Wilhelm Raabe
Pfisters Mühle
Wilhelm Raabe

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Einundzwanzigstes Blatt

Auf dem Schub und im Frieden

Wir stiegen grade in den Wagen, der uns mit unsern Hutschachteln und Koffern und meiner alten Christine nach der Stadt und dem Bahnhof bringen sollte, als die erste Kastanie unter der Axt fiel. Der Architekt stand am teilweise schon niedergelegten Zaun von Pfisters Garten und winkte uns mit dem Hute vergnügt nach. Nun hatte ich nur noch am Bahnhof den schönen Strauß zu überwinden, den Dr. jur. Riechei, welcher den berühmten Prozeß Pfister gegen Krickerode so glänzend ausfocht und gewann, meiner Frau ins Coupé reichte, und dann – war Pfisters Mühle nur noch in dem, was ich mit mir führte auf diesem rasselnden, klirrenden, klappernden Eilzuge, vorbei an dem Raum und an der Zeit.

Da brauchte ich dann wohl nicht mehr zu fragen: Wo bleiben alle die Bilder?... Die von ihnen, welche bleiben, lassen sich am besten wohl betrachten im Halbtraum vom Fenster eines an der bunten, wechselnden Welt vorüberfliegenden Eisenbahnwagens. –

Wie unauslöschlich fest steht Pfisters Mühle gemalt in meiner Seele!

Mir gegenüber hatte ich die geröteten Augen meiner alten Pflegemutter; meine junge Frau lehnte meistens ihr Häuptlein an meine Schulter. Von den wechselnden Wagengenossen und den kleinen Abenteuern der Reise ist mir diesmal nichts in der Erinnerung hängen geblieben: ich begrub den armen tragischen Poeten, Doktor Felix Lippoldes, noch einmal von Pfisters Mühle aus; ich trug meinen lieben Vater – den guten Vater Pfister – von seiner Mühle aus zu Grabe und hatte nicht zu suchen und zu fragen, wo die Bilder geblieben waren. Wie könnte ich zum Exempel den Ton vergessen, mit dem mein Vater, als wir die Leiche des Poeten dicht vor unserm Wehr fanden, sagte:

»Kinder, es stimmt ganz mit mir!«

Aber er sagte auch, und zwar mit einem ganz andern Ton und Ausdruck:

»Doch das arme Mädchen gehört mir auch an. Ihr zwei, du, Ebert, und du, Adam, vor allem, werdet euch am besten wohl aus dem Hause scheren und euch wo anders unterbringen, im Dorf, in der Stadt, und wenn ihr mir in den nächsten paar Tagen mit dem Schriftlichen zur Hand gegangen seid, auch wieder in euerm Berlin. Ich hab es Ihnen wohl vorausgesagt, Doktor Asche, daß es nichts mehr werden würde mit den Weihnachten in Pfisters Mühle.«

Nun war es rührend, auch von fern aus anzusehen und halb zu ahnen, wie zart der alte Mann, Müller und Schenkwirt mit der jungen Dame in seinem Haus und winterlichen Garten umging.

In dem Anbauerhause, in dem Albertine Lippoldes ihren Vater bei Tag und Nacht in Dürftigkeit und Scham mit ihren klugen, unruhigen Augen bewacht hatte, ohne ihn vor seinem endlichen Schicksal bewahren zu können, war nichts mehr, was ihr gehörte, wie sich sofort nach Verbreitung des Gerüchts vom Tode des berühmten Mannes durch Wort und Zeitung fand. Aber mein Vater sagte, auf mich zeigend:

»Das da ist mein Erbe; aber du, liebes Kind, bist mein letzter Gast. Hole eine Leiter und nimm das Schild von der Tür, Samse. Wir schließen mit heute die Wirtschaft; laß mir deine Hand, arm Mädchen, gute Tochter – Vater Pfisters letzter, liebster Gast in dieser lustigen Welt!...«

Auf dem Wege nach dem Dorfwirtshause, hinter dem Schubkarren her, der unser Reisegepäck trug, schnarrte Asche grimmig und mit dem Regenschirm an die niedere Mauer des Kirchhofes, an welchem wir eben vorbeischritten, klopfend:

»Eberhard Pfister, sie werden wieder mal keine Ahnung davon haben, welchen großen, wirklichen Dichter sie mit Rasen bedecken, wenn sie deinen Vater – den Vater Pfister hier neben dem Doktor Felix Lippoldes seinerzeit verscharren werden. Der Himmel wende es noch lange ab!«

Das hat nun der Himmel freilich nicht getan, aber er hat dem einst so fröhlichen und allezeit hülfreichen Herzen des letzten Wirtes von Pfisters Mühle Zeit gelassen, noch ein oder zwei gute Werke zu verrichten und ein heiter glänzend Licht vor die dunkle Pforte zu stellen, die sich hinter ihm so bald, leider so bald, für immerdar schließen sollte. –

»Es ist meiner Frauen Bette, das dir die Christine in der Kammer unterm Dach aufschlagen soll, Kind«, sagte der alte Meister. »Bleib bei mir, Herz; wenigstens, bis du wieder mehr Ruhe hast. Was willst du, obgleich du eine vornehme junge Dame und eine junge, schöne Gelehrte bist und alle Sprachen kannst, in der Fremde? Bleib bei mir, denn hier hast du mit keinem weiter zu schaffen als mit meiner seligen Frau und mir, der auch mit keinem mehr zu tun haben will. Die Christine da kannst du, wenn du sie erst besser kennengelernt haben wirst, auch zu uns zweien rechnen. Und sieh mal, wen findest du obendrein da draußen, der deinen Papa besser kannte und mehr ästimierte als der alte Pfister von Pfisters Mühle? Wenn sie vor Jahren auf ihn sahen wie auf ein Wunder, wenn er uns mit seiner Gegenwart im Garten oder in der Gaststube beehrte: wer hat bei seinen hohen, fließenden Worten das Herz höher in seinem Hals gefühlt als wie ich? Da unter den kahlen Bäumen, wenn sie in Blüten, im Laube und im Mondlicht standen, und in der Winternacht, wenn er so gegen zwei Uhr morgens ging und noch keiner aus der Stadt seinetwegen die Beine unterm Tisch vorziehen konnte: wer hat da mehr als ich seinen Stolz an dem Herrn Doktor gehabt, als er selber noch seinen Stolz hatte? Wenn er so deklamierte, liebes Kind, seine Ehre und sein Ruhm ist da manch liebes Mal meine Ehre und Glorie gewesen, wenn ich hinter seinem Stuhl stand oder mit am Tische sitzen konnte. Nun hat er seinen Prozeß verloren, und mir hat Doktor Riechei den meinigen gewonnen, und es ist ganz ein und dasselbige; – weiß Gott!... Ich fühle mich, wie er da liegt, und du tätest ein Werk der Barmherzigkeit, wenn du bei mir bliebest. Ich weiß es ja wohl, du hast mich gar nicht nötig; – du kannst morgen schon als kluge, studierte junge Dame in die Welt gehen und findest dein Brot überall; aber – tue es deines Vaters guten Stunden in Pfisters Mühle zuliebe, bleibe hier fürs erste. Ich gebe dir mein Wort, es soll dir keiner – weder mein Junge noch – sonst wer in den Weg kommen, solange du selbst was dagegen hast. Also, bleibe bei uns für jetzt und mache mit mir den Beschluß von Pfisters Mühle, mein armes, liebes Mädchen.«

Fräulein Albertine hat da ihr schmerzendes Haupt an die Brust des alten Herrn gelegt und hat dem Vater Pfister sein Mitleid und seine Güte vergolten bis an den Tod – seinen Tod. Ja, bis zu Vater Pfisters ruhigem Abscheiden aus dieser ihm so sehr übelriechend und abschmeckend gewordenen Welt hat Albertine Lippoldes ihr Bestes getan, ihm seine letzten Tage leicht und freundlich zu machen, da sie dem eigenen Vater nicht mehr helfen konnte.

Der liegt auch in seiner Ruhe auf dem unbekannten Dorfkirchhofe unter einem grünen Hügel, auf welchem kein Epitaphium mit Namen, Jahreszahlen und sonstiger Steinmetzarbeit drückt, welchen also kein Literaturgeschichtenschreiber und Interviewer post mortem so leicht wohl finden wird.«

Mein Vater blieb fest bei seinem Wort. Er steckte, nachdem Samse sein Schild von unserer Tür herabgenommen hatte, nicht wieder einen grünen Busch über seinen Torweg. Nicht zu Ostern und auch nicht zu Pfingsten. Fräulein Albertine hatte den Mühlgarten den nächsten Sommer ganz für sich allein.

»Nur mit dir, Ebert, wenigstens während eines Teils, als du vor deinem Examen saßest, und ich hätte wohl Grund, heute noch ein wenig eifersüchtig zu sein«, sagt Emmy, fügt aber hinzu: »Nun, da ist es denn freilich ein Glück gewesen, daß Doktor Asche schon vorhanden war.« –

Doktor Adam Asche ließ sich den ganzen Sommer über nicht in Pfisters Mühle blicken. Er baute am Ufer der Spree weiter an seinem Vermögen und seiner sonstigen nähern und fernern Zukunft und ließ nur von Zeit zu Zeit in etwas unbestimmter Weise in seinen Briefen an mich »alle unter Vater Pfisters Dache freundlichst« grüßen.

Merkwürdigerweise schrieb er damals ziemlich häufig an mich, er, der sonst in dieser Hinsicht (außergeschäftlich) alles für seine Korrespondenten zu wünschen übrigließ. Ich aber häufte nun für seinerseits früher begangene Unterlassungssünden feurige Kohlen auf sein Haupt, antwortete rasch und ausführlich und unterhielt ihn stets aufs genaueste über meine Zustände, Hoffnungen und Befürchtungen.

Darüber wurde er dann von Brief zu Brief immer anzüglicher und gröber und schien es wirklich als ein Recht zu verlangen, daß ich ihn wenigstens dann und wann zwischen den Zeilen lesen lasse. Mein Vater, der »diesen schnurrigen Patron und Freund Hechelmaier« fast ebenso gern schreiben als reden hörte, ließ sich jeden Brief vorlesen, und nicht immer nahm Fräulein Albertine ihre Arbeit und verschwand unter dem Vorwand, daß sie vom Hause oder aus dem Garten her gerufen werde.

Tat sie es, so stieß mich Vater Pfister jedesmal in die Seite, rückte mir näher und meinte kopfschüttelnd, aber doch lächelnd:

»Nun sieh mal. Soweit meine Menschenkenntnis hier von unsrer Mühle und Pfisters Vergnügungsgarten aus reicht (und es sind mancherlei Hochzeiten in unserer Kundschaft hier unter diesen Bäumen und an diesen Tischen zustande gebracht worden), meint er es doch ungemein gut mit ihr – seelengut! Und ein so ganz übler Bursche ist er ja auch nicht, wenngleich eine feine junge Dame wohl allerlei Kurioses an ihm auszusetzen haben mag. Sieh mal, und es wäre doch sehr hübsch und eine wahre Beruhigung für mich, wenn ihr alle dermaleinst, so gut es gehen will, noch zusammen- und aneinanderhieltet, wenn mit dem alten Pfister auch seine Mühle nicht mehr auf Gottes verunreinigtem Erdboden und an seinen verschlammten Wasserläufen gefunden wird. Was der Mann da zum Beispiel von seinem stinkigen Berufe und Geschäfte schreibt, braucht dich gar nicht zu hindern, dein Kapital mal mit hineinzustecken. Wie lieb wäre es mir aber dazu, wenn dann das liebe Kind da einen Strauß und Duft von meinen Wiesen euch mit darzu täte! Du holst dir dann deine Frau mit ihrem Strauß und Blumengeruch von einem andere Garten weg; die Christine und den Samse verlaßt ihr mir auch nicht, und so ist, wenn ich nicht mehr bin, der Schaden vielleicht für Kinder und Kindeskinder nicht ganz so groß, wie ich ihn mir dachte, als sie mir Krickerode auf die Nase bauten und mir meine Lust an meinem Rade, meinem Bach, mein Leben und Wohlsein auf deiner Väter Erbe verekelten.« –

Und die Räder unter uns rasselten, klirrten und klapperten, und es war ein Rauschen dazu, daß ich, wenn ich auch die Augen schloß wie mein Weib neben mir oder die alte Christine mir gegenüber, wohl meinen mochte, die Jahre seien nicht hingegangen, ich sei noch ein Kind in meines Vaters Mühlstube und höre das Getriebe um mich und das Wehr draußen. Ich hielt sie aber mit Gewalt offen, die Augen; ich hatte zu wenig Zeit mehr, mich dem Traum hinzugeben und mit dem Vergangenen zu spielen – die Tage in Pfisters Mühle waren vorüber, und Arbeit und Sorge der Gegenwart traten in ihr volles, hartes Recht.

Wir waren auch in Berlin viel eher, als wir es dachten. Und obgleich es heute nicht mehr die Kirchtürme der Städte sind, sondern die Fabrikschornsteine, die zuerst am Horizont auftauchen, so hindert das einen auch heute noch nicht, gesund, gesegnet und – soviel es dem Menschen auf dieser Erde möglich ist – zufrieden mit seinem Schicksale, ergeben in den Willen der Götter nach Hause zu kommen.

»Gott sei Dank!« seufzte Frau Emmy Pfister, sich aufrichtend und die Äuglein reibend. Gluhäugig, dann – fröhlich und glücklich blickte das Kind umher und dann mir mit einiger dunkel aufsteigenden Befangenheit und Ängstlichkeit ins Gesicht. Wie konnte ich da anders, als meinerseits so vergnügt und behaglich als möglich auszusehen?

Dichter drängte sich mein junges Weib unter dem schrillen Gepfeife der Lokomotive an mich heran und kümmerte sich gar nicht um die Leute und flüsterte:

»O Herz, liebster, bester Mann, ich kann ja nichts dafür; aber ich freue mich so sehr, so unendlich auf unsere eigenen vier Wände und deine Stube und meinen Platz am Fenster neben deinem Tische! Bist wohl manchmal recht böse auf mich gewesen, aber ich konnte ja wirklich nichts dafür und habe mir gewiß selber Vorwürfe genug gemacht, wenn ich in den letzten Wochen nicht alles gleich so mitsehen und mitwissen und mitfühlen konnte wie du. Es war ja wirklich so wunderschön und das Wetter auch und die guten Stunden unter den Hecken und auf deinen Wiesen, aber – o bitte, bitte, nicht böse sein! – auch manchmal so bänglich für dein arm, närrisches Mädchen, deine dumme, kleine Frau in deiner verzauberten Mühle, die dir gar nicht mehr gehörte, und bloß mit unsern mitgebrachten Koffern und Petroleumkocher, den wir freilich nicht gebrauchten, und den geliehenen Stühlen und Tischen und Betten aus dem Dorfe, die wir so sehr nötig hatten! Und wie wird sich mein Papa freuen, daß er mich wieder in der Nähe hat bei seinem fatalen Kirchhof, wenn er es uns auch nur auf seine Art merken läßt und ein paar schlechte Witze macht. Sieh nur gleich scharf, daß sie dir nicht die letzte Droschke wegschnappen, und ich will es dir auch so behaglich bei dir und mir machen, daß du doch denken sollst, das Beste habest du doch mitgebracht nach Berlin von Pfisters Mühle. Und wenn dein armer, lieber Papa es sehen könnte, würde er sich auch freuen, und deine gute, alte Seele, deine Christine, haben wir ja auch zu uns geholt aus deiner Verwüstung, und sie wird mir helfen in meinem jungen Hausstande – nicht wahr, Christine?!«

»Helfe mir Gott – so gut ich kann!« schluchzte meine greise Pflegerin, betäubt, willenlos in das Gewühl der Großstadt starrend.

Und mein Weib, meine Frau! War sie nicht in ihrem Rechte, wie ich vordem in Wirklichkeit in Pfisters Mühle und während der letzten vier Wochen im Traum?

Sie war während meines Sommerferientraumes nicht in ihrem Elemente gewesen, und nun fand sie sich wieder darin, und ich – wußte gottlob, weshalb ich sie auf ihres sonderlichen Papas düsterm Spazierplatz gesucht und für mich hingenommen und festgehalten hatte. Sie war wieder bei sich zu Hause und in meinem Hause (wenn es auch nur eine moderne, unstete Mietswohnung war) ganz meine Frau, mein Weib, mein Glück und Behagen. Was ging sie eigentlich mit vollkommen zureichendem Grunde Pfisters Mühle oder gar der große, unbekannte dramatische Dichter Doktor Felix Lippoldes an, da wir uns hatten und »die gute Albertine ja gottlob auch ihren Adam und ihre neue, feste Heimat!« –?


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