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Der Berggeist Rübezahl ist uns allen schon in früher Kindheit bekannt geworden. Zu den ersten Märchen, die wir uns erzählen ließen, gehörten auch solche vom Rübezahl, und als wir dann unsere Lust am Wunderbaren aus Büchern selber befriedigen konnten, gab man uns den Musäus, und in seinen Volksmärchen fanden wir gleich zuvorderst die »Legenden vom Rübezahl«. Wir lasen sie, wenn uns auch die Zwischenbemerkungen des Erzählers störend vorkamen und die literarischen Anspielungen unverständlich blieben, mit warmem Anteil und wachsender Spannung, wußten nun auch den Namen des Rübezählers aus seiner Liebesgeschichte mit der Prinzessin Emma zu deuten und bekamen eine lebendige Vorstellung von der Sonderbarkeit dieser Geisteserscheinung. Noch etwas später, und wir begegneten in der Kunst eines Ludwig Richter und Moritz von Schwind dem Berggeist, je nach der Auffassung des Künstlers und der Situation seines Bildes bald als struppigem Riesen, bald als freundlichem Alten, aber doch immer uns menschlich ansprechend und einen künstlerisch geschlossenen Eindruck auf uns zurücklassend.
Nun, einen so sympathischen, uns harmonisch anmutenden Rübezahl finden wir bei dem Leipziger Magister Johannes Prätorius nicht. Der gehörte noch dem roheren Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges an Johannes Prätorius hieß eigentlich Hans Schultze und war zu Zethlingen in der Altmark 1630 geboren. Er studierte und lebte aber in Leipzig, wo er auch 1680 starb. Seine Hauptwerke liegen sämtlich auf volkstümlichem Gebiete, sind aber im ganzen heute ungenießbar. und stand so dem grobianischen Geschmack viel näher als der kultivierten Kunst seiner Nachfolger. Er stand aber auch um so viel näher der Quelle, wenn man bei der Rübezahl-Sage von solcher sprechen kann, und besaß nach dem Urteil der Brüder Grimm trotz aller Gelehrsamkeit »den Sinn für Sage und Aberglauben, der ihn antrieb, beide unmittelbar aus dem bürgerlichen Leben selbst zu schöpfen«. Ja, ihm verdanken wir überhaupt die erste Aufzeichnung der Rübezahl-Sagen, die uns ohne ihn wohl nie überliefert worden wären; denn auf ihn gehen unmittelbar oder mittelbar alle späteren Darsteller dieses Stoffes in Dichtung und bildender Kunst zurück, und auch die Sagenforschung fußt auf ihm in dieser Beziehung. In der Fassung des Prätorius erscheint uns also der Rübezahl ursprünglicher.
Ganz ursprünglich freilich auch nicht mehr. Man merkt es dem Magister an, daß er nur zu gern ein Tröpfchen eigene Weisheit in die uns kredenzte Schale mischt, und gelegentlich hat er's ja auch bekannt, viele Geschichten sogar erfunden zu haben. Wer will aber heute noch die Spreu von dem Weizen sondern! Auch hat sich Prätorius an der Überlieferung nicht allein versündigt: die Überlieferung selbst ist mitschuldig. Denn an den Rübezahl-Büchern des Prätorius haben noch andere mitgearbeitet, und offenbar nicht nur die einzelnen Personen, die er in seinen Geschichten namhaft macht, sondern wohl auch ganze Stände oder Innungen, die hinter anderen in Rübezahl-Historien berücksichtigten Ständen nicht zurückbleiben wollten.
Was heißt aber überhaupt echt bei den Sagen vom Rübezahl? Wo will man die Grenze ziehen, wenn man nicht die erste schriftliche Fixierung als solche ansieht? Es gab zu Prätorius' Zeiten und vor ihm noch keine Grimms, die unmittelbar aus der mündlichen Quelle hätten zu schöpfen verstanden, und zu Zeiten der Brüder Grimm gab es wohl keine mündliche Überlieferung der Rübezahl-Sagen mehr.
Ob überhaupt einmal die Gestalt Rübezahls in der Volksphantasie lebendig umging? Auch wer dem Prätorius gar nicht trauen wollte, müßte sich davon doch überzeugen lassen. Schon durch des schlesischen Dichters Martin Opitz Zeugnis, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts den »Bergmann Rübezahl« kennt und ihn als »Riesengott« anruft. Ausführlicher ist Kaspar Schwenckfeldt, der in seiner 1607 erschienenen »Hirschbergischen Warm Bades Beschreibung« bemerkt, daß Rübezahl eine der Ursachen sei, um deren willen »der Riesenberg weit von ferne beschrien« sei; die Anwohner gäben vor, »er sei Herr und Besitzer der Metallen und Schätze, so in diesem Gebürge verborgen liegen, derowegen bis anhero niemand derselben teilhaftig werden und genießen können, weil sie der Riebenzahl besessen, ungern von sich lasse«. Weiterhin erzählt Schwenckfeldt sogar einen besonderen Fall, wo Leute bei Schreiberhau aufs Gebirge kommen und Schätze durch einen Zauberkreis heben wollen: da »erzeiget sich der Riebenzahl, aber mit einem so erschrecklichen Ungewitter, welches etliche Tage gewähret, und ein großer Schnee und erschreckliche Kälte erfolget sind, daß sie dadurch zerstreuet, kaum lebendig sind herabkommen, ja etliche die Füße darüber erfröret haben. Das ist ihre Ausbeute gewesen.« Ist das nicht im Stile des Prätorius und ein Entlastungszeugnis für ihn? Noch weiter zurück liegt das Zeugnis des Chronisten Simon Hüttel, der in seiner Chronik von Trautenau 1576 ein Hochwasser im Aupatal erwähnt und dazu bemerkt: »die Kaisrischen Holzknecht und Schwaher (Postillione) sagten, Rübenzagel habe die Klaussen geschlagen und ihren Klaussemeister auch mit ertränkt«. -- Schon durch diese Belegstellen ist erwiesen, daß Rübezahl in der Tat zu Prätorius' Zeiten im Volksmund eine Rolle gespielt hat.
Die verschiedenen Namensformen in den angeführten Stellen geben Anlaß zur Frage nach der ursprünglichen Form und der Bedeutung des Namens. Viel ist darüber geschrieben worden, und schon unser Leipziger Magister hat in seinem »Satyrus Etymologicus« (1668) nicht weniger als 100 Ableitungen anzuführen gewußt. Sie sind natürlich sämtlich unhaltbar, viele geradezu abenteuerlich. Auf diesen philologischen Spieltrieb gehen auch die in unseren Geschichten vorkommenden Beinamen Rübezahls zurück: der Riphäische ( montes Riphaei = Riesengebirge), der Ronzival (als angeblicher Abkomme des Adelsgeschlechtes Ronsevall), der Caballierische und der Corydonische Rübezahl. -- Auch die Deutung Rübezähler ist dabei, die Musäus mit anderer Begründung in seiner ersten Legende wieder aufgenommen hat Nach Prätorius zählte Rübezahl aus Geiz täglich die Rüben auf seinem Felde, nach Musäus bekanntlich, um eine Forderung der Geliebten zu erfüllen. --. Die heutige Namensform hat zu dieser Erklärung verführt, ist aber selbst nur ein volksetymologisches Produkt, gebildet, als das Volk die frühere Namensform nicht mehr verstanden hatte. Diese frühere Form ist nach den wohl noch heute gültigen Ergebnissen von Zachers Untersuchung über »Rübezahl und seine Verwandtschaft« In den »Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde«, Jahrg. 1903, Heft X, S. 33 ff. -- als »Riebezagel« anzusetzen, wovon der Bestandteil »zagel« (später verkürzt zu »zahl«) nur wortverstärkend zu dem eigentlichen Namen »Riebe« hinzugefügt ist (wie etwa heute in gleicher Bedeutung »schwanz« bei »Affenschwanz«). Das Wort »Riebe« aber macht den eigentlichen Namen des Geistes aus und ist uns noch heute in Orts- und Personennamen erhalten geblieben Nach Zacher z. B. Ribhain im Taunus und, mit anderer Schreibung, Riewenheiwet b. Niedersachswerfen, Rübenau im Erzgebirge. --. Ist man sich in der sprachlichen Herleitung auch nicht ganz einig, so ist doch anzunehmen, daß das Wort ursprünglich nur die hervorstechende Eigenschaft einer Gottheit bezeichnet »freigebig«, wenn es dem niederdeutsch, »rive« -- »rauh«, wenn es dem althochdtsch. »hriob« entspricht. und erst allmählich zur Bezeichnung der Gottheit selbst geworden ist. Das vielfache Vorkommen von Namenzusammensetzungen mit dem Wort »Riebe« in den verschiedensten Gegenden deutschen Sprachgebietes weist darauf hin, daß das Wort kein Eigenname des schlesischen Gespenstes, sondern die allgemeine Bezeichnung irgendeiner Gottheit war. Erst in der Verbindung mit »Zagel« ist das Wort zum Eigennamen unseres Rübezahl geworden.
Nach dieser sprachlichen Deutung des Namens ist also Rübezahl deutscher, nicht slawischer Herkunft. Die Beziehungen, die er zu den Slawen hat, erklären sich zur Genüge aus den geschichtlichen und geographischen Verhältnissen. Vom sechsten bis zwölften Jahrhundert beherrschten die Slawen das Gebiet des Riesengebirges; die danach einwandernden Deutschen brachten den Glauben an Rübezahl wohl schon mit, übernahmen aber manche Züge und Geschichten von Gottheiten der slawischen Bevölkerung. Einen Beleg für diese Annahme der Verpflanzung des Rübezahl-Glaubens aus anderen deutschen Gegenden nach dem Riesengebirge bietet die von Zacher in seiner erwähnten Untersuchung angeführte Stelle aus der »Tiroler Chronik« des Matthias Burglechner vom Jahre 1619, wo gelegentlich der Erwähnung von unterirdischen Bergmännlein auch gedacht wird der »Histori von dem Geist Ruebzagl genannt, so sich vor Jahren bei dem Goßleberischen (Goßlarischen) Perckwerch und daselbst herumb am Harz, in dem Herzogtumb Praunschweig aufgehalten hat«; danach erst habe er sich »in die Schlesj begeben, auf ein ringhaltiges Kupfer Perckwerch, heißt das Riesengepürg«.
Erst im Lauf der Jahrhunderte hat die Rübezahl-Sage die Gestalt angenommen, die wir jetzt kennen. Die Gottheit sank in dem christlichen Zeitalter zur Koboldfigur herab, und der Name wurde in der Verbindung mit »zagel« zum Schimpfnamen. Alte mythologische Vorstellungen von anderen germanischen und auch slawischen Gottheiten wurden in das Bild verwoben, dann auch Züge vom Teufel und später Stücke von den Helden beliebter Volksbücher auf Rübezahl übertragen. So tritt er denn auch als Nachtjäger auf an Stelle des wilden Jägers Wotan, so übt er Zauberstücke wie Faust und der Rattenfänger von Hameln und ahmt dem Eulenspiegel seine derben Streiche nach; in den Abbildungen aber erscheint er stets mit dem Bocks- oder Pferdefuß, damit der Leser ja an seine teuflische Verwandtschaft erinnert wird.
Diese Bilder stammen übrigens nicht aus dem Prätorius, sondern aus dem etwas später erschienenen Buche »Bekannte und unbekannte Historien von dem abentheuerlichen, weltberufenen Rieben-Zahl, welche von Prätorio, Schwencken und anderen bewährten Skribenten mehr sind geschrieben worden«. Auch die im Prätorius nicht enthaltenen Geschichten Nr. 2, 22, 75, 77, 90, 107 sind daher entnommen. Im übrigen aber konnten für die Wiedergabe der Rübezahl-Sagen in ihrer ältesten Gestalt nur die betreffenden Bücher des Leipziger Magisters in Betracht kommen, nämlich die drei Teile der »Daemonologia Rubinzalii Silesii« (Leipzig 1662 ff.) und der »Satyrus Etymologicus« (1668).
Aus diesen Sammlungen ist verwertet worden, was reizvoll oder in irgendeiner Beziehung charakteristisch ist. Eine neue Anordnung der Geschichten machte schon der Umstand notwendig, daß sie verschiedenen Büchern entnommen werden mußten; es sind nun die Stücke verwandten Inhalts möglichst zusammengestellt worden, während die Anordnung des Ganzen auf eine sinngemäße Entwicklung bedacht war. Die Rechtschreibung ist zur Erleichterung für den ungeübten Leser modernisiert worden, der Lautstand aber möglichst unangetastet geblieben; daß sich sächsische und schlesische Laute kreuzen, liegt an der Überlieferung schlesischer Sagen durch den sächselnden Magister. Wo sich dieser mit seiner Gelehrsamkeit allzusehr breit macht, sind ihm die geilen Schößlinge seiner Magisterweisheit beschnitten worden. Wesentliches ist aber an der Überlieferung nicht geändert, auch ist nichts gemildert worden. Die Zoten und Grobianismen entschuldige man mit dem Zeitgeschmack und danke im übrigen dem Prätorius für den Eifer, mit dem er die Geschichten von Rübezahl gesammelt und uns so erhalten hat.