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Unter Vater Pfisters Weihnachtsbaum
Ich habe mein Teil, und glücklicherweise ist es auch seine oder ihre Meinung, daß das ein Glück sei! Da sitzt es oder sie in der Turbinenstube mit dem Nähzeug im Schoß und läßt sich von mir in Ermangelung eines Interessanteren von Pfisters Mühle erzählen in der Villeggiatur. Reizend sieht es aus, mein bescheiden lieblich Teil, neben dem Beutelkasten. Ich weiß nichts Hübscheres in aller weiten und nahen Welt als mein mir beschieden Teil, wie es dasitzt an unserm Tischchen vor dem stillen Kammrad und den unbeweglichen Mühlsteinen, mit dem heißen Tag draußen und dem Fluß, der für jetzt noch munter fort und fort rauscht durch den jetzt so nutzlosen Mühlrechen. Um den Wellbaum herum sucht sich die Sonne aber doch wieder ihren Weg in unsern kühlen Schlupfwinkel und zu meinem jungen Weibe, grad als ob auch sie mir eben mein wonniglich Teil vom Glücke dieser Erde in das beste Licht zu stellen den Auftrag erhalten habe.
Ganz unnötigerweise. Sie sind ja, Gott sei Dank, die besten Freundinnen geworden – Frau Doktor Pfister und Frau Doktor Asche. Sie (Frau Doktor Emmy) wünscht es ja, daß ich ihr von ihr (Frau Doktor Albertine) mehr und genauer Bericht tue als von irgend etwas anderm aus der Zeit des Niedergangs von Pfisters Mühle. Es ist keine Gefahr für unsern häuslichen, ehlichen Frieden dabei, daß auch andere ihr hübsches Teil von der Welt bekommen sollen. Ich kann weiter erzählen von Fräulein Albertine Lippoldes und dem armen Schelm, ihrem Papa, unter meines Vaters Christbaum und an seinem Weihnachtstische und leider auch im, trotz aller Christfestdüfte, nicht wegzuleugnenden Ammoniak- und Schwefelwasserstoff-Geruch von Pfisters Mühle. –
Ach, daß es so häufig, wenn man der nicht mehr vorhandenen Bilder gedenkt, nötig ist, so pragmatisch als möglich zu sein, sobald man von ihnen reden oder gar schreiben will! Wie strahlte Samses Visage in dem Lichte, das von ihm selber ausging – welch eine Gloriole umgab Fräulein Albertinens müdes, freundliches Gesicht vor dem grünen, leuchtenden Tannengezweig – wie hübsch war das Bild im ganzen, meines Vaters Weihnachtsstube mit allen ihren Hausgenossen und Gästen in Pfisters verstänkerter Mühle! Wie ließe sich davon singen und sagen – märchenhaft wundervoll: ich aber habe nüchtern von Felix Lippoldes und seiner Tochter zu berichten.
Nüchtern von Felix Lippoldes! Es gibt noch einige Leute, die noch wissen, wie schwer das, aller Pragmatik in der Welt zum Trotz, seinerzeit war. Am einfachsten ist's hier, ich erzähle nicht, wie ich meiner Frau erzählte, sondern ich schreibe ab aus einer andern Biographie, einem Buche, welches durchaus nicht von meines Vaters Mühle und von Felix Lippoldes handelt, in welchem aber der Name des früheren Besitzers, Doktor Felix Lippoldes, auf der ersten Seite stand und welches nicht durch Zufall unter die wenigen Bände meiner Reisebibliothek geraten war.
»Mittlerweile hatte einer auf die Straße gesehen und rief nun: »›Sieh, da geht er hin!‹ – ›Wo, wo?‹ Und alles drängte sich an die Fenster. Und er ging dahin, ein trauriger Aufzug. Seine Kleidung schien sehr abgetragen und saß sehr nachlässig; der braune Frackrock war hinten am Ellenbogen schon ziemlich weiß geworden, und die weite, schwarze Hose wehte sehr melancholisch um seine dünnen Beine; die dunkle Weste war bis unter dem Halse zugeknöpft, seine grobe Halsbinde ließ nichts Weißes sehen, und auf dem Kopfe trug er eine alte grüne Mütze. In seinem ganzen Körper war kein Halt, er wankte so, daß man fast befürchten mußte, er möchte umfallen; nur langsam bewegte er sich fort nach seiner Weise, wo er die Spitzen der Füße wie zufühlend voraussetzte. –
›Gott, wie betrübt! Nein, so traurig hätt' ich mir's nicht vorgestellt!‹ sagte man. ›Der lebt keinen Monat mehr, es ist aus mit ihm. Übrigens ist es nur gut, er sehnt sich gewiß auch selbst nach dem Tode. Er hat offenbar die Schwindsucht. Der verfluchte Rum!‹ –
Inzwischen kam er an ein paar Knaben vorbei, welche ihm aus dem Wege gingen, ihn anstaunten und die Mützen zogen.
Als er durch das Abnehmen seiner Mütze wieder grüßte, konnte man wahrnehmen, wie sehr ihm das Haar ausgegangen war, sein Kopf war beinah kahl, nur hin und wieder flatterte eine einsame Locke im Winde. Dabei lag auf seinem abgemagerten Gesichte eine tiefe Blässe, eine dicke Finsternis lagerte sich auf seiner hohen Stirne, ein Gewitter um den Olymp, aber die Blitze seiner Augen waren sehr matt.
›Sieh, er fällt vor Mattigkeit.‹ ›No, no; es geht noch einmal. Ach, grad wie ein Landläufer.‹«
Er ist ja leider keine vereinzelte Tragödie in der Welt und der Literatur, der verlorengehende Tragöde, und er hat trostloserweise nicht immer das Glück, so unbemerkt, unbeschrieen und unbeschrieben vorbeizutaumeln wie der arme Felix. Sie haben sie nur zu häufig in ihrem Spiritus aufbewahrt, in Detmold, in Leipzig, in Braunschweig und an mancher andern größern und kleinern »Kulturstätte«, diese Hohenstaufen- und Französische-Revolutions-Dramatiker – die verunglückten Terzinen- und Stanzenepiker, die unausgegorenen Lyriker – all das ruhelose, unglückselig-selige Zwischenreichsvolk, von dem Annette Droste-Hülshoff meinte, daß es dann und wann viel mehr wert sei und bedeute, als – viele andere. Es konnte wahrlich nicht in meiner Absicht liegen, den Dichter der Thalatta, des Alarich in Athen usw. usw., Felix Lippoldes, in meinen Geschichten von Pfisters Mühle auch noch meiner Emmy als abschreckendes literarisches Beispiel aufzustellen; unter manchen, die das nicht leiden würden, ist eine vor allen, seine liebe Tochter Albertine, die seinetwegen aus England zurückgekommen war und mit ihm in unserm Dorfe sein letztes armseliges Obdach teilte.
Wir hatten alle, in der Stadt, an der Universität, auf den gelehrten Schulen, längst genug von ihm gewußt, aber eigentlich nicht das geringste von dieser Albertine, seiner klugen, braven, tapfern Tochter, obgleich selbst wir, die wir noch »auf Schulen gingen«, unsere Glossen so gut darüber machten wie die älteren Herrschaften, denen vor Zeiten seine Verheiratung so unendlichen Stoff zur Unterhaltung gab, sowohl im wissenschaftlichen Kränzchen wie hinter dem Bierkrug und am Tee- und Kaffeetische. Zu welchen Hoffnungen er in seinen jüngern, besseren Jahren im Kreise seiner Altersgenossen und als Dozent der klassischen Philologie an unserer Universitas litterarum berechtigt haben mochte: die schlimmsten Befürchtungen, die man in betreff eines zu gescheiten, zu nervösen und zu phantasiereichen Menschen haben kann, waren eingetroffen. Nun vegetierte er in unserm Dorfe in einer Bauernstube, die im Sommer auf den Landaufenthalt der unbemittelten Honoratioren der Stadt sich eingerichtet hatte, und seine Tochter war aus England, wohin sie als Gouvernante gegangen war, zurückgekommen, um ihm – leben zu helfen.
Ich tue mein Bestes, ihn Emmy zu schildern, wie er vor mir steht, nicht der dramatische Poet Felix Lippoldes, sondern dieser Heilige Abend, bei dem auch noch der arme Felix zugegen war. Ach, wie meine Schritte hohl widerhallen in den ausgeleerten Räumen der verkauften, verlassenen Mühle! Wie leuchtete Samses wetterfestes Gesicht unter den Lichtern, die er auf den grünen Zweigen angezündet hatte, wie gab mein Vater alles her, was er an Wohlwollen und Fröhlichkeit in seinem guten Herzen hatte! Unter der Tanne saß er, mit seinem Samse als Hofmarschall hinter sich, und um ihn her alles, was Weihnachten mitfeierte in Pfisters Mühle. Wie die Welt, wie die Zeit, die sich augenblicklich die neue nannte, andringen mochten, wie es draußen riechen mochte: in Vater Pfisters Gaststube war noch einmal alles beim alten.
Sehr merkwürdig war das Verhalten Asches.
Noch bis vor die Tür hatte er augenscheinlich die feste Absicht mitgebracht, sich so toll, ausgelassen und närrisch wie nur möglich zu behaben und den Ironiker beim bis Feste an die Grenzen des Hanswursts hinan zu agieren. Viel Gewissen hatte er seinerzeit in dieser Hinsicht eigentlich nicht, und ein erklecklich Teil von dem, was er heute in der Beziehung sein nennt, kommt vielleicht auch mit auf Rechnung jenes Weihnachtsabends.
Es kam einmal wieder ganz anders, als wie der Mensch sich's gedacht und vorgenommen hatte; der erste Anblick des Poeten aber tat wahrlich nichts, die Lust des Schalks am Spiel mit der Welt zu dämpfen. Im Gegenteil, nachdem er alle übrigen in seiner Weise begrüßt und sich von der Christine einen Rippenstoß und die Weisung geholt hatte: »Gehn Sie weiter, Nichtsnutz!« schien er fernerhin sich ganz dem Dichter widmen zu wollen.
»Ne, wie Sie mich freuen, Lippoldes!« rief er. »Sie hat mir das Christkind ganz speziell für mich unter den Baum gelegt, und den Stuhl da neben Ihrer Sofaecke kriege ich natürlich auch. Vater Pfister, Sie wissen doch immer zu dem Guten das Beste zu finden; schmerzten mich nicht noch meine Rippen so sehr, hätten Sie jetzt schon den Kuß, den Jungfer Christine eben so schnöde verschmäht hat!... Das hätte ich schon auf dem Wege ins Schwefelwasserstoffhaltige wissen sollen, daß ich Sie in dem Gewölke schwebend erblicken würde, Lippoldes; meine Schritte und die des Knaben an meiner Seite würden sich um ein beträchtliches beschleunigt haben. Das ist ja zum Radschlagen gemütlich! Seit einer halben Ewigkeit hat man sich nicht gesehen. Nun, Olympier, wie ging es denn während der ganzen Zeit im ewigen Blau?«
Seit er uns zu unserer glücklichen Ankunft im Hafen beglückwünscht hatte, hatte Doktor Lippoldes sich nur in seiner Sofaecke geregt, um aus dem Schatten und Tabaksrauch eine dürre, zitternde Hand nach dem dampfenden Glase auszustrecken; jetzt erwiderte er mit matter Gleichgültigkeit:
»Wenden Sie sich mit der Frage an meine Tochter, lieber Asche.«
»Mein lieber Vater!« sagte Albertine Lippoldes, auf ihrer Seite näher an den armen Mann rückend und den Arm um seinen Nacken legend. Dabei hat ein bei weitem mehr gleichgültiger als drohender Blick meinen guten Freund Asche gestreift, und von diesem Augenblick an ist der ein verlorener, das heißt gewonnener Mensch gewesen und hat sich, wie gesagt, selten an einem fidelen Festabend so anständig betragen wie an diesem. Wer dies aber gegen Mitternacht hin nicht mehr vermochte, das war Doktor Felix Lippoldes.
Um jene späte Zeit stand Felix Lippoldes nicht etwa bloß auf einem Stuhl, sondern mitten auf dem Weihnachtstische in Pfisters Mühle, das graue Haar zerwühlt, das schäbige Röcklein halb von den Schultern gestreift, und deklamierte mit finsterm Pathos:
»Einst kommt die Stunde – denkt nicht, sie sei ferne –
Da fallen vom Himmel die goldenen Sterne,
Da wird gefegt das alte Haus,
Da wird gekehrt der Plunder aus.
Der liebe, der alte, vertraute Plunder,
Viel tausend Geschlechter Zeichen und Wunder:
Was sie sahen im Wachen, was sie sannen im Traum,
Die Mutter, das Kind, die Zeit und der Raum!
Kein Spinnweb wird im Winkel vergessen,
Was der Körper hielt, was der Geist besessen,
Was das Herz gefühlt, was der Magen verdaut;
Und Tod heißt der Bräutigam, Nichts heißt die Braut!«
Mit offenem Munde, den Bowlenlöffel in der Hand, stand mein Vater vor seiner größten Punschschale. Sie hatten alle die Stühle zurückgeschoben oder waren von ihnen aufgesprungen und drängten sich um den leider in gewohnter Weise außer sich geratenen Poeten halb lachend, halb verblüfft – mit vollem Verständnis für das Ganze wohl nur Asche, ich und – eine leise, klagende, bittende Stimme in dem lustigen Lärm:
»Vater! Lieber, lieber Vater!«
»Gott bewahre mich in seiner Güte«, rief mein Vater, »hab ich Sie darum in meiner Bedrängnis höflich um ein vergnügtes Weihnachtspoem ersucht, Doktor Lippoldes, um mir so von Ihnen den Teufel noch schwärzer an die Wand von meiner Mühle malen zu lassen? Da kommen Sie doch lieber runter vom Tische und lassen Sie ihren Kollegen in der Phantasie rauf! Adam, so reden Sie doch mit ihm! Sie haben doch sonsten das gehörige Getriebe zur Verfügung und sitzen mir heute den ganzen Abend da, als wären Ihnen Bodenstein und Laufer zugleich geborsten, der Fachbaum gebrochen und das Wasser überhaupt ausgeblieben. O Fräulein Albertine, beruhigen Sie sich: wir sind ja ganz unter uns! Das ist ja das einzige Gute jetzt, daß Pfisters Mühle meistens ganz unter sich ist und ihren Spaß in jeder Art für sich allein hat.«
Unter den Gläsern und Schüsseln des Weihnachtstisches vor der erloschenen Tanne von einem Fuße auf den andern springend, kreischte Felix Lippoldes:
»Wie schade wird das sein! Dann kehrt man dort
Den guten Kanzeleirat weg und seinen Stuhl,
Auf dem er fünfzig Jahr lang kalkulierte.
Vergeblich wartet mit der Suppe seine Alte,
Nicht lange doch; denn plötzlich füllt ein mächtiges
Gestäub die Gasse, dringt in Tür und Fenster –
Der Kehrichtstaub des Weltenuntergangs.«
»Hm«, murmelte Adam Asche, an meiner Seite beide Ellenbogen auf das Tischtuch stützend.
»Sehr drollig wird das sein für den, der da zuletzt lacht,
Sieht er im Wirbel fliegen, was ihn quälte,
Bis selber ihn der letzte Kehraus faßt.«
Zwei Stunden später saß er trotz der kalten Nacht noch längere Zeit in unserer Kammer unter dem Dache auf dem Bettrande, und einmal hörte ich ihn vor sich hinbrummen:
»Das ist wirklich ein merkwürdig nettes Mädchen – ein ganz liebes Kind und, wenn der erste Eindruck nicht vollkommen täuscht, auch gar nicht dumm!«