Wilhelm Raabe
Die Leute aus dem Walde
Wilhelm Raabe

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Zwischen Himmel und Erde. Stimmen aus der Nähe und aus der Ferne. Sonnenuntergang. Robert Wolf durchlebt seine letzte Jugendstunde

Es zechen die Götter im hohen Olymp,
Wir sitzen auf grünendem Hügel;
In der Mitte zumal,
Zwischen Äther und Tal,
Da wachsen dem Herzen wohl Flügel.

Nun drücket den blühenden Kranz auf das Haupt,
Und jauchzet: es lebe das Leben!
Und den Göttern sei Heil,
Die so wonniglich Teil
An Himmel und Erd' uns gegeben.

Hemm' keiner den pochenden Herzschlag der Brust,
Wir sitzen in heiliger Runde;
Blickt nicht vor, nicht zurück,
Denn das flüchtige Glück,
Es haftet ja nur an der Stunde.

Und so hebet die Becher ins Abendrot,
Gold haltet dem Golde entgegen;
Schlürft die selige Stund',
Doch mit lästerndem Mund
Nicht reizet das Schicksal verwegen.

Und so klinget die vollen Pokale an;
Doch weckt nicht die Götter vermessen;
Denn ihr Neid hat beim Mahl
Im olympischen Saal
Nur minutenlang uns vergessen.

Dieses Lied wurde wirklich zwischen Äther und Tal, auf dem Gipfel eines Berges, beim roten Schein der untergehenden Sonne gesungen und hallte kräftig, lebensmutig, aber doch mit dem Anklang von Wehmut, welcher fast keiner deutschen Melodie fehlt, durch die Waldtäler, die im üppigsten Grün des Frühlings prangten. Unter dem Gezweig einer knorrigen, kurzstämmigen Hagebuche lagerten die jugendlichen Sänger mit ihren vollen und leeren Flaschen eine Studentenschar aus der nahegelegenen Universitätsstadt und begleiteten ihren Gesang den Worten des Liedes gemäß mit dem Klingen der Gläser. Berauschend war der Wein, berauschend das purpurne Licht des Sonnenunterganges, berauschend war der Waldduft, der Duft der Tannen, welcher aus der Tiefe aufstieg, berauschend war aber auch der Duft des wilden Thymians auf der Höhe. Im Kreise lagerten die Musensöhne um den Vorsänger, welcher kein anderer als unser Freund Robert Wolf, der Schüler des Sternsehers Heinrich Ulexius, der Schützling des Polizeischreibers Fritz Fiebiger, war.

Zwei Jahre sind vergangen, seit wir ihn zum letztenmal Arm in Arm mit Julius Schminkert in den Gassen der Stadt erblickten; wir finden ihn nicht zu seinem Nachteil verändert wieder. Der Jüngling machte eben dem Manne Platz; das Siegel des festen Willens, welches einst der Weise vom Giebel des Nikolausklosters im Gesicht des Jünglings vermißt hatte, war ihm jetzt schon deutlicher auf die Stirn gedrückt. Robert sah jetzt seinem Bruder Friedrich ähnlicher, obgleich man nicht hätte sagen können, wo eigentlich diese Ähnlichkeit lag.

Der Sänger auf dem Berggipfel sah gewiß mit ebenso leuchtenden Augen in die schöne Welt wie die im Kreise lagernden Genossen; aber in seinen Augen lag noch etwas anderes, was in denen der übrigen nicht zu finden war. Der wehmütige Trotz schimmerte darin, der Trotz, welcher den Schicksalsmächten schon oft hat weichen müssen, der aber niemals weiter weicht, als er muß. Die volle Harmlosigkeit der Jugend hatte Robert Wolf eigentlich nie gekannt; er hatte auch nicht die volle Heiterkeit, welche das freie, sorglose Studentenleben glücklicheren Gesellen bietet, genossen. Er hatte immer erst eine schwere Last trüber Gedanken abzuschütteln, ehe er das leichte flatternde Gewand der Freude fassen konnte. Zur Heiterkeit des Daseins konnte er sich immer nur mittelbar erheben, und so ward sie ihm niemals ganz rein, ganz ungetrübt gegeben,

Die beiden Jahre, welche wir in unserer Erzählung übersprungen haben, waren nichtsdestoweniger sehr inhaltvoll für alle die Leute, mit welchen wir bisher zu tun hatten. Wer erlebt nicht etwas in zwei Jahren? Auch das beschränkteste, gleichmäßigste Dasein weiß nach zwei Jahren von irgend etwas zu erzählen. Wir müssen das Versäumte nachholen und kurz berichten, wie Lachesis an den verschiedenen Lebensfäden unserer Geschichte gesponnen hat. Der weißsilberne Faden, welcher das Dasein des Sternsehers Heinrich Ulex bedeutet, glänzt glatt und knotenlos vor unsern Augen. Der Alte vom Turm klagt wohl, daß ihm die Freunde, seine Weltlichter, in immer weitere verschwommenere Ferne zu rücken scheinen; er meint wohl, daß er die gewichtige Hand des Alters schwer auf seinem Scheitel fühle; aber er fühlt sich wohl, auch in seiner stillen, friedlichen Greisenhaftigkeit, auf seiner Höhe. Und wenn die Sterne ganz seinen dunkel werdenden Augen sich entziehen, vermag er es nicht, auf dem grauen Grunde des Nebels farbige, ideale Bilder hervorzuzaubern? Sieht er etwa nicht die Sterne auch mit geschlossenen Augen?

Von dem Sternseher Heinrich Ulex haben wir nur zu sagen, daß wir ihn wiederfinden, wie wir ihn verließen.

Da ist sein Freund, der Polizeischreiber Fritz Fiebiger, den fing das Alter an mit härterer Hand zu fassen, obgleich auch bei ihm ein Nachlassen der geistigen Fähigkeiten nicht im geringsten zu bemerken war. Die Bücher, welche der Schreiber auf dem Bureau Nummer dreizehn zu führen hatte, mußten allmählich den stärksten Nacken beugen mit ihrer Wucht von Tränen, Schmach und Blut. Wir wissen, wie der Alte darüber dachte und wie er sich gegen die Geister, die aus ihnen aufstiegen, zu wehren suchte. »Du bist es mir schuldig, mein Junge«, schrieb der Schreiber vor kurzem an Robert, »du bist es mir schuldig, mein Junge, daß du mich nicht allzu lange mehr allein lassest hier in der Musikantengasse. Ich weiß zwar, daß es unter den obwaltenden Verhältnissen nicht sehr angenehm für dich sein kann, hierher zurückzukehren; aber ich glaube doch, daß es trotz allem ein wenig deine Pflicht ist. Es sind außer mir noch andere Leute vorhanden, welche deine Zurückkunft sehnlichst erwarten. Denke an das arme Fräulein von Poppen! Sei fleißig, mache dein Examen und komm. Sei ein rechter Mann und komm!« –

Das »arme« Fräulein von Poppen? Ja, das arme Fräulein von Poppen! Es hatte in den zwei verflossenen Jahren das meiste und das Bitterste erlebt; Herr Leon, Freiherr von Poppen, hatte der Tante das Spiel abgewonnen. Mit ironischer Höflichkeit hatte er ihr die besten Karten aus den Händen genommen. Ebenso höflich lächelnd hatte ihr der Neffe den Stuhl, auf welchem sie im Hause des Bankiers Wienand saß, weggezogen, und verwundert, zornig, starr vor Schrecken und Angst saß sie nun auf der platten Erde und suchte vergeblich das Gewand, die Hand Helenes festzuhalten. Anmutig trat der Baron zwischen das junge Mädchen und die alte Dame, um das Pflegekind Julianes von Poppen unter – seinen eigenen Schutz zu nehmen. Das Freifräulein konnte nichts dagegen machen, und der Bankier Wienand hatte nichts dawider.

Der Bankier Wienand? Ja, der Bankier Wienand! Es war eine große Veränderung mit dem Manne vorgegangen, und Herr Leon von Poppen hatte wenigstens teilweise vollbracht, was weder dem Sanitätsrat Pfingsten noch dem Sternseher Heinrich Ulex gelungen war. Der Kranke war geheilt von seiner fixen Idee; doch bei mehr als einer Gelegenheit mußten sich die Freunde, und vorzüglich Juliane von Poppen fragen, ob es nicht für das Wohl der Welt – wenigstens soweit sie von dem Bankier abhing – besser gewesen wäre, wenn es blieb, wie es war.

Wir haben gesehen, wie sich Leon in das Haus des Bankiers einstahl, wie er sogleich festen Fuß darin faßte, wie ihn der Kranke empfing und ihn besser zu verstehen schien als irgendeinen andern Menschen. Der Verkehr dieser beiden Männer war eins der Wunder der Psychologie. Die zwei Frauen, welche, wie es nicht anders sein konnte, anfangs dem Verkehr mit dankerfülltem Herzen zusahen, fingen erst leise an zu frösteln unter dem erkältenden Hauche, der mit dem neugebackenen, trefflichen Ministerialsekretär in ihr Zusammenleben eindrang; dann überkam sie der volle herzerkältende Schauder mit der vollen Gewißheit, daß Leon von Poppen Herr geworden sei im Haus. Der kranke reiche Mann begann, auf den Schritt Leons zu horchen wie auf den Fußtritt des Glücks; er war nur dann zufrieden, wenn der Baron neben ihm saß, und nach und nach konnte dieser ihn führen, wie er wollte. Er führte ihn leider nicht auf jene lichten Höhen, zu welchen ihn der Sternseher Heinrich Ulex leiten wollte, sondern in jene nebelige, dämmerhafte Sumpflandschaft des Egoismus, wo tückisch leuchtende Irrlichter sich spreizen und sich für die Sterne des Lebens ausgeben. Der Bankier Wienand schlich nicht mehr im Hause umher, um allerlei Abfälle zusammenzusuchen und sie gleich den größten Kostbarkeiten zu verbergen. Er erkannte allmählich wieder den Wert, den die Dinge in der menschlichen Gesellschaft haben; die nervöse Aufregung legte sich im Laufe des ersten Jahres, und der Kranke erwachte wie aus einem bösen Traum. Der Mangel an Beurteilung machte nun einer scharfen, aber unendlich einseitigen Beurteilung Platz, und somit nahm eigentlich die dunkle Wolke, die über seinem Geiste hing, nur eine andere Farbe an. Aus dem Schwarz und Grau wurde ein unheimliches Gelb: die Welt, welche sich auch nicht wenig falsche Begriffe von den Dingen bildet, das heißt, sie so nüchtern wie möglich sieht, schickte sich an, dem berühmten Bankier Glück zu wünschen zu seiner Genesung. Aus seiner Krankheit sollte der Bankier als ein sehr harter und selbstsüchtiger Mann hervorgehen. Nun sich der Schleier vor seinem Auge lichtete, fühlte er sich tief erniedrigt durch den Zustand, in welchem er sich befunden hatte. Ein fieberhaftes Bestreben, die Erinnerung an diesen Zustand in sich und in der Gesellschaft auszulöschen, ging daraus hervor; aber leider maß der aufgeregte Geist die Dinge nur nach dem Maße, welches die Welt ihnen anlegte, und der Baron Leon von Poppen fand das rechte Feld für seine Pläne. Mit fast wilder Satire kämpfte Juliane von Poppen gegen diese Art der Lebensanschauung an. Der Makel, welchen der immer noch kranke Mann auf sich zu fühlen glaubte, brannte schärfer als das Wort der alten Freundin. Die Gier nach Ansehen und Reichtum wuchs immer mehr und überwältigte jedes andere Gefühl; – auch vor dem Brande hatten nicht viele Sterne am Lebenshimmel des großen Bankiers geleuchtet; der Wahnsinn hatte auch die wenigen ausgelöscht, die Heilung brachte den Glanz der guten Lichter nicht zurück. Der Bankier Wienand wollte nicht mehr für »verrückt« gehalten werden und vergaß nur, daß die Welt manches für verrückt erklärt, was ganz an der rechten Stelle steht, und welches von alter und neuer Weisheit als sehr edel, löblich und lieblich gepriesen wird.

Seit das Kontor und das prachtvolle Hauptbuch in der Kronenstraße aus einer Fiktion wieder zu einer Wahrheit wurden, betrachtete der Bankier alles nur von dem niedrigen Standpunkte dieser beiden Gegenstände aus, und drei Vierteile der Gesellschaft hoben die Hände empor und priesen über alle Maßen dieses »energische Sichaufraffen«. Auf das Mitleid der Welt folgte die bewundernde Billigung, und Herr Leon von Poppen erlangte aus dem glücklichen Ereignis auch sein Teil Kredit in der allgemeinen Stimmung. Bald stand der Bankier als Kapitalist und scharfäugiger Geschäftsmann vollständig rehabilitiert da; er hatte ja den schwarzen grimmigen Unhold Wahnsinn in der festesten Kammer seines Hirns eingesperrt, und unablässig, Tag und Nacht, hielt er Wacht, daß er nicht wieder hervorbreche. Es war aber doch ein unheimlich Ding!

Wie arbeitete der Bankier, um sich des Preises der Menschheit würdig und zugleich sie sich dienstbar zu machen! Mit unverhohlener Kälte begegnete er der alten zürnenden, trauernden Hausfreundin; hart und kalt behandelte er auch seine arme Tochter; – sie war ja auch nur ein Mauerstein, der sich gut, vorteilhaft vermauern ließ in dem Tempel seines Glückes! Der junge talentvolle Politiker, welchem er soviel zu danken hatte, gab ihm auch in dieser Hinsicht die besten Lehren. Das Haus Wienand war noch zu gewaltigen Dingen berufen.

Das Freifräulein hatte Augenblicke, in welchen ihr das Leben unerträglich schien. Sich klagte sie an, wenn sie, mit Tränen in den Augen, die arme Helene in die Arme schloß. Sich klagte sie an auf dem Giebel des Sternsehers.

»Ich hätte soviel dagegen tun können, wenn ich alte Närrin die Augen aufgesperrt hätte!« rief sie jammernd. »O, Ulex, wir hätten ihn doch noch auf unsere Weise geheilt; aber ich, ich bin schuld daran, daß dieser perfide Halunke, dieser Leon, uns so überlistete, daß er es jetzt wagt, die schmutzige Hand nach meinem Kinde auszustrecken. O welch eine Gans ich war, als ich mich von ihm so leicht übertölpeln ließ! Es möchte einen Stein erbarmen, daß ein altes Weib wie ich, welches ein ganzes schweres Leben hindurch den Kopf immer ehrlich und resolut aufgerichtet getragen hat, ihn zuletzt so tief beugen muß. Diesem Kopf freilich ist's ganz recht; weshalb hat er sich von dem albernen Herzen so kläglich hinters Licht führen lassen! Ach Fiebiger, Eurem Jungen verbiete ich die leiseste Annäherung an meine arme Helene aufs strengste, und diesem dummschlauen Bösewicht, diesen Leon, führe ich sozusagen selbst ihr zu! Blutige Tränen möchte ich drum weinen!«

Traurige Ferien brachte Robert Wolf von Zeit zu Zeit, während dieser beiden Jahre, bei den Freunden zu. Er sah Helene öfters, er sah auch seinen glücklichen, höhnischen Nebenbuhler. Juliane von Poppen hätte fast den Polizeischreiber eifersüchtig gemacht, so sehr bemächtigte sie sich des jungen Studenten. Er mußte ganze Nachmittage und Abende bei ihr zubringen, und in den Gassen stützte sie sich am liebsten auf seinen Arm; – ach, sie hinkte nicht mehr so schnell wie früher einher, sie hielt es jetzt nicht mehr für unglaublich, daß sie sich noch einmal eines Wagens oder gar Rollstuhls werde bedienen müssen. Wie an eine letzte Hoffnung klammerte sie sich an den selber so ratlosen Robert.

»Was sollte aus meinem Kinde werden, wenn sie wirklich ganz und gar in die Gewalt dieses Schlingels fiele? O mein Sohn, mein lieber Sohn, der gute Gott wird das doch nicht zulassen!«

Robert rang die Hände und ballte sie ohnmächtig im andern Augenblick:

»Was sollen wir tun? Wir können ja nichts tun! Der Vater scheint diese Verbindung so fest zu wollen; Helene wird folgen müssen –«

»Sie wird sich zu Tode weinen!« rief das Fräulein. »Am besten wäre es, ich ginge mit ihr fort – so weit als möglich fort und ließe dem alten und dem jungen Sünder das Nachsehen; aber das Kind will ja nicht; es glaubt selbst zu sündigen, wenn es gegen den Willen des Vaters das Haus verließe. O Robert, Robert, welche Demütigungen habe ich des Mädchens wegen schon auf mich genommen, und wie viele werde ich noch ertragen müssen! O, daß ich nicht mit meiner Krücke hier dreinschlagen darf!«

Wenn Robert und Helene zusammenkamen, so drückten sie sich stumm, mit weinenden Augen und schweren Seufzern die Hände. Niemals lag vor zwei armen Kindern die Zukunft dunkler, unheimlicher, widerlicher. Ach, wie beneidete Robert seinen Freund Ludwig Tellering! Der war jetzt der Geliebten gefolgt, war nach Amerika mit seiner Mutter und Schwester ausgewandert. In die dunkle Hofwohnung in der Musikantengasse war ein Schuhmacher gezogen, der zugleich Vögel abrichtete und unglücklichen Finken und Dompfaffen die Augen ausstach – ein wilder roher Gesell, mit welchem der Polizeischreiber Fiebiger keinen Verkehr haben wollte, außer vielleicht auf dem Polizeibureau Nummer dreizehn als Protokollführer des Rats Tröster. Von Galveston aus hatte Ludwig Tellering an den Studenten der Medizin geschrieben; er hatte sein Mädchen noch nicht erreicht; er hatte zuerst seine Werkstatt in der Hafenstadt aufschlagen müssen; aber es ging ihm und den Seinigen gut, und er schrieb freudig erregt und hoffnungsvoll.

Auch Julius Schminkert hatte den vollen blütenreichen Kranz des Lebens sich auf die erhabene Stirn gedrückt. Er hatte die holde Braut heimgeführt, und der Parfümerie- und Modewarenladen stand in voller Glorie und zeichnete sich durch geschmackvoll stilisierte Annoncen und Reklamen in allen Blättern der Stadt aus. Julius Schminkert verstand sich aufs Lärmmachen und wußte seine Phrasen elegant abzurunden. Niemals wurden Seife, Schönheitswasser und Haarfärbungsmittel, Handschuhe und Hauben geistreicher, großmäuliger und genialer ausgeschrien, als es durch die unvergleichliche Firma Schminkert und Kompanie geschah. Monsieur Alphonse Stibbe, der glückliche Schwiegervater, hatte sich wirklich aufs neue beweibt und die geheimnisvolle Person geheiratet, wegen welcher er einst in jener denkwürdigen Nacht, als die Tagebücher Aurora Pogges vorgelesen wurden, dem Vorleser die Kehle zudrückte. Es war eigentlich gar nichts Geheimnisvolles an der Person; es war eine Witwe, reich an Jahren, Erfahrung, Tugend, nur ein wenig zu massiv für den kleinen, vertrockneten Kleiderkünstler, welchen der Polizeischreiber acht Tage nach der Hochzeit schluchzend und sein Schicksal verwünschend nächtlicherweile vor der verriegelten Tür der eigenen Wohnung desselben im Parterre der Nummer zwölf fand.

Jeder hatte sein Schicksal, und der arme kleine Schneider schleppte gewiß ebenso schwer an dem seinigen, wie Robert Wolf an seinem trug; wer gibt uns eigentlich das Recht, das Los des einen poetischer auf- und anzufassen als das des andern? Wie dem auch sei, wir haben das Recht, und lassen es uns so leicht nicht nehmen: der jugendliche lockige Sänger, welcher auf dem frühlingsgrünen Berggipfel den Becher der untergehenden Sonne entgegenhält, ist immer eine andere Figur wie das auf der Treppe im Dunkeln kauernde Schneiderlein. – –

Da stand der Jüngling hochaufgerichtet unter den freudigen Genossen fest auf seinen Füßen, und heute hatten die finstern Gewalten, die ihn vor vier Jahren so verzweiflungsvoll durch die Gassen der großen Stadt getrieben hatten, nicht mehr ihre verwildernde Macht über ihn. Er trug den Schmerz und die Sorge wie ein Mann; er hatte bis jetzt die Schule des Lebens bestanden, und ruhig und ernst konnte er von der sonnebestrahlten Höhe in die schwülen, dämmerigen Täler herniederblicken. Mochte sich auch der Sturm dort unten sammeln, mochte die Nacht drohend von dorther heraufkriechen, mochte die Zukunft bringen, was sie wollte, Robert Wolf zerschlug nicht mehr die Brust, zerraufte nicht mehr das Haar in der ohnmächtigen Wut des Schmerzes. Zu einem Mann hatten ihn die Freunde, hatte ihn das Schicksal gemacht; er verstand die große Kunst, männlich zu dulden und den kommenden Tag zu erwarten.

Auf der Höhe verklang das Lied vom flüchtigen Glück und dem Neid der Götter; aber im Tal wurde es von einer einzelnen Stimme wieder aufgenommen.

»Das ist Krokisius!« riefen die Studenten, und Wolf meinte:

»Seht nach, ob noch eine volle Flasche für das alte Haus da ist.«

»Stoff die Fülle!« jubelte man; näher klang die volle Bruststimme des Kommenden. Jetzt trat er aus dem Walde drüben und schwang den Hut denen auf dem Gipfel zu:

»Und so klinget die vollen Pokale an,
Doch weckt nicht die Götter vermessen;
Denn ihr Neid hat beim Mahl
Im olympischen Saal
Nur minutenlang uns vergessen.«

Jauchzend begrüßten die Freunde den Freund, den braven »Doppeldoktor« Otto Krokisius, der seinem Herrn Vater soviel Kummer machte, der jetzt, nachdem er der Philosophie überdrüssig geworden war, sich der Juristerei und »leider auch« der Politik in die Arme geworfen hatte und der in so schlechtem Geruche bei Artemisia und Lydda von Flöte stand. Der junge Mann sah aber gar nicht aus wie ein verlorenes Schaf; höchst vergnüglich fächelte er sich mit einem grünen Zweige die erhitzte Stirn und leerte ein volles Glas Rüdesheimer; dann warf er Robert Wolf einen schweren Brief zu:

»Da ist etwas für dich. Da du nicht mehr zu Hause warst, hat der Briefträger seine Last guter Nachrichten, Wechsel und dergleichen angenehmer Eitelkeiten der Welt bei mir abgelegt. Möge Fortuna aus dem Paket springen – noch ein Glas, Leute! Das ist ein wonniger Abend; der Teufel hole euren melancholischen Gesang hier oben, er hat mich selbst unterwegs ganz melancholisch gemacht. Hallo Wolf – was ist? Um Gottes willen, Wolf, Wolf?«

Robert hatte den Brief, welcher von dem Polizeischreiber Fiebiger kam, sogleich erbrochen, einen zweiten, in unbekannter Handschrift überschrieben, herausgenommen und auf der Stelle angefangen, zu lesen.

Es zuckte über sein Gesicht, er fuhr mit der Hand über die Augen, er wurde totbleich; er schwankte auf den Füßen und wäre zu Boden gestürzt, wenn die erschreckten Genossen nicht zugesprungen wären und ihn in ihren Armen aufrecht erhalten hätten. In dem Brief des Polizeischreibers kam die Nachricht, daß man täglich die Verkündigung der Verlobung Helene Wienands und des jungen Barons Leon von Poppen erwarte. Das zweite Schreiben war von dem bekannten Reisenden Konrad von Faber von San Francisco aus an den Polizeischreiber gerichtet und erzählte in tragischer Einfachheit und Kürze von dem Tode Friedrich Wolfs in dem neuentdeckten Goldlande Kalifornien. Auch Eva lag krank in einer elenden Hütte in einem der Felsentäler der Umgebung des Sacramentoflusses, lag im todbringenden Fieber und rief um Hilfe nach der Heimat, rief nach Robert, ihrem Bruder und Jugendfreund. Es war ein trostloser Brief, welchen der Hauptmann Konrad mit seinem Namen unterzeichnete, ebenso trostlos wie der andere; diese beiden Schreiben in der zitternden Hand, nahm Robert Wolf nun wirklich für immer Abschied von seiner Jugend.

Was die Freunde wissen mußten, teilte er ihnen mit; dann nahm er auch Abschied von ihnen, dann ging er aus ihrer Mitte weg und stieg langsam den Berg hinunter in den Wald. Keiner der Genossen folgte ihm; sie standen alle stumm und blickten ihm traurig betroffen nach. Lang fiel sein Schatten über die Berglehne. Noch einmal winkte er vom Eingang des Waldpfades zurück, und sie winkten wieder; dann verbarg ihn das Gebüsch. Als er gesenkten Hauptes durch den Wald fürder schritt, vernahm er, wie sie das Lied, das er eben noch vorgesungen hatte, von neuem begannen, aber die Stimmen wurden schwächer und schwächer und gingen an der nächsten Talecke im Rauschen des Waldbaches, der nun melancholisch seinen Weg begleitete, gänzlich unter.

In derselben Nacht bereits befand sich Robert Wolf auf der Reise zu den Freunden in der großen Stadt und zugleich auf dem Wege zu Eva Wolf, die in ihrer Not aus so weiter Ferne nach ihm rief.


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