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Es kommt Nachricht von den Wanderern. Robert Wolf läßt sich naßregnen. »Texas!«
Hoch lag der Schnee, und grau war der Himmel, als der Leichenzug des Meisters Johannes Tellering sich durch die Straßen wand; aber selten wurde der Sarg eines armen Mannes mit so schönen und teuern Blumen geschmückt zur Gruft getragen. Von seinem Turm herab war der Sternseher Heinrich Ulex gestiegen und schritt dicht hinter den Trägern des Sarges; Polizeischreiber Fiebiger hatte Urlaub vom Rat Tröster, seinem hohen Chef, genommen und ging mit Robert hinter Ludwig und dem alten Ulex. Ein langer Zug Handwerksgenossen in den langen ehrbaren Feiertagsröcken, Zitronen auf den Handwerksemblemen tragend, folgte. Juliane von Poppen und Helene Wienand blieben in der Hofwohnung bei den armen Frauen der Familie.
Der Schnee lag hoch, die Luft war dunkel, der Tag ganz geeignet zu einem Begräbnis. An der Grube auf dem Kirchhof hielten weder der Konsistorialrat Krokisius noch die Herren Seelenhirten Nothzwang und Drönemeier Lobreden auf den Verstorbenen. Aber es war viel nachdenkliches und betrübtes Volk zugegen, und das Lob, das leise und mit Tränen in den Augen geflüstert wurde, war auch ein Lob. Es zeigte sich, daß der Meister Johannes ein sehr bekannter, ein sehr angesehener Mann war, und zwar nicht nur bei den Handwerksgenossen.
Das Sprichwort meint freilich, man müsse sterben, um gelobt zu werden, wie man freien müsse, wenn man getadelt werden wolle; aber hier war das Lob so einstimmig und innig, daß wirklich nicht an der Aufrichtigkeit desselben zu zweifeln war. Selbst Julius Schminkert war an diesem Morgen recht ernst gestimmt, und niemand hörte an diesem Tage einen der gewohnten Witze von ihm. Schnell erhob sich über dem Leibe des Meisters Johannes der Hügel, und noch während der Arbeit der Spaten deckte ihn bereits der herabwirbelnde Schnee. Durch ein lustiges Gestöber schritten die Träger, die Leidtragenden nach Hause, und die, deren Heimweg lang war, vergaßen den Toten, bevor sie das erste Viertel des Weges zurückgelegt hatten. Sie hatten ihre eigene Not, ihre eigenen Bedrängnisse, – dem Toten war sein Recht gegeben; wer konnte es ihnen verdenken, wenn sie nun sogleich wieder an das Leben dachten? Es war für die meisten Teilnehmer am Grabgefolge doch hart genug, dieses Leben!
Durch den tiefen Schnee wateten auch die Freunde aus der Musikantengasse und der Gelehrte vom Giebel des Nikolausklosters nach Hause. Sie vergaßen den Toten nicht so schnell, nachdem die traurige Pflicht abgetan und Staub zu Staub gelegt worden war. Noch einen Augenblick saßen Ulex, Fiebiger und Robert Wolf nieder in der dunkeln Hofwohnung, inmitten der kleinen trauernden Familie, deren Haupt sie zu Grabe gebracht hatten.
Milde tröstende Worte sprach der Sternseher zu der Frau Anna und der weinenden Luise; und Helene Wienand, dicht an das Freifräulein sich schmiegend, verwandte die Augen nicht von dem ehrwürdigen Gesichte des Greises. Auf dem Heimwege aber faßte das junge Mädchen die Hand Julianes und rief mit einem plötzlichen Ausbruch:
»O er muß zu meinem Papa kommen; er muß ihn sehen, er muß zu ihm sprechen!«
»Von wem sprichst du da, Kind?« fragte das Freifräulein ganz verwundert.
»O von ihm, dem Guten, dem guten alten Mann!« rief Helene. »Er wird zu dem Vater sprechen; er wird ihn heilen; er wird tun, was der Herr Rat Pfingsten nicht kann!«
Das Freifräulein sah das Pflegekind ganz verwundert an.
»Den alten Ulex meinst du? Wahrhaftig, es könnte deinem Vater gar nichts schaden, wenn der mit ihm zusammengebracht würde. Welch eine Idee! Wir wollen noch darüber sprechen!«
Der Wagen hielt vor dem Hause in der Kronenstraße, und die Baronin Viktorine, die am Fenster stand, fuhr beim Anblick der Schwägerin mit den Zeichen allerhöchsten Abscheus bis in die Mitte des Zimmers zurück:
»Die Person! Schlimmer als eine Spinne, schlimmer als eine – Maus! Elise, Elise, mein Fläschchen!«
Elise stürzte mit dem Riechfläschchen herbei und führte ihre Herrin zu dem Diwan, wo dieselbe aus einem leichten Krampfanfall dem gewohnten Schlummer anheimfiel. Im obern Stockwerk lauerte Leon hinter der Gardine auf das Füßchen Helenes. Das wenige, was er davon erblickte, setzte ihn in eine sehr gemischte Stimmung.
»Der Engel!« hauchte er und setzte grollend hinzu: »Impertinenter alter Drache von Tante! Aber nur ruhig, Leon, mein Sohn; wir machen da drüben doch noch Visite.« – –
Es spannen sich die Tage eines jeden fort durch den Winter. Zu seinem Robert sagte Polizeischreiber Fiebiger:
»Du hast dir ein hohes, schönes Ziel vorgesteckt, mein Junge, und es ist sehr zweifelhaft, ob du es erreichen wirst, ob du deinen Willen haben wirst. Eines merke dir, Junge: durch Träumen und Grillenfangen erreichst du es nicht, und wenn dir die Umstände noch so günstig wären, wenn dir – hm – das kleine Ding – hm – noch so gut wäre. Dies Fräulein Wienand ist ein ganz hübsches Mädchen; aber nicht nur vor die Tugend, sondern auch vor das Schöne setzten den Schweiß die unsterblichen Götter, wie Ulexius sagen würde. Und diese Götter sind ganz merkwürdige Persönlichkeiten, äußerlich höchst glücklich und klassisch-regelmäßig gebildet, inwendig aber voll Nücken, Tücken und Schrullen. Es amüsiert sie, die Menschen wie Kreisel tanzen zu lassen, sie wissen die Peitsche wohl zu gebrauchen, und die Göttinnen – Venus Amathusia vor allen – stehen und halten sich die Seiten vor unbändiger Heiterkeit. Ach, wir auf der Polizei erfahren viel von ihrem Wesen, mehr als alle griechischen und lateinischen Schullehrer und Professoren! Die Götter wollen sehr oft den Schweiß – Schweiß und Blut – ohne den Lohn geben zu wollen. Versuche es aber doch und schwitze, wer weiß, was geschieht!«
Und Robert arbeitete; und die jetzt so scharfäugigen Alten waren nicht so grausam, daß sie ihn ganz von Helene getrennt hätten; sie überwachten jedoch die Zusammenkünfte der beiden jungen Leute sehr genau und gaben acht, daß kein Schaden geschehe.
Der Hammer in der Hofwohnung klang Tag und Nacht, fast ohne Aufhören. Die Säge kreischte, der Hobel fuhr über alles Rauhe, über alle Äste und Knorren: Glatte Bahn, glatte Bahn! Guten Mut, Ludwig Tellering, auch im Menschenleben räumt eine starke Hand manchen Knorren und Ast aus dem Wege und macht glatte Bahn, glatte Bahn, glatte Bahn!
Der Sternseher sah nach den Sternen, und das Freifräulein führte ihn bei dem armen Bankier in der Kronenstraße ein; aber der Kranke hatte große Angst vor dem Greise und duldete nur zitternd seine Gegenwart. Der Sanitätsrat Pfingsten sprach sich gegen das Freifräulein dahin aus: es werde endlich nichts übrig bleiben, als den Patienten in eine Irrenanstalt zu bringen, Hilfe und Heilung werde aber voraussichtlich auch da nicht zu finden sein; denn diese Art der fixen Ideen komme meistens nur mit dem Tode des Individuums zum Abschluß.
»Wenn das ist, so wollen wir den armen Mann nicht fremden Händen überlassen, Pfingsten«, sagte Juliane. »Zu Tode füttern können wir ihn auch.« Der Arzt zuckte die Achseln. –
Unter dem Getön einer höchst fröhlichen Katzenmusik sämtlicher Hausgenossen verließ Fräulein Aurora Pogge die Nummer zwölf der Musikantengasse, und der Tag ihres Exodus war für die Nummer zwölf ein sehr heiterer Tag. Der satanische Julius hatte natürlich an der Tür der Schneiderwerkstatt Posto gefaßt, und die himmlische Angelika kicherte hinter dem Türvorhang. Über alles und jedes machte das holde Paar seine frivolen Bemerkungen. Nichts war den beiden unverschämten Kreaturen heilig, weder die jungfräuliche Bettstatt Auroras noch das Porträt des kriegskommissarischen Papas; ja Schminkert trieb die Verwegenheit sogar so weit, dann und wann ein Stück Hausrat anzuhalten und, zum Ergötzen des vor der Haustür versammelten Volksspiels, seinen Scherz damit zu treiben:
»Hier kommt der Thron der Grazien! Laßt den Thron der Grazien durch, Bürger von Athen!« schrie er, als ein grinsender Packträger einen kastenähnlichen Stuhl, auf welchem man grade nicht sehr graziös sich niederzulassen pflegt, hervorschleppte.
»Laß den Deckel zu! Laß den Deckel zu, glorwürdig Volk!« schrie der Schauspieler. »Hier kommt ein ganzer Waschkorb voll süßer Erinnerungen aus lang, unendlich, unermeßlich, schauderhaft lang vergangener Jugendzeit. Setzt ab die Bahr', ihr schwarzverhüllten Träger – bei allen Mächten, hineingucken muß ich, und wenn des Teufels Großmutter in eigener Person Wache davor hielte! . . . Brr! Lauter Perücken und mauserige Schmachtlocken? Lauter abgelegte imitierte üppige Körperformen? Hurra, versammeltes Volk, was sagst du hierzu?«
Mit spitzen Fingern hielt der Spötter eine vergilbte seidene Robe aus dem Anfang dieses Jahrhunderts in die Höhe, und Janhagel sperrte lachend das Maul auf:
»Donner, welch'n Staat!«
»So trug man sich, als Fräulein Pogge ein junges Mädchen war; lang, lang ist's her!« sprach und sang der Schauspieler mit einem tiefen Seufzer und ließ den Plunder wieder fallen. Er erblickte jetzt den Hausherrn am Fenster und rief ihm mit gellender Stimme zu:
»Soll ich ein Andenken für Sie – ganz rokoko, Herr Mäuseler – soll ich ein Andenken zurückbehalten für Sie?«
Der Rentier schüttelte krampfhaft das ehrwürdige Haupt, und Julius Schminkert setzte seine spaßhafte Inventur zum Ergötzen der gesamten Nachbarschaft fort, bis mit dem letzten Hausgerät Fräulein Aurora Pogge selbst, grüngelb, vor Wut dem Tode nahe, das Haus verließ und mit einem allgemeinen Jubelgeschrei von der Hausgenossenschaft entlassen und von dem Haufen auf der Straße empfangen wurde.
»Jetzt Chlorkalk her!« jubelte Schminkert. »Pulver aufgeblitzt! Mit Essig den Boden gesprengt! Räucherkerzen und Königsräucherpulver! Herr Stibbe, Schwiegerpapa in spe, Sie, Herr Mäuseler, Kommerzienrat in spe, ich bitte um ein Attest darüber, daß ich mich um das Vaterland verdient gemacht habe!«
Fräulein Aurora Pogge zog aus, und Julius Schminkert blieb im Hause; sein Ansehen und Ruf war bedeutend gestiegen, seine Liebe für die liebliche Angelika blieb dieselbe. Er legte die achthundert Taler, das Vermächtnis der seligen Tante, nieder in die Hände des Tailleurs Alphonse Stibbe als Bürgschaft für künftiges gutes Verhalten. Dem Hausherrn, Herrn Mäuseler, malte er in mancher Privatunterhaltung immer schrecklicher die Heiratsfallen, welche ihm – Mäuseler dem Edlen, Aurora Pogge gelegt habe; und der Rentier erklärte ihn – Julius Schminkert – für einen recht gescheiten jungen Mann, mit dem man Nachsicht haben müsse, da er doch nichts dafür könne, daß ihn Gott in seinem Zorn zum »Kinstlär« gemacht habe.
Unter den allbekannten, oft besungenen und beschriebenen Symptomen nahm der Winter Abschied und kam der Frühling; es gab ein großes Auftauen und viel Schmutz in der Stadt sowohl wie auf dem Lande. Unglückliche Buttervögel wagten sich hervor und erfroren wieder in sehr kalten Nächten; auf dem Spaziergang kreischten die Damen hell auf, wenn harmlos der erste Frosch vor ihnen über den Weg hüpfte; irgendwo durchbohrte der erste Mückenrüssel den feinen weißen Strumpf und sog Jungfrauenblut zum hohen Unbehagen der Jungfrau. Die frommen Schwalben kamen aus ihren unbekannten Winterquartieren zurück und klebten ihre Drecknester an die Häuser, und sehr viele pietätlose Hausbesitzer stießen sie mit langen Stangen wieder herab, weil sie behaupteten, das »Viehzeug« bringe Wanzen mit. Der Landmann pflügte fluchend über die saure Arbeit und die hohen Steuern den Acker, und die Krähen hüpften hinter ihm her und fraßen mit Appetit Engerlinge; auch der während des Winters erzeugte Dünger wurde aufs Feld gefahren. Man bekam wieder einmal sehr leicht den Schnupfen und wurde ihn wieder einmal sehr schwer wieder los. Es war nicht zu verlangen, daß der Polizeischreiber Fiebiger sich sehr begeisterte für den Frühling; er nahm ihn, wie er sich gab, und traute ihm nicht eher, bis er vorüber war. An einem Morgen im Frühling aber war's, als der Beschützer Robert Wolfs in den vor seiner Tür angebrachten Briefkasten griff und einen Brief hervorzog, welcher durch Vermittelung eines der bekanntern Handlungshäuser der Stadt in den besagten Kasten geworfen worden war.
Der Schreiber vergaß nicht leicht eine charakteristische Handschrift, wenn er sie auch nur ein einziges Mal gesehen hatte; der Brief kam aus weiter Ferne, kam übers Meer, der Brief war von Friedrich Wolf.
»Keine Überstürzung!« sagte der Polizeischreiber, legte das gewichtige Päckchen auf den Tisch, zündete seine Pfeife an, warf einen Blick auf Robert Wolf, der am Fenster eifrig las, zog einen Stuhl an den Tisch, setzte sich mit einem Seufzer nieder und erbrach nun erst ganz bedachtsam das Kuvert. Zwei andere Briefe fielen heraus; der eine war von Marie Heil an Luise Tellering, der andere von Eva an Robert gerichtet. Der Schreiber warf wieder einen Blick auf seinen nichtsahnenden Schützling und vertiefte sich dann in das an ihn selbst gerichtete Schreiben Friedrich Wolfs.
Es lautete:
»Wir senden aus der neuen Heimat den Freunden drüben diese Botschaft. Geschwiegen haben wir bis jetzt, weil wir das für das Bessere hielten. Die Zeit sollte erst die Wunden, welche nicht wir geschlagen hatten, verharschen machen. Wir hoffen, daß die Zeit ihre lindernde Kraft bewiesen hat!
Ich kann dem wackern Mann, der meinem armen Bruder so hilfreich die Hand reichte, nur immer von neuem danken. Eva schreibt selbst an Robert.
Ich habe meine Frau wild und weit durch die Welt geführt; die Kinder aus dem Winzelwalde haben ihr eigenes Schicksal, und wechselnde Sterne leuchten über ihnen. Nun stehen wir wieder vor einer großen Wanderung. Den Reichtum, welchen mir das Glück unaufgefordert in den Schoß warf, hat es mir in einem Anfall übler Laune wieder bis auf ein Bruchteil genommen, und meine Angelegenheiten befinden sicht jetzt ziemlich vollständig, wie man hier zu Lande sehr geistreich sagt, out of fix. Die Stimmung haben wir uns jedoch nicht verderben lassen und bereiten uns jetzt zu einer marooning party, das heißt eine Landpartie auf mehrere Tage mit Proviant vor; das heißt wiederum, wir gehen einige tausend Meilen weit, nach Texas. Es weht hier eine ungemein gesunde Luft, und wir atmen den Hauch des Weltmeeres zugleich mit dem Hauch des Urwaldes und der Prärie ein; man verliert dabei nicht so leicht den Mut. Die eigene Kraft, die in Europa so manches Mal nur eine Phrase ist für ein von tausenderlei Staatsgewalten gezügeltes, zurückgehaltenes, niedergedrücktes, vergebliches Abkämpfen, ist hier für den echten Mann noch immer eine Wahrheit, was auch die nächsten Zeiten bringen werden. Wenn man nur nach den Sternen sieht, so findet man immer seinen Weg; – mit frischem Mut westward ho, und – Gott befohlen!
Eva Wolf ist wohl und fröhlich, von fixings keine Spur; – sie weiß vortrefflich mit dem Revolver umzugehen und wird, eine herrliche stolze Jägerin, mit den Jägern und Handelsleuten reiten. Die Frau wird sich weitläufiger in ihrem Schreiben auslassen; meine Zeit ist gemessen, rastlos muß ich den Schleifstein drehen, auf dem ich die Waffen und Werkzeuge schärfe, welche uns den Weg weiter bahnen sollen. Die Funken springen im feurigen Kreise, das Leben wartet auf niemand; morgen sind wir auf dem Wege der Sonne vom Orient zum Okzident. Was kümmert uns die Nacht? Wir sehen nach den Sternen, an die wir glauben!
Lebt wohl!
Friedrich Wolf.
New-Orleans, Saint Charles-Hotel,
am 28. Febr. 184–.«
»So ist es!« murmelte der Polizeischreiber, »der eine sitzt in der Höhe, zum Exempel drüben auf dem Giebel des Nikolausklosters, hoch über dem Getriebe der Menschen und sagt: Seht nach den Sternen. Der andere marschiert im Getümmel mit, tritt seinem Vordermann auf die Hacken, läßt sich von seinem Hintermann auf die Hacken treten und faßt seine Lebensweisheit in dieselben Worte zusammen. Phantasten sind sie beide; aber es ist doch ganz nobel, sich solchen Phantastereien hinzugeben. Übrigens hat der Mann im Giebel den Vorteil, daß er wenigstens so ziemlich sicher sitzt; dieser hier« – der Schreiber legte die Hand auf den Brief Friedrich Wolfs – »dieser hier beschreitet einen gefährlichen Pfad und führt, was das Schlimmste ist, ein anderes, schwächeres Wesen auf demselben Pfade mit sich fort. Es ist wahr, sie haben viel Glück, diese phantastischen Abenteurer, die in lächelnder Sorglosigkeit keinen Zweifel kennen und sich allen feindlichen Gewalten gewachsen glauben; die Welt bedarf ihrer, die Poeten, die Helden jeder Art rekrutieren sich aus ihnen. Dieses nach seinen Sternen sehende Abenteurertum schiebt die Geschichte vorwärts; überall ist es am Werk beschäftigt, hinter der Bühne und auf der Bühne. Wer zieht die Seile und haspelt an der Maschinerie, wenn die Szene sich verändern soll? Diese sternguckenden Gesellen sind es. Wenn nur ihre Sterne nicht so oft sich in Sternschnuppen verwandelten! Arme Burschen! Was ist das Ende der meisten? O Friedrich Wolf, mein tapferer, mein lieber, mutiger Junge, wohin wirst du von deinen Sternen geführt werden? Wohin wirst du dein mutiges, edelherziges Weib führen?«
Kopfschüttelnd erhob sich Fritz Fiebiger und legte den Brief Evas auf den Phädon, Robert Wolf vor die Nase.
Auch der Jüngling erkannte sogleich die Handschrift, er stieß einen erschreckten Laut hervor, eine hohe Röte überflog sein Gesicht, die Hand, mit welcher er das Siegel zerbrach, zitterte nicht wenig; aber dieses Mal zerriß er den Brief Evas nicht ungelesen. Das geöffnete Schreiben in der Hand, wollte er aus der Tür stürzen, als der alte Fiebiger lächelnd rief:
»Halt ein wenig! Hier ist noch eine Epistel an Fräulein Luise Tellering; nimm sie mit und gib sie ab.«
Robert griff nach dem Dargebotenen und eilte jetzt davon; den Brief an Luise legte er auf dem Hofe in die Hand Ludwig Tellerings, mit dem Schreiben Evas sprang er in die Gasse und durcheilte sie fast so schnell wie an jenem Abend, wo er von Julius Schminkert und dem Polizeischreiber gejagt wurde. Manche Straße mußte er durchlaufen, ehe er sich so weit gefaßt hatte, daß ihm die Buchstaben nicht mehr verworren vor den Augen durcheinander tanzten. Es regnete leise; aber er merkte es nicht; zuletzt stand er an eine Hauswand gelehnt mitten in dem an ihm vorübertreibenden Getümmel und las:
»Lieber, lieber Robert!
Ich schreibe Dir wieder einen Brief. Ein Jahr und ein halbes ist vergangen, seit wir uns zuletzt sahen, das ist eine lange Zeit für das kurze Menschenleben. Man kann darin viel Leid erdulden und viel Freude haben; man kann darin viel besser und viel schlechter werden. Man kann darin ein ganz anderes Wesen werden, und manchmal merkt man das, oft merkt man es nicht; es geschieht darum aber doch.
Es trennt uns nicht nur die Zeit, es trennen uns auch weite Räume, Land und Wasser, und oftmals mein ich noch, es sei nur ein Traum, der mich hier gefesselt halte und mir so bunte Bilder zeige. O, ich sehne mich gar nicht nach dem Erwachen; ich bin eine glückliche Frau geworden, Lieber; – o möge es Dir auch so gut gehen, und mögest Du all das Glück finden, welches ich Dir zu jeder Stunde wünsche. Ich fühle es nun recht mit geheimem Schauder, dort bei Euch hätte ich zuletzt doch zugrunde gehen müssen; ich war wie ein armer Vogel, welchem man die Flügel abgeschnitten hat und der im Staube sein Leben, das eigentlich den blauen Lüften gehört, verhüpfen muß. Weißt Du, lieber Bruder Robert, in unserer Stube zu Poppenhagen hüpfte solch ein verstümmelter Vogel unter den Bänken, verstäubt, halb blind, mit zerzaustem Gefieder, immer in Furcht vor der Katze. Fritz hatte ihn gefangen und mir geschenkt, ich denke heute noch kummervoll an das arme Tier – die Katze hat es zuletzt doch erhascht. Mir sind jetzt die Flügel wieder gewachsen, und ich kann hoch und weit fliegen; aber den armen Hänfling vergaß ich darum doch nicht, auch nicht das Schulhaus und das Pastorenhaus, die Gräber auf dem Kirchhof, die Berge, den Poppenhof, – das ganze Poppenhagen. Die Kirchglocke höre ich noch immer, und alle Dorfleute kommen mir vor die Augen, als habe ich sie erst gestern verlassen. Wenn ich hier in großer Gesellschaft bin, im englischen Sprachgewirr, wenn alles higgledypiggledy durcheinander zischt und schnappt, auf dem Mississippidampfer, im Wagen oder zu Pferde: überall und immer kommen mir die alten bekannten Bilder. Und wenn mich dann irgendein kluges oder dummes Wort aufweckt und ich antworten muß, so merke ich, wie ich in meinen Träumen aus dem Getümmel so weit weg war. – Da sitze ich und frage mich, ob wohl die alte Liese noch lebe und vor der Schenke in der Sonne kauere, ob wohl an dem Wegweiser auf dem Kaiserberge immer noch alle drei Arme fehlen. Welche Kinder mögen jetzt wohl die Abendglocke ziehen, da wir fort und so weit in der Welt zerstreut sind? Ich hätte doch nie gedacht, daß ich einmal das Heimweh nach dem Winzelwald, nach dem schmutzigen Dorf Poppenhagen bekommen würde.
Lieber Bruder, Fritz ist sehr gut gegen mich; er hat viel Unglück gehabt in der letzten Zeit. Ein großer Liner, das heißt eines der Liverpooler Paketschiffe, ist mit vielen Gütern, die uns gehörten, untergegangen, wir haben viel Geld verloren beim Bankerott einer Bank in Philadelphia. Aber Friedrich ist ein rechter Mann, der sich nicht durch Widerwärtigkeiten beugen läßt; wir werden jetzt eine große Reise antreten in ein ganz neues Land, wo es vielen gelingt, Reichtümer zu erwerben; Fritz hat die besten Hoffnungen; er summt, singt und pfeift den ganzen Tag, und sein Schritt erschüttert immer stärker den Fußboden. O wenn ich ihm nur behilflich sein könnte auf seinem Wege! Wäre meine Hand so stark wie mein Herz, er sollte auf kein Hindernis auf seinem Pfade stoßen. Nun kann ich aber nur treu an seiner Seite gehen und den Sternen, die er sieht, glauben und ihm folgen, wie er mich führt, durch Wildnis und Wüste, über Land und Meer, durch alle Not und allen Schmerz. Lieber, teurer Bruder, je fester ich mich an das Herz, welchem ich mich gegeben habe, festklammere, desto mehr muß ich mit Wehmut an den Schmerz denken, der durch mich einem andern Herzen, wenn auch ohne meine Schuld, angetan ist. O möchtest Du doch schon die gefunden haben, welche Dir zum Trost und zur Begleitung auf Deinem Lebenswege von Anfang an bestimmt wurde; – ich war es nicht, lieber Robert, das sage ich Dir immer wieder. Wir leben hier in einem herzlosen, lieblosen Getümmel; ach Robert, wenn Du doch wüßtest, was es mir sein würde, wenn ich nur mit dem einen Gefühl des Heimwehs der Heimat gedenken könnte! Gedenke Du der Wanderer im fremden Lande, dear Bob, aber sende ihnen keine harten und wilden Gedanken nach auf ihren wilden, gefahrvollen Wegen.
Sei tausendmal gegrüßt und lebe wohl!
Eva Wolf.«
Die Leute, welch an dem lesenden Robert vorübergingen, hatten hinreichend Grund, sich über den jungen Mann zu verwundern; er gab an seiner Hauswand eine vollständige dramatische Vorstellung dem erstaunten Publikum zum besten, und Julius Schminkert würde es nicht besser gemacht haben. Als er wieder zur Besinnung kam, entzog er sich ziemlich beschämt so schnell als möglich dem gaffenden Kreise, welcher sich um ihn gebildet hatte, und eilte ziemlich durchnäßt vom Regen heim. In der Musikantengasse stürzte ihm sein Freund Ludwig, welcher sich in einer ähnlichen Gemütsverfassung wie er selbst befand, entgegen:
»Texas! Texas! Sie geht nach Texas, hat sie der Schwester geschrieben! Und ich – wir – die Mutter und Luise – wir alle gehen ihr nach. Ich habe es lange mit mir herumgetragen; aber jetzt ist's fest beschlossen: ich gehe mit der Mutter und Luise nach Amerika. Es finden so viele Tausende, Hunderttausende ihr Glück drüben, weshalb sollten wir es nicht auch dort finden? Sie brauchen rüstige Arme und guten Mut drüben, und guten Mut und rüstige Arme habe ich. O Marie, Marie! Nach Amerika, nach Texas!«
Der Polizeischreiber in seiner Stube vernahm ein großes Gepolter draußen auf der Treppe und richtete den Kopf von seinem Buche in die Höhe:
»Na, da ist er wieder. Jetzt werden wir auch wohl erfahren, was in dem Skriptum steht. Kann's mir freilich schon denken. Na, Gott segne die Wirkung.«
Schon stürmte Robert in die Tür und reichte dem alten Freunde das Schreiben Evas.
»Lesen Sie! O lesen Sie! Was soll ich tun, um solcher Worte würdig zu werden?«
»Werde ein echter Mann, wie sie ein echtes Weib ist!« sagte Fiebiger ruhig, nahm den Brief Evas und legte dafür den Friedrichs in die Hand des Jünglings.
Am Abend wurden beide Schreiben dem Sternseher auf den Turm gebracht, und Heinrich Ulex neigte sein weißes Haupt darüber:
»Seht nach den Sternen!«