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Die hohe Polizei nimmt ein Protokoll auf
Auch der unschuldigste, solideste Staatsbürger, der Mann des feuerfestesten Geldschrankes, der Mann des besten Gewissens, der zugeknöpfteste, strammste, schnauzbärtigste alte Herr vermag nicht, sich eines leisen Schauders zu erwehren, wenn er an dem Zentralpolizeihause vorüberwandelt. Man kann nicht wissen – es geht wunderlich zu im Leben – das Schicksal spielt oft eigen mit den Menschen! – wer kann für die nächste Stunde und ihre Tücken gutstehen? – Man hat im Vorbeischreiten ein Gefühl, als sei es höchst angebracht, wenn man den Rockkragen in die Höhe klappe; man zieht unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern: das liegt einmal im deutschen Blut, der Herr erlöse uns von dem Übel.
Und der Novemberregen kam herunter, als habe der Himmel den Schnupfen und lasse alles laufen. Es kamen auch sehr viele Leute herunter, und zwar sehr hart; denn der Regen verwandelte sich, sowie er den Erdboden berührte, in Glatteis, und weder Mann noch Weib war vor dem Fall sicher. Sehr viel guter Humor löste sich in mürrisches Hinbrüten und ärgerliches Gebrumm auf. Die Unliebenswürdigen waren an diesem ungesegneten Tage noch einmal so unliebenswürdig als gewöhnlich. Das Wetter war wie ein Probierstein, auf welchem jede Anlage zur Liebenswürdigkeit geprüft und abgezogen wurde. Haustyrannen schlugen ihre Frauen körperlich und moralisch, Haustyranninnen explodierten bei der geringsten Reibung wie Orsinische Bomben und konnten ein ganzes Hauswesen mit Verwirrung und Verwüstung erfüllen. Auch die lieben Kleinen, das hoffnungsvolle Geschlecht einer edlern Zukunft, waren heute unartiger als sonst; sie bekamen mehr Püffe und Ohrfeigen und öfter die Rute als an andern, heilern, freundlichem Tagen. Wehe der dienenden Jungfrau, die heut den irdenen Topf, den tönernen Napf zur Erde fallen ließ! Wehe, dreimal Wehe über alle die Unglücklichen, die bei solcher Witterung, wie auch ihr Stand und ihre Stellung sein mochten, von andern abhängig waren! Jedermann war in der Stimmung, seinen Nebenmenschen und Mitkreuzträgern das Leben und das zu tragende Kreuz so schwer und scharfkantig wie möglich zu machen, ohne meistenteils im Grunde eine andere stichhaltige Entschuldigung für seine Kratzbürstigkeit zu haben als »dieses grenzenlos niederträchtige Wetter«.
Wir wollen bei so bewandten Umständen den tellurischen und kosmischen Erscheinungen des Tages, aller dieser meteorologischen Bosheit gar nicht die Ehre antun, sie näher zu beschreiben. Selbst das Zentralpolizeihaus ist jetzt ein anmutigerer Aufenthaltsort als Straße und Markt. Flüchten wir uns mit aufgespanntem Regenschirm hinein; in Nummer Sicher sind wir hier jedenfalls.
Lange, trostlose Gänge, Türen, die in dunkle Zimmer voll geheimnisvoller Akten und dumpfen, unheimlichen Gesumms führen; kahle Höfe, auf welchen sich Polizeibeamte umhertreiben und auf welchen niemals ein Kind im Sande gespielt, Festungen gebaut und Pasteten gebacken hat! In den Gängen Beamte mit bunten Rockkragen und Aktenbündeln; hinter den schwarzen Türen Beamte, die mit knarrender Stahlfeder und giftiggrüner Alizarintinte die Sündenregister der Menschheit ausfüllen und, wenn sie sich harmlos beschäftigen, Pässe und Wanderbücher revidieren und unglückliche Handwerksburschen in ihrem Selbstgefühl durch überwältigende Grobheit kränken! Exekutoren mit Verhaftbefehlen für säumige Schuldner; grimmige Gläubiger mit Pfändungsgesuchen – einmal in einem der langen Gänge Kettengeklirr und ein übelgekleidetes, übelduftendes Subjekt, welches zwischen zwei Bewaffneten einherschwankt – über allem ein unbeschreibliches beängstigendes Etwas, ein Hauch aus Niflheim, dem Reich der Toten, der Verlorenen: das ist das Zentralpolizeihaus!
Im Bureau Nummer dreizehn unterhielten sich drei Personen damit, die Lebensgeschichte eines Vierten anzuhören. Die Zuhörer waren der Polizeirat Tröster, der Polizeischreiber Fiebiger und der Hauptmann a. D. Konrad von Faber, ein stattlicher Mann mit gebräuntem Gesicht, welcher es sich auf der Armensünderbank an der Tür bequem machte und die Füße weit in das Gemach hineinstreckte. Der arme Sünder selbst aber stand in der Mitte des Zimmers und erzählte. Sein Bericht füllte grade die dämmerige Stunde aus, welche dem Lichtanzünden voraufgeht.
Inkulpat Robert Wolf war angeschuldigt worden, in der Wohnung einer Dame großen Unfug angerichtet zu haben durch Zertrümmerung von Gerätschaften und Ausstoßung wilder Reden und Drohungen. Beim ersten Verhör hatte er alle Auskunft über sich verweigert; man hatte ihn eingesperrt und jetzt nach einigen Tagen enger Haft wieder hervorgeholt in der Hoffnung, den jungen Missetäter und Hausfriedensbrecher in einer zerknirschteren, weichern Stimmung zu finden. Man täuschte sich darin auch nicht. Dunkelheit und Langeweile hatten in der gewünschten Weise auf das Gemüt des Angeschuldigten eingewirkt; ohne alles Zögern gab er alle mögliche Auskunft über seine Verhältnisse.
Der Protokollführer Fiebiger hinter seinem hohen Pult hatte bereits niedergeschrieben, daß Rubrikat Robert Wilhelm Wolf heiße, daß er achtzehn Jahre alt und auf der Forsthütte Eulenbruch, Dorfbezirk Poppenhagen, im Winzelwalde, Provinz ***, geboren sei.
Wir lassen das weitere Verhör folgen.
»Also der Sohn des weiland Forstaufsehers Wolf auf dem Eulenbruch!« sagte der Polizeirat, recht wohlwollend auf seine Dose klopfend.
»Ja!« antwortete der junge Mensch mit mürrischer, halb gleichgültiger Stimme und ganz kurz.
»Auf dem Eulenbruch, im Winzelwalde – so, so – hm, hm – ei, ei – schöne Gegend – hm – das einzige Kind?«
Inquisit verstand die Frage nicht im mindesten; starr und grollend blickte er den Rat an.
»Ich frage, ob Ihr noch Geschwister habt, Wolf?«
»Nein. Fritz ist ausgerissen, vielleicht nach Amerika. 's war unser Ältester. Die andern vier sind tot.«
»Hm, hm – sechs. Vier tot. Schon lange?«
»Ja. Wir waren unser sechse; drei Jungen und drei Mädchen: Fritz und ich, Franz, Riekchen, Lieschen und Linchen. Wir schliefen alle in einer großen Bettstatt voll Eichenlaub, trocken und warm. Die Mädchen hatten auch noch eine Bettdecke, wir Jungen hatten aber nichts weiter als des Vaters Soldatenmantel. Die Mutter war tot, der Vater meistens im Wald, um auf die Wilddiebe zu passen. Deren hatte er einen erschossen, und so hatte er ein bös Leben mit den andern; sie schossen oft genug wieder auf ihn, haben ihn aber nicht getroffen. Fritz war der Älteste von uns; wir mußten ganz allein für uns sorgen; wir hatten die Hunde, einen zahmen Fuchs, einen Kolkraben und noch manche andere Tiere. Linchen war die Kleinste und die Klügste von uns; die war eigentlich unsere Mutter, obgleich sie noch ganz winzig war. Wir waren wie die jungen Füchse, hatten alle auch rote Haare, die kamen von meiner Mutter; meine sind jetzt dunkler geworden. Linchen hatt' ich am liebsten von meinen Brüdern und Schwestern; es hatte Augen so klar und tief wie das grundlose Wasser, das unter dem Eulenkopf steht. Einmal, zur Jagdzeit, saß es ganz still und hielt den ganzen Tag über den Kopf mit den Händen, und als es in der Nacht unter seiner alten Decke an meiner Seite lag, da fühlte ich, daß seine Hände ganz heiß waren, und doch zitterte es am ganzen Körper vor Frost und wühlte sich immer tiefer in das Laub. Am andern Tage sprach es ganz tolle Worte und schrie: der Berggeist wolle es holen und in die Erde hinabziehen. Dann packte die Krankheit den Fritz und so eins nach dem andern, zuletzt mich. Die Hunde, die sonst wohl der Wärme wegen zu uns in unsere Hürde krochen, wollten nun nicht mehr mit uns darin bleiben, sie sprangen heraus und krochen im Winkel zusammen. Anfangs hörte ich noch, wie der Vater ärgerlich über uns war, und ich fühlte, wie er mehr Laub auf uns warf und alle seine Röcke und den Mantel unserer toten Mutter und alle unsere Kleider. Er hatte niemand, der ihm half in dieser großen Not; denn er war nicht sehr beliebt bei den Menschen in der Gegend, weil er so wild und hart gegen die Wilddiebe und die Holzfrevler war. Sie nannten uns nur die roten Wölfe und pfiffen, wenn wir uns zeigten im Dorfe. Manchmal kam wohl eine alte Frau, welche Reisig gelesen hatte, und gab Rat; aber das geschah nur nach Bequemlichkeit und selten. So waren wir jetzt im Eulenbruch so verlassen wie die jungen Füchse, denen die Mutter weggeschossen ist. Wie das Linchen und die andern kam ich in einen Zustand, in welchem ich nichts mehr von mir wußte; aber einmal wachte ich auf und sah wie im Traum viele Herren mit Gewehren und Jagdtaschen vor mir. Sie starrten uns ganz merkwürdig in unserm Bette an, und einer hielt ein Paar Gläser vor die Augen. Sie flüsterten alle und schüttelten die Köpfe, und unser Vater stand auch dabei, hielt die Mütze in den Händen und drehte sie hin und her. Die Herren sprachen dann alle auf ihn ein; er sagte auch etwas, zuckte die Achseln und sah sehr wild und verzweifelt aus. Einige der Herren hatte ich wohl schon gesehen. Sie kamen öfters zur Jagd nach dem Eulenbruch. Bald wurde es aber wieder so dunkel vor meinen Augen wie zuvor, und als ich endlich von neuem aufwachte, da lag ich zwar noch in der Bettstatt, hatte auch ein ordentlich Kopfkissen, und eine alte Frau saß da mit der Brille auf der Nase und strickte und gab mir einen Löffel bitterer Medizin; aber meine Geschwister bis auf den Fritz waren nicht mehr da. Alle, alle – das Riekchen, das Lieschen, das Linchen und Franz – alle waren fort, waren tot. Wir hatten alle mitsammen die Röteln gehabt, und bis auf Fritz und mich waren die andern daran gestorben und verkommen. Zu Poppenhagen waren sie begraben, während ich bewußtlos lag; – eine ganze Reihe von kleinen Gräbern. Es war zu spät gewesen, als die Herren von der Jagd uns in unserm Laub im Fieber sahen, dem Vater Geld gaben und den Pastor Tanne aus Poppenhagen zu ihm schickten, daß er ein Einsehen tue und sich unserer mit dem Doktor Rust und der Frau Wurm aus dem Feldhüterhaus annähme. Es war ein guter Mann, der Pastor Tanne; er hat mich, nachdem mein Bruder und ich wieder gesund geworden waren, mit sich genommen nach Poppenhagen und hat mich, da er selbst keine Kinder hatte, erzogen wie seinen eigenen Sohn. Er wollte auch meinen Bruder mit sich nehmen, aber der konnte von dem wilden Leben im Forste nicht lassen. Doch in die Schule mußte er jetzt auch kommen. Jetzt ist er längst in die weite Welt gegangen; ich habe nie wieder von ihm gehört.«
Mit vielen Hm's und Ha's hatte der Polizeirat dieser Erzählung gehorcht. Mit seltsamem Ausdruck leuchteten die Augen des alten Schreibers über die Haufen von Akten und Registern auf seinem Pulte.
Der Hauptmann Faber strich den vollen Bart und murmelte:
»'s ist wenigstens der Bericht eines klaren Kopfes. Armer Teufel!« Er nickte dem Inkulpaten ermunternd zu, und der Schreiber räusperte sich ebenfalls zur Ermunterung Robert Wolfs.
Es trat in dem Bureau dreizehn eine Stille von einigen Augenblicken ein, in welchen man deutlich das Ticken der großen Uhr draußen in der Halle vernahm. Schon manche unbekannte Tragödie und Komödie war über den schmutziggrauen Fußboden des Bureaus Nummer dreizehn weggeschritten; eine rührendere Elegie hatte aber die langnäsige Büste des verdienstvollen früheren Polizeipräsidenten, welche zwischen den beiden Fenstern von einer Konsole herabblickte, selten vernommen. Der Mann schien sich jedoch durchaus nichts daraus zu machen. Er behielt jedenfalls die Nase oben. Dagegen hatte eine andere Büste auf einer andern Konsole einen recht wehmütigen Ausdruck: sei es, daß der Künstler ihr denselben gab, sei es, daß die dämmerige Beleuchtung schuld daran war. Seine Majestät der König schien es auch in Gips in Nummer dreizehn im Zentralpolizeihause sehr ungemütlich zu finden.
Seiner Stellung gemäß unterbrach der Rat Tröster zuerst wieder das Schweigen und fragte, das glattrasierte Kinn streichelnd:
»Also der Pastor Tanne zu Poppenhagen hat Euch erzogen? Was habt Ihr gelernt, Wolf? Was seid Ihr eigentlich?«
Robert Wolf zuckte die Achseln und sagte:
»Als mein Pflegevater starb, mußte ich zurück in den Wald zu meinem eigentlichen Vater; denn damals war mein Bruder schon in die weite Welt gegangen, und mein Vater war immer krüppelhafter geworden; er hatte die Gicht in den Knochen vom Liegen im Walde und hatte meine Hilfe nötig. Ich kann schießen, die Geige spielen, ein wenig lateinische Grammatik. Ich gewöhnte mich recht gut wieder an den Wald; es kann einem schon drin gefallen, Winter und Sommer, und es gefiel mir die letzten zwei Jahre durch; wäre auch gern Forstwart geworden, – wenn – – wenn nicht –»
»Nun, heraus damit! Wenn nicht?«
Robert Wolf wandte sich ab, biß die Zähne aufeinander und antwortete nicht.
»Ich frage, weshalb Ihr nicht in Eurer Stellung geblieben seid? Ich erwarte Antwort, junger Mann!« sagte der Polizeirat, so viel amtsmäßige Rauhigkeit als möglich in Ton und Gestus legend.
Der Hauptmann auf der Armensünderbank stand auf, klopfte dem Knaben aus dem Walde auf die Schulter und sagte:
»Sperren Sie sich nicht, Robert; geben Sie dem Herrn offen Nachricht von Ihrem Leben. Es sind Freunde hier.«
Der Schreiber Friedrich Fiebiger aus Poppenhagen nickte über sein Pult weg höchst energisch. Es war gleich einem elektrischen Schlag durch diese Schreiberseele gegangen, als vor einigen Tagen die Namen Poppenhagen, Eulenbruch, Winzelwald zum erstenmal auf dem Zentralpolizeihause genannt wurden, in dem Vorgehen gegen Robert Wolf wegen Hausfriedensbruch. Hätte der Rat Tröster sich plötzlich auf den Kopf gestellt und seinen Untergebenen aufgefordert, dasselbe zu tun, so würde das nicht solchen überwältigenden Eindruck auf das Gemüt des letztern gemacht haben. Wäre auf dem langen unheimlichen Korridor plötzlich der Klang eines Waldhorns erschollen, so hätte dem alten Tintenmenschen das Herz sich nicht mehr darob geregt. Mit diesen Namen drang Sonnenschein, Waldluft, Lust der Jugend und des Lebens in das Bureau Nummer dreizehn. Durch die Papiere rauschte es wie durch die Zweige der Buchen und Tannen, der Aktenstaub verwandelte sich in das Gestäube des Waldbachs, wie er nahe dem Dorfe Poppenhagen über die moosigen Steine stürzt und eine Mühle treibt, welche der kleine Fritz Fiebiger gebaut hatte. Besagte Mühle wurde aber noch im achtzehnten Jahrhundert errichtet; 's ist lange her, und der Polizeischreiber muß sich zusammenraffen, um keine Böcke zu schießen in dem Protokoll, welches ihm über den bleichen, wildblickenden Jungen, Robert Wolf aus dem Winzelwalde, in die Feder diktiert wird. Die Feder kritzelt über das Papier, aber vor den Augen des Schreibers flimmert's; seine Schriftzüge sind bei weitem nicht so fest und sicher wie sonst; – sein Vorgesetzter fragt ihn, was ihm sei, ob er Kopfweh habe. Friedrich Fiebiger schüttelt nur den grauen Kopf und murmelt etwas Unverständliches.
Robert Wolf wendete nun die zornigen, tränenvollen Augen dem Polizeirat zu; aber noch immer vermochte er nicht, ein Wort hervorzubringen. Man sah, wie es in ihm stürmte und wie er sich zwingen mußte, daß kein leidenschaftlicher Ausbruch erfolge.
Noch einen forschenden Blick warf der Rat auf den Inkulpaten; dann wandte er sich gegen den Schreiber.
»Fiebiger, nehmen Sie doch einmal das Register D zur Hand und geben Sie uns die Notizen über den Namen Dornbluth – Eva Dornbluth, Fräulein Eva Dornbluth. Wir müssen den Knaben überzeugen, daß die Sicherheitsbehörde offene Augen und scharfe Ohren hat. Lesen Sie, Fiebiger!«
Der Schreiber schlug einen umfangreichen Folianten auf, blätterte einige Augenblicke darin und las dann mit einer Stimme, die von Natur recht scharf und schneidend war, in diesem Moment aber etwas gemildert klang:
»Eva Sophie Dornbluth, Tochter des weiland Kantors und Opfermanns Otto Friedrich Karl Dornbluth zu Poppenhagen. Alter zwanzig Jahre. Ankunft in hiesiger Stadt am vierzehnten Mai 184–. Rubrikatin hielt sich anfangs im Hause der Frau Baronin Viktorine von Poppen, Kronenstraße Nummer fünfzig, auf, trat dann durch Verwendung des Barons Leon von Poppen am hiesigen Königlichen Theater ein und wohnt jetzt Lilienstraße Nummer zwölf. Bemerkungen –«
Der Schreiber las mit leiserer Stimme noch einige Noten, welche die hohe Polizei über das Dasein Eva Dornbluths gemacht hatte, und beobachtete dabei über den Rand des Folianten scharf den Jüngling aus dem Winzelwalde, und nicht ohne Grund; denn ein merkwürdiges Schauspiel bot Robert Wolf dem Menschenkenner dar während dieser Vorlesung. Mit unverkennbarem Entsetzen starrte er den Schreiber und sein giftgefülltes Buch an, krampfhaft zitterten seine Lippen, er ballte die Fäuste, ward totenbleich und bedeckte zuletzt das Gesicht mit beiden Händen und brach in ein bitterliches Weinen aus.
Der Hauptmann, welcher sich wieder auf dem Sünderbänkchen niedergelassen hatte, trommelte mit dem Fuß einen Marsch; der Polizeirat gab seinem Schreiber einen Wink, daß er seine Vorlesung einstelle; dann wandte er sich zu dem Inquisiten:
»Seht Ihr, lieber junger Freund, die Polizei weiß alles! Soll ich dir noch mehr vortragen lassen über die Jungfer Dornbluth, oder willst du uns jetzt mitteilen, was dich in die Wohnung des Mädchens führte? Du wirst den Ruf der Dame durch eine klare Darlegung der Tatsachen nicht verschlechtern, glaube mir das, Robert Wolf.«
Die hohe Polizei war fest von der Wahrheit ihrer Notizen überzeugt, und doch stand mehr als eine Lüge in dem Folianten D über Eva Dornbluth. Der arme gepeinigte Knabe aber schluchzte noch eine Zeitlang fort und rief dann wild und in Verzweiflung:
»Ich habe sie lieb gehabt – mehr als mein Leben hab ich sie lieb gehabt, und ich muß sterben darum!«
»Na, na! Nicht so rasch!« brummte der Polizeirat, aber der Hauptmann sowie der Schreiber fanden, daß der junge Mensch in diesem Augenblick von überraschender Schönheit in seinem dummen, kindischen Schmerz und Zorn war. Mit immer höher gesteigerter Teilnahme beobachtete vorzüglich Friedrich Fiebiger den armen Jungen von seinem hohen Dreibein aus. Der Schreiber hatte die magern, in schäbiges Schwarz gekleideten Beine so hoch als möglich zur Brust hinaufgezogen, die schäbig schwarzen Frackzipfel hingen so tief als möglich zur Erde hernieder; von überraschender Schönheit war er sicher nicht, wohl aber glich er in überraschender Weise einem alten erfahrenen Raben, der sich auf einem Dachfirst niedergelassen hat, einem Raben mit edeln Gefühlen, einem Raben mit Wehmut in den humoristisch zwinkernden Augen, einem melancholisch-satirischen Mitgliede des höchst achtbaren, vortrefflichen und deshalb auch nicht wenig verleumdeten Geschlechts der »krähenartigen Vögel«.
Die aufgeregten Affekte Robert »Wolfs machten sich jetzt in hastig übereinanderstürzenden Worten Luft.
»Als ich bei dem Pastor Tanne gewesen bin – nachdem mein Bruder in die weite Welt gegangen war – sind Eva und ich immer zusammen gewesen. Meinem Bruder hatte sie es auch angetan, aber mir gewißlich noch mehr. O Gott, wer hätte gedacht, daß alles so kommen würde! Sie war so klug, viel klüger als ich. Viel leichter als ich konnte sie das Latein begreifen – sie hat es mit mir gelernt; sie wollte alles lernen, alles wissen. Alle Abende im Sommer saßen wir unter der Esche an der Hecke im Kantorgarten; und im Gefängnis, in welches Sie mich haben sperren lassen, mußte ich immerdar an den Sonnenschein denken, der war, als sie in ihrem weißen Kleide zur Einsegnung ging. O, wie hat die Schlechte mit mir gespielt – die Sonne ist auf ewig untergegangen! Ich will nach Frankreich, nach Algier zur Fremdenlegion. Nach Amerika will ich, wie mein Bruder. O, der hätte nicht gelitten, daß sie so mit ihm spielte. Der hat wohl recht gehabt, wenn er sagte, kein Mensch tauge was, und es schade gar nichts, wenn man ihnen so viel Böses schüfe, als man Macht hätte.«
»Na, na, wieder viel zu rasch!« brummte der Polizeirat. »Junger Mann, hier jedenfalls ist nicht der Ort, solche unmoralischen Grundsätze auszusprechen.«
Der Hauptmann Faber lächelte ein wenig; der Schreiber schnitt eine Feder und sich in den Finger. Robert Wolf achtete nicht im geringsten auf die Unterbrechung des Rats, sondern fuhr mit doppelter Hast fort:
»Aber mein Bruder Fritz nahm doch Eva Dornbluth aus und rechnete sie nicht unter die Schlechten; o, er war ein wilder Narr, hätte noch ein paar Jahre daheim bleiben sollen, bis die vornehme Dame auf das Gut kam. Keinem Menschen soll man Gnade geben, keinem. Der Pastor Tanne wird sich auch wohl meiner nur angenommen haben, weil er Langeweile hatte unter den Bauern. Er starb, als ich sechzehn Jahre alt war, und ich habe an seinem Sarge geweint, wie ich an dem meines Vaters nicht weinen konnte. Er hinterließ nichts als seine Bücher, ein paar Tische und Stühle und eine Kuh. Das nahm die Haushälterin; ich mußte in den Wald zurück. Da nahm ich Abschied von Eva unter der Esche. Sie sagte, wir wollten immer wie Bruder und Schwester sein. Sie sagte, ich sollte keinen dummen Jungen aus mir machen, ihr Los sei in alle Ewigkeit bestimmt. Was mag ich ihr in der Stunde gesagt haben? Ich weiß es nicht. O, sie wird höhnisch genug im Innersten darüber gelacht haben. Ich möchte umkommen auf der Stelle; aber sie müßte dann auch tot hier vor meinen Füßen liegen. Meinem Vater hat's der Branntwein angetan, der hat ihm das Leben genommen. Als es zum letzten mit ihm ging und er in derselben Bettstatt lag, in welcher meine Brüder und Schwestern gestorben sind, kam ein Junge, welcher Beeren las im Wald, und brachte mir Nachricht, wenn ich Eva noch einmal sehen wolle, so möge ich eilen; sie gehe fort mit der Frau von Poppen, welcher der Poppenhof bei Poppenhagen gehört. Da schoß es mir ganz eiskalt durch die Seele und dann wieder wie Feuer; aber wie konnte ich fort von meinem Vater? Der lag und zitterte im Frost und schrie: die Wilddiebe hätten ihn zu Boden. Mit allerlei Gespenstern rang er durch Tag und Nacht und schrie nach meinen Brüdern und Schwestern, aber vorzüglich nach dem Fritz, der sein Herzensliebling gewesen war. Fast ein Jahr blieb er in diesem Zustand; zuletzt schlug er sich immer herum mit großen Scharen von kleinen Tieren, Mäusen oder Spinnen oder Fliegen; das ließ ihm gar keine Ruhe.«
»Was man so Delirium tremens nennt!« murmelte der Hauptmann.
»Ein ganzes, ganzes Jahr dauerte das«, fuhr Robert fort; »ein ganzes Jahr war Eva Dornbluth schon weg, und ich hörte nichts von ihr in der Verlassenheit auf dem Eulenbruch; sie war auch, kurz vor ihrer Abreise mit der gnädigen Frau, eine Waise geworden und mochte wohl ein hungerig Leben gehabt haben; das konnte sie nicht ertragen. So wartete sie nicht auf mich. Nun starb mein Vater, und ich brachte ihn in seinem Sarge nach Poppenhagen. Wie im Traum war ich; was mit mir werden sollte, wußte ich nicht; von Eva hörte ich nichts im Dorfe, sie hatte keine Nachricht von sich gegeben. Verstört lief ich umher oder lag im Wald, und endlich trieb's mich, daß ich meine Kleider in meines Vaters Jagdranzen packte, meines Vaters Büchse über die Schulter hing, die Hunde verkaufte und verschenkte und fortging vom Eulenbruch, aus dem Winzelwalde. Zwölf Taler, welche mir der Pastor Tanne gegeben, hatte ich ebenfalls noch, damit kam ich hierher, doch mußte ich unterwegs noch die Büchse verkaufen. Es hat mich aber der Eva nachgetrieben; aber wie es mir unterwegs ergangen ist, davon weiß ich nichts zu sagen. Mein Vater in seinen letzten Tagen war nicht verwirrter in Kopf, Händen und Füßen, als wie ich es jetzt bin. Die Leute haben mir geholfen und mich zurechtgewiesen, und so –«
»Suchtet Ihr hier Eure Jugendfreundin auf«, fuhr der Polizeirat Tröster dazwischen, »und fandet die Verhältnisse ganz anders als Ihr Euch vorgestellt hattet. Ja, ja, es ist so. Statt der gnädigen Mama hat der Herr Sohn die Sorge und Vormundschaft über das junge, hübsche Ding aus dem Walddorfe übernommen. So fandet Ihr denn, Robert Wolf, die Wohnung des Mädchens aus, sagtet dem ungetreuen, leichtsinnigen Schatze die Wahrheit und gebärdetet Euch so sehr wie möglich gleich einem Verrückten. Dann kam der junge Herr Leon von Poppen dazu, und wie ein junger Wolf aus dem Walde fielet Ihr über ihn her, zerschluget ihm die Nase und hättet ihn erdrosselt, wenn nicht die Sicherheitsbehörde, die den Lärm von der Gasse aus vernahm, sich drein gelegt hätte. Ei, ei, ei, jugendlicher Romantiker!«
»Sie haben recht«, schluchzte Robert Wolf, »es war töricht und dumm von mir, daß ich mich an den Schwächling, an das zerbrechliche Bübchen hielt; mit ihr selbst hätte ich die Sache ausmachen sollen. Da lag das hübsche Messer, mit welchem sie das Buch aufschnitt, in welchem sie las, als ich vor sie trat; das Messer hätte ich ihr ins Herz stoßen sollen und mir dann auch, so wär uns beiden geholfen gewesen; – das wär am besten gewesen für uns alle beide.«
Der Schreiber schnellte mit einem merkwürdig elastischen Ruck den Kopf in die Höhe; Konrad von Faber ließ von seiner Armensünderbank her ein ausdrucksvolles Pfeifen vernehmen; der Polizeirat hob die Achseln, schüttelte den Kopf, blickte etwas verlegen in die blitzenden Augen des Knaben und sagte:
»Hm, hm, es war doch besser für Euch, Wolf, daß Ihr Euch mehr an die Ohren und die Nase des jungen Barons hieltet. Ich muß Euch übrigens bemerken, daß solche unverständige Reden an dieser Stelle – was ist das? Herein!«
Ein Klopfen hatte sich an der Tür vernehmen lassen, und auf den Ruf des Beamten trat ein Polizeidiener ein und überreichte seinem Vorgesetzten einen Brief. Nachdem der Polizeirat diesem Schreiben ein kurzes, aber nachdenkliches Studium gewidmet hatte, sagte er: »Tretet für jetzt ab, Robert Wolf! Greiffenberger, ich werde klingeln, wenn dieser junge Mensch wieder vorgeführt werden soll.«
Greiffenberger winkte dem Inquisiten mit dem waschlederbekleideten Daumen auf eine Art, die nur bei der von Gott eingesetzten hohen Polizei sich ausbildet. Geduldig und gebrochen folgte der arme Teufel aus dem Walde diesem unnachahmlichen, charaktervollen Winke.