Wilhelm Raabe
Pfisters Mühle
Wilhelm Raabe

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Sechstes Blatt

Eine nachdenkliche Frage

»Wo bleiben alle die Bilder?« das ist eine Frage, die einem auf jeder Kunstausstellung wohl einige Male ans Ohr klingt und auf die man nur deshalb nicht mehr achtet, weil man dieselbe sich selber bereits dann und wann gestellt hat. Man sieht sich nicht einmal die Leute, die das Wort aussprechen, drauf genauer an. Die Frage liegt zu sehr auf der Hand: wo bleiben alle die Bilder?

Ein anderes mit dem Aufachten und der Beantwortung ist's freilich, wenn einem vor all der unendlichen, bunten Leinwand in den goldenen Rahmen die eigene junge Frau die Bemerkung macht und uns unsere Meinung und Ansicht darüber nicht schenken will.

Mich persönlich ergreift sehr bald in einer solchen großen Ausstellung ein melancholisches Unbehagen, das nicht die gewöhnliche, aus dem »Bilderbesehen« hervorgehende, körperliche Ermüdung ist. Und es ergreift mich um so mehr, als ich gottlob mich zu denen zahlen darf, die wie der alte Albrecht von Nürnberg am liebsten ihre Kritik in die Worte fassen: »Nun, die Meister haben ihr Bestes getan!« – Wahrlich, es sind nicht immer die, welche vom Publikum Meister genannt werden und sich selber so nennen, die ihr Bestes tun! Es gehört zu manch einer mutigen, heißen, fieberhaft ihr Bestes geben wollenden Seele eine ungeschickte, zaghafte Hand. –

»Wo bleiben alle die Bilder? Man begegnet ihnen doch nie wieder außerhalb dieser Wände. Meine Bekannten haben noch nie eines von ihnen gekauft. Und immer malen die Herren Maler andere, wenn es auch von Jahr zu Jahr so ziemlich immer die nämlichen bleiben. Für ihren Spiegel und dergleichen wird so eine Künstlerfrau recht bald keinen Platz übrigbehalten, und wenn sie sie nachher auch eins übers andere an die Wand lehnt, so wird sie sich doch allmählich im Raum recht beschränkt fühlen. Aber vielleicht werden sie übers Meer verschickt, nach fremden Weltteilen, wo die Leute mehr Geld für so was haben und mehr Gelegenheit an den Wänden und wo auch die Fliegen im Sommer nicht so unangenehm werden.«

»Und wo die Leute vielleicht, abgesehen vom Geld, von den Wänden und den Fliegen, mehr Geschmack und weniger Kunstverständnis haben, mein Schatz. Du hattest eine Idee, Liebchen; aber ganz löst sie die Frage doch nicht: Wo bleiben alle diese Bilder – alle diese Wälder und Felder, Wasserfälle und italienischen Seen, diese angenehmen Stilleben und schrecklichen Stürme zu Land und Meer, all das Genre, all die Historie, diese Schlachten und Mordgeschichten? Komm du nur noch ein paar Jahre unter meiner Führung hierher, um dein liebes, kluges Alltagsnäschen und dein hübsches Sonntagshütchen hier mit mir zum Besten der Kunst spazierenzuführen, und ein großes Licht soll dir aufgehen.«

»Darauf bin ich neugierig, du Spötter.«

»Es sind nur die Umrisse und die Farben, welche wechseln; Rahmen und Leinwand bleiben. Jaja, mein armes Kind, es würde uns, die wir selber vorübergehen, den Raum arg beschränken im Leben, wenn alle Bilder blieben!«

»Das ist mir zu hoch«, hat Emmy, Gott sei Dank, damals gesagt, und es bleibt, jedenfalls noch für längere Zeit, eines der hübschesten Bilder meines Lebensbilderbuches, sie in unsern Flitterwochen glücklich, lächelnd, tänzelnd am Arm zu haben, sie aus den heiligen, aber kühlen Hallen der bildenden Kunst in den warmen Sonnenschein der menschenwimmelnden Straße und die nächste elegante Konditorei zu führen, sie dort zierlich Eis essen zu sehen und das Hin- und Herwogen der Tagesmoden draußen vor den glänzenden Riesenspiegelscheiben mit den Bildern in ihrer Modenzeitung zu Hause vergleichen zu hören.

Aber es regnet heute rund um Pfisters Mühle und auch auf dieselbige. Derselbe Rahmen und dieselbe Grundfläche wie vorgestern; aber ist das noch dasselbe Bild wie vorgestern? Ein tüchtiger und, wie die Bauern meinen, sehr erwünschter Landregen kommt seit gestern herunter. Wir haben es versucht, unterm Regenschirm die Stadt zu erreichen, aber es hoffnungslos aufgegeben. Nun sitzen wir im Oberstock des Hauses am geöffneten Fenster und hören und sehen dem Regen zu, ich durch den Rauch meiner Zigarre, Emmy über eine merkwürdig künstliche weibliche Arbeit, die darin besteht, Löcher und Zacken in einen langen Streifen weißer Leinwand zu schneiden und den angerichteten Schaden vermittelst der Nadel eifrigst wiedergutzumachen. Von der Landschaft jenseits des Flusses ist wenig zu sehen, große Sümpfe stehen unter den triefenden Bäumen im Garten, es triefen die alten Tische und Bänke, und alle Enten sind ans Land gestiegen und doch in ihrem Elemente geblieben, wie Emmy sich ausdrückt. »Denen ist's egal!« sagt sie und seufzt und schlägt die großen Sammetaugen von ihrer Unterrocksborde auf und sieht mich mit einem solchen Ausdruck von himmlischer, aber hoffnungsloser Geduld und Ergebung an, daß mich eine unsägliche Armesünderstimmung und das ganz bestimmte Gefühl überkommt, daß ich dieses Wetter angerichtet habe, daß ich für es und alle seine Konsequenzen bedingungslos verantwortlich bin.

»Auch in Baden-Baden, Wiesbaden und Baden bei Wien regnet es heute vielleicht und vielleicht ärger als auf Pfisters Mühle, mein Herz«, wage ich schüchtern zu flüstern; aber Emmy geht durchaus nicht darauf ein.

»Ich mache dir ja gar keinen Vorwurf, mein Schatz«, sagt sie, »aber leugnen mußt du es mir auch nicht: im Grunde ist es doch nur Wasser auf deine Mühle, und ich merkte es dir gleich an, wie recht es dir kam und wie wohl dir wurde, als sich der Himmel bezog und dich unsrer Absicht, heute abend im Sommertheater in der Stadt Fatinitza zu hören, entledigte. Es ist zwar wirklich unendlich lieb, so zu sitzen und noch mehr als sonst auf uns allein und die Jungfer Christine angewiesen zu sein; aber dann solltest du auch deine Mappe zulassen und deine Dinte für Berlin und unser Nachhausekommen sparen. Was habe ich heute davon, daß du alles das, was du da Lustiges, Rührendes und Interessantes zusammenschreibst, mir nächsten Winter vorlesen willst? Da war es ja fast auf Papas Kirchhofe amüsanter.«

Auf Papas Kirchhofe!... Wo bleiben alle die Bilder?... »He, he, he«, pflegte mein Schwiegervater, der damals, in jenen seligen Tagen des Zweifels und der Erfüllung, noch nicht mein Schwiegervater war, auf seinem Kirchhofe zu kichern. »He, he, junger Freund und Hosenpauker, nach getaner Arbeit ist gut ruhn, he he? Könnten auch die Pferdebahn benutzen und weiter draußen im Grün bei einer kühlen Blonden sitzen und halten sich doch in der Stadt und gehen mit dem Alten von Aktenberge, dem alten Spitzbuben Schulze, auf seinem Landbesitz spazieren und genießen den lieblichen Abend! Seltsam, aber – vielleicht nicht unerklärlich. Ist in der Tat in der jetzigen Zeit was Neues, mal beim Alten zu bleiben, he he he!«

Und es war in der Tat ein eigentümlicher Ort zum Lustwandeln, von und auf dem der alte Herr damals sprach und von dem meine junge Frau eben redete. Ein Kirchhof! Wenn nicht im Mittelpunkte der beträchtlichen Stadt Berlin, so doch inmitten einer der Vorstädte, und zwar nicht einer der ältesten! Ein grüner, busch- und baumreicher Fleck, im Viereck von neuer, modernster Architektur umgeben und von praktisch zwar noch imaginären, aber in der Theorie fest auf dem Papier des Stadtbauplans hingestellten Straßenlinien überkreuzt.

»Stehe auf meinem Schein, mich hier noch begraben lassen zu dürfen und sie noch dreißig lange Jahre nach meinem Tode ärgern zu können, die Fortschrittler«, grinste mein Schwiegervater. »Wenn Sie mich einmal wieder besuchen, will ich ihn Ihnen zeigen, den Schein, junger Herr, he he, he he. Andere Wertpapiere sind mir im Verlaufe der Tage so ziemlich abhanden gekommen; aber dies habe ich sicher in der Schublade hinter Schloß und Riegel, und sein Kurs ist gestiegen und steigt, steigt – steigt. Ich habe es aber meiner seligen Frau Mutter versprochen, mich meinerzeit neben ihr zur Ruhe zu legen. Brave, aber eigensinnige alte Dame, die sich merkwürdigerweise etwas darauf einbildete, noch einen Kalkulationsrat, Steuerzahler, Hungerleider und Asthmatikus mehr in die üble Luft dieser Welt gesetzt zu haben. Wie sie so sanft ruhn, alle die Seligen, und – es ist mir in der Tat ein Vergnügen, hier mit Ihnen zu promenieren, jugendlicher Freund, und Sie auf die Lächerlichkeit mannigfacher Prätensionen des Menschen hinzuweisen. Rauch ist alles irdische Wesen – und eine der größten Lächerlichkeiten ist's, daß man hier nicht rauchen soll. Hier! – Meiner seligen Frau in ihrer ewigen Ruhe war das Reglement an der Pforte gegen Hunde und Zigarren freilich ganz aus der Seele geschrieben. Der durfte ich natürlich nicht mit der Pfeife in die beste Stube kommen und würde es mir also auch hier nicht erlauben, sondern höchstens kalt rauchen oder lieber das Rohr an das Sofa stellen oder es am besten ganz vor der Tür lassen.

»O Papa, wie kannst du nur so reden?« pflegte dann Emmy gegen den Papa dieselbe Redensart zu gebrauchen, welche sie nun so häufig gegen mich in Anwendung bringt. Mir aber würde es heute nicht das geringste nützen, wenn ich es noch leugnen wollte, daß es nicht der skurrile Alte war, dessen philosophischen, moralischen, ethischen und asthmatischen Expektorationen zuliebe auch ich nur zu gern den sonderbaren Erholungsplatz zum Frische-Luft-Schöpfen mir auswählte. Herrn Rechnungsrat Schulzes blondes Töchterlein war's, dem zuliebe ich kam, und – bei den unsterblichen Göttern – es gibt keinen Rahmen, der golden genug ist, um mir das Bildchen für alle Zeit einzulassen und festzuhalten!

Und ein wahres Glück war's, daß nicht jeder das gleiche Interesse und verbriefte Eigentumsrecht des alten Spitzbuben Schulze an der unheimlich-gemütlichen Lustwandelbahn besaß und daß die Büsche um die alten hors de concours gesetzten Grabstellen sehr hoch und dicht ineinander verwachsen waren und daß Emmy und ich ganz genau sämtliche Flecke hinter ihnen zu kennen glaubten, wo man sich auch gegen die Fenster und die Naseweisheit des umliegenden Stadtteiles gedeckt hoffen konnte. Daß wir bald gern in diesen engen, grünen Gängen dem Papa den Vortritt ließen und etwas hinter ihm zurückblieben, vorzüglich an den Wendungen der Wege, ist eine vergnügliche, wonnige Tatsache. Daß ich für meine Person es nie gewesen bin, der den Herrn Rechnungsrat in seinen kuriosen Betrachtungen durch Fragen oder gar den Ruf: So laufen Sie doch nicht so, werter Greis! unterbrach, ist gleichfalls ein Faktum. Es war schon störend genug, daß zuerst Emmy mich unterbrach und, das rosige Mündchen scheu und schämig zurückbiegend, ängstlich flüsterte:

»O, wie kannst du nur so sein!... o bitte! Und gar hier auf dem Kirchhofe!«...

Ja, es ist eine historische Tatsache, daß ich damals so gewesen bin, und glücklicherweise ändert nichts, was uns in Zukunft noch begegnen mag, mehr das geringste dran. Und es ist richtig, daß ich auf jenem Kirchhofe so war, nach welchem Emmy sich heute, während der Landregen ununterbrochen auf Pfisters Mühle herabrauscht, süß-schmollend, so sehr und dazu so lieblich schmeichelhaft für mich zurücksehnt.

Und dessenungeachtet habe ich durchaus keine Lust, den ganzen heutigen Tag mit ihr dort zuzubringen, welche Lust zu ähnlichem Verweilen ich auch unter besagten Umständen damals dazu haben mochte. Wohl fällt ein goldnes Licht, ein wonniglich Glänzen aus der Zeit unserer jungen Liebe auf jenes Land Lemuria zwischen den nüchternen Häusermauern und unter den neugierigen Fenstern der sich ins Unbestimmte ausbreitenden Stadt Berlin; aber wir sind doch eigentlich nicht nach Pfisters Mühle gekommen, um nach dem Verbleiben jenes Bildes zu fragen.

Was für ein Gesicht ich zu der letzten Überlegung geschnitten haben muß, erfuhr ich nicht dadurch, daß ich in den Spiegel sah, sondern auf eine viel angenehmere Weise. Es fiel nämlich drüben an der andern Seite des kleinen Tisches der langzackige Batist- oder Leinwandstreifen in den Schoß, und eine kleine Hand kam über den Tisch herüber und strich mir über die Stirn, nachdem mich zwei ihrer Finger an der Nase gefaßt hatten; und Frau Emmy Pfister geborene Schulze rief:

»Oh, nun guck ihn einer an!... Willst du wohl!... Daß du mir auf der Stelle eine andere Miene machst! Das fehlte mir grade noch! Drei Tage Regen draußen und drei auf deinem Brummbärengesicht sind sechs, und das solltest du mir selbst jetzt, wo wir schon so lange miteinander verheiratet sind, nicht antun wollen!« – Und ich tat es der rechenkundigen Tochter meiner verstorbenen Schwiegermutter und meines noch recht lebendigen Herrn Schwiegerpapas wahrhaftig nicht an. Ich zog sofort meinen Stuhl um den Tisch herum an ihre Seite und legte naturgemäß den Arm um sie; und sie hatte den Kopf an meine Schulter gelegt, und der Regen regnete immerzu, und wir ließen ihn glückselig dabei.

»O, wie konntest du nur so sein und denken, daß ich es nicht ganz genau weiß, wie gut und lieb wir das jetzt hier haben in deiner Mühle und wie traurig das ist, daß wir es hier nie so wieder haben können!« flüsterte sie. »Und es ist auch ganz recht von dir, daß du jetzt im letzten Augenblick noch einmal alles aufschreibst, was du in ihr erlebt hast, und ich freue mich auch schon auf den Winter in der Stadt, wo du es mir hoffentlich im Zusammenhang vorlesen wirst, wenn auch Herr und Frau Asche dabeisein werden; aber ein klein, klein bißchen mehr könntest du wirklich wohl jetzt mit mir darüber reden, wo ich allein bei dir bin und wir alles rundum so himmlisch behaglich und melancholisch für uns allein haben. Ob es dabei regnet, schneit oder ob die Sonne scheint, das ist mir ganz einerlei, du alter, scheußlicher Langweiler!«

Das liebe Wort oder vielmehr die reizende Strafpredigt des Kindes hatte ihre Berechtigung; aber an »jenem Tage« hatte sie nur die Wirkung, die das Buch Galeotto beim scheußlichen alten Langweiler Dante Alighieri auf seinen Paul Böskopf aus Rimini und sein zärtlich Fränzchen von Mehlbrei aus Ravenna ausübte. Wir fanden etwas Besseres zu tun, als einander gegenüber oder nebeneinander zu lesen, Putzmacherei zu treiben oder gar närrisches Zeug für den Winterofen zu Papier zu bringen. Aber sein Recht und seinen Willen bekam das liebe Herz zwischen gutem und schlechtem Wetter, zwischen Tagen und Nächten, im Hause und draußen, unter den Gartenbäumen an den stillen Tischen, unter den Weiden den Bach entlang, auf den Wiesen und zwischen den Ährenfeldern. Ich habe es meiner Frau ziemlich genau von Mund zu Ohr erzählt, was ich zwischendurch denn doch auch auf diesen Blättern für den möglichen Winter meines Lebens an lustigen und traurigen, tröstlichen, warnenden, belehrenden Erinnerungen in meines Vaters Mühle dauerhaft in bleibenden Bildern in goldenem Rahmen zusammensuchte und -trug.

Daß man der Dornen acht',
Das haben die Rosen gemacht.


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