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Zu leeren Tischen und Bänken
Es war ein eigen Ding um die Mühle, von der hier die Rede ist. Im Walde lag sie nicht, und verlassen war sie grade auch nicht. Ich hatte sie nur verkauft – verkaufen müssen –, aber vier volle Sommerwochen war sie noch einmal mein Eigentum. Dann erst traten die neuen Besitzer in ihr ganzes Recht an ihr. Ich hatte mir das nicht so ausbedingen und es mir schriftlich geben lassen können, aber die jetzigen Herren hatten gegen meine »seltsame Idee« nichts einzuwenden gehabt, sondern mich und meine Frau sogar recht freundlich eingeladen, bis zum Beginn des Baus ihrer großen Fabrik auf ihrem Besitz ganz zu tun, als ob wir daselbst noch zu Hause wären. Einmal also sollte ich sie noch für mich haben, wie ich sie seit meinem ersten Augenaufschlagen in dieser Welt kannte und in meinen besten Erinnerungen mit ihr verwachsen war. Nachher durften freilich die neuen Herren mit ihr anfangen, was sie wollten: ich und mein Weib hatten weder ein Wort noch einen Seufzer dreinzugeben. Ich wußte schon, daß sie, die nunmehrigen Eigentümer, sich große Dinge mit ihr vorgenommen hatten, für mich aber konnte leider Gottes mein Vätererbe nichts weiter sein als ein großes Wunder der Vorwelt, ein liebes, vergnügliches, wehmütiges Bild in der Erinnerung. Und ich hatte meine junge Frau dies Jahr, das erste Jahr unserer Ehe, nicht nach der Schweiz, nach Thüringen oder in den Harz in die Sommerfrische geführt, sondern nach meiner verlassenen Mühle. Was sollte daraus werden, wenn das Weib dem Manne nicht in seine besten Erinnerungen zu folgen vermochte? Schnezlers Romanze hatte sie meinem »ewigen Gesumme« im Eisenbahnwagen von Berlin her bereits so ziemlich abgelauscht und abgelernt und mehr als einmal dabei gesagt: »Bald kann ich's auch auswendig, Miezchen!«, wobei sie dann hinzusetzte: »Auf deine väterliche Heimat bin ich aber doch sehr gespitzt, mein Herz.« – –
Meine väterliche Heimat! Daß ich gespitzt oder gespannt auf meinen Aufenthalt und mein unwiderruflich Abschiednehmen dort gewesen sei, kann ich nicht sagen. Der Ausdruck, selbst aus dem Munde der Liebe oder grade aus diesem lieben, zärtlichen Mündchen, war mir auch gar nicht zu Sinne, wenn ich gleich im Rädergerassel, in ein Geschrill der Dampfpfeife und dem Getümmel der Bahnhöfe nicht wußte, wie ich ihn verbessern sollte.
In den Wald hinein rauschte das Wasser nicht, das die Räder meiner Mühle in meinen Kindheits- und Jugendtagen trieb. In einer hellen, weiten, wenn auch noch grünen, so doch von Wald und Gebüsch schon ziemlich kahl gerupften Ebene war sie, neben dem Dorfe, ungefähr eine Stunde von der Stadt gelegen. Aus dem Süden kam der kleine Fluß her, dem sie ihr Dasein verdankte. Ein deutsches Mittelgebirge umzog dort den Horizont; aber das Flüßchen hatte seine Quelle bereits in der Ebene und kam nicht von den Bergen. Wiesen und Kornfelder bis in die weiteste Ferne, hier und da zwischen Obstbäumen ein Kirchturm, einzelne Dörfer überall verstreut, eine vielfach sich windende Landstraße mit Pappelbäumen eingefaßt, Feld- und Fahrwege nach allen Richtungen und dann und wann auch ein qualmender Fabrikschornstein – das war es, was man sah von meines Vaters Mühle aus, ohne daß man sich auf die Zehen zu stellen brauchte. Aber die Hauptsache in dem Bilde waren doch, und dieses besonders für mich, die Dunstwolke und die Türme im Nordosten von unserm Dörfchen. Mit der Natur steht die Landjugend auf viel zu gutem Fuße, um sich viel aus ihr zu machen und sie als etwas anderes denn als ein Selbstverständliches zu nehmen; aber die Stadt – ja die Stadt, das ist etwas! Das ist ein Entgegenstehendes, welches auf die eine oder andere Weise überwunden werden muß und nie von seiner Geltung für das junge Gemüt etwas aufgibt.
Was alles, worüber ich heute noch Rechenschaft ablegen kann, habe ich erlebt in dieser Pappelallee, auf dem Wege von und nach der Stadt!
Und sie stand noch dazu in einem ganz ausnahmsweise angenehmen Verhältnis zu uns in der Mühle, diese Stadt!
Dutzende von nunmehr vermorschenden Tischen und Bänken unter unsern Kastanien und Linden, in Gebüsch und Lauben, auf behaglichen Rasenflecken zeugen noch davon. Heute haben Emmy und ich die Auswahl unter allen diesen behaglichen Plätzen und das Reich allein an allen Tischen und auf allen Bänken. Es hindert uns nichts mehr, in meines Vaters Grasgarten, um der Sonne auszuweichen oder sie zu suchen, mit dem Buch und der Zigarre, der Häkelarbeit und der Kaffeekanne um ein paar Schritte weiterzurücken; aber einst war das anders.
Es gab eine Zeit, wo Emmy mehr die Auswahl unter den Studenten aus der Stadt als unter den Plätzen im Mühlengarten gehabt hätte. Aber nicht bloß unter den Studenten. Es gab damals keinen angenehmern Ruf als den meines Vaters mit seinem kühlen Bier, seinem heißen Wasser zum billigen Kaffeekochen und seiner süßen und sauern Milch. Sie kannten alle in der Stadt unsere Mühle, groß und klein, Gelehrte und Ungelehrte, hohe Regierende und niedere Regierte.
Wir waren von Urväterzeiten die Leute darnach und lieferten den Bauern im Dorf und den Bäckern in der Stadt nicht bloß das Mehl, sondern auch noch einiges andere zu dem allgemeinen Behagen der Welt. Soweit die deutsche Zunge klingt, sitzen heute noch Alte Herren auf Kathedern, Richterbänken und an Krankenbetten, ganz abgesehen von denen, die allsonntäglich auf Kanzeln stehen; und in die Schulstube, den Schwurgerichtssaal, die Krankenstube und das Räuspern und Schnauben der »christlichen Zuhörer« summt es ihnen aus zeitlich und räumlich entlegener Ferne:
»Weende, Nörten, Bovenden
Und die Rasenmühle,
Das sind Orte, wo man kann
Sich behaglich fühlen.«
Die Rasenmühle ist es freilich nicht, von welcher hier die Rede ist; aber es wiederholt sich gottlob manches Gute und Erquickliche an andern Orten unter andern Namen. Auch mein väterlich Anwesen hat seine Stelle in mehr als einem ältern Studentenliede, und wir, die Pfister von Pfisters Mühle, können nichts dafür, daß künftige Generationen, wenn sie ja noch singen, nicht mehr von ihm singen werden.