Wilhelm Raabe
Die Leute aus dem Walde
Wilhelm Raabe

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Vierunddreissigstes Kapitel

Juliane, Freifräulein von Poppen, setzt wieder einmal ihren Willen durch. Das Geschlecht derer von Poppen kommt auf den Hund

Es gab vielleicht in der ganzen Stadt keine Uhr, welche so richtig ging, so ängstlich pünktlich Sekunden und Minuten zeigte, so unerbittlich jede Viertelstunde mit schrillem Klang von der Ewigkeit abzog, als die Uhr in der Halle des Zentralpolizeihauses. Sie lief nicht vor, sie blieb nicht zurück; erbarmungslos zerhackte sie die Zeit in die möglichst kleinsten Bruchteile, das Sonnenjahr in zweiunddreißig Millionen Sekunden; und wenn manch einem armem Teufel auf dem Armensünderbänkchen oder im Vorzimmer die Sekunde sich wieder zu einem Jahr ausdehnte, so war der Uhr das ganz gleichgültig. Sie lief nicht vor, sie blieb nicht zurück; ihre Schuld war es nicht, wenn andere vorliefen oder zurückblieben, dem Vordermann auf die Hacken traten oder vom Hintermann in den Rücken geknufft wurden und somit auf die eine oder die andere Weise Gelegenheit bekamen, im Zentralpolizeihause das richtige Maß der Zeit sich in anima vili demonstrieren oder es dem lieben Nächsten vor die Seele führen zu lassen.

Die hohe Sicherheitsbehörde, welche als Gesamtheit von je eine sehr gute Meinung von sich selber gehabt hat, war natürlich überzeugt, so richtig zu gehen wie ihre Uhr, und verbat sich jeden lauten Zweifel daran aufs nachdrücklichste. Was der Rat Tröster, der Sekretär Fiebiger, der Wachtmeister Greiffenberger als Einzelwesen davon hielten, das stand auf verschiedenen Blättern. Daß der zweitgenannte Herr über viele allgemein als unumstößlich festgestellte Glaubensartikel seine Privatansicht hatte, wissen wir, und so müssen wir leider sagen, daß er auch von der Uhr vor der Tür des Bureaus Nummer dreizehn eine sehr üble Meinung hatte. Gern hätte er sie verachtet; aber da sie ihm nicht die mindeste Ursache dazu gab, so haßte er sie grimmig und erklärte sie für das niederträchtigste Institut, welches je im Bewußtsein seiner Unentbehrlichkeit die Menschen geelendet habe; beiläufig ganz die nämliche Meinung, welche er von der Behörde hatte, der er angehörte.

Greiffenberger, der Wachtmeister, besorgte mit wahrhaft entsetzlicher Pünktlichkeit das Aufziehen des exakten Mechanismus und vergaß es seit jenem Herbstabend, an welchem unsere Geschichte ihren Anfang nahm, nicht ein einziges Mal. Ticktack – ticktack – Tag für Tag – ticktack, ticktack bei gutem wie bei schlechtem Wetter – ticktack, ticktack, wenn der Polizeischreiber seinen Hut am Morgen an den Nagel hing und stöhnend sich auf sein Dreibein setzte – ticktack, ticktack, wenn er am Abend seufzend die Feder ausspritzte und seinen großen Folianten zuschlug. Es war eine erbarmungslose Uhr; durch nichts ließ sie sich aus dem Takte bringen – ticktack, ticktack immerzu, es mochte in der Welt, im Bureau Nummer dreizehn, im Gehirn des Polizeischreibers Friedrich Fiebiger vorgehen, was da wollte.

Und es ging so mancherlei in der Welt, in der Polizeistube und im Herzen und im Gehirn des Polizeischreibers vor. Kronen wackelten auf den Köpfen ihrer Träger; viel Heulen und Zähnklappen wurde im Bureau dreizehn vernommen. Fritz Fiebiger sah seinen Zögling in die Ferne ziehen und trug manchmal nicht leicht an seiner Sorge um ihn; – Baron von Poppen wurde vom Herrn von Bärenbinder erschossen, Kommerzienrat Wienand verlor sein Vermögen und klopfte irrsinnig in einer wilden Nacht an die Tür des Sternsehers Heinrich Ulex.

Ticktack, ticktack, ticktack, immerzu, immerzu! Auch die Uhr in der Tasche des tödlich Verwundeten auf dem Schlachtfelde pickt weiter, die Fliegen am Fenster summen lustig fort, während im Nebenzimmer ein geliebtes Wesen mit dem Tode ringt.

Der Rat Tröster, bedeutend weißköpfiger als zu Anfang dieser Geschichte, legte bei hereinbrechender Dämmerung die Feder nieder und blickte auf seinen Untergebenen, dem eben ein tiefer Seufzer entfuhr.

»Haben Sie noch immer keine Nachricht von Ihrem Pflegesohn, Fiebiger?«

Der Angeredete schüttelte den Kopf:

»Seit er mir den Tod der Frau seines Bruders meldete, nicht. Unsere Briefe scheint er nicht erhalten zu haben. Wer weiß, was aus dem Jungen geworden ist, in welche Patsche ihn der Hauptmann von Faber geritten hat. In der Stimmung, in welcher er gewesen ist, hat er sich natürlich mehr als gern Hals über Kopf in jede Gefahr hineingestürzt, und so ist er drin stecken geblieben – skalpiert – aufgefressen – was weiß ich! Und es könnte sich jetzt alles hier so schön machen. Alles in Ordnung. O mein Junge, mein armer lieber Junge!«

»Beruhigen Sie sich, Alter. Wer weiß denn, ob wir uns nicht ganz unnötigerweise Sorge machen. Unser Herr von Faber ist ein sehr bekannter Mann, und wir würden gewiß Näheres erfahren haben, wenn ihm oder seiner Begleitung ein Unglück widerfahren wäre.«

Der Polizeischreiber entnahm der Bemerkung des Vorgesetzten allen Trost, welcher darin lag, aber behielt Kummer genug auf der Seele, um abermals recht tief zu seufzen.

Die Uhr draußen schlug sechs; Fiebiger zählte jeden Schlag nach, und der Rat benutzte die Gelegenheit, um zu bemerken:

»Die Zeit geht doch recht rasch hin. Es ist mir wie gestern, als der junge Mensch dort stand und Sie die Absicht äußerten, ihn zu adoptieren. Ich warnte Sie gleich und verhehlte Ihnen meine Meinung, daß Sie sich dadurch viel Sorge aufladen würden, nicht. Da auf der Bank saß Faber und machte seine Bemerkungen nach seiner Art; wir trafen uns nachher bei dem Bankier Wienand, und wenn ich nicht irre, war auch dort viel die Rede von Ihrem Pflegesohn, Fiebiger. Du lieber Himmel, wie sich doch die Verhältnisse andern! Wie geht es denn dem armen Wienand?«

Der Schreiber zuckte die Achseln und sagte dann:

»Er sieht nach den Sternen! O Herr Rat, es gibt viele ernste Dinge, an denen ein gutes Auge endlich doch eine komische Seite herausfindet; hier würde das schärfste Auge danach vergeblich suchen. Wir sehen hier an dieser Stelle den Vorhang über manch ein Trauerspiel fallen; aber feierlicher, eindringlicher, wuchtiger ist niemals die Moral am Schluß eines Stückes verkündigt worden. Ja, der große Geldmann Wienand sieht nach den Sternen! Eine Rolle macht er sich täglich aus einem Papierbogen und hält sie irrsinnig vor das Auge; nur einen einzigen Menschen kennt er noch und klammert sich an ihn mit der fürchterlichsten Angst des Wahnsinns. Auf den Giebel des Sternsehers Heinrich Ulex hat er sich geflüchtet; da sitzt er und hält die Hand des Weisen – o tragisch, tragisch, tragisch!«

Seufzend sagte der Polizeirat:

»Ja, Sie haben recht, Fiebiger, es ist eine tragische Geschichte. Es war ein so scharfer Mann, wir haben so manchen Robber zusammen gemacht – wer mir das damals gesagt hätte! Und nun sitzt er beim alten Ulex im Nikolauskloster und sieht mit dem närrischen Träumer durch eine Papierrolle nach den Sternen. Es ist wirklich ungemein traurig.«

»Merkwürdig traurig«, brummte Fritz Fiebiger, mit einem Blick auf seinen Chef, durch welchen er nur sagen konnte: »Traurig aber auch, daß an der Welt doch Hopfen und Malz verloren ist. Was helfen euch Exempel, die ihr nicht versteht? Blausäure muß euch unter die Nase gehalten werden!«

»Und das Fräulein Wienand hat jetzt vollständig seinen Aufenthalt bei dem Freifräulein von Poppen genommen?« fragte der Polizeirat.

»Vollständig. Wohin sollte das arme Kind, die Tochter des irrsinnigen Bettlers, sonst auch gehen?«

»Trübselige Verhältnisse!« meinte kopfschüttelnd der Rat. »Wir können sie leider nicht ändern. Expedieren Sie dieses an den Revierleutnant Kirre.«

Das Gespräch schloß, der Polizeischreiber Fiebiger expedierte, die Uhr in der Halle zerhackte gnadenlos noch eine Stunde. Nicht eine Sekunde zu früh oder zu spät zeigte sie den Beamten in den dunkeln, muffigen Stuben an, daß sie gehen könnten, und nachdem sie das getan hatte, hackte sie weiter im Interesse der Wachen und der Gefangenen.

Ein trocknes Wehen, welches seinen Ursprung fern im Osten, in den Steppen Rußlands genommen hatte, schien sich sehr für die Rockschöße des Polizeischreibers zu interessieren, als er durch die Straßen schritt; kosend hob es sie auf, überzeugte sich, daß nicht viel darunter sei, und ließ sie wieder fallen, vergaß im nächsten Augenblick, daß es nichts von Bedeutung gefunden hatte, und wiederholte das Spiel. Der Himmel war klar, der Abend hell. Nicht sehr weit von dem Polizeigebäude schlossen sich zwei Frauen dem Schreiber an, eine alte, kleine, lahme Dame in schwarzer Seide und ein junges Mädchen.

Die alte Dame mit der Krücke sagte:

»Heute mittag ist sie gestorben.«

Und der Polizeischreiber Fiebiger fragte nicht, wer gestorben sei, sondern sprach nur einfach:

»Es ist gut, daß es vorüber ist; möge ihr die Erde leicht sein!«

Wir, die wir mit Konrad von Faber und Robert Wolf Gold in Kalifornien gegraben haben, die wir dann mit den beiden vom Stillen Ozean bis zum Mississippi geritten sind, wir finden uns natürlich nur ganz allmählich in den Vorgängen der Heimat zurecht und erfahren erst nach und nach, wie die Fäden auch hier weiterliefen.

Die Baronin Viktorine von Poppen, geborene von Zieger, war in den Armen des Freifräuleins Juliane von Poppen gestorben.

Nach dem traurigen Ende Leons hatte das Freifräulein durch den Medizinalrat Pfingsten und auf andere Weise verschiedene Versuche gemacht, sich der unglückseligen Schwägerin zu nähern. Diese Versuche mißlangen jedoch alle. Auf die zugleich harte und apathische Natur Viktorines konnte das Unglück nicht mildernd wirken. Es lag leider viel Tierisches in dem Charakter der armen Frau, und wie ein verwundetes Tier gebärdete sie sich, nachdem der vernichtende Schlag gefallen war. Bald lag sie stumpfsinnig regungslos da, bald biß und schnappte sie um sich und erfüllte das Gemach mit Klagen, deren Laut fast nichts Menschliches mehr an sich hatte. Sie lästerte Gott und die Menschen; ohne die Dazwischenkunft des Medizinalrats hätte sie eines Morgens die Frau von Schellen, die ihr mehr neugierig als mitfühlend einen Besuch abstattete, fast umgebracht. Ihre Dienstboten hielten es nur bei ihr aus, weil sie im Hause schalten und walten konnten, wie sie wollten, und trefflich in dem jetzt völlig herrenlosen Hause im trüben fischten.

Eines Tages trugen Baptiste und Elise die besinnungslose Baronin von ihrem Diwan ins Bett, es wurde noch eine Wärterin gerufen, und Pfingsten brachte einen so trostlosen Bericht über die Lage der Dinge zu dem Freifräulein, daß dieses noch einmal einen Versuch machte, in das Haus in der Kronenstraße einzudringen. Wieder vergeblich. Beim Anblick der Schwägerin geriet die Kranke in einen solchen Wutanfall, daß der Medizinalrat das Freifräulein schleunigst aus dem Zimmer drängen mußte. Monatelang blieb es so, und Juliane von Poppen litt sehr dabei. Niemals hat eine ausgeschlossene Seele die Pforte des Himmels mit verlangenderen Gedanken belagert als das Freifräulein die Tür der Nummer fünfzig in der Kronenstraße. Erst in der letzten Stunde, am Abend des gestrigen Tages, sollte sie Einlaß finden. Gestern abend führte der Polizeischreiber das Freifräulein und Helene vom Turm des Sternsehers heim, und wieder schritten sie durch die Kronenstraße.

Schwer seufzte Juliane, als sie sich der Wohnung der Schwägerin näherten, und zog ihren Arm aus dem des Schreibers.

Dunkel und stumm, öde und leer lag das Haus des Bankiers Wienand; vor der Tür der Nummer fünfzig lehnte flegelhaft frech Herr Baptiste und unterhielt sich lachend mit einem gähnenden Standesgenossen.

Das Freifräulein stand still:

»Was macht die Frau Baronin?«

Baptiste sah aus, als ob er am liebsten eine unverschämte Antwort geben würde, bezwang sich jedoch, neigte ein wenig das Haupt und antwortete:

»'s steht nicht gut. Der Herr Medizinalrat waren vorhin wieder da, gaben aber wenig Hoffnung.«

»Friedrich«, rief Juliane von Poppen, »ich ertrage es nicht länger. Ich will es noch einmal versuchen, sie zu sehen. Führen Sie das Kind nach Haus – o Gott, ich werde wahrscheinlich bald genug nachkommen.«

Sie setzte den Fuß auf die Treppenstufe, und großer Selbstbeherrschung zeigte sich Baptiste fähig, als er ihr Platz machte. Der drohend erhobene Krückstock tat freilich das Seinige dazu. Die Tür schloß sich hinter dem Freifräulein und dem Bedienten, und Juliane kam nicht zurück. Nach einer Stunde sandte sie nach ihrer Wohnung am Schulplatz und ließ sagen: Fräulein Helene möge sich zu Bett legen und nicht warten, Fräulein von Poppen werde in dieser Nacht nicht heimkehren.

Als Juliane in das Haus ihrer Schwägerin eintrat, schreckte sie zusammen unter dem feuchtkalten Hauch, der ihr entgegenschlug. Es war totenstill darin. Die Köchin war zu einer Freundin gegangen, weil ihr daheim graute. Baptiste verlor sich in den untern Räumen des Gebäudes, ohne sich weiter um die Eingetretene zu kümmern. Er hatte die Kellerschlüssel in seines seligen Herrn Schreibtisch gefunden – ihm graute nicht. Langsam hinkte Juliane die Treppe hinauf, und krampfhaft fest faßte sie ihren Krückstock, als sie auf einmal aus einem Winkel ein klägliches Winseln vernahm. Das war nur der Schoßhund der Baronin, welchen die Kammerjungfer aus dem Zimmer ihrer Herrin geworfen hatte und langsam verhungern ließ. Matt, den Leib auf dem Boden hinschleifend kroch das arme Geschöpf hervor, als wolle es Barmherzigkeit und Hilfe von der fremden Frau erbitten. Jetzt konnte das Freifräulein nicht darauf achten, obgleich ihr das Tier unendlich leid tat. Ein niederbrennendes Licht war auf den Fußboden im ersten Stock dicht an die oberste Treppenstufe gestellt und erfüllte den Korridor mit übelriechendem Qualm. Allerlei gebrauchtes Gerät, Schüsseln, Teller, Gläser samt einem Haufen schmutziger Wäsche versperrten die Tür, die in das Gemach der Baronin führte. Das Freifräulein schritt darüber fort und öffnete die Tür. Kein Laut! Die Lauscherin drückte die Hand auf das Herz, sie stand mitten im Zimmer. Die Fenstervorhänge waren niedergelassen, die gegenüberliegende Tür stand halb offen, und hinter den Portieren hervor drang mit dem Dunst der Krankenstube ein matter Schein. Dieser schwächliche Schimmer und das Licht, welches die Straßenlaternen draußen gaben, erhellten allein das erste Gemach, über dessen weichen Teppich Juliane jetzt unhörbar schritt. Wir kennen das Zimmer. In jenem Lehnstuhl hatte sich Leon gestreckt und gedehnt, wenn er seine Mutter durch seine Scherzreden quälte. Auf jenem Diwan hatte Viktorine von Poppen ihre Tage halb verschlummert, halb verwimmert. An jenem Tische hatte Frau von Eichel gewitzelt, Frau von Flöte gefrömmelt, Lydda von Flöte gezimpert. Über tausenderlei Nippsächelchen und Spielereien streifte das unbestimmte Licht, und mit einer unbeschreiblichen stolzen, fast wilden Handbewegung wies das Freifräulein Juliane von Poppen, die Letzte ihres Geschlechts, diese ganze jämmerliche Welt von sich, als sie den Vorhang faßte, welcher sie von dem Sterbebett der Baronin trennte.

Noch einmal stand sie still und beobachtete, ehe sie eintrat, und wieder drückte sie die geballte Hand auf die Brust.

Elise, die elegante Kammerjungfer, hatte die beiden Fußlichter an dem großen Toilettenspiegel angezündet, betrachtete ihre liebenswürdige Figur holdlächelnd vom Kopf bis zu den Füßen und rückte zu gleicher Zeit das kokette Häubchen zurecht. Am Ofen rührte die Krankenwärterin, Frau Rosenmeier, nachlässig in einem Töpfchen; die Kranke stöhnte auf ihrem Lager, aber keines der beiden Frauenzimmer achtete im mindesten darauf.

»Wasser, Wasser! Gebt mir doch Wasser!« ächzte Viktorine von Poppen.

»Gleich, Frau Baronin!« brummte schnaufend die dicke Madam am Ofen.

»Gleich, gleich, gnädige Frau!« lispelte geziert am Spiegel Mamsell Elise, ohne sich umzuwenden.

Auf ihrem heißen Lager warf sich die Kranke hin und her. Ihre fieberglühenden schwarzen Augen leuchteten verzweifelt, unheimlich in dem dämmerigen Winkel, wo das Bett stand.

»Zu trinken! O, ihr laßt mich verbrennen!«

Es dauerte noch eine geraume Zeit, ehe sich eins der Weiber herbeiließ, der armen Frau das Glas an die Lippen zu halten. Die Lauscherin hinter dem Vorhang zerbiß fast die Lippen vor Wut.

Auf ihrer Decke, in ihren Kissen herum griff die Kranke.

»Ich liege so schlecht – das ist wie Stein – o Elise, so komm doch – Frau Rosenmeier! – Elise, Elise!«

»Gleich, gnädige Frau, gleich!« kreischte die Kammerzofe, und die Wärterin stürzte auf das Bett zu, schüttelte auf die roheste Weise die Kissen auf, warf die Decke zurecht und behandelte die Leidende nicht anders als ein fühlloses Stück Holz.

»Leon, Leon, hilf deiner armen Mutter! Wo bist du, Leon?« rief die Kranke im Fieberwahn, unter den rohen Fäusten sich sträubend. »Elise, Elise, ich schenke dir meine rote Samtmantille, wenn du mir hilfst. O sei nicht böse, Elise, schicke diese weg; ich will dich auch niemals wieder schelten, gewiß niemals! Bitte, bitte, bitte!«

Mamsell Elise winkte der Wärterin und hauchte:

»Aber Rosenmeiern, was machen Sie denn? Sehen Sie denn nicht, daß die gnädige Frau das so nicht leiden kann – mein Gott, wie gemein.«

Dabei ließ sich die Kreatur affektiert seufzend in eine Causeuse sinken; aber jetzt zerriß auch die Portiere in der krampfhaft zitternden Hand des Freifräuleins, zur Seite flog der Vorhang, und so unvermutet erschien Juliane in der Tür, daß die Kammerzofe im jähesten Schrecken mit abwehrenden Händen in die Höhe fuhr, daß die Wärterin die Tasse, welche sie eben zum Munde führen wollte, fallen ließ. Von ihrem Pfühl erhob sich die Kranke und schrie:

»Da, da – da ist sie, ich fürchte mich nicht mehr vor ihr! Juliane, Juliane, komm her, du sollst das letzte Wort haben. Komm herein, du lebst, und ich muß sterben. Treibe die weg – die, die! Sie wollen mich umbringen. Jage sie fort, komm herein; – bald – morgen wirst du ja doch kommen, und ich werde es dir nicht wehren können!«

An die Hand ihrer Schwägerin klammerte sich die sterbende Viktorine, und mit der gewohnten Energie bemächtigte sich Juliane sogleich der Herrschaft über das Krankenzimmer. Sie hatte ritterlich schon wildere Geschöpfe gebändigt, als die Kammerzofe und die Wärterin waren, und so bezwang sie auch diese beiden Tiere. Die ganze Nacht saß sie am Bette der Verwandten, und die Baronin regte sich nicht, sondern starrte immer nur ganz fest auf die kleine schwarze Gestalt, das verrunzelte Gesicht, die spitze Nase. Gegen Morgen schlief die Kranke ein und erwachte erst, als die Sonne in das Fenster schien.

Das Freifräulein beugte sich dann über die Kissen der Leidenden und sagte freundlich und liebevoll:

»Guten Morgen, Viktorine, Sie haben einen gesunden Schlaf getan, und ich habe Sie gut bewacht. Sie zürnen mir doch darum nicht?«

Viktorine von Poppen gab keine Antwort. Sie warf die Arme unruhig umher, sie fuhr mit den Händen über das Gesicht, als wolle sie allerlei böse Gedanken von sich scheuchen.

Mit ihrer sanftesten Stimme fuhr Juliane fort:

»Bitte, bitte, liebe Viktorine, dulden Sie mich so lange um sich, als Sie krank sind. Vergessen Sie, was zwischen uns gelegen hat. – Sind Sie durstig? Hier – nehmen Sie sich Zeit. – Liebe Viktorine, sobald Sie wieder gesund sind, mögen Sie mich fortschicken. Sie liegen nicht gut, warten Sie, ich will Ihre Kissen zurechtlegen!«

Die Kranke ließ wie ein Kind alles mit sich geschehen, immer noch starrte sie das Freifräulein an; aber sie murmelte dabei fort und fort den Namen Juliane. Da trat die Kammerzofe in das Zimmer, und hinter ihr erschien die unförmliche Figur, das rote gemeine Gesicht der Wärterin. Beim Anblick dieser beiden Personen warf Viktorine beide Arme um den Hals der Schwägerin und rief in höchster Angst:

»Ich bitte dir alles ab! Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht! Ich bin schlecht gegen dich gewesen und Leon auch. Leon ist tot, o verlaß mich nicht – geh nicht von mir, solange ich noch lebe. Ich will dir alles abbitten. Schicke die fort, jage sie aus dem Hause, ich bitte dir alles ab.«

Das Freifräulein zwang sich, heiter zu lachen, obgleich sie blutige Tränen hätte weinen mögen.

»Du hast mir gar nichts abzubitten, liebe Viktorine. Du hast mir nicht mehr Püffe gegeben, als ich dir gab. Und wenn du es willst, so sollen die beiden auf der Stelle dein Haus verlassen. Ich bleibe bei dir; habe keine Angst. Um Gottes willen – Sie – Weib – nach dem Doktor, nach dem Medizinalrat Pfingsten! Sie stirbt, sie stirbt!«

Noch starb die Baronin Viktorine von Poppen nicht; aber von Stunde zu Stunde wurde sie schwächer. Sie verschied erst am Nachmittage, und die Hand Julianes ließ sie bis zum letzten Augenblicke nicht los. Sie starb, indem sie flüsterte:

»Ich bitte dir alles, alles ab!«

Mit zitternden Händen drückte das Freifräulein Juliane von Poppen die blinden Augen der Toten zu. Das Gericht kam und versiegelte die Zimmer des Hauses Nummer fünfzig bis auf das, in welchem die kalte, starre Leiche lag. Auf diese allein machten die Gläubiger keine Ansprüche.

Tot und öde war das alte Gebäude wie das Haus gegenüber. Baptiste und Elise zogen mit reicher Beute und dem Entschluß, gemeinschaftlich einen Viktualienkeller zu halten, ab. Viele Gläubiger waren auf die Nachricht vom Tode der Baronin herbeigeeilt, und von dem einst so stattlichen Besitz der Familie von Poppen konnte das letzte Fräulein von Poppen nur den armen, kleinen, halbverhungerten Hund nehmen. Sie trug ihn auf dem Arme fort, und dankbar winselnd leckte er ihr die Hand.


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