Wilhelm Raabe
Die Leute aus dem Walde
Wilhelm Raabe

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Zwanzigstes Kapitel

Zeigt an dem Beispiel des Barons Leon von Poppen, wie leicht es ist, ein anderer, ein besserer Mensch zu werden

Gerührt lächelnd blickt der Erzähler auf die eine Seite seiner Geschichte; lächelnd sieht er auch auf die andere. Süßes Dämmerlicht voll magischer Schatten und Lichter herrscht zur Rechten, der helle, klare, nüchterne Tag zur Linken.

Wir wenden uns nach der linken Seite.

Nach der großen Feuersbrunst, welche das Haus und einen recht geringen Teil des Vermögens des Bankiers Wienand vernichtete, hatte der Freiherr Leon von Poppen, Kronenstraße Nummer fünfzig, jeden Gedanken an die Tochter des »ruinierten Menschen« aus seiner unsterblichen Seele zu verscheuchen gestrebt, und es war ihm das auch ganz gut gelungen, wenn er auch die Erinnerung nicht vollständig austilgen konnte. Er ärgerte sich über die »kleine Äffin«, und mit Recht. War es nicht eine Quelle berechtigten Mißmuts, daß er – er, Leon von Poppen, die Blume des Jockeiklubs, die schönste Blüte der menschlichen Gesellschaft – Achtung haben mußte vor der kleinen Nachbarin gegenüber der mütterlichen Wohnung? Scheu vor solch einem albernen Ding, welches sich jedesmal blitzschnell zurückzog, wenn man noch so unschuldig, mit noch so ausgesprochener Beatitude einen Blick über die Gasse schweifen ließ? Dummes Zeug! Lächerlich!

Und doch war es so: Herr Leon von Poppen, Freiherr des weiland Römischen Reiches Deutscher Nation, fürchtete sich ein wenig vor der kleinen Helene Wienand und geriet, hinfälliger als je an Körper und Geist, in einen Zustand, den er noch nicht »durchgemacht« hatte. Recht gut erkannte er den Grund der Furcht. Er fühlte seine unwürdige junge Greisenhaftigkeit aufs schärfste jener reinen Jugend gegenüber. In mancher bösen Minute hätte er mit den Zähnen knirschen mögen, und er unterließ es nur, weil er über die Hälfte seines Gebisses seit längerer Zeit allmonatlich eine Rechnung des berühmten Dentisten Karl Morand zu – zu den schon erhaltenen legte. Es war kein Kredit mehr von dem Zahnkünstler zu hoffen, und das Zahnknirschen war in jeder Hinsicht ein bedenkliches Unterfangen.

Mit seinen Locken ging der Jüngling aus ganz ähnlichen Gründen ebenso vorsichtig um; er hütete sich wohl, mit zu rauher Hand dareinzugreifen.

Leute, die wenig oder gar kein Gewissen haben, würden auch allzu glücklich sein, wenn die ewige Gerechtigkeit es nicht so prächtig verstände, ihnen auch an mehr äußerlicher Stelle den Sachverhalt klar zu machen!

Den gewohnten Vergnügungen, der gewohnten Lebensweise gab sich Leon von Poppen wieder mit großer Energie hin; ja, er machte sogar, der ewigen Klagelieder der Mama wegen, einen schwachen Versuch, die tiefgekränkte Lydda von Flöte, sowie deren nicht weniger empörte Mutter zu versöhnen, und dieser Versuch wurde von den guten frommen Seelen viel besser aufgenommen, als er verdiente.

Aber was anfangs bloße Vermutung war, erwies sich immer mehr als unumstößliche Wahrheit: der arme Wienand war immer noch ein sehr reicher Mann und seine Tochter eine sehr gute Partie für einen von Gläubigern bedrängten Sprößling einer der ältesten Familien des Landes. Der kranke Bankier wurde in seine jetzige Wohnung, dem von Poppenschen Hause gegenüber, gebracht, sein Kind zeigte anfänglich das bleiche, kummervolle Gesichtchen ohne Scheu an den Fenstern, und – Herr Leon von Poppen kam, nach seinem eigenen Ausdruck, »auf die alte Fährte zurück«. Er legte sich mit seiner ganzen Grazie aus dem eigenen Fenster und lorgnettierte so schmachtend als möglich das »reizende Geschöpf« auf der andern Seite der Gasse, bemerkte aber bald zu seinem Leidwesen, daß Fräulein Helene nicht kokett genug sei, dieses Spiel der Lorgnette zu ertragen.

»Eine schöne Erziehung hat da chère tante gemacht«, brummte er, »ich wollte, ich wüßte, was ich zu tun hätte! Wenn ich nur die Mama und diese erstaunliche Tante miteinander versöhnen könnte. Rachgierige Geschöpfe, diese alten Weiber; – diable, es würde eine kräftige heiße Bouillon geben, wenn man sie zusammen in den Topf der Versöhnung packte und den Topf auf die Glut der christlichen Liebe setzte. Impossible das; total unausführbar – kein Gedanke dran. Kein Gedanke! – o Götter, ein Königreich für einen Gedanken! Cerberus ma tante Juliane, reine Rasse! Cerberussissima!«

Tage und Wochen hindurch hatte sich der Baron abgequält, um herauszubekommen, auf welche Art er sich am leichtesten der lieblichen Nachbarin nähern und wie er sich jenseits der Gasse am angenehmsten einführen könne. Er quälte sich vergeblich und kam nicht auf die Kosten seines Aufwandes von Nachdenken, bis er endlich, nach einem ziemlich nüchtern hingebrachten Abend ziemlich früh ins Bett steigend, den großen Gedanken faßte, sich selbst seiner Tante – angenehm zu machen.

Oft sieht man beim dämmerigen Schimmer der Nachtlampe etwas für ganz einfach und leicht ausführbar an, was am andern Morgen einem eine höchst grimmige Fratze schneidet und sich als sehr stachlicht, eckig, sehr hart und bitter zeigt.

Seine kümmerlich in Flanell gehüllte Figur aus den Kissen hebend, wunderte sich Leon von Poppen sehr, wie er den Einfall vom gestrigen Abend für eine praktische, nette und vortreffliche Idee habe halten können.

»Korrupter Gedanke!« sagte er. »In welcher Geistesverwirrung mußte ich sein, um so nahe an den Grenzen des Wahnsinns herstreifen zu können?! Schöner Gedanke, in den Bereich ihres Krückstocks zu geraten. O Helene, reizender Apfel des hesperischen Gartens, welcher Drache bewacht dich, und welcher Herkules müßte man sein, diesen Drachen zu bezwingen!«

Der junge Mann stand jetzt vor dem Spiegel, welcher ihm seine ganze Persönlichkeit mit allen ihren Mängeln trotz dem gelben Flanell zeigte.

Er wiederholte seufzend:

»Herkules?! Wahrhaftig! Muß durchaus keine Anlage zur Hypochondrie haben, würde sonst wohl recht hypochonder sein. Scheint aber jedenfalls die höchste Zeit zu sein, daß ich solide werde. Na, na, wenn ich in mich ginge, wie Mama es wünscht und es zu nennen beliebt! Wenn ich heute anfinge? Rheumatismusketten, kalt Wasser, Solidität, Revalenta arabica, Liebe der Tante, Achtung der gesitteten Welt, Helene Wienand, zehntausend Taler Rente! Blendende Gedankenassoziation! Soll ich mal Charakter zeigen? Wirklich ein halbes Jahr dran wenden, Palme erringen – Myrtenkranz der Kleinen gegenüber? Ah – eigentümliches Durcheinander, Schwindel – Zittern in den Extremitäten, äh!«

Der Abkömmling so vieler und kräftiger Ahnen sank auf den hinter ihm stehenden Stuhl und in das tiefste Brüten. Dann sprang er auf, streckte die Hand zur Zimmerdecke empor und sprach mit dumpfer Stimme:

»Ich schwöre, mich zu bessern! . . . ma tante, Ihre Hand, ich bin mit Leib und Seele zu Ihrer ehrbaren Verfügung! Mein Fräulein, das Ewig-Weibliche zieht uns hinan – bitte, ziehen Sie gefälligst; und Sie – schieben Sie, teuerste Tante; Mama, ich empfehle mich Ihnen gehorsamst – ballonhaftes Emporschweben! Alles Irdische ist vollendet, und das Himmlische geht auf – Baptiste, dummer Esel, wo bleiben meine Hosen? Ah, Pardon – wollt ich sagen: Lieber Baptiste, bitte, darf ich um meine Beinbekleidungen bitten?«

Der liebe Baptiste starrte mit offenem Munde seinen Herrn an, und Leon von Poppen zog seine Hosen als ein vollständig anderer – besserer Mensch an. Als er zu den Gemächern seiner Mutter herniederstieg, begegnete ihm auf der Treppe die muntere Elise. Bei solchen Begegnungen fand sonst gewöhnlich eine kleine Szene statt, in welcher ein Morgenhäubchen verrückt oder eine Schürze, ein Halstuch verknittert wurden. Dieses Mal neigte der Herr Baron, als er mit ehrbarem, langem Gesicht langsam an der Kammerjungfer vorbeischritt, nur ein wenig das Haupt und sagte:

»Guten Morgen, Elise; ich wünsche Ihnen einen guten, friedlichen, segensreichen Tag.«

Elise, welche eine Redensart wie: Kleine Kröte, du siehst heute wirklich außergewöhnlich verlockend aus! erwartete, blickte ihren jungen Herrn ebenso verwundert an, wie vorhin Baptiste ihn angeglotzt hatte. Sie sah ihm nach, bis eben genannter Herr Baptiste mit dem Schlafrock des Gebieters ebenfalls die Treppe herabkam und den Kuß, welchen der Freiherr versäumt hatte, für sich in Anspruch nahm.

»Aber liebster Himmel, Baptiste, was soll denn dieses heißen?«

Baptiste wußte es nicht.

War Leons Benehmen auf der Treppe sehr würdig und allen Lobes wert, so ließ es im Zimmer der Mutter nicht das geringste zu wünschen übrig.

Die gute Dame hatte vollen Grund, nicht weniger erstaunt, verwundert, verblüfft zu sein als die Bedienten.

War das ihr Leon?

War das ihr Sohn? Der Stammhalter derer von Poppen? War über Nacht ein Zauber auf das »böse Kind« gefallen?

Viktorine sprach ihre Verwunderung gegen ihn aber auch aus, was Elise und Baptiste nicht getan hatten, und trieb es mit Fragen, Mimik, Interjektionen so weit, daß der gelangweilte reuige Sünder einmal fast ganz aus der Rolle fiel und der Matrone die pikante Frage vorlegte: ob sie glaube, bis dato einen Wechselbalg auferzogen und als ehelichen Sohn in der Gesellschaft präsentiert und anerkannt zu haben.

Die Baronin fand diese Frage choquant, und Leon biß sich auf die Zunge und verdoppelte die Dosis edler Gesinnungen, Pläne, Ansichten und Hoffnungen, mit welchen er die Mama überhäufte.

»O Leon, mein Kind, wenn das alles wahr ist, wie glücklich machst du mich; Frau von Flöte und Lydda werden alles vergessen und vergeben; – ich mache sie mit deiner Sinnesänderung bekannt. O Leon, es steht geschrieben, daß viel Freude im Himmel sein wird über einen Sünder, der vom bösen Wege abläßt.«

Es war dem Freiherrn zumute, als werde ihm der Boden für seine mimisch-deklamatorische Vorstellung ganz plötzlich und unwiderstehlich unter den Füßen weggezogen. Der Schlaukopf zappelte einen Augenblick mit den Beinen in der Luft und erkannte dann aber sogleich, daß er seine Rolle übertrieben habe und daß die scharfäugige Tante gewiß über das nicht Hosianna rufen würde, was die Mama ganz naiv bejubelte und bejauchzte.

»Teure Mutter«, sprach er, »ich habe in vergangener Nacht verschiedene gute Vorsätze gefaßt und werde dieselben hoffentlich ausführen; der Vorsatz, mich jenen übrigens ganz respektabeln Damen wieder irgendwie zu nähern, befindet sich nicht darunter.«

Baptiste brachte jetzt ein Billett auf einem Präsentierteller herein und überreichte es seinem jungen Herrn. Dieser seufzte sowohl beim Aufbrechen als auch beim Lesen und sagte:

»Zu meinen Vorsätzen gehört, daß ich solchen Aufforderungen zu allerlei maussaden Vergnügungen nicht mehr Folge leiste. Baptiste, Dummkopf – wollt ich sagen, Baptiste, mein guter Freund, der Überbringer soll warten; ich werde Herrn von Bärenbinder schriftlich antworten.«

Und Leon von Poppen stieg wieder die Treppe hinauf und schrieb Herrn von Bärenbinder einen ziemlich langen Brief, in welchem er die Einladung desselben zu einem allerliebsten kleinen Souper im Hotel Royal dankend ablehnte und ihm als Vizepräsidenten des Jockeiklubs zu gleicher Zeit seinen Austritt aus dieser ebenso ehrenwerten wie harmlosen Vereinigung erklärte. Höchst vernünftige Gründe gab er für beides in seinem Antwortschreiben Herrn von Bärenbinder zum besten; die richtigen behielt er jedoch wohlweislich für sich.

Als der Lakai mit dem Billett abgezogen war, rieb sich der Schriftsteller grinsend die Hände:

»Wenn das nicht wirkt, so – so will ich Lydda von Flöte heiraten und Spittas Psalter und Harfe auswendig lernen!«

Es wirkte.

Herr von Bärenbinder rieb sich über dem Billett Leons nicht die Hände, sondern die Augen gleich dem träumenden Abu Hassan. Er lief mit ihm in der Stadt umher, er legte es an demselben Abend noch im Jockeiklub vor; – allgemeine Perplexität, und kein Graf Örindur, welcher eine irgend befriedigende Lösung dieses Zwiespalts der Natur fand.

Binnen kurzem hatte sich das Gerücht dieser Umwandlung, dieser Bekehrung über die ganze Stadt verbreitet; die Spötter lachten darüber, die Frommen segneten den Herrn, der verständige Mittelschlag zuckte die Achseln. Die Achseln zog auch Juliane von Poppen in die Höhe, als sie zuerst die große Neuigkeit vernahm.

»Er ist früh mit seinem Leben fertig geworden«, sagte sie. »Es ist das alte Lied; nun mag er zu den Pfaffen laufen und sich Krankensuppen kochen lassen. Man möchte um so mehr weinen, je mehr die andern darüber so laut lachen.«

Als die alte Jungfer ihrem gebesserten Neffen zum erstenmal nach seiner Metamorphose wieder in der Gasse begegnete, streckte sie ihm den Krückstock entgegen und sprach – zu dem ehrbar den Hut Abziehenden:

»Nun, Herr Neffe, meine arme Fliege, wir kriechen wohl recht matt, mit zusammengeklebten Flügeln aus dem Weinglase hervor? Die Poppen haben ihr Leben auf alle mögliche Art geendet, auf dem Block, am Galgen, auf dem Schlachtfelde, auf dem Misthaufen; der letzte geht unter die Betbrüder und Betschwestern und greint in einem Konventikel die Seele aus; – jeder nach seinem Geschmack – Glück auf den Weg, Neffe, meine Empfehlung an die Herren Krokisius, Drönemeier, Nothzwang und Kompanie; ich lasse –«

Aber das Freifräulein brach verwundert ab, als Leon auf ihre Rede mit einem hellen, höchst ehrlichen Gelächter antwortete.

»Entschuldigen Sie, liebe Tante«, rief er. »Glauben Sie wirklich auch an die tolle Fabel? Ich danke doch recht sehr für die Gesellschaft, in welche Sie mich zu stecken belieben. Für die frommen Leute, die Sie da nennen, bin ich doch noch nicht weich genug. Übrigens ein Wort im Ernst, Tante; Charakter und Willen kann man den Poppen nicht absprechen – Sie sind in Parenthese selbst kein übles Beispiel dafür – ich habe den Willen, meine Lebensart ein wenig zu ändern. Ich gestatte Ihnen gern, mich so erbarmungsvoll anzusehen; ich gebe Ihnen das Recht, die Geistesänderung auf Rechnung einer angegriffenen Körperkonstitution zu setzen; nach Belieben können Sie mich einen blasierten Menschen nennen; aber bei alledem werde ich Ihnen beweisen, daß ein Poppen kann, was er will; – ich will umkehren, und wenn es auch nur der Veränderung wegen wäre. Bon jour, ma tante!«

Damit schritt Leon weiter, und das Freifräulein stand, schüttelte den Kopf, rieb die Nasenspitze und sagte:

»Merkwürdig!«

Eine Stunde später stand sie an einem ganz andern Ende der Stadt wiederum in tiefes Nachdenken verloren, kopfschüttelnd, die Nasenspitze reibend, und sagte wiederum:

»Merkwürdig!«

Sie fing an, dem Gebaren des Neffen eine bei weitem größere Aufmerksamkeit zu widmen, obgleich immer ein sehr scharfes Auge dazu gehörte, um das an ihr zu erkennen. Sie suchte auf Umwegen allerlei über ihn zu erfahren; sie würdigte die Wohnung ihrer Schwägerin Viktorine öfter einer genauen Beobachtung von den Fenstern des Bankiers aus.

»Ich wollte viel darum geben, wenn Hopfen und Malz an dem Schlingel noch nicht vollständig verloren wären!« –

Leon von Poppen wandelte immer sicherer auf dem Pfade der Tugend fürbaß, er zeigte, daß in gewisser Beziehung Hopfen und Malz durchaus noch nicht an ihm verloren waren. Je ernsthafter er von außen erschien, desto mehr grinste er inwendig! – so viel Amüsement hatte er sich von seiner Umwandlung nicht versprochen! Es machte dieser glücklich organisierten Natur ungemeinen Spaß, an einem Haufen seiner frühern Lebensgenossen und Lebensgenossinnen mit der Würde eines Cato vorüberzuschreiten. Wie letzte er sich an diesem Kopfzusammenstecken, diesem Geflüster, das hinter seinem Rücken anhub! Mit vorgeschnellter Zungenspitze kostete er schon im voraus die Wonne, den Jubel des Augenblicks, wo der Knoten der Komödie sich löste und der gewandte Schauspieler, beleuchtet von bengalischen Flammen, der versteinerten Creme der Gesellschaft den gewonnenen Preis unter die Nase hielt. Er malte sich dieses Schlußtableau auf das reizendste aus und verbrachte manche Stunde, um es mit immer neuen Pointen auszustatten.

Gegen Ende des Oktobers las man in den »Vermischten Nachrichten« fast aller Zeitungen der Stadt folgende rührende Geschichte:

»Wir können unsern Lesern einen Vorgang mitteilen, der wohl wert ist, das allgemeine Interesse auf sich zu ziehen. Ein junger Mann aus einem alten angesehenen Geschlecht, vor kurzem noch eins der berufensten Mitglieder des Jockeiklubs, rettete mit Gefahr seines eigenen Lebens eine jüdische Familie aus äußerster Bedrängnis. Diese Familie, bestehend aus Vater, Mutter und zwei erwachsenen Töchtern, kam am 27. dieses Monats gegen Abend von einem Ausflug heim und hatte das Unglück, am Anfange des Parks, eine halbe Stunde von der Stadt, unter einen Haufen betrunkener Soldaten, Handwerksburschen und liederlicher Dirnen zu geraten. Dieser Haufe benutzte sogleich die günstige Gelegenheit, die harmlosen Lustwandler aufs gröblichste zu beleidigen und zu beschimpfen. Die Polizei schien wie gewöhnlich anderswo beschäftigt zu sein, niemand von den wenigen andern Spaziergängern wagte es, dem bewaffneten und unbewaffneten Pöbel seine Opfer zu entreißen, und keiner wehrte es dem wütenden Haufen, von Worten zu Handgreiflichkeiten überzugehen. Am meisten waren die beiden armen Mädchen zu bedauern, die alle Qualen der Hölle duldeten, bis endlich der mutige Retter und Ritter erschien. Der Baron, Herr L. von P., kam den wild sich daherwälzenden Scharen entgegen und stürzte sich, nachdem er die Sachlage erkannt, ohne Bedenken in die Mitte des Pöbels, ihn mit Drohworten und Stockschlägen auseinandertreibend. Der Pöbel, anfangs verblüfft, ließ von seinen Opfern ab, und diese eilten halb besinnungslos auf beflügelten Sohlen fort; – der Baron blieb allein in der Mitte der Wütenden. Die Soldaten warfen sich mit gezogenen Säbeln, die Handwerksburschen mit ihren Knitteln auf den jungen, tapfern Mann. Er wehrte sich nach besten Kräften, aber erhielt bald einen Säbelhieb über den Arm, der ihn kampfunfähig machte. Wer weiß, was nun das Schicksal des mutigen Schützers der Bedrängten gewesen wäre, wenn nicht endlich doch die Polizei herbeigeeilt wäre und die Übeltäter verhaftet hätte! Wir haben allen Respekt vor einem Adel der Gesinnung, der in solchen ritterlichen Taten zur Erscheinung kommt. Die Verwundung des Herrn Barons v. P. soll gottlob nicht gefährlich sein.«

Die Verwundung des Herrn Barons v. P. war gottlob nicht gefährlich, machte dagegen einen ausgezeichneten Effekt in der Stadt. Selbst die Tante Juliane konnte den »Juden« nicht so widerstehen, wie sie wohl gemocht hätte; fast wider ihren Willen beschäftigt sie sich von Tag zu Tag mehr mit ihrem Neffen, seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; sie wußte wirklich nicht mehr, »was sie von dem Burschen denken sollte«.

Acht Tage lang hatte Leon von Poppen mit seinem verwundeten Arm, indem er ihn in einer schwarzseidenen Binde spazieren führte, Parade gemacht, als ihm am neunten das Freifräulein wieder begegnete.

Diesmal hielt der Neffe die Tante an, indem er ihr lachend den Weg vertrat und rief:

»Die beiden Israelitinnen waren reizend, chère tante – Philanthrop vom reinsten Wasser, ma tante! Auf Ehre, ganz allerliebste Mädchen, diese schwarzlockigen Semitinnen; hätte mich für die beiden krummnasigen Alten gewiß nicht auf den Altar der Humanität gelegt!«

»Weshalb sagen Sie mir das, Leon?«

»Weil ich noch weit entfernt von den höchsten Stufen der Vollkommenheit bin, gnädigste Tante. Ich habe die Ehre –«

Der Freiherr warf der alten Dame eine Kußhand zu und tänzelte davon; Juliane sah ihm wiederum nach, und dieses Mal noch viel nachdenklicher als das erstemal.

»Der Junge ist wenigstens kein Heuchler!« sagte sie. Vierzehn Tage nach dieser Begegnung bat der Neffe die Tante in einem höchst komischen Brief um ein Darlehen von fünfzig Friedrichsdor, welches er mit einem kurzen Begleitschreiben erhielt und welches er wieder acht Tage später persönlich zurückerstattete.

In kürzester Frist hatte somit der junge Diplomat die bedeutendsten Fortschritte gemacht, die größten Erfolge errungen; das Freifräulein gewann allmählich den Glauben an eine würdigere Fortdauer des Geschlechts derer von Poppen wieder; und in ihrer innersten Seele tat ihr dieser Gedanke doch recht wohl.

Nun widmete sie manche Stunde den ernstesten Betrachtungen über ihren Neffen; – wie gern hätte sie ihr kleines Vermögen, ihre ganze Existenz geopfert, wenn sie dadurch den Stammhalter der alten Familie auf dem rechten Wege hätte erhalten können!

Manche Stunde widmete Leon den ernstesten Betrachtungen seiner selbst vor dem Spiegel. Er frisierte sich à la bonhomme, er gab seinen Halsbinden ein unbeschreiblich solides Etwas – jeden Morgen legte er seiner ganzen Person ein Bruchteil von Gesetztheit zu. Zu Anfang November hatte er sich vollständig das Äußere eines jungen Doktors der Medizin, welcher eine große Praxis ahnt, dieselbe jedoch noch nicht hat, zugelegt. Er war bewunderungswürdig! Gewichtige alte Herren aus den maßgebenden Kreisen fingen an, seinen Gruß achtungsvoll zu erwidern. Vornehme Mütter, deren Söhne noch auf den Pfaden der Sünde lustwandelten, blickten ihm mit geheimen Seufzern nach und beneideten die seligen Gefühle Viktorines von Poppen. Letztere befand sich in einem Zustande ratloser Verwirrung, welcher in der Skulptur nur durch einen offenen Mund und starre, weit geöffnete Augen ausgedrückt werden kann. Die Beglückwünschungen, welche ihr von allen Seiten zukamen, nahm sie aber fast wie Beileidsbezeigungen auf, und sie hatte recht, da solch ein edler Sohn, solch ein reuiger Sünder durchaus nicht in die engen Kreise ihrer Anschauungen paßte. Was sollte sie mit »einem solchen Leon« anfangen? Was sollte sie seinen Anspielungen auf Verwandtenliebe, Juliane von Poppen und dergleichen entgegensetzen?

Wahrlich, die Baronin Viktorine war lange nicht so zu beneiden, wie manche der betrübten Mütter aus den höhern Ständen glaubte.

Aber was war dem Baron Hekuba? Der schlechte Sohn kümmerte sich wenig um die Migräne der Mutter; immer mehr, immer offener nahm er Partei für die Tante Juliane, und diese ging mit sich zu Rat, ob sie den umgewandelten Neffen zum Kaffee einladen könne, solle und – möge.

Wir werfen einen Blick nach der andern Häuserreihe der Kronenstraße!

Die jetzige Wohnung des Bankiers Wienand lag auf der Sonnenseite der Straße; aber sie war durch niedergelassene Vorhänge so dunkel als möglich gemacht. Wie das Feuer dem Tischler Tellering die Augen des Leibes genommen hatte, so hatte es dem Bankier die Augen des Geistes verdüstert; keiner von beiden konnte mehr das Licht ertragen.

Als wir den Bankier zum letzten Male erblickten, war er ein kräftiger Mann; jetzt war er ein armer Idiot, der zusammengefallen in seinem Lehnstuhl saß, stier vor sich hin sah und die Hände wie in großer Angst aneinander rieb. Es ist ein schrecklich Ding, wenn jemand in die fixe Idee sinkt, langsam verhungern zu müssen! Wie viele reiche, überreiche Leute sind schon in dieser unglückseligen Vorstellung zugrunde gegangen? Es liegt eine unendlich bittere Ironie in diesem Spiel des Schicksals mit dem Menschen.

Von Tag zu Tag hatte sich bei dem Bankier der Gedanke, daß er bankerott, daß sein Name ehrlos sei, fester gesetzt. Da half kein vernünftiges Zureden, keine Aufforderung, sich zu fassen. Am liebsten möchte sich der arme Kranke in dem tiefen Grund der Erde verbergen, wenn nicht auch da der Hungertod so schrecklich wäre. Wer kann die gräßlichen Fratzen und Gespenster verscheuchen, die aus allen Ecken und Winkeln hohnlachen? Niemand! Niemand!

Nun treibt die Angst, die Verzweiflung den Irrsinnigen auf. Er springt empor, er durchsucht das Gemach, das Haus; Abfall allerart, Lumpen, Papierschnitzel, zerbrochenes Glas, Bindfadenstückchen rafft er auf und trägt sie zusammen. Seine Taschen strotzen von den verschiedenartigsten Dingen; er macht Schatzkammern, Vorratskammern daraus; er hat einen Platz, wo er alles Gesammelte anhäuft, vor welchem er wacht wie der Drache vor dem verzauberten Schatze. Wagt es nicht, euch diesem Platze zu nähern! Der Kranke würde Riesenstärke in der Verteidigung desselben gewinnen; er würde euch töten, wenn ihr die Hand danach ausstrecktet.

Der berühmte Bankier Wienand will auch nicht mehr essen. Wie Verschwendung, leichtsinnige Vergeudung des letzten Notpfennigs erscheint ihm alles, was zum Leben nötig ist. Harte Brotrinden und Wasser sind das einzige, was er annimmt, und auch nach diesen greift er nur zitternd und im höchsten Hunger und Durst.

Was wäre aus der armen Helene geworden, wenn sie in Dunkelheit, Jammer und Elend nicht den Gedanken an den Schützling des Polizeischreibers Fiebiger, den Schüler des Sternsehers Ulex gehabt hätte?

Was wäre aus ihr geworden, wenn sie gewußt hätte, welche Pläne der Freiherr Leon von Poppen, gegenüber in dem großen, altersschwarzen Hause, im Busen bewegte? Was wäre aus ihr geworden, wenn sie endlich gewußt hätte, wie unendlich günstig das Schicksal in diesem Augenblick auf die Pläne und Wünsche des trefflichen jungen Barons, der leider noch lange nicht der letzte seiner Art war, herablächelte?

Ja, der Baron Leon von Poppen hatte Aussichten auf Erfolg seiner Pläne. Wünschen wir ihm alles Glück dazu; denn was hilft's, wenn wir uns darüber ärgern oder gar grämen? Laissez aller!


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