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Auf der alten Stelle. Zum zweitenmal soll der Schüler die Lektion aufsagen
Schwer ächzte und keuchte die Maschine, durch welche Robert Wolf der Hauptstadt und den Freunden entgegengeführt wurde. Der Morgen war frisch und sonnig, der Tau blitzte auf den Wiesen, jedes Dorf lag wie ein Idyll in seiner Feldmark; die winzigen Figürchen, die sich auf den Äckern von der frühen Morgenarbeit aufrichteten und sich einen kurzen Augenblick der Rast gönnten, um dem schnellen Zuge nachzublicken, konnten nimmer Not und Elend unter jenen lieben roten Dächern im Grün zu erdulden haben! Oder doch?! Sollte es doch möglich sein? . . . Wieder ein Dorf; die Baumzweige der Gärten streifen fast die Wagenfenster; zwischen den Gärten ein Blick in eine enge Gasse, begrenzt von grünen Hecken – ein Leichenzug – Träger und Leidtragende – ein sonnebeschienener Kirchhof – eine Gruppe von Kindern um ein offenes Grab, den schwarzen Sarg erwartend – blitzschnell allem vorbei! O wie wunderlich solch ein Blick aus dem Fenster des Dampfwagens auf solch einen Zug schwarzer Gestalten, die sich nicht von der Stelle zu bewegen scheinen – o wie wunderlich solch ein Blick im flügelschnellen Vorübersausen auf den kleinen Kirchhof und das Grab, die nicht von der Stelle kommen und denen wir auch doch nicht entgehen können!
Hussa, wie die Räder durch die lichthelle Landschaft donnern! Was gehen uns die kleinen hübschen Puppen mit den blitzenden Miniaturrechen und Spaten, was geht uns der winzige Ameisentrauerzug an? Was haben wir zu schaffen mit dem fremden Toten? – Die nächsten Sekunden reißen das alles in unendliche Ferne; die eigene Freudigkeit aber begleitet uns, der eigene Gram läßt uns nicht los, der eigene Tod ist mit uns, so schnell auch die Räder sich drehen mögen.
Dieser selbige Eisenbahnzug hatte vor dreiundeinemhalben Jahre den Knaben aus dem Winzelwalde nach der großen Stadt getragen; und wenn den jungen Mann in der Ecke des Wagens die Gefühle überwältigen wollten, so brauchte er ja nur jene Tage mit allen ihren schrecklichen Einzelheiten in die Gegenwart zurückzurufen, und die bösesten Geister duckten sich vor der Gewalt dieser Erinnerungen. Damals und jetzt; – welche Ähnlichkeiten, und doch alles, alles wie verändert! Wo waren die Herbstwolken, die damals Schnee und Regen im wirren Gemisch auf die vorbeifliegende Gegend ausgeschüttet hatten? Andere Gebilde am Horizont, andere Gebilde in der Seele! Zu einer Zeit behielt man vom Zuge aus lange einen kahlen Hügel und auf diesem einen einzelnen Baum im Auge. Robert Wolf erinnerte sich ganz genau an diesen Baum, er verknüpfte keine deutliche Erinnerung irgendeines Bildes, irgendeiner Gedankenreihe damit; er wußte nur, daß er diese unfruchtbare kahle Fläche, diesen Hügel, diesen einsamen Baum schon einmal gesehen habe und daß ihm damals recht schlimm zumute gewesen sei. Und doch hatte er das Leben ertragen, hatte Leid vergessen und Freude genossen, hatte viel gelernt und war älter geworden; nun trug ihn das Schicksal wieder an diesem Baum, der damals im Regen und Nebel sich halb verbarg, vorüber, und leichte Wolkenschatten glitten über die Ebene und den Hügel – andere Gebilde am Himmel, andere Gebilde in der Seele! Wo war der Groll gegen die schöne Eva Dornbluth geblieben? Damals hätten alle Wasser, die zwischen dem Goldenen Tor und diesem einsamen Baum auf der deutschen Heide rollten, ihn nicht ausgelöscht – – und jetzt? Wie nahe gerückt waren sich jetzt die beiden Herzen, trotz all der großen Wasser, trotz all der weiten Länderstrecken, die zwischen ihnen lagen!
Vorüber an Dorf und Stadt, weiter – immer weiter! Durch Wald und Feld, weiter – immer weiter! Was hatte der tote Bruder Fritz mit den sonnedurchglänzten Wäldern, durch welche der Zug brauste, zu schaffen? Bei jedem Blick in das dicht verschlungene Grün, bei jedem Blick in die Lichtungen faßte das Gedenken an ihn, das Nachdenken über ihn – die Erinnerung den jungen Reisenden mit doppelter Gewalt. Fritz, weißt du noch? Weißt du noch, Robert? Im Wagen lachten und schwatzten die Passagiere, und ein ausgetrocknetes, gebräuntes, bärtiges Individuum sprach ein langes und breites von einer Expedition in das Innere Neuhollands, an der es teilgenommen hatte, und von einer Fahrt nach Island, welche es jetzt unternehmen wollte. Halben Ohres horchte Robert auf die Erzählung und dachte an den Bruder, der auch so wild über kreuz und quer die Welt durchschweift hatte und der jetzt so still liegen sollte im Urwald am Yuba.
O über den Wald, sein Licht und seinen Schatten! O über das Eingeweide des Berges, durch welchen der Mensch seinem Feuerroß den Weg gewühlt hatte!
Vorüber an Dorf und Stadt, weiter – immer weiter! Durch Wald und Feld weiter – immer weiter! Heller Morgen, schwüldunkler Mittag – dämmernder Abend – Nacht auf den Feldern und Bergen – Lichter in den Häusern der Menschen – weiter, immer weiter!
Was hatte denn der Lichtschein aus den Fenstern der Hütten und Häuser mit Helene Wienand zu tun? Je näher die Nacht kam, je heller die Lichter schimmerten, desto mehr mußte solch ein junges Menschenkind an sein verlorenes Lebensglück denken. Ruhig, ruhig, Herz! Wie der Zug donnert über Brücken und Viadukte – du hältst ihn nicht auf durch deinen Willen, du hältst ihn nicht auf durch deine Seelenangst. Fortgerissen wirst du mit allen andern, fort, fort, bis der Haltepunkt, zu welchem dich dein Schicksal bringen will, erreicht ist.
Weiter, weiter in schwindelerregender Hast; ergib dich drein, Robert Wolf –
Angekommen!
Da war das Gewühl am Bahnhofe, die Polizeimannschaft, das Geschrei der Packträger, die Droschkenreihe; da war die breite, menschenvolle Straße, die unendliche Linie glänzender Gaslaternen; da war aber auch Julius Schminkert, melancholisch in der Eisenbahnhalle in das Getümmel starrend, wie unschlüssig, ob er ein Billett nach den Grenzen der Erde nehmen oder ob er zu Hause bleiben solle. Wie oft platzt in die elegischste, tragischste Stimmung der Spaß herein und macht das ernste Gesicht noch ernster, das finstere noch finsterer! Julius Schminkert war da, und sein Freund und Wandnachbar konnte ihn nicht los werden von seiner Seite. Aber der junge Mediziner erkannte den Schauspieler fast nicht wieder. Alle ungebundene geniale Liederlichkeit war aus dem Äußern des einst so jubelvollen darstellenden Künstlers verschwunden. Er trug jetzt einen soliden hohen Hut, und zwar etwas in die Stirn gezogen; er war im Besitz eines sehr anständigen Rockes, und Hosen und Weste ließen ebenfalls nichts zu wünschen übrig. Sehr respektabel sah Julius Schminkert aus, aber leider auch sehr gedrückt, sehr wehmütig; Julius Schminkert war auch nicht mehr der frühere Julius Schminkert. Vorbei war das lustige Leben in den Lüften, das Flattern von Blume zu Blume. Der leichtsinnige Schmetterling schien sich die Flügel gründlich versengt zu haben. Neben Robert schritt der Parfümeriehändler, der Chef der Firma Schminkert und Kompanie her und hielt nicht hinter dem Berge mit seinen Kümmernissen. Es schien ihm Erleichterung zu gewähren, sich jemandem, der ihn in seinem frühern, leichtern Dasein gekannt hatte, mitzuteilen unter dem Druck einer schweren Gegenwart, und schweigend, den eigenen Gedanken nachhängend, duldete der Schützling des Polizeischreibers Fiebiger das Gewinsel des einstigen Hausgenossen.
»Hören Sie, Robert«, seufzte Julius, »sehen Sie, wissen Sie, es war eine brillante Hochzeit. Ich selbst hatte alles aufs beste arrangiert – Kranzjungfern, Delikatessen, Equipagen, Aufführungen, alles comme il faut. Ich möchte den sehen, der mir natürlichen Geschmack und Erfindungsgabe abspräche! Die Musikantengasse konnte Maul und Augen, so weit sie wollte, aufsperren; es war ihr doch absolut unmöglich, die erhabenen, angenehmen, rührenden und gemütlichen Vorgänge in der Nummer zwölf in ihrer ganzen vollen Bedeutung und Glorie aufzufassen. O ich war glücklich, überglücklich, – se–lig, auf–ge–löst in Won–ne. Jungfräuliche Myrten, – Erröten, Tränen – o Tränen, Robert! Selbst die väterliche Schneiderseele, der teure Schwiegerpapa, Alphonso Stibbe, tailleur de Paris, vergoß etwas von jenem kostbaren Naß; mit höchsteigenen Händen hatte er mein hochzeitliches Gewand gebaut, und er saß – ich meine den Frack – er saß magnifique. So wurde das Meisterstück der Schöpfung und der Schneiderkunst – diesmal meine ich nicht den Frack – mein. Für Zeit und Ewigkeit wurden wir miteinander verbunden. Ich sollte ihr Herr sein, meinte der ehrwürdige Herr, welcher den feierlichen Akt der unauflöslichen Verknüpfung gegen die gesetzlichen Gebühren und nach Vorlegung der notwendigen beiderseitigen Legitimationspapiere mit uns vornahm. Ihr Herr? O mon Dieu, Robert, Sie sind ein guter Kerl und sprechen nicht weiter davon; – ihr Herr?! Nach Hause, nach dem eigenen Hause, Kranzstraße Nummer dreiunddreißig, wie Sie wissen, führte ich mein junges Glück: Parfümerien und Putzgegenstände, parterre, vorn heraus, sehr elegant, Spiegelscheiben, Sammetfauteuils; – hinten hinaus flitterwöchentlicher Ehestand, allerhöchste Seligkeit auf beschränktestem Räume, etwas feucht, dunkel und dumpfig – Wanzen! – Da saß ich nun umgaukelt von Amoretten und Amorinos, und der Handel ging gut, besser, immer besser; o Robert Wolf, er ging endlich zu gut! Handschuh, Handschuh, Wolf! O dieses Handschuhanprobieren! Welcher Gott legte Ihnen damals die Warnung davor auf die jugendliche Zunge? – Haben Sie den Othello gesehen? Ich sage Ihnen, meine Eifersucht fing klein an; aber sie wuchs mit so fabelhafter Schnelligkeit, daß man sie wachsen hörte. Ja, die Nachbarn hörten sie wachsen und machten ihre Glossen darüber. Dazu nahm meine Huldin einen Ton an – Diskantschlüssel –, der mich nicht wenig frappierte; mit unendlicher Grazie setzte sie mich auf den Mokierstuhl, und – und da sitze ich noch, Robert Wolf! Sollte man nicht wünschen, daß die Firma Schminkert und Kompanie zwischen jetzt und morgen bankerott mache? – Und er soll dein Herr sein – krasseste Ironie! Der Schwiegerpapa hat's auch nicht besser getroffen; – o Robert, was für ein glücklicher Mensch Sie sind! Doch hier ist mein Geschäft; – Julius Schminkert und ein Geschäft – auch nicht übel. Nun sehen Sie, allerneueste Pariser Neuigkeiten! Bitte, sehen Sie da! Famos! nicht wahr?«
Mit einem Seufzer wies Julius auf die hellerleuchteten Spiegelscheiben seines »Etablissements«, in dessen Schaufenster alle die Sachen und Sächelchen, mit welchen die Firma Schminkert und – Frau handelte, so verlockend und reizend als möglich dem Publikum vor die Augen gestellt waren. Trotz seiner Bedrücktheit schien der bejammernswerte Geschäftsmann den äußern Effekt, den glänzenden Anblick mit weiter geöffneten Nasenlöchern einzuschlürfen. Für einen Augenblick verlor sein Gesicht den Ausdruck der Zusammengekniffenheit, und seine Züge legten sich auseinander wie die Blätter einer Stockrose unter einem erfrischenden Regenschauer. Aber der glückliche Augenblick ging blitzschnell vorüber, als über die Schwelle, aus dem Laden hervor, ein junger Herr trat, ein Paar neugekaufter Glacéhandschuhe fester über die Finger ziehend. Hinter ihm erschien holdlächelnd, mit der Taille einer Wespe, frisiert à l'impératrice, Madame Angelika Schminkert geborene Stibbe, in potenziertester Liebenswürdigkeit den Abschiedswink des jungen Herrn beknicksend. Der Ehemann knurrte einen Theaterfluch, Robert Wolf aber fuhr zusammen und faßte die Unterlippe mit den Zähnen: der Kunde der schönen Modewarenhändlerin war kein anderer als Herr Leon, Freiherr von Poppen, der Verlobte Helene Wienands. Mit ausgesprochener Bonhommie grüßte der Baron den Gatten Angelikas, und dieser mußte den Gruß erwidern und sehr dankbar sein für die Kundschaft und Ehre. Ob der treffliche Diplomat den Zögling des Sternsehers erkannte, blieb zweifelhaft, jedenfalls zeigte er weder Freude noch Kummer darüber; – er war ein sehr brauchbarer Mensch, und seine Vorgesetzten fingen immer mehr an, ihn als ein großes Talent zu schätzen und zu verwenden; er hatte eine große Zukunft, und die Gegenwart war auch nicht zu verachten.
Er streifte Robert fast im Vorbeigehen, und dieser schlug ihn nicht zu Boden, sondern wich nur zurück wie vor einem giftigen Tier; er starrte ihm nach, wie er um die Ecke sich wandte. An der Ecke fiel der Schein der Laterne noch einmal voll auf das gelbliche Gesicht, das jetzt ein höhnisches Lächeln überflog; – jetzt berührte Leon von Poppen den Hut gegen Robert Wolf, dann verschwand er, und nur noch einmal sollte ihn Robert wiedersehen.
Die Gattin schwebte dem Gatten entgegen, Robert ließ sie beide an ihrer Ladentür ihre Gefühle austauschen und eilte schnellern Schrittes durch den Lärm der Straßen der innern Stadt, der alten, treuen Musikantengasse zu. Er kreuzte die Stelle, auf welcher er vor dreiundeinemhalben Jahre in Schmutz und Blut lag. Damals wie jetzt ging ihm ein tiefer Schmerz durch die Seele; aber das heutige Weh war fast noch schärfer, bänger, als das damalige, obgleich es ruhiger ertragen wurde. Mit klopfendem Herzen stand Robert still; er sah sich im Gefängnis, er sah den bärtigen Schließer, hörte den Regen an die trüben vergitterten Scheiben schlagen, erblickte den Wachtmeister Greiffenberger und den langen Gang, der zum Bureau Nummer dreizehn führte. Ganz deutlich atmete er wieder den eisig-ungesunden Hauch, welcher durch das ganze Polizeigebäude zog; – im Bureau dreizehn stand er vor dem Rat Tröster: wie konnte es geschehen, daß der Hauptmann von Faber, welcher jetzt den Tod Friedrichs meldete, damals in demselben Bureau auf der Armensünderbank saß? Nun tauchte plötzlich über das hohe Pult das Gesicht des Polizeischreibers Fiebiger auf, das treue geliebte Gesicht mit den klaren schlauen Augen, den hundert Falten – gesegnet sei das teure Haupt! Und neben dem Gesicht des Greisen das andere Gesicht? O Helene, Helene! Das Volk drängt sich wild im Kreis, zu Boden liegt der Knabe aus dem Winzelwalde – dunkel ist der Himmel – o das Gesicht, das Gesicht, das andere Gesicht – Helene, Helene! . . .
Im jähen Schreck fuhr Robert zusammen; eine Hand legte sich ihm plötzlich auf die Schulter: der Polizeischreiber Fiebiger stand nicht mehr als Traumgebild, sondern in natura hinter ihm: so runzlig, so vertrocknet, so klaräugig wie immer. Er zog den Schützling in seine Arme.
»Da bist du! Hab ich dich wieder? Ruhe, Ruhe! Mut, Mut!«
»Mein Vater, mein Freund! O mein Vater!« rief Robert Wolf, und der Alte, unfähig, seine Erregung, seine Rührung auf andere Weise zu verbergen, stürzte sich sogleich, Hals über Kopf, in seinen gewöhnlichen Ton:
»Komm, komm, mein Junge. Der hohen Polizei ist es am wenigsten gestattet, eine Szene auf offener Straße hervorzurufen – weder tragisch noch komisch. Ist ganz, ganz gegen das Reglement! Komm nach Haus, lieber Junge, mein wackerer Junge, – der arme Fritz, die arme Eva – komm fort! Doch halt, sieh, wer da kommt!«
Jetzt ließ Robert Wolf die Hand des alten Freundes los und eilte hastig einer kleinen, schwarz gekleideten Dame entgegen, welche dicht vor ihnen aus der Menge auftauchte und ebenfalls schnell auf die beiden Männer an einem Krückstock zuhinkte.
Die kleine schwarze Dame faßte ohne Scheu, vor allen Menschen, den Studenten gleichfalls in die Arme:
»Gott segne dich, mein armer Junge! Ach Robert, Robert, was muß man erleben in der Welt! Wenn man glaubt, nun sei einem alles mögliche gebrannte Herzeleid angetan, so ist immer noch ein Stück zurück, welches einem die Last schwerer und die Augen trüber machen kann. Welche traurige Botschaft ist uns übers Meer von deinem Bruder, von der schönen Eva, seiner Frau, gekommen! Aber was hilft's, auf der Straße, auf dem Markt davon zu schwatzen! Jetzt wollen wir gehen, ich meines Weges, ihr des eurigen; nachher, Fiebiger, treffen wir uns bei Heinrich; er soll uns sagen, was die Sterne darüber denken; ach Gott, 's ist immer doch nur: après la mort le médecin; wenn der Jammer ausgeflossen ist, stopft man das Loch mit Philosophie, mit schönen Redensarten zu.«
Das Freifräulein Juliane von Poppen winkte den beiden, ihr nicht zu folgen, und hinkte gesenkten Hauptes weiter; sie schämte sich zu sehr, daß sie sich von dem ausgezeichneten Neffen so kläglich hatte hinters Licht führen lassen, und für einen Charakter gleich dem ihrigen war solche Scham fast vernichtender als der Schmerz.
Der Polizeischreiber sah ihr traurig nach und sagte:
»Am liebsten würde sie einen härenen Sack anziehen und barfuß durch die Gassen gehen. Komm, Robert; und nimm dir ein Beispiel an der alten Frau, ich will es auch tun.«
In wehmütigem Schweigen setzten der Greis und der junge Mann ihren Weg zur Musikantengasse fort; und wieder einmal sah sich Robert in den grauen, tabakverräucherten Räumen, in denen er geistig soviel erlebt, in denen er soviel geträumt, soviel gelernt hatte.
Inmitten dieser alten schäbigen und doch so freundlichen Wände, inmitten dieser abgelebten, wackligen Gerätschaften – hier, inmitten seiner eigentlichen Heimat, kam ihm jetzt mit doppelt erschreckender Klarheit die Vorstellung, wie er nun wieder von allem, was er um sich her aufgebaut hatte zu seinem Glück, erbarmungslos losgerissen und in das Ungewisse, Lieblose, Fremde, Wirre und Verderbliche hinausgeschleudert sei.
»O mein Freund, mein Vater, was soll ich tun?« rief er. »Woran soll ich mich halten? Was bleibt mir in der ganzen, weiten Welt?«
»Mein lieber Junge, das mußt du allgemach selber wissen!« antwortete der Polizeischreiber Friedrich Fiebiger aus Poppenhagen. »Vielleicht kann dir aber der Alte dahinten im Giebel etwas dazu sagen – du weißt, aus der Höhe übersieht man alles am leichtesten und besten.«