Wilhelm Raabe
Die Leute aus dem Walde
Wilhelm Raabe

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Fünfzehntes Kapitel

Herr Leon von Pappen zeigt sich als guter Sohn und liebenswürdiger Gesellschafter. Harmlose Bemerkungen des jungen Mannes. Café de l'Europe

In den Besuchszimmern, den Salons der besten Häuser der Stadt konnte man elegante Karten finden mit der feingestochenen Inschrift: Madame la baronne Victorine de Poppen, née de Zieger. Die Baronin war eine Dame, welche berechtigt war, moralisch wie körperlich einen großen Platz in der Welt einzunehmen. Ihre Beziehungen zu den ersten Familien des Landes waren bedeutend, fast noch bedeutender war ihr körperlicher Umfang. Manchen komfortabeln Jahresring von Egoismus und Fleisch hatte sie seit dem Tage ihrer Geburt angesetzt – ein stattlicher Baum, der einen umfangreichen Schatten warf, in welchem aber nur ganz bestimmte Arten anderer Gewächse gut gedeihen konnten, wie zum Beispiel Herr Leon von Poppen, einige gleichgestimmte Freundinnen und männliche alte Waschweiber, Mamsell Elise, die schnippische Kammerjungfer, und Baptiste, der bunte unverschämte Lakai, welcher eigentlich Karl Quabbe hieß, aber der Eleganz wegen unter die Baptisten hatte gehen müssen. Naturen wie Juliane von Poppen konnten es jedoch in diesem Schatten nicht aushalten; – es gab keinen größern Kontrast der Persönlichkeiten als die Baronin und das alte lahme Freifräulein. In der Körperfülle der einen war die Seele mager und dürr geblieben und klapperte darin gleich dem vertrockneten, ungenießbaren Kern einer tauben Nuß; in dem kümmerlichen Leibe der andern fand die kräftige, lebensmutige, lebensfrische Seele fast keinen Raum. So fand auf beiden Seiten ein Mißverhältnis statt; doch hat der erste Fall unregelmäßiger Organisation den Vorzug, daß eine dünne Seele in einem dicken Gefäß der Gesundheit durchaus nicht nachteilig ist, während im Gegenteil ein in einem erbärmlichen Körper zu gewaltig anschwellender Geist die irdische Behausung leicht ruiniert und sie zuletzt ganz und gar vernichten und in die Luft sprengen kann. Die Baronin von Poppen liebte sich und die Ruhe à tout prix, ihren Sohn Leon tant bien que mal und die übrige Welt nur insofern, als sie sich vornehm darüber erheben oder demütig sich vor ihr neigen konnte. Das kleine Freifräulein liebte sich selbst durchaus nicht übermäßig, es machte sehr gern allerlei ironische Bemerkungen über sich, hatte dagegen für den größten Teil der übrigen Erdbewohner ein »faible«. Es erhob sich freilich weder über sie, noch knickste es grinsend vor ihnen; hilfreich sprang es ihnen nach Kräften im Unglück an die Seite und ergriff ohne Scheu jede Hand, die sich angstvoll nach ihr ausstreckte, sie mochte so schmutzig und so hart sein, als sie wollte. Nur mit der Schwägerin konnte sie sich seit dem berühmten Prozesse – eigentlich schon seit früherer Zeit – nicht vertragen. Die zwei kamen zusammen wie Feuer und Wasser, und es gab ein großes Zischen, Brausen und viel heißen Dampf bei jeder Begegnung der beiden Damen.

Das Haus, welches die Baronin von Poppen mit ihrem Sohn in der Kronenstraße bewohnte, war ein sehr ansehnliches; das Leben, welches die beiden führten, ließ nichts zu wünschen übrig; dennoch saß sowohl in dem Hause wie in dem Leben der Wurm, da sich derselbe nicht nur in den rotbäckigsten Früchten sehr wohlbefinden kann. Das Vermögen der Dynastie vom Poppenhof und von Poppenhagen war im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts beträchtlich zusammengeschmolzen. Der Poppenhof war mit Hypotheken belastet und vollständig in den Händen eines schurkischen Verwalters, da der junge Baron es ganz und gar unter seiner Würde hielt, mit den eigenen Ochsen das von den Vätern ererbte Feld zu beackern. Auf das Haus in der Stadt hielt mehr als ein schwarzhaariger, krummnasiger Geschäftsmann die scharfen semitischen Augen gerichtet; es lastete auch auf seinen Ziegeln manch eine nicht unbeträchtliche Schuld. Baptiste und Elise stellten im geheimen die wehmütigsten Betrachtungen über die Vergänglichkeit alles Irdischen an und rüsteten sich ahnungsvoll, um mit dem Instinkt, den auch die Ratten haben sollen, im Augenblick des Zusammenbrechens des Glückes von Poppenhall sich mit dem Ihrigen aus dem Staube machen zu können. Die Menschen sind gute Rechner, wenn es gilt, den Eintritt eines dem Nachbar drohenden Unheils zu berechnen. Mamsell Elise und Herr Baptiste glaubten den Bestand des von Poppenschen Haushaltes nur noch auf zwei bis drei Jahre garantieren zu können, unvorhergesehene Zufälle nicht mit in Rechnung gezogen. Ganz so schlimm stand es freilich noch nicht; aber die Verhältnisse waren doch so verworren, daß Mutter und Sohn in manchen verlorenen Momenten gezwungen waren, sich damit zu beschäftigen und sich einige Sorgen darüber zu machen.

Das Haus Nummer fünfzig in der Kronenstraße stammte aus dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts; es war ein vom Alter und Rauch geschwärztes steinernes Gebäude, über dessen Fenstern behelmte Kriegerköpfe grimmig sich anlächelten, eine steinerne Balustrade lief vor dem Dache her, und auf dieser Brüstung standen vier verwitterte Statuen mit den Attributen der vier Jahreszeiten. Dem Frühling fehlte aber der Kopf, der Sommer hatte den Arm, der Herbst die Sichel verloren; nur der Winter hatte unversehrt alle Stürme der Zeit und der Witterung überdauert und blickte böse aus den unbeholfenen Falten seines Gewandes. Es war ein recht winterliches Haus, dunkel, feucht und kalt. Die Steinplatten auf der Flur wurden niemals ganz trocken, das Geländer der breiten Treppe fühlte sich immer naß an. Hier und da sah ein halbverwischtes altes Porträt aus schwarzem Holzrahmen von der Wand herab. Wo die Wände vertäfelt waren, half es nichts, das Wurmmehl wegzufegen; es rieselte immer von neuem unter der ununterbrochenen Arbeit der grabenden, wühlenden Tiere hervor und sammelte sich zu Haufen.

Die Baronin haßte dieses Haus recht von Herzen, sie nannte es einen Grabkeller und würde es gern gegen eine der modernen Wohnungen in einem modernen Viertel der Stadt vertauscht haben, wenn nur Leon damit zufrieden gewesen wäre. Diesem jungen Herrn aber war die Lage und Gelegenheit des Hauses ganz genehm; es ließen sich daselbst recht hübsche kleine Partien, ganz hinter den Leuten, geben; das aristokratische Viertel mit seinen breiten Straßen, seinen Gärtchen vor den Häusern, seinen hellen Fenstern und Gemächern hatte in dieser Hinsicht nicht den mindesten Reiz für ihn; er rühmte als hoffnungsvoller junger Diplomat der Mama das ungemein vornehme Etwas, welches in diesem alten Familiengebäude derer von Zieger sich manifestiere; die Mama seufzte, gab ihrem Sohne recht und, man blieb, wo man war, – die Mutter in dem elegant ausgestatteten ersten Stock, der Sohn im zweiten Stockwerk, wo er sich so eingerichtet hatte, wie es einem zivilisierten Jüngling der Jetztzeit zukam. Das dritte Stockwerk war unbewohnt und diente den Ratten und Mäusen als geräumiger Tummelplatz; alles, was seit anderthalbhundert Jahren in der Familie von Zieger an Kleidungsstücken, Gerätschaften, Meubles abgängig geworden war, hatte hier ein Unterkommen gefunden. Wären wir mit dem Blick eines Trödeljuden begabt, wir würden uns mit Vergnügen auf eine genauere Beschreibung dieser Räumlichkeiten und ihres Inhalts einlassen; die Menschen interessieren uns aber zumeist, und so machen wir Gebrauch von unserm Privilegium, überall ungehindert eintreten zu können, und führen, ohne durch den holden Baptiste und die schöne Elise an der Tür zurückgewiesen zu werden – wir haben auch hoffentlich nicht das Ansehen von Gläubigern! –, unsere Leser ein bei der Frau Baronin.

Die gnädige Frau hatte Besuch. Frau von Schellen mit ihrer Nichte und Frau von Eichel waren soeben fortgegangen, Frau von Flöte und ihre Tochter Lydda saßen noch am Teetisch der Baronin. Von den erstgenannten drei Damen wäre mancherlei Angenehmes zu sagen, wenn wir Zeit dazu hätten, für Artemisia und Lydda von Flöte aber müssen wir unbedingt einen Raum unseres Buches verwenden; wir können dafür den für die Expektorationen des alten Ulex ein wenig beschneiden oder den für die Bemerkungen des Polizeischreibers Fiebiger beschränken.

Es gibt Venusstatuen, welche der fromme Glaube vergangener Jahrhunderte so bemeißelt, beleckt und beküßt hat, bis eine echte Heilige des christlich-katholischen Himmels, eine Sancta Agnes, eine Sancta Klara, eine Sancta Katharina daraus geworden ist: ein ganz ähnlicher Prozeß war mit Artemisia von Flöte vorgegangen. Sie war jung und schön gewesen, und man hatte sie umtanzt wie einen englischen Maibaum; jung und schön war sie nicht mehr, den Rosenkranz hatte sie vom Kopfe herabgenommen, aber in der Hand behalten; sie war immer reich, sehr reich, und jetzt fromm – sehr fromm. Die arme Lydda von Flöte hatte niemals eine Zeit der Rosen gekannt; immer war sie einer Blüte zu vergleichen gewesen, welche lange in einem Gebetbuch gelegen hat und welcher Saft, Form und Duft vollständig ausgepreßt ist. Obgleich sie eine sehr gute Partie war und manch ein Elternpaar, manch ein liebevoller Papa, manch eine zärtliche Mama sie gern als Schwiegertochter an das Herz geschlossen hätten, so hatte doch keiner der Herren Söhne genug Geschmack für die medizinischen Wissenschaften, um Osteologie an dem armen magern Kind zu studieren. Wie ein vergessener vergoldeter Apfel hing sie am Weihnachtsbaum des Lebens und schrumpfelte immer mehr ein, während ihr Temperament den Umständen gemäß immer mehr litt. Auch Leon von Poppen hatte keine Lust, in den verhutzelten Apfel zu beißen, obgleich er ihm auf so wünschenswertem, wertvollem Präsentierteller unter die Nase gehalten wurde. Bis dato hatte er noch jedesmal zum großen »chagrin« seiner Mama das edle vorstehende Glied seines Gesichtes gerümpft und sich – mit seiner Jugend entschuldigt; die Baronin jedoch hatte die Hoffnung, ihren Sohn glücklich zu machen, noch lange nicht aufgegeben.

Die drei Damen saßen um den Teetisch; die Lampe warf ein magisches Dämmerlicht durch das Gemach – es fehlte nicht an Gesprächsstoff, und Lydda schickte öfters verstohlene Blicke nach der Tür, durch welche der junge Baron in jedem Augenblick eintreten konnte. Auch die Baronin sah von Zeit zu Zeit nach der Uhr und nach derselben Tür; aber Leon erschien nicht. ›Wenn er endlich doch Vernunft annehmen wollte!‹ dachte die zärtliche Mutter.

Frau von Flöte sagte:

»Liebste Freundin, die Konsistorialrätin Krokisius war heute morgen bei mir. Die arme gute Seele hat recht ihre Not. Sie wissen, Beste, was für ein christliches Haus die Leute machen, wie sie ihre Kinder erzogen haben. Nun das Unglück! Vor anderthalb Jahren ist der älteste Sohn Otto – du erinnerst dich seiner, Lydda – ein reizender brauner Lockenkopf –«

»Ein naseweiser Schlingel –«

»Ganz richtig, mein Kind, es hat sich leider ausgewiesen, daß er nicht viel taugte. Ach die armen Eltern – Gott will die Seinen prüfen. Der junge Mensch hatte solche schöne Aussichten, der Vater ist so gut angeschrieben in den maßgebenden Kreisen. Nun ist alles nichts.«

»Was ist denn geschehen, Liebe?« fragte die Baronin, höchst gleichgültig ihren Hund streichelnd.

»Mein Gott, der junge Mensch geht, wie gesagt, zur Universität und gerät in die allerschlechteste Gesellschaft, in die allerschlechteste. Unchristliche Gesellen drängen sich an ihn; der Jüngling fällt in die Stricke der Versuchung, die Schlingen der Verführung; vergessen ist das fromme, gottesfürchtige Vaterhaus – der Herr Konsistorialrat wird nicht das Glück haben, seinen Sohn hier in Amt und hohen Würden zu sehen. Er ist unter die Philosophen gegangen – nicht der Herr Konsistorialrat; – er hat eine Doktorschrift geschrieben – es soll etwas ganz Abscheuliches sein, – die arme Konsistorialrätin!«

Es war ein Vergnügen, zu sehen, wie bei der Berichterstatterin die Venusstatue, immer unter der Maske der Heiligen, mehr oder weniger bemerklich zum Vorschein kam, in Mienenspiel, Augenspiel und Gesten mehr als in Worten. Die Tochter hatte ein recht scharfes Auge für diese Momente und verfehlte nicht, sie jedesmal durch ein unbeschreibliches Sinkenlassen des Kopfes und Ineinanderflechten der dünnen Finger sanft, aber vorwurfsvoll zu rügen. Grund dazu hatte sie öfters, als die Mutter weiter erzählte:

»Das ist aber noch nicht das Schlimmste. Der verlorene Jüngling hat es gewagt, sich zu verlieben – auf die niedrigste Art sich zu verlieben. Seine Wäscherin – ein Mädchen aus der Plebs – was weiß ich – eine –«

»Mama!«

»Ja, du hast recht, süßes Herz; wir wollen nicht weiter darüber reden; aber ich sage es immer wieder und habe es auch der Konsistorialrätin gesagt: das kommt alles nur von dem Umgang mit dem Krämer, dem Wechsler – was weiß ich – dem Bankier Wienand. Was nur die fromme Seele, der Herr Konsistorialrat, mit dem Bankier zu schaffen hat? – der unglückliche junge Mensch ist auch nicht aus dem Hause fortgeblieben. Es ist ein gefährliches Haus, man findet daselbst sehr gute Gesellschaft und sehr, sehr schlechte. Ich begreife nicht –«

»Ich auch nicht!« rief die Baronin, welche der Name Wienand aus jeder Art von Schlummer und Schlaf, aus jeder Art von Apathie, aus der tiefsten Ohnmacht erweckt und in die Höhe gejagt hätte; denn mit diesem Namen war der ihrer Schwägerin aufs unzertrennlichste verknüpft. Ihr ganzer Anzug schien sich wie das Gefieder eines gereizten Truthahns zu sträuben; alles an ihr und sie selber schwoll an, und die majestätischen Falten der schweren seidenen Robe wollten sich auf keine Weise zur Ruhe bringen lassen durch die aufgeregten fleischigen Hände.

»Ich kann es auch nicht begreifen, wie man mit den Leuten verkehren kann, die in jenem Hause ein und aus gehen«, rief die Baronin von Poppen. »Der Hausherr ist ein arroganter, aufgeblasener Geldmensch, die Tochter –«

Lydda von Flöte seufzte und lispelte:

»Kindisch, süß und albern!«

»Freifräulein Juliane von Poppen aber ist die Schwester meines Mannes, welche einen Stolz darin findet, ihren und unsern Namen in allen Gassen zum Gespött und Gelächter des Pöbels zu machen.«

Die Baronin Viktorine wußte in der Tiefe ihrer Seele sehr gut, daß der sich nicht immer lächerlich macht, von welchem man solches behauptet. Sie hatte aber einmal ihre Ansicht von der Sache, und der tausendfache Widerspruch, auf den sie dabei stieß, machte sie nur immer erbitterter gegen die Verwandte, immer giftiger in ihrem Haß.

»Weshalb«, fuhr sie fort, »stellt man solch ein armes Geschöpf nicht unter Vormundschaft, weshalb hat die Polizei nicht acht auf die Leute, von denen sie benutzt und ausgeplündert wird? Da sitzt irgendwo in der Stadt ein halb toller Mensch, ein überstudierter Narr – hahaha, eine Jugendliebschaft, wenn ich nicht irre.«

»Oh!« seufzte schamhaft Lydda von Flöte.

»Mit dem hält sie Verkehr, bringt halbe Nächte bei ihm zu.«

Sancta Venus legte sich zurück und lachte wie zu der gottlosen Zeit, als sie noch tief ausgeschnittene Kleider und Rosen in den Locken und nicht den Rosenkranz in der Hand trug; Lydda ließ den Kopf sinken und faltete die Hände.

»Bringt halbe Nächte mit ihm und einem schuftigen Schreiber zu wie in den Jahrhunderten, wo man noch Gold machte und den Stein der Weisen suchte. Ich glaube fast, es gibt keine Mörder- und Diebeshöhle in der Stadt, in welche sie nicht hinauf- oder hinuntergestiegen ist. Mit allem Gesindel ist sie bekannt – eine wahre Zigeunerkönigin.«

Frau von Flöte billigte jeden harten Ausdruck der erregten Dame; Lydda zog sich immer schüchterner in sich zusammen, so daß sie zuletzt alle Ähnlichkeit mit einer neunundzwanzigjährigen Jungfrau verlor. Es war ein Glück, daß in diesem Augenblick Leon von Poppen eintrat. Seine Erscheinung brachte den Redefluß der Mama zum Stillstand und errettete das Fräulein vom gänzlichen Verschwinden in ihr selbst. Lydda von Flöte raffte sich zu einer matten pikierten Lebendigkeit auf, ihre Mutter ließ den Mund hängen wie eine büßende Magdalena und neigte das Haupt zur Seite wie Lais.

»Leon, mein Sohn, ich hatte dich doch gebeten, früher zu kommen!« sagte Viktorine.

»Nicht möglich, chère maman. Unerträgliche Abhaltungen – insupportable Schwere des Daseins – starker Mann mit hundertundfünfzig Zentner Überfracht auf der Brust, und zwar kein Papiermaché – ah!«

Der junge Baron war außergewöhnlich weich und wehmütig gestimmt. Er hatte im Spiel verloren, er hatte eine Erscheinung gehabt und litt an Kopfschmerz, Weltschmerz und allgemeiner Körperschwäche. Matt sank er in einen Sessel zwischen seiner Mutter und der Mutter Lyddas zum großen Verdruß der Jungfrau, von welcher er sich so weit, wie irgend schicklich war, entfernt hielt. Der goldene Apfel hing so lose am Zweige, daß er dem Unvorsichtigen bei der leisesten Berührung auf die Nase gefallen wäre, und Leon von Poppen hielt etwas auf seine Nase, obgleich sie weder zu den griechischen noch zu den römischen gehörte.

»Wie ist es mit der Madonna, Herr von Poppen?« fragte Lydda.

»Ah, gnädiges Fräulein – richtig, Madonna nach Murillo, gestochen von Theresa del Po; – ich erinnere mich! Ich hoffe, das Blatt Ihnen verschaffen zu können; aber – ah, wenn Sie wüßten, was mir alles auf der Seele liegt!«

»Armer Baron, Sie sehen in der Tat angegriffen aus«, sagte bedauernd die Mutter Lyddas. »O wenn Sie doch recht ernstlich den Weg suchen wollten, der zur süßesten Ruhe, zum himmlischsten Frieden führt.«

Herr Leon schnitt nach innen eine gräßliche Grimasse, die sich nach außen durch einen kläglichen Seufzer kundgab. ›Der Teufel hole das Weib mit ihrer himmlischen Ruhe, ihrem ewigen Frieden‹, dachte er. ›Ich weiß wohl, was sie darunter versteht, aber ich danke.‹ Laut sagte er: »O Gnädige, wenn Sie wüßten, welche Mühe ich mir gebe, den Weg zum Heile zu finden! Vergangene Nacht träumte mir, ich sei der heilige Simon Stylites und stehe in Syrien auf einer achtzig Fuß hohen Säule ekstatisch auf einem Bein, balancez à vos dames.«

Empört fuhr die gnädige Frau rauschend empor, Lydda stieß einen pfeifenden Zorneslaut aus, die Baronin starrte mit offenem Munde den Spötter an.

»Komm, mein Kind«, rief Frau von Flöte, »wir wollen gehen; der Herr Baron ist in zu scherzhafter Stimmung für uns. Arme Poppen, der Herr gebe auch Ihnen Kraft in allen Ihren Leiden! Sie haben gleichfalls an Ihrem Herrn Sohn eine sehr schlechte Erziehung gemacht. Komm, Lydda.«

Majestätisch segelten die beiden Damen aus der Tür, nachdem sie den unglücklichen Leon noch mit einer vollen Breitseite aus ihren heiligen Zorn sprühenden Augen bedacht hatten. Die Baronin wollte ihnen nacheilen; aber ein Starrkrampf schien sie auf dem Diwan festzuhalten. Ihr Hündchen heulte kläglich, sie hatte sich beim Versuch, sich zu erheben, darauf gesetzt, und sie wog nicht wenig. Leon gähnte bedeutend und schritt mit gekreuzten Armen durch das Gemach.

Den Sturm, der nun über ihn naturgemäß losbrechen mußte, abzuwenden, zu neutralisieren, ließ der Baron als geschickter junger Diplomat und Naturkundiger jetzt selbst ein kleines Gewitter los, ehe die Mama wieder zu Atem gekommen war.

»Du hast mir das Leben gegeben, Mama«, sagte er tragisch, »ich lege es dir wieder zu Füßen. Mach mit mir, was du willst; opfere mich auf jede beliebige Weise dahin, nur nicht durch diese schrecklichen Weiber. Die Kraft der menschlichen Natur hat leider ihre Grenzen, und ich verkünde hiermit feierlich, daß meine Kräfte zu Ende sind. Mama, das Leben und das Schicksal haben mich mager genug gemacht; aber ein Skelett heirate ich darum doch nicht. Steh doch endlich auf, Mama, das Hundegeheul ist zu widerlich! Armer Azor, ja, winsele nur, aber das Geschick lastet nicht schwerer auf dir als auf mir; ich wollte, ich könnte mit dir tauschen.«

Die Baronin schluchzte krampfhaft in ihr Taschentuch:

»Leon, Leon, was war das? O Leon, was hast du getan? O du bist unerträglich!«

»Vraiment, maman, ganz einverstanden; aber du auch ein wenig. Komm her, Azor. Armes Tier – ganz platt, – platt gedrückt, wie ich selbst.«

»Du hast die Damen aufs tödlichste beleidigt. Weißt du, daß du das getan hast?«

Leon zuckte die Achseln.

»Sie meinten es so gut mit dir.«

»Danke, ich meine es ebenso mit ihnen.«

»Sie können dir deine Karriere vollständig verderben; sie sind so einflußreich.«

»Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, sagte irgend jemand, welcher damit das Richtige traf.«

»O Leon, Leon!«

»O Mama, Mama!«

»Du bist doch sonst immer ein gutes Kind gewesen!«

»Ich hoffe es auch ferner zu bleiben; aber ich habe nicht den geringsten Sinn für das Studium der Anatomie.«

»Solch ein schönes Vermögen!«

»Ach, das Gold ist nur Schimäre.«

»Solch ein liebenswürdiger Charakter!«

»Alle Götter der Oberwelt und der Unterwelt ruf ich an, daß sie einen andern – meinen schlimmsten Feind – damit beglücken mögen.«

»Leon, du wirst bald genug einsehen, was du heute abend verloren hast.«

»Fünfzig Friedrichsdor und mein Herz«, murmelte das gute Kind, doch so, daß die Mama nicht verstand, was es sagte. Der Baron hatte nicht Lust, das unerquickliche Gespräch länger fortzusetzen; er schellte und überließ die tränenüberströmte Mutter den Tröstungen und der Sorgfalt der lieblichen Elise. Leise schlich er fort und ließ sich von dem Esel, dem Baptiste, zu seinen eigenen Gemächern im obern Stock leuchten. Hier, wo von den Wänden aus goldenen Rahmen die berühmtesten Tänzerinnen in allerlei gewagten Stellungen, leichtverhüllt, auf ihn herabschauten; wo bronzene Tiergruppen von ihren Konsolen aus ihren Herrn an die Freuden des Sports erinnerten, wo ein wirres Durcheinander aller möglichen und unmöglichen Gegenstände Tisch und Stuhl bedeckte; hier warf sich Leon von Poppen auf ein Lotterbett und machte es sich immer klarer, daß er rasend verliebt sei in – Helene Wienand, den reizenden Zögling der »unberechenbaren« Tante Juliane. Das war ihm heute ungemein klar geworden, und zwar auf merkwürdig einfache Weise, ohne dramatische Zufälle irgendwelcher Art. Am hellen nüchternen Tage, zwei Stunden nach dem Diner war an dem eigentümlichen Gewächs, welches der Baron sein Herz nannte, diese neue Blüte aufgesprungen, die nun inmitten mancher verwelkten andern sehr buntfarbig und mit etwas sonderbarem Duft prangte.

Sehr oft war Leon mit Helene zusammengetroffen, ohne auf das kleine unscheinbare Mädchen zu achten. Sehr oft war im Kreise der Genossen die Rede von der Tochter des Bankiers gewesen, und der Baron hatte mit den andern die gewöhnlichen Bemerkungen und Witze darüber gemacht; – nun hatte Amor Fleck getroffen, und der goldbefiederte Pfeil zitterte in der Wunde. Hinter dem Stamm einer Linde auf der Promenade hervor hatte der geflügelte Taugenichts gezielt. Unter der Linde hielt das Coupé des Bankiers, und im Vorbeigehen hatte Leon den Papa Wienand mit seiner Tochter aus dem Wagen steigen sehen. Solide war alles an dem Geldmanne: untadelhaft seine Erscheinung, untadelhaft seine Equipage und die beiden Rappen, sowie der bärtige Kutscher. Über alle Beschreibung aber war die Gestalt Helenes auf dem Wagentritt und das Füßchen, welches sie im Niedersteigen zeigen mußte. Es kam über Leon von Poppen gleich einer Offenbarung; hier war alles, was das Herz wünschen konnte – Schönheit, Reichtum, vornehmes Wesen, Geschmack und Bildung. Wie der Kastellan von Coucy drückte der Freiherr von Poppen die Hand auf das Herz; er grüßte tief und achtungsvoll, und verbindlich erwiderte der Bankier den Gruß, als er seine Tochter die Allee hinabführte. Wie festgewurzelt stand Leon noch einige Augenblicke.

›Bin ich denn blind gewesen?‹ dachte er. ›Sind wir alle blind gewesen? Zum Teufel, ihr Herren von der Garde, ihr Herren vom diplomatischen Korps, ich verbitte mir in Zukunft alle Lazzis über diese junge Dame. Per Bacco, allesamt sind wir mit Blindheit geschlagen gewesen.‹

Beflügelten Schrittes eilte der Baron von dannen, aber nun trat ihm allmählich allerlei vor die Seele, welches seine Gehobenheit beeinträchtigte. Die Tante Juliane stieg geisterhaft drohend aus dem Boden und erhob den Krückstock; auch an Lydda von Flöte dachte Leon von Poppen und schauderte. Die Bekannten, welche ihn zum Spieltisch zogen, hatten Grund, sich über seine Zerstreutheit zu wundern. Wir wissen, in welcher Stimmung der Erbherr des Poppenhofes aus dem Café de l'Europe in die mütterliche Behausung heimkehrte und wie er den Sperling aus der Hand fliegen ließ der Taube auf dem Dache wegen.

In den wunderbarsten Verrenkungen und Lagen überlegte der Baron auf seinem Sofa seine Aussichten; aber wenn er sich auch auf den Kopf gestellt oder eine noch ungewöhnlichere Stellung angenommen hätte, seine Gedanken würden dadurch nicht klarer, seine Anschauungen nicht ruhiger geworden sein. Er fand keine Ruhe in seinen vier Wänden. Wiederum schlich er aus dem Hause, abermals nach dem Café de l'Europe. Letzteres war wenigstens der Wienandschen Wohnung gegenüber gelegen, und er konnte von hier dann und wann einen Blick auf die erleuchteten Fenster gegenüber werfen, bis das Licht nach elf Uhr erlosch und das große Gebäude in Dunkelheit versank. Leon von Poppen wurde wieder sehr aufgeregt und heiter in dem Kreise jüngerer und älterer Sünder, welche das bekannte Etablissement mit ihrer Gegenwart beehrten. Er war ungemein geistreich und witzig, aber ein ganz klein wenig weniger frivol als gewöhnlich. Man stellte die Vermutung auf, Fräulein Lydda von Flöte habe endlich – nachgegeben; man ließ es nicht an ironischen Glückwünschen fehlen. Leon ließ alles über sich ergehen; er lachte mit den Lachenden und parierte mit großem Glück manch gutgezielten Stoß, der boshaft gegen ihn geführt wurde. Er war wie in einem leichten Rausch und tat alles, diesen Rausch zu erhöhen. Je näher die Mitternacht kam, desto nervöser wurde er, desto eigentümlicher wurde seine Stimmung. Seit der Nacht, in welcher Eva Dornbluth durchbrannte, hatte er so etwas nicht gefühlt.

Dem Kaffeehause gegenüber saß der Bankier in seinem Kontor nach dem Garten hinaus vor dem Hauptbuch. Er hatte die Faust auf den gewaltigen Folianten gelegt; sein Auge blitzte Triumph. Es war eine Freude, dem breitschultrigen Mann in das charakteristische Gesicht, die eisernen, energischen Züge zu schauen. Man sah auf den ersten Blick, daß dieser Mann einen langen, mühevollen Weg voll viel Schweiß und Arbeit zurückgelegt hatte und sich nun dem Gipfel nahe fühlte. Sein Haar war grau, gefurcht die Stirn, manche Sorge war über dies Haupt hingegangen; aber es hatte sich nicht gebeugt – – Triumph!


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