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Über die Liebe

Es ist nicht gesagt, daß Goethe, Stendhal, Balzac, Multatuli und andere, die besondere Bücher über die Liebe geschrieben haben, erotischere Naturen waren als andere Dichter; sie haben nur intensiver und leidenschaftlicher eine Empfindung durchdacht, die in ihrem Gemütsleben eine bedeutende, ja fast die größte Rolle spielte. Sie haben ihre seelischen Erlebnisse nicht allein in dichterische Symbole gekleidet, sondern eine Philosophie über ihre Gefühle geschrieben, die von höchstem allgemeinen Werte ist. Ottiliens Tagebuch in den »Wahlverwandtschaften« hat eigentlich nichts mit der Erzählung selbst zu tun. Es ist ein aphoristisches Werk über die Liebe, das Goethes persönlichste Überzeugungen wiedergibt; die Überzeugungen eines Menschen, der alles Empfundene zur Idee erhöht und der sein Gefühlsleben in aphoristische Gedanken faßt – mit anderen Worten: sich und sein Gefühlsleben selbst zu kristallisieren sucht.

Vielleicht zog ihn Stendhal deshalb so sehr an, weil Goethe auch ihn bestrebt sah, aus Erfahrungen und Erlebnissen, Studien und Erkenntnissen das Wesentliche zu gewinnen und es auf eine allgemeine Formel zu bringen. Als Mensch des 18. Jahrhunderts, an dessen Welt und Gedanken er gekettet war, hatte Stendhal sich von der neueren literarischen Produktion abgestoßen gefühlt, bildete sich ein, daß man nicht von seiner Feder leben könne, tat auch gar nichts dafür und betrachtete daher die Literatur wie eine Erholung, ein geistiges Vergnügen, und nicht wie einen Beruf. Seine Zeitgenossen schilderten ihn als weit stolzer auf seine Beamtenstellung als auf seinen Schriftstellertitel. Man erzählt, als die Juliregierung ihn auszeichnete, hielt er darauf, daß dieser Orden dem Konsul und nicht dem Romanschriftsteller gelte. Er war – wie man sieht – nur Schriftsteller aus Liebhaberei und zeigte gegen die Kunst eine unglaubliche Geringschätzung, so daß seine Werke nur Anhängsel seines Lebens zu sein scheinen. »Ich war so unverschämt« – sagt er – »den eleganten Stil zu verachten.« Er tut sich tatsächlich etwas darauf zugute, ohne Einbildung zu sein, keine malerischen Beiwörter zu verwenden und sich weder der Rhetorik noch der Phantasie zu überlassen. Da er noch völlig in den Traditionen des 18. Jahrhunderts wurzelte, macht er sich lustig über die neue Sprache mit all ihren Albernheiten und ihrer Flut von Beiwörtern, die er für unnütz hielt, mit ihren Verzierungen und Ausschmückungen, durch welche die alte französische Sprache nur ihre Klarheit und Lebendigkeit verloren hatte.

Er war der am wenigsten gelesene und am meisten bewunderte Schriftsteller. Man verkannte ihn, man mißtraute ihm und fürchtete beständig eine Mystifikation bei diesem merkwürdig gearteten Geiste, der immer die Menge zu täuschen schien. Seine Schriften schwieg man tot oder pries sie über die Maßen. Daß Heine Stendhals Buch »Über die Liebe« als Quelle benutzte, aus der er den »Asra« und andere Motive schöpfte, ist hinlänglich bekannt. Nietzsche gar, der ein starkes Gefühl von der Größe Stendhals hatte, und dem ja letzterdings auch die Wiedererweckung Stendhals zu danken ist, nennt diesen »das letzte große Ereignis des französischen Geistes, dem auch jeder billig denkende Ausländer die ersten Ehren geben muß«. Er ist für Nietzsche ein »erkennendes, vorwegnehmendes Genie, das mit einem napoleonischen Tempo durch ein unentdecktes Europa marschiert«. Wer mit feinen Sinnen begabt ist, neugierig bis zum Zynismus, Logiker aus Ekel, Rätselrater und Freund der Sphinx, der wird Stendhal nachgehen müssen, meint Nietzsche.

Hat es doch zweier Geschlechter bedurft, um ihm überhaupt nahe zu kommen, diesem durchdringenden Geist, der sich von allen Vorurteilen befreit hat; diesem Skeptiker, den seine Überlegenheit zuweilen ironisch macht, und der nicht nur über andere, sondern sogar über sich selber spottet. »Ich rate aller Welt und selbst mir, mißtrauisch gegen mich zu sein«, sagt er irgendwo – ein Satz, der sich dem Sinne nach bei Multatuli wiederfindet. Einen Namen freilich gibt es, vor dem dieser Zyniker, dieser trockene Witzbold, dieser vorurteilslose Moralist, dieser von keinem Enthusiasmus befallene Schriftsteller zittert und sich beugt: Napoleon. In allen seinen Werken klingt der Name mit, und vornehmlich das Buch »Über die Liebe« verdankt viele seiner Anekdoten den napoleonischen Feldzügen.

Das Buch »Über die Liebe« entsprang der besten Laune, gedieh unter der Sonne der Liebe und atmet ganz die italienische Liebesauffassung. Es schildert den »Blitzschlag« der Leidenschaft, der zwei Seelen im Augenblick vereint, jenen »Wahnsinn der Liebe, der den Menschen den größten irdischen Genuß verspricht«. Es enthält zum Teil ganz subjektive psychologische Erklärungen der Liebe auf Grund eigener Lebenserfahrungen und Beobachtungen, aber auch objektive Erläuterungen an der Hand historischer und völkerpsychologischer Tatsachen.

Als das Buch erschien, war es dem Publikum offenbar heilig, denn niemand rührte es an; in einem Zeitraume von elf Jahren wurden 17 Exemplare verkauft.

Es ist ein galantes, aber männliches Buch und offenbart die volle Kraft des Stendhalschen Geistes mit seinen Sprüngen und Abwegen, seinem Genie und seiner Feinheit, seinen Spitzfindigkeiten und Übertreibungen, seiner Abgerissenheit und seinen Widersprüchen. Trotz seiner schroffen Urteile und seiner absichtlichen Immoralität überrascht es uns, daß der Schüler eines Cabanis in der Liebe etwas anderes erblickt als allein den Sinnengenuß. Und wenn uns sogar Paul Heyse versichert, daß es sich hier nicht um ein frivoles, gegen die Sittlichkeit sich auflehnendes Produkt handelt, sondern um eine sehr ernste psychologische und kulturhistorische Studie, kann man sie – meine ich – auch den prüdesten Seelen zur Anstachelung und Erweckung empfehlen. Werden doch in diesem Buche, das ausschließlich von der Liebe handelt, die lebendigen Folgen der himmlischen Leidenschaft auch nicht mit einer Silbe erwähnt. Daß die Liebe – um physiologisch zu reden – vor allem doch dem Fortpflanzungstrieb entspringt, das ignoriert Stendhal vollständig. Dagegen wird der Prüde bei den Ansichten Stendhals über Moral, die er Heuchelei und Erfindung der Frömmler nennt, wohl stutzen. Die Ehe ist ihm ein Hinderungsgrund der Liebe, und mit einem gewissen Zynismus zitiert er jene, nach modernen Begriffen wenig moralischen Sprüche altprovençalischer Minnegerichte, die zum Schutz der freien Liebe ziemlich laxe Ehegesetze aufgestellt hatten. Aber trotzdem hat niemand vor Stendhal die Liebe mit mehr Wahrheit gemalt. Sein System der Liebe ist allerdings ebenso verwickelt wie genial. Es würde zu weit führen, allen Arten von Liebe, die er unter die vier Hauptarten: Liebe aus Leidenschaft, Liebe aus Galanterie, Liebe aus Sinnlichkeit und Liebe aus Eitelkeit klassifiziert hat, auch nur zu nennen. Wenn er sich nicht in dieses System verliert, dann bringt er Dokumente bei, die großen Wahrheiten ähnlich sehen. Aber dies muß hervorgehoben werden: Stendhal scheint immer historische Porträts zu verwenden; er hat weder den modernen Mann noch die moderne Frau gekannt. In seinen Romanen ist er zuweilen zusammenhanglos und hie und da auch affektiert; aber daraus schließen, daß sie abscheulich sind – wie St. Beuve tat – ohne tiefere Gründe beizubringen, ohne gründlich einzudringen, das heißt ins Blaue hinein verurteilen, ja es heißt hinmorden, da wir nicht einmal die Motive der Verurteilung kennenlernen. Zollt doch Goethe selbst dem Roman »Rot und Schwarz« im Gespräch mit Eckermann (17./1. 1831) großes Lob. »Wir sprachen über ›Rouge et Noir‹, doch kann ich nicht leugnen, daß einige seiner Frauencharaktere ein wenig zu romantisch sind. Indessen zeugen sie alle von großer Beobachtung und psychologischem Tiefblick, so daß man dem Autor einige Unwahrheiten gern verzeihen mag.«

In der Tat: niemand hat in solchem Grade den Mechanismus der Seele gekannt, die von Liebe erfüllt ist. Niemals ist die Liebe mit ihren Lügen und ihren Anwandlungen von Edelmut, mit ihren Verzweiflungen und ihren Entzückungen gründlicher analysiert worden. Ein Buch vielleicht ausgenommen: Balzacs » Psychologie der Ehe«. Für Stendhal habe ich eine hohe, doch etwas kühle Bewunderung. Balzac dagegen packt mich gewaltig. Schon deshalb, weil ich mich bei ihm nicht immer im rein Geistigen befinde wie bei Stendhal. Auch ist Balzac der ungleich modernere.

Nie ist ein Schriftsteller mehr verleumdet, mehr angespien worden. Der Neuerer erschreckte anfangs. Er stützte sich auf keine mächtige Kameradschaft der literarischen Welt. Unter Hohngelächter ist er groß geworden. Wenn man die Artikel jener Zeit über ihn liest, über ihn, den Taine nur mit Shakespeare vergleicht, so bleibt man verdutzt über so viel zeitgenössische Dummheit. Gleicherweise wie Stendhal begegnete man auch ihm mit Mißtrauen. Er hat es unternommen, das Leben seiner Zeit zum Gegenstand seiner Romane, die Darstellung der Comédie humaine zum Endziel seiner Kunst zu machen. Er durchschaute die Gesellschaft bis in ihre geheimsten Tiefen; er kannte alle ihre Schliche und war nicht imstande, seine Verachtung zu bemänteln oder zu unterdrücken. Er schilderte die Welt in ihrem nackten Egoismus, in ihrer Genußsucht, ihrer Blasiertheit. Mit ihm beginnt die eigentliche realistisch-naturalistische Literatur des 19. Jahrhunderts, und zu seinen Schülern zählen ebenso Daudet wie Zola, Turgenjeff wie Dostojewski, kurz, alle schöpferischen bedeutsamen Geister, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat.

1829 veröffentlichte er die »Physiologie der Ehe«, jenes wunderliche Gemisch von tiefen Gedanken, zynischen Einfällen und geistreichen Analysen, das ihm später den Vorwurf der Frivolität zuzog. Als Kenner des Frauenherzens, als der er sich hier offenbarte, ist nur Stendhal ihm ebenbürtig. Nichts ist ihm verborgen. Er übertreibt allerdings zuweilen, und seine Bilder haben oft etwas von der peinlichen Ausführlichkeit und Genauigkeit der Dürerschen Gemälde. Das ist – wenn man will – ein künstlerischer Fehler; aber der Literatur seiner Zeit entgegengehalten, in der an Marmorstirnen, Lilienwangen, Rosenlippen, Schwanenhälsen und Alabasterbusen kein Mangel war, ragt er hervor wie ein gotischer Turm unter niedrigen Wohnungen.

Die Liebe ist für ihn die Poesie der Sinne. Sie teilt das Los alles dessen, was beim Menschen groß ist und aus seinen Gedanken entspringt. Sie ist entweder erhaben, oder sie ist nicht vorhanden. Wenn sie da ist, ist sie für ewig da und nimmt stets zu.

Wie Stendhal hat auch Balzac lange dürre Strecken. Es mangelte ihm beständig an Zeit, um einen Stoff lange mit sich herumzutragen, auszuarbeiten und an ihm zu feilen. Deshalb fehlt allen seinen Werken die Harmonie des Baues und eine strenge Symmetrie. Zwischen seinen Gedanken und der Form, in der er sie wiedergibt, besteht eine weite Kluft. Von schönen Wendungen, stilistischen Kunstgriffen, fließender Sprache, rhetorischen Perioden findet sich bei ihm ebensowenig eine Spur wie bei Stendhal. Aber man vergißt bei ihm über dem Stoff die Form und den Stil, jenen Stil, von dem St. Beuve sagte, »qui ressemble souvent au mouvement brisé d'une orgie, à la danse continuelle et énervée d'un prêtre de Cybèle«.

Zwei Bücher von Weltruf müssen in diesem Zusammenhang genannt werden. Das eine ist »Lucinde«, das einst verfehmte und freche hohe Lied der Liebe von Friedrich Schlegel; das andere die »Vertrauten Briefe« Schleiermachers über eben diese Lucinde.

Zum Lobe oder Tadel dieser literarhistorischen Dokumente ist nichts mehr hinzuzufügen oder wegzunehmen. Der Leser begreift nicht mehr ganz, wodurch die »Lucinde« so viel Staub aufzuwirbeln vermochte; denn während des verflossenen Säkulums ist wahrlich eine Legion ungleich frecherer und wirklich unzüchtiger Bücher mit literarischen Prätentionen aufgetreten. In dieser Beziehung sind ja schon unsere Backfische blasiert. Und dabei denke ich durchaus nicht etwa an rein pornographische Erzeugnisse. Aber das Problem der Liebe, das Schlegel in seiner Lucinde mit einem für seine Zeit unerhörten Wagemut aufgerollt hat, ist seitdem in den Literaturen aller Länder von tausend und abertausend Dichtern analysiert worden, entschieden kühner, feiner und tiefer. Diese Lucinde würde vielleicht einen stärkeren Eindruck auf uns gemacht haben, wenn wir nicht seit Jahrzehnten daran gewöhnt worden wären, über das Menschlichste und Äußerste in der Liebe, die sehr freie, sehr offene Meinung jedes Abc-Schützen zu hören. Nur wenn man die historische Distanz nicht verliert und bei der Lektüre stets im zügellosen Geist der Romantik zu denken vermag, hat man Freude an diesem liebestrunkenen Opus, das Schleiermacher auf 163 Druckseiten in einem Atemzuge lobt, ja mehr als lobt. Ich weiß nicht, ob je ein Gottgelehrter so viel Schönheit, so viel Keuschheit, so viel Tiefe und Wahrheit in der ganzen Bibel finden wird, wie Schleiermacher in eben dieser Lucinde fand. Und – gesteh ich's nur – seine Kritik dieses Buches in Briefform ist ein weit bedeutenderes und feineres Werk als die »Lucinde«, die es veranlaßt hat.

Ich würde es nicht schmerzlich empfinden, wenn wir die Lucinde nicht hätten, aber daß wir Schleiermachers Briefe darüber besitzen, ist ein wirklicher Gewinn. Zur Psychologie der Liebe bringt es so unendlich viel schöne, freimütige und gesunde Anschauungen bei, daß selbst derjenige, der Balzacs und Stendhals klassische Werke über die Liebe kennt, Schleiermachers Büchlein noch mit großem Genuß in sich aufnehmen wird. Man sollte dies entzückende Buch jedem Brautpaar verehren und allen Menschen, »die reif zur Liebe werden«.

Multatuli gehört mit in diesen Kreis. Über seine »Liebesbriefe« schreibt er seiner Frau: »Das Publikum erwartet einen Skandal im gewöhnlichen Sinne. Sage vor allem nicht, daß das Mädchen, mit dem ich buhle, meine Phantasie ist. Das bleibt das Geheimnis der Denker. Ich will, daß man meine Liebeslieder und Briefe anfänglich verkehrt versteht, ich will, daß man sagt: Ach, die arme Frau!«

Diese Liebesbriefe sind keiner anderen Liebeskorrespondenz vergleichbar. Sie sind voller Poesie, Sarkasmus, Politik, Wollust, Schärfe, Logik, Religion. Sie sind mehr ein Spiegel von Multatulis Gemüt, als eine Probe seines schriftstellerischen Genies. Es ist ein Seelendrama in Briefen. Er schrieb die Minnebriefe, dieses Zeugnis einer leidenschaftlichen und hohen Seele, in erbärmlichster Lage.

Es ist keine Dichtung im eigentlichen Sinne, sondern eine Mischung von Poesie und Wirklichkeit, von Machtlosigkeit, Armut und Schwäche mit überirdischer Erhebung und Kraft, von zarter Einsicht und irrem Sinn. Das Buch ist der elementare Ausbruch verhaltenen Feuers. Eine ungeheuere Sammlung von Erfahrungen, von Ausgrabungen aus der menschlichen Seele, die von Liebe ergriffen ist, findet man hier aufgespeichert. Der Stil des hohen Liedes wechselt mit derben Naturalismen ab; das packt uns und reißt uns hin. Aber dies Buch – wie alles, was Multatuli geschrieben – würde uns noch weit mehr ergreifen, wenn man nicht beständig von einer Stilart in die andere und folglich von einer Stimmung in die andere gerissen würde.

Für uns alle, die wir mehr oder weniger auf Stil etwas halten, ist diese laxe Komposition und dieser ungleichmäßige Stil Multatulis eine große Qual. Ich habe Multatuli nie lesen können, ohne von Zweifeln über die Form erfaßt zu werden. Ist die Wahrheit auf Multatulis Seite, der eine absolute Geringschätzung gegen stilistische und kompositionelle Geschlossenheit besitzt? Oder ist sie auf seiten der Kunstgestrengen, die in einem Kunstwerk eine gewisse Symmetrie und Abrundung nicht vermissen wollen? Ich weiß wohl, Viele, die über ihn geschrieben haben, gehen stillschweigend über diese Fragen hinweg. Andere haben es ihm zum Lobe angerechnet, daß er sich nicht bei den nichtigen Kleinigkeiten der Kunst aufhält und daß er kein Künstler ist. Man hat seine stilistischen Manieren zuweilen auch mit Jean Paul verglichen, ohne aber zu beachten, daß dem Stile Jean Pauls eine große Gesetzmäßigkeit zugrunde liegt, während Multatulis schriftstellerisches Gesetz Willkür heißt. Deshalb sind die nicht ganz im Unrecht, die glauben, Werke, die so wenig innere Form und Straffheit aufweisen, werden sich in der Bewunderung der Menschen nicht dauernd erhalten. Da es einmal eine Kunst der Komposition gibt – eine Kunst, deren Gesetze unsere Meister doch aufs höchste achten – geht es nicht an, sie einfach zu ignorieren, so sehr das auch den Anstrich von Überlegenheit gibt. Wir verlangen mehr Methode, mehr Anordnung, mehr Durchdachtheit irgendwelcher Art. Multatuli, dieser Logiker der Ideen, ist kein Logiker der Komposition und des Stils. Sein Stil durchläuft geradezu alle möglichen Kreuz- und Quergänge. Das ist seine Schwäche, sein Fehler, der ihn verkleinert. Aber in seiner Seelenkenntnis ist er ein Verwandter Stendhals und Balzacs; er ist ein Psychologe ersten Ranges, der mit einer ungewöhnlichen Klarheit das Netz von Ideen im Kopfe einer Person entwirrt. Hierin sind sie sich alle drei verwandt: in ihrer absoluten Rechtschaffenheit. Der eine (Stendhal) ist von einer Wahrheitsliebe, die bis zur Grausamkeit geht; der andere (Balzac) ist wahrheitsliebend bis zum Zynismus, und Multatuli endlich hat seine Wahrheitsliebe um Amt, Stellung, Ruhe und Glück gebracht.


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