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Autorität

Was ist Autorität? Wie kommt es, daß dem einen mehr geglaubt und besser gehorcht wird als einem anderen? Offenbar: weil derjenige, dem gehorcht wird, die größte Autorität hat, und weil seine Autorität sich auf Macht stützt. Wo aber keine gebietende Macht ist, müssen sich alle Begriffe der Disziplin auflösen, denn alle Disziplin beruht auf der autoritativen Macht. Diese Macht kann sich auf Gott berufen (der Kaiser, der Papst), auf ein Heer (der Heerführer), auf ein Volk (der Präsident), auf künstlerische oder wissenschaftliche Erfolge (Auszeichnungen, Preise) usw.

Autorität setzt natürlich Glauben voraus. Er ist das wesentlichste Element der Autorität; denn alle Autorität läßt sich im Grunde auf Glaubensfragen zurückführen. Der gläubige Katholik erkennt den Papst als Autorität an, die in dem Augenblick schwindet, wo des Gläubigen Vernunft in des Papstes Unfehlbarkeit Zweifel setzt, die sich bei genauer Prüfung als berechtigt herausstellen. Der Kritiker ist für den Künstler so lange Autorität, solange der Kritiker Lob und Tadel zu analysieren und zu begründen vermag. Der Theaterdirektor ist so lange Autorität, solange die Schauspieler einsehen, daß der Direktor ihnen in bezug auf das Verständnis und die Auslegung eines Stückes, in bezug auf Regie usw. überlegen ist und in der Beurteilung der einzelnen darstellerischen Fähigkeiten gerecht ist. Der Arzt ist für den Kranken so lange Autorität, solange der Patient an die Unfehlbarkeit ärztlichen Wissens glaubt. Anhaltende Niederlagen müssen selbst den tüchtigsten Feldherrn um alle Autorität bringen, d. h., der Glaube an ihn schwindet, und die Disziplinlosigkeit des Heeres ist dann die natürliche Folge. Das Volk erkennt seinen Kaiser so lange als Autorität an, solange sein Tun und Handeln sich mit der Vorstellung deckt, die das Volk von einem Kaiser hat.

Nun ist die Regierung eines Landes freilich ein viel zu komplizierter Apparat, als daß man in dem Falle die Autorität einem Einzelnen zuschreiben könnte. Nicht der Kaiser ist eigentlich Autorität, sondern seine Minister; nicht die Minister, sondern deren Räte, so daß sich die Autorität eines Regenten eigentlich aus einer großen Summe von Fachautoritäten zusammensetzt. Der Regierungsfachmann für Bergbau oder Eisenbahnwesen braucht nicht das mindeste von Viehzucht oder Gesundheitswesen zu verstehen. Will die Regierung als höchste Staatsautorität beispielsweise hygienische Maßnahmen treffen, so wird sie Rubner zu Rate ziehen, weil er im deutschen Staatsorganismus die größte wissenschaftliche Autorität auf dem Gebiete der Hygiene darstellt, und sie wird sich ausschließlich an Rubner, nicht aber etwa an Fischer wenden, der seinerseits wieder die größte Autorität auf dem Gebiete der Chemie ist und nicht das geringste von Hygiene zu verstehen braucht. Somit ergeben sich für die höchste Regierungs-Autorität eine reiche Fülle von Autoritäten auf Einzelgebieten, vor denen die Regierungs-Autorität sich beugen muß und ohne die der Präsident nicht bestehen kann.

Diese Fülle der Autoritäten auf allen Einzelgebieten hebt die Autorität des Staates oder seines Vertreters, des Präsidenten, aber nicht auf, wie man annehmen möchte, sondern stützt sie nur. Der Chefredakteur kann in seiner Zeitung nur die Richtlinien angeben, die von seinem Redaktionsstab eingehalten werden sollen. Der Theaterleiter hat seine Dramaturgen und Spielleiter, seine künstlerischen und technischen Berater, die ihrerseits auf ihren Gebieten wiederum autoritativ sein müssen, um die Autoritätsfülle des Direktors zu mehren und zu stützen.

Die Fragen tauchen auf: Wie entsteht Autorität? Wie wirkt Autorität? Worauf beruht sie?

Autorität entsteht durch aktive und positive Tatsachen: durch Beweise von Mut (im Kriege), durch Erfolg (der siegreiche Heerführer, der erfolgreiche Arzt), durch Macht (Wissen, Geld), durch Kraft, Glück (der Unternehmer), Erfahrung (der Beamte), Stellung, Ruf, Alter (der Alterspräsident, der Gemeindeälteste). Oder durch passive und negative Tatsachen: der zwanzigjährige Soldat, der in Schlachten verwundet wurde, ist Autorität gegenüber dem vierzigjährigen Manne, der zum erstenmal im Feuer steht; der Operierte ist Autorität dem gegenüber, der die Operation noch vor sich hat; der durchgefallene Examinand ist Autorität gegenüber dem ungeprüften Doktorandus; der zwölfjährige Tertianer, der seinen Caesar kennt, weiß von Verfassungsfragen mehr als der sechzigjährige Bauer; für das keusche Mädchen von vierzig Jahren ist die Frau von zwanzig Jahren in Liebessachen Autorität. Gegenüber der Ohnmacht, den Zweifeln, der Ignoranz besitzen diejenigen Autorität, die alle diese Stadien hinter sich haben. Autorität kann vererbt werden (Thronfolge, Geschäftsübertragung von Vater auf Sohn) und wächst nach dem Gesetz physikalischer Kraft. Der Rekrut gehorcht dem Unteroffizier, dieser dem Feldwebel usw., folglich gehorcht der Rekrut dem Oberst um so viel mehr, als dieser über dem Unteroffizier steht. Der Schauspieler folgt den Weisungen des Regisseurs, der Regisseur dem Wunsche des Direktors und dieser seinen Aufsichtsräten. Das Kind gehorcht der Erzieherin, diese den Eltern, folglich sind die Eltern für das Kind erst recht Autorität usw. Denn man muß dem Vater erst recht gehorchen, wenn ihm diejenige gehorcht, der man selbst bereits gehorcht.

Autorität haftet allen Symbolen an, sofern sie eine Macht versinnbildlichen (Krone, Zepter, Orden, Geßlers Hut, Doktorhut), deshalb ist es im Grunde gleichgültig, ob ein Kind oder ein Greis auf dem Throne sitzt, da nicht dem Kind oder dem Greis in Person die Autorität anhaftet.

Autorität wird durch Objektivität erreicht und durch Repräsentation. Durch Objektivität als eine Art Interesselosigkeit oder Indifferenz: der Richter, dessen Urteil man sich unterwirft, weil er kein Interesse daran hat, welche der beiden Parteien gewinnt, so daß er also objektiv sein kann; der Präsident, der über den politisch-antagonistischen Parteien steht. Durch Repräsentation: jemand kann kraft seines überragenden Geistes oder seiner Geldmittel oder dank seiner bloßen äußeren Erscheinung ein Wissensgebiet, einen Fabrikbetrieb repräsentieren.

Autorität wächst nach drei Gesetzen:

1. Im Verhältnis zum Abstande von Macht und Ohnmacht, Erfolg und Niederlage, Wissen und Unwissenheit, Kunst und Dilettantismus usw.

2. Nach dem Gesetz des Ineinanderwirkens von Autoritäten.

3. Nach den mystischen Kräften des Wunders: der König ist von Gottes Gnaden (Louis XIV.); der Papst ist Gottes Stellvertreter auf Erden; der Feldherr hat Amulette (Wallenstein) oder seinen Stern (Napoleon); der Arzt vollbringt Wunder (Paracelsus); der Gelehrte steht mit bösen Geistern im Bunde (Faust); der Dichter folgt höheren Eingebungen (Goethe, Heine).

Die drei Kräfte der Autorität heißen Distanz, Suggestion und Glaube, wobei es gleichgültig ist, ob man an Gott glaubt oder an das Gesetz oder an Mysterien. In jedem Falle setzt der Glaube eine Überwältigung des Geistes voraus, gleichviel ob der Lehrer, der Pfarrer oder der Richter Autorität ist. Autorität ist mit einem Worte alles, was herrscht und dominiert. Viele Menschen lassen sich durch ihren Kopf beherrschen, andere durch ihr Herz, wieder andere durch ihren Magen, noch andere durch andere Organe. Daher der volkstümliche Ausdruck für einen Menschen, der etwa von seinem Sexus oder anderen Trieben beherrscht wird: er habe den Kopf verloren. Immer kann nur eines oder einer herrschen: einer ist Herr, einer ist Knecht.

Herrscher sind diejenigen, die keiner wesentlichen Erscheinung des Lebens gegenüber indifferent bleiben und ihren eigenen Willen denen vorschreiben, die den wesentlichen Erscheinungen des Lebens gegenüber passiv bleiben und sogar die Herrschaft eines fremden Willens herbeisehnen. Beide Gruppen zu meiden ist das höchste Ziel des Buddhisten: frei von allem Willen zu sein; frei von dem Willen zu herrschen und frei von der Sehnsucht beherrscht zu sein.

Umsturz und Tyrannenbeseitigung sind stets die Reaktionen gegenüber einer lästig gewordenen oder bankrotten Autorität. Wenn ein Volk den fremden Willen abschüttelt, entstehen Revolutionen; sie sind nichts anderes als Auflehnung des bisher passiven Volksteiles gegen eine Autorität, der sich dieses Volk entwachsen fühlt (Väter und Söhne). Für das breite Volksempfinden ist Tyrannei nichts anderes als Pedanterie in der Anwendung der Autorität. Die geistlose Pedanterie, der Bureaukratismus ist es, der die Regierung zu allen Zeiten unbeliebt gemacht hat.

Ein Volk, das der qualifizierten Autorität Nichtachtung entgegenbringt, leidet an einem sittlichen Defekt, sagt Feuchtersleben; Überschätzung der Autorität oder Duldung einer desqualifizierten Autorität weist auf einen intellektuellen Defekt hin und auf Mangel an Reife.

Der Wert der einzelnen Autoritäten kann an sich natürlich sehr verschieden sein. Autorität kann Vorteile oder Nachteile bringen, Segen oder Fluch, Förderung oder Hemmung – mit dem Wesen der Autorität hat dies nichts zu tun. Dem einen ist Shakespeare Autorität, dem anderen Schiller, dem einen Marc Aurel, dem anderen Nero. Dies gehört bereits in das Gebiet der Glücks- oder Unglücksfälle, denen die einzelnen Völker ausgesetzt sind. Übrigens hat jede Autorität ihren Höhepunkt und ihren Niedergang. Denn eine Autorität, der man sich ebenbürtig fühlt, ist keine Autorität mehr; ebenso wie ein Glaube, den man überwunden hat, sein Mysterium für uns verloren hat. Es liegt in der Natur der Autorität, daß sie eines Tages überwunden werden kann, und es ist das Zeichen geistigen Wachstums, wenn das Volk seine Autoritäten stürzt. Wer seine Götter als Götzen erkannt hat, muß sie zertrümmern. Wie alles auf Erden ist auch die Autorität vergänglich. Allem Aufblühen folgt naturnotwendigerweise das Verwelken. Sterne, die aufgehen, verlöschen auch wieder. Tag muß Nacht werden, Frühling will Herbst werden, Leben wandelt sich in Tod.


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