab.

Er fragte durchaus nicht: Was kann der Alte mir zu sagen haben? Er nahm mich an der Schulter, schob mich aus seinem modernen Alchemistengewölbe und rief:

»Packen! Sofort packen! Du tust sofort die nötigen Schritte bei Abt und Prior; ich mit meinem Reisesack bin unter allen Umständen morgen abend auf dem Bahnhof und fahre ab. Wir benutzen den Nachtzug und sind bei guter Zeit in der Mühle. Jetzt halte mich und dich nicht länger auf, Mann! Packe dich und packe so rasch als möglich!« –

Wir kamen diesmal bei hellem, klarem Himmel zu Hause an. Der leichte Dunst auf der sonnigen Ferne deutete tausendmal eher auf einen neuen Frühling als auf den nahen Winter hin. Aber man hatte uns Samse mit dem Mühlenfuhrwerk nach dem Bahnhof geschickt, und obgleich der getreue Knecht niemals ein allzu fröhlich Gesicht machte, erschrak ich doch heftig, als ich ihm jetzt in es hineinsah.

»Wie steht es daheim, alter Freund?«

»Schlimm«, antwortete Samse kurzab. »Hat er denn gar nichts davon geschrieben?«

»Daß er mich und den Doktor Adam sprechen will, daß ihr alle gesund seid und daß die Kastanien in unserm Garten zum zweiten Male blühen.«

»Du lieber Himmel!« seufzte Samse. »Da bleibt uns denn wohl nichts anders übrig, als daß wir machen, daß wir möglichst bald nach Hause kommen, um ihn leider Gottes in der Hauptsache Lügen zu strafen. Vor der Apotheke muß ich doch noch mal anhalten.«

Wir warfen in aller Hast unser weniges Gepäck in den wohlbekannten Korbwagen und fuhren im Trabe rasselnd durch die wohlbekannten, auch schon in der Morgensonne lebendigen Gassen der Stadt. Vor der Apotheke ließ mir Samse die Zügel, kam mit einer giftig aussehenden Arzneiflasche aus dem Hause wieder zum Vorschein und brummte seufzend:

»Wenn das was helfen könnte! Ja, wenn sie es ihm vor Jahren in seinen Bach bei Krickerode hätten schütten und sein Leben und Gemüte dadurch reinlich hätten halten können! Der Doktor weiß es auch selber gut genug, daß es nur eine Komödie damit ist, und der Meister selber weiß es erst recht. Ihr Herren, fragt mich nur nicht weiter; ihr werdet ja bald selber sehen, wie es mit uns steht, trotzdem daß die Bäume in unserm Garten zum zweiten Male blühen.«

Wir kamen an in Pfisters Mühle, und wir sahen selber. Das heißt, wir fanden den lieben alten Vater zum Sterben krank in seinem Lehnstuhl, in heftigen Atembeschwerden nach Luft ringend, und doch bei unserer Ankunft aus der Welt des Lärms, der pädagogischen Experimente, des Lumpenreinigens und des Gelderwerbens gottlob wieder mit dem alten, guten Lächeln um die trostlos blauen Lippen. Wir fanden ihn reinlichst in seinem hellen Müllerhabit in seiner Urväter altem gepolstertem Eichenstuhl und zu seinen Füßen auf meiner Mutter Schemelchen Albertine Lippoldes mit einem Buche auf den Knieen.

Sie hatte ihm daraus vorgelesen – aus einem von ihres Vaters Geschichtsdramen nämlich, denn – »er tat in seiner letzten Zeit nichts Lieberes als das anzuhören«, meinte Christine später. »Unsereinem hielt es den Atem an, wenn man auch nur das wenigste davon verstand; aber er atmete besser dabei, und es war ihm eine Beruhigung, daß es selten einem Kaiser und König und grausamen griechischen und römischen Soldaten und allen vornehmsten Damen gegen Ende ihrer Komödien besser ergehe als dem Müller von Pfisters Mühle.« –

Als bei unserm Eintritt das Fräulein erschreckt und errötend sich erheben wollte, legte ihr Vater Pfister die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft wieder nieder. Die andre Hand streckte er uns entgegen:

»Guck mal, so schnell seid ihr da? Das ist schön! Und du auch, Doktor Adam – trotzdem daß man keine Zeitung umwenden kann, ohne dich hinten drin zu finden unter Pauken und Posaunen mit deinem Mordgeschäft von Allerweltswäsche. Das ist brav! Und du, Junge, Ebertchen, nun zieh mir nur keine Gesichter; bin ganz zufrieden mit mir und ebenso mit unserm klugen Herrgott, wenn der mal wieder das Beste wissen sollte und den alten Pfister, Jacke wie Hose, in seine wirkliche, gründliche große Wäsche nähme. Ein gar lustiges Trockenwetter schickt er ja dazu schon im vorauf – die beste Luft, die er hat, für 'nen Patienten wie ich. Offene Fenster den ganzen Tag und zu Mittag im Rollstuhl unterm blühenden Baum im Oktober! Was will da unsereiner mehr?... Nun legt ab und macht's euch behaglich und spielt nicht die Narren, wenn's euch auch einleuchtete, daß ihr zum letzten Kommers in Pfisters Mühle verschrieben seid, Kommilitonen! Helft mir Kontenance behalten und tragt's euerm alten Schoppenwirt nicht nach, wenn er die letzten Jahre durch zu muffig den Philister herausgekehrt hat. Willkommen denn zum letztenmal im Bund – und sieh, Ebert, das liebe Fräulein und mein liebes Kind hier hat mich noch in die Schule genommen; und dich, Adam, habe ich diesmal nicht berufen, mir meinen Mühlbach auf Krickerode zu untersuchen, sondern dich mit allen deinen Wissenschaften und Chemikalien und richtigen Begriffen von unserm Verkehr auf der Erde auch noch mal in die Schule zu geben.«

»O, wie gern kniee ich mit umgehängtem Esel auf Erbsen, Vater Pfister!« rief Adam Asche mit sehr unsicherer Stimme, und das liebe Fräulein fuhr nun doch auf und trat hinter den Stuhl des kranken Greises, wie um ihn als eine Schutzwehr oder als ein Katheder zu benutzen: ein Lachen, das ganz Pfisters Mühle in ihren besten Tagen war, verklärte das fieberheiße Gesicht des guten, schlauen letzten Wirtes von Pfisters Vergnügungsgarten. –

Zu Mittage am andern Tage, als dann wiederum diese Herbstsonne wie im vollen Sommer den leeren Garten anlachte, saßen wir am dritten Tisch in der Reihe rechts unter dem noch einmal so kurz vor dem ersten Schneefall blütentragenden Kastanienbaum, alle, die wir nach gestelltem Rade und abgenommenem Schenkenzeichen noch dazu gehörten: unser lieber Meister und Vater Bertram Pfister, Fräulein Albertine Lippoldes, Doktor A. A. Asche, Jungfer Christine Voigt, Samse und ich, Doktor Eberhard Pfister; und der Vater Pfister hielt in Atemnot und bei von den Füßen aufwärts steigender Wassersucht seine letzte Tischrede in seinem Garten. Sie floß ihm leider damals nicht so leicht hin, wie mir jetzt hier aus meiner Feder.


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