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IV.
Aus Zeiten und Zonen


Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit!

Goethe

Tausendundeine Nacht und Tausendundein Tag

Muß man zum Lobe eines Werkes noch etwas sagen, das jedem von uns die Kindheit vergoldet hat, das uns vielleicht zum ersten Male hoffen und fürchten, jauchzen und gruseln, glauben und mißtrauen lehrte? Eines Werkes, das ebensowenig veralten kann, wie das Gefühl der Liebe oder der Freundschaft? Nichts Schöneres weiß ich an Sonn- und Feiertagen, als die Lektüre dieser einzigen, glut- und lebendurchtränkten Geschichten, die alle frohen Kindheitstage in uns wieder wecken und die man doch erst als reifer Mensch ganz und gar genießen kann. Man fühlt auch, daß diese Märchen, deren dichterische Gesetze noch keine Poetik analysiert hat, die vollkommenste und würzigste Essenz sind, die uns vom Geiste des Orients einen Begriff geben kann. Gerade an den Geschichten von Tausendundeiner Nacht sieht man, daß das Volksmärchen aus ethnologischen Vorstellungen heraus geboren ist, aus Mythos und Geschichte entstanden ist, daß es religiös oder sagenhaft war, Kultus oder Glaube. Es ist etwas Unberührtes, sehr Naives, Unbewußtes in den Märchen, das unmittelbar auf den Leser wirkt. Es ist das Kindliche im Volke, das durch diese Märchen bewahrt und ausgedrückt wurde. Und darum fanden und finden sie dort die größte Resonanz, wo der Mensch noch in den Stadien der zivilisatorischen Kindheit steckt, wo der Firnis der Kultur noch nicht die letzten Reste der Naivität erstickt und überglättet hat.

Das moderne Kunstmärchen hat sich längst losgelöst aus seinem ethnischen Zusammenhange und wendet sich bewußt an ein ganz anderes Publikum und an ein ganz anderes Gemüt, als das schlichte Volksmärchen. Das Kunstmärchen strebt eine andere Wirkung an, schon deshalb, weil es meist eine Tendenz ausdrücken und verfechten will, sei es eine ethische, soziale, politische, religiöse, ästhetische oder welche auch immer. Es will einen Philosophen aus uns machen oder einen Idealisten, einen Streiter oder Verteidiger, eine Bestie oder einen Engel. Aber im Grunde kann das Märchen der Tendenz sehr gut entraten. Jeder, der ein Märchen liest, wird selbst alle Moral, Philosophie und Psychologie herausholen, wird alle Komödien und Tragödien herauslesen, die nur in einem tiefen Kunstwerk verborgen liegen können.

Ich möchte den Begriff des Märchens nicht so eng fassen, ihn nicht allein auf Geschichten, die sich nie und nirgends zugetragen, angewendet wissen. Man vergesse nicht, daß selbst unser eigenes Leben uns zum Märchen werden kann, sobald wir uns nur weit genug von unserem früheren Menschen entfernt und uns hoch genug über uns selber hinausgehoben haben. Das Leben des Erwachsenen kann dem Kinde schon Märchendichtung scheinen. Durch die Entfernung von Ort und Zeit versinkt jede Wirklichkeit, und das Märchenland taucht in blauender Ferne auf.

Aber wie steht es denn um die Psychologie des Märchens? Ist alles das schon ein Märchen, was erlogen ist?« Oder sollte nicht gerade das Märchen die höchste Wahrheit in sich schließen?«

Gegen Märchen läßt sich freilich nicht streiten. Sie sind allezeit bereit, über technische Mängel und logische Unmöglichkeiten hinwegzuhelfen. Man kann im Märchen die ganze Welt auf den Kopf stellen, die Kühe fliegen und die Flüsse rückwärts fließen lassen. Man kann den mechanischen Kräften und Naturgesetzen Hohn sprechen. Vernunft und Logik sind geradezu die Feinde des Märchens; statt ihrer regieren geheimnisvolle Zaubersprüche und Amulette, Wünschelruten und Tarnkappen, Zaubermäntel und Wunderlampen, Feenringe und Zaubertränke. Aber die Dichter von Tausendundeiner Nacht hüten sich wohl, nur Unsinn auf Unsinn zu häufen und bei all und jeder technischen oder dichterischen Schwierigkeit sich mittels eines Zaubermantels aus der Affäre zu ziehen.

Gewiß kann und soll der Dichter im Märchen seiner Laune freien Spielraum lassen, soll phantasieren, erfinden und mit humorvollem Lächeln auf die Welt herabsehen. Drei mal drei mag elf sein, und auf den Bäumen mögen Würste wachsen. Aber ebenso wie man noch kein guter Karikaturist ist, weil man nicht zeichnen kann, ebenso wie man noch keine Humoreske geschrieben hat, wenn man Blödsinn auf Blödsinn häuft, ebenso hat man noch kein Märchen gedichtet, wenn man nur das Blaue vom Himmel herunterlügt. Die Dichter des Orients wissen das. Für sie ist das Märchen das schlichteste Kleid der Wahrheit, und es drückt die ersten wie die letzten Geheimnisse der menschlichen Seele aus. Sein Zweck ist kein anderer, als von einem bedrückenden Leben, von einer häßlichen Gegenwart zu befreien und das Dasein wirklich zu vergolden; uns über uns selber und unsere Zeit in lustiger oder ernster Fahrt zu erheben und uns die Erfüllung unserer Träume, Wünsche, Forderungen, Begierden und Sehnsüchte zu gewähren. Hier ist die Welt schön, weil sie so ist, wie sie sein sollte und wie man sie sich als Kind vorstellt. Das Leben ist einfach und rein. Alles läuft darauf hinaus, daß die Tugend belohnt werde und daß sie – endlich, endlich! – über das Laster und über die Bosheit triumphiere. Belohnt werden alle guten und edlen Eigenschaften: Langmut, Demut, Gehorsam, Gottvertrauen, Fleiß, Edelmut, Frömmigkeit, Nächstenliebe, Güte, Treue, Hilfsbereitschaft, Wahrheit, und alles Böse findet, wenn auch sehr spät, seine gerechte Strafe. Wer unschuldigerweise gedemütigt wird, der wird später hoch erhoben; wer ungerecht in Not gekommen ist, wird am Ende mit Glück und Reichtum gesegnet. Hier geht es nicht zu wie in der Welt der Wirklichkeit, wo Halunken mit üppigen Glücksgütern gesegnet sind und weise und edle Männer am Hungertuche nagen, wo die Schurken belohnt und die Gerechten bestraft werden. Wie in der Bibel gehört auch in diesen Märchen das Himmelreich nur den wahrhaft Einfältigen, und wie in der Bibel geht auch in diesen Märchen eher ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in den Himmel käme. Das ist es, was auch reife Menschen immer wieder zu diesen Märchen zieht: daß hier Recht und Gerechtigkeit noch nicht Kopf stehen, wie im Leben des Alltags, und daß eine vergeltende Macht ihre Hand über alle Schicksale hält. Der Himmel, zu dem der Bedrängte aufschaut, ist nicht leer, und wenn er niederkniet und für seine gerechte Sache des Schöpfers Hilfe anfleht, so wissen wir im voraus, daß er erhört werden wird. Das ist es gerade, was dem Menschen der Neuzeit, der nicht nur Gott, sondern alle Illusionen und alle Ideale verloren hat, so unendlich wohl tut, daß er hier in einer Welt atmet und lebt, in der man an der göttlichen Vorsehung nie irre werden kann. Die Moral erhebt ihr ernstes Haupt und steht am Ende der Geschehnisse da wie eine Warnungstafel der obersten Behörde am Ein- und Ausgang jedes Dorfes. Und wie im Dorf ist alles primitiv, gesund und ganz ursprünglich.

Von Hof zu Hof wandernde Rhapsoden haben in grauer Vorzeit diese Geschichten gedichtet; die glühende Sonne des Orients hat ihnen die tropischen Farben verliehen. Im 9. Jahrhundert, vielleicht hundert Jahre nach dem Tode des Kalifen Harun al Raschid, wurde mit diesem entzückenden Gewebe begonnen, an dem persische und arabische, ägyptische und syrische Dichter die nächsten sechs Jahrhunderte mit Lust und Liebe gearbeitet haben, um ihre unvergänglichen Geschichten zu weben, die – wie die unverblaßten Episoden auf den alten Gobelins, zu deren Herstellung zuweilen ebenfalls Jahrhunderte erforderlich waren – eine Herz- und Augenweide sind.

Aber Tausendundeine Nacht ist so ganz unser geworden, daß die philologischen Fragen nach Ursprung und Heimat, nach Alter und Ausgaben mir nüchtern scheinen und belanglos. Man müßte erzählen, daß erst der französische Gelehrte Galland diese Märchen um 1700 etwa in Europa populär gemacht hat; man müßte die unvollständigen Ausgaben de Sacys, des Seefahrers Langlès, des Breslauer Professors Habicht, des Leipziger Orientalisten Leberecht Fleischer und seines Pariser Kollegen Zotenberg nennen, müßte von der Kalkuttaer und Beiruter Ausgabe und von der W. A. Macnaghtens sprechen; sie alle sind aus mannigfachen Rücksichten gekürzt, bearbeitet, unvollständig. Erst seit 1885 haben wir Tausendundeine Nacht durch die englische Übersetzung Burtons in völlig ungekürztem Text kennengelernt, und diese Ausgabe ist uns in einer sinngerechten Verdeutschung in zwölf Bänden vermittelt worden. Hugo von Hofmannsthal hat die Einleitung dazu geschrieben, Karl Dyroff den wissenschaftlichen Apparat.

Wer diese zwölf Bände gelesen hat, muß sich durch eine unendlich mannigfaltige und neue Welt bereichert fühlen. Ein kulturgeschichtlicher Hintergrund von kolossaler Weite hat sich vor uns aufgetan, der uns einen Überblick gönnt über Sitten und Bräuche, Religion und Geist, Erziehung und Studium, Nahrung und Kleidung der orientalischen Völker, und nie zuvor haben wir so viel Leidenschaft und Liebe, so viel Hoheit und Niedrigkeit, so viel Weisheit und Torheit miterlebt, wie in den Stunden, da wir im Banne Scheherazades standen. Wir haben in die verzweifelten Herzen der Könige geschaut und in die glücklichen der Bettler; haben böse Geister ringen sehen mit guten, und die Tiere haben zu sprechen begonnen, da sie verwandelte Königssöhne waren. Wir konnten zuweilen glauben, der Stein der Weisen sei unser, der uns die Macht gegeben, zu sehen, was im Herzen aller Wesen und Dinge vorgeht. Und wenn an unseren Augen all die tausend hellen Wunder vorüberzogen, wildes Kriegsgetümmel erscholl oder der Freudenjauchzer der glücklichen Paare; wenn im Nu die Paläste aus dem wüsten Boden wuchsen oder himmelragende Berge, undurchdringliche Wälder, kupferne Städte oder zu Stein gewordene Seen ihren Spuk vor uns trieben; wenn wir in die Tiefe der Erde oder des unausmeßbaren Meeres stiegen, hinab zu den singenden Meertöchtern – immer tat sich im Hintergrunde eine wunderbare Landschaft auf: das unendlich weite Meer, durch das man hundert und aber hunderte Jahre reisen kann, ohne je eine Insel zu erreichen; die dürre Wüstenei, unter deren ewigem Sand verzauberte Schlösser schliefen; die großen bunten Städte, besonders die Lieblinge Bagdad, Bassorah und Kairo mit den prunkliebenden Kalifen und dem farbenreichen Gewimmel der Menschen und Tiere.

Und dann lernten wir hier die Liebe kennen, in ihrer Äußerung vom zartesten Händedruck bis zur sinnlichsten und wildesten Raserei. In keiner anderen Dichtung der Welt leidet der Mann so viel um seiner Liebe willen wie in Tausendundeiner Nacht, und erst hier wird offenbar, welche herkulischen Kräfte im Manne ausgelöst werden, wenn es gilt, den Beifall der Geliebten zu erringen. Er nimmt es mit Drachen und Meerkönigen auf, mit den fürchterlichen Geistern der Lüfte, die ihr böses Spiel mit ihm treiben und die ihn durch zehntausend schreckliche Bitternisse hetzen, ehe sie ihm den süßen Lohn gönnen in den Armen der Geliebten. Aber dann wird der Held zu einem, der stirbt, wenn er liebt.

Ersinne Torheiten, noch so klein, oder Leidenschaften, noch so groß, oder Unternehmen, noch so kühn, oder Kriege, noch so blutig, Freudenfeste, noch so strahlend, oder Elend, noch so finster, – alles wirst du in Tausendundeiner Nacht finden; in Farben, die dich blenden, verwirren, dein höchstes Entzücken sein oder dein tiefstes Grauen erwecken werden. Nichts Menschliches ist Scheherazaden fremd, nichts, schlechterdings gar nichts, und die Gedichte zum Lobe der menschlichen Ausdünstungen sind nicht minder poetisch als die zum Lobe des Geliebten. Wenn du diese Märchen liest, werden dir die Stunden dahinrinnen wie in einem unbeschreiblich schönen Traum, und sie werden dir die Tage zu einem Fest machen, daß du das Leben liebgewinnst. Hier ist alles, was das Menschenherz bewegt: Hoffnung und Furcht, Glück und Grauen, Stolz und Verachtung, himmlische Liebe und höllischer Haß. Hier findet man mehr als eine prächtige Unterhaltung. Da ist Philosophie und Lebenserfahrung, üppige und doch gebändigte Phantasie und sprudelnder Humor, Maximen und Sentenzen, unerschöpflicher Bilderreichtum und echt orientalische Glut. Da sind Liebesszenen von unbeschreiblicher Naivität und Keuschheit und wiederum andere voller Tollheit und Unzüchtigkeit. Professor Jägers Entdeckung der Bedeutung menschlicher Gerüche im Liebesleben der Völker ist hier vorweggenommen, und Krafft-Ebings Psychopathia sexualis ließe sich durch zahlreiche Beispiele und Variationen des Liebeslebens wesentlich ergänzen. Man hört den Schalk sprechen und den Dichter, den Narren und den Weisen. In diesen Märchen wird das Kind immer beim rechten Namen genannt, und vielen Worten, die in unserer prüden Zeit ihre Druckfähigkeit eingebüßt haben, begegnet man hier, ohne zu erröten. Alles bleibt naiv. Nichts ist gemein; alles ist köstlich und schlicht. Alles ist lebhaft, im Innersten reich, lebenssaftig. Nichts ist langweilig oder matt. Ganz bewußt werden Wiederholungen vermieden mit der einfachen Wendung: »Zweimal erzählen, hieße den Leser langweilen.« Und welch eine Galerie von Geistern und Menschen, Tieren, Pflanzen und Steinen!

Und wenn – um auch über das Technische ein Wort zu sagen, das freilich noch sehr primitiv ist – Scheherazade in manchen Nächten sehr viel, in anderen sehr wenig erzählt, so denke ich mir, daß der Kalif Schahryar, der ihr zuhörte, in solchen Nächten von der Erzählerin mehr entzückt war, als von der Erzählung, und daß er ihr mit einem Kuß den Mund schloß. Er hat seine Favoritin keusch, rein, edel und fromm befunden. Und wenn sie endlich nach der tausendundersten Nacht ihren Märchenschatz völlig ausgebeutet sieht, schließt nicht der Henker ihr den Mund, wie ihr angedroht war, sondern der Hochzeitskuß, und sie ist inzwischen Mutter geworden dreier herrlicher Knaben. Sie hat sich schlauerweise der Rahmenerzählung bedient, wo eine Geschichte stets eine neue heranlockt, mit der knappen Wendung: »Und doch ist diese Geschichte bei weitem nicht so wunderbar wie die andere, die ich noch weiß.« Düster und menschenfeindlich hebt es an, und mit brausendem Jubel und einer Doppeltrauung findet es sein Ende. Beendet sind die Enthauptungen all der Frauen, die dem Rachedurst des misogyn gewordenen Kalifen zum Opfer fielen. Und wer weiß, ob die kluge Scheherazade sich nicht als bewußte Vorkämpferin ihres Geschlechts zu Schahryar begab! Denn sie erteilt ihm in feinster Form manche bittere Lehre, und sie scheut vor keiner Anzüglichkeit zurück, um das barbarische Treiben des Kalifen zu treffen, obwohl sie in keiner Nacht vergißt, daß auch über ihrem Haupte das drohende Schwert hängt. Es ist ein bewunderungswürdiges Stück, das man ganz nebenher genießt, zu sehen, wie diese mutige Frau sich in die Höhle des wildgewordenen, blutgierigen Löwen begibt, um ihn zu bändigen. Denn sie kann vorher noch nicht wissen, ob es ihr auch gelingen wird, ihn zu zähmen.

Zeigt mir die trockene, dürre Seele, die keinen Genuß empfindet bei diesen Geschichten, die sich sogar die mächtigen Geister, die Ifriten und Dschinni, erzählen lassen, um sich beim Zuhören »vor Vergnügen zu schütteln«!

Tausendundein Tag, obzwar es nur eine spätere Nachbildung von Tausendundeiner Nacht ist, darf als ein wertvolles Gegenstück zu seinem großen Vorbilde betrachtet werden. Es ist Torso geblieben, ist minder reich an äußeren Geschehnissen und Wundern, aber sein Humor und seine Farbenpracht sind ebenbürtig. In diesem kleineren Märchenlande (Paul Ernst hat vier Bände herausgegeben und eingeleitet) verliert man sich nicht so im Gestrüpp durcheinandergewachsener Geschichten; man findet sich vielmehr leicht zurecht und wird starke Eindrücke auf dieser Wanderung empfangen. Was die orientalischen Erzähler, die in diesem Werk ihre Künste entfalten, vielleicht an Naivität und Ursprünglichkeit eingebüßt haben, ersetzen sie durch einen uns unbekannten Witz und durch eine geschicktere Beherrschung ihrer Fabeln. Welch ein Erfindungsgeist! Und wie fließt das alles ohne Gewaltsamkeiten und ohne Erpressungen aus einer übersatten Phantasie! Welch eine Lust an der Buntheit der dichterischen Lüge! Welch eine Freude am Weben dieser schillernden Luftgebilde mit den seltsamen Ornamenten! In Tausendundeiner Nacht war der Orient in seiner ganz großartigen Primitivität wie ein blendendes Prachtfeuerwerk vor uns aufgestiegen. In Tausendundeinem Tag ist es der Orient, der schon mit der westlichen Kultur in Berührung gekommen ist. Und nun ist es interessant zu sehen, wie die morgenländische Phantasie zuweilen mit dem abendländischen Verstande ringt und wie immer wieder das Echte und Ursprüngliche siegt; wie die angeborene Lust, die sonderbarsten Wechselfälle des Schicksals mit glühenden Farben auszumalen, immer wieder durchbricht; wie der echt dichterische Hang nach dem Unwahrscheinlichen die armselige Wirklichkeitsschilderung tötet und wie das Verlangen, die Einöde des Alltags mit Wundern zu umspinnen, immer wieder erwacht. Die innige Sehnsucht nach dem Wunder, der starke Glaube an das Übernatürliche und das sichere Bewußtsein, daß Allah seine Knechte aus allen Nöten und Kümmernissen befreit, das gibt diesen Geschichten den sieghaft freudigen Ton, der ansteckt und gesund macht. Was liegt mir im Grunde daran, wenn mein Schiff mitten im Meere scheitert und ein Hai auf mich zuschwimmt oder wenn ich, der ich nur ein armer Bettelknabe bin, eben enthauptet werden soll. Mag der Hai mich verschlucken und der Scherif immerhin sein Schwert über mir schwingen – Allah ist mein Freund, wir stehen gut miteinander, er wird mich schon retten. Ich kann warten. Und in der Tat wird der Hai gefangen und aufgeschlitzt, und ich erblicke wieder das Licht der Welt oder den Arm des Scherifs hält eine Prinzessin auf, schöner als der volle Mond, dieselbe, die ich mein Leben lang gesucht und um derentwillen ich die ganze Welt durchpilgert und tausend schlimme Abenteuer bestanden habe. Noch mehr. Ich bin ja nur auf das Schiff gegangen, weil ich auszog, einen seltenen Edelstein zu suchen, ohne den ich die Prinzessin nie gewinnen kann. Dieser Edelstein liegt auf dem Grunde des Meeres – wie sollte ich ihn finden? War mir vom König eine solche Aufgabe gestellt, so war das ja nichts als eine feine Form der Verhöhnung und der Ablehnung meines Heiratsantrages. Oh, aber ich liebe die Prinzessin mehr als mein Leben. Allah weiß es; er duldet nicht, daß ein Bettler verlacht werde und er ist mit mir. »Liebst du sie so sehr,« sagt Allah, »so sollst du um ihretwillen erst tausend Fährnisse erdulden und dem Tod ins Antlitz schauen.« Es ist ganz in der Ordnung, daß ein Bettelknabe nicht so leicht eine Prinzessin gewinnt. Darum eben muß das Schiff scheitern; darum muß der Hai mich verschlingen; aber der Lohn bleibt nicht aus. Denn im Magen des Hai finde ich den gesuchten Edelstein. Kann etwas natürlicher zugehen? Ich bringe diesen Edelstein an den Hof. Aber da ich trotzdem ein armer Teufel bin, will man mich enthaupten lassen. Was tut's? Allah ist mit mir. Und noch einmal stehe ich dem Tode Aug' in Auge gegenüber. Keine Rettung? Doch! Allah hat in das Herz der Prinzessin die Liebe zu mir gepflanzt. Und nun wird sie meine Frau, was ganz selbstverständlich ist. Noch mehr. Ihr Vater stirbt jetzt, und ich bekomme sein Königreich, und wir leben glücklich bis an das Ende unserer Tage.

Ich habe keine Geschichte aus Tausendundeinem Tag erzählt; ich habe nur an einer rasch konstruierten Fabel zeigen wollen, wie diese Dichter, für die das Wunder Salz und Würze der Erzählung ist, diese Wunder doch wieder auf ganz natürliche Weise zu erklären bemüht sind. Alles geht von Allah aus und endet wieder in ihm. Es ist ein und derselbe Kreis, der alle Existenzen einschließt. In dieser Schöpfung ist alles notwendig und alles an seinem Platze. Der Floh sticht den armen schlafenden Hassan in demselben Augenblick wach, wo er gefangen werden soll. Nun Hassan wach ist, hat er Zeit zu fliehen und Allah zu danken, daß er ihm den Floh geschickt hat. Wenn Allah mich in eine Grube fallen läßt, in der eine Riesenschlange gefangen ist, hat es seinen guten Grund. Dieser Schlange rette ich das Leben, ich klettere aus der Grube und gehe meines Weges. Nach Jahr und Tag werde ich einmal während einer Wanderung müde und schlafe ein. Ein Tiger überfällt mich – und siehe, da ist die Schlange und tötet den Tiger.

Und in dieser labyrinthartigen Weise geht es weiter, amüsant, witzig, belehrend und keinen Augenblick ermüdend.


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