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Der Marquis de Sade

Ein seltsamer Zufall fügte es, daß der fanatischste Verfechter der Tugend, Maximilien de Robespièrre, in derselben Woche in das Pariser Collège Louis le Grand eintrat, als der fanatischste Propagandeur des Lasters, Marquis de Sade, eben dieselbe Schule verließ. Sein Zeitgenosse Uzanne, der Verfasser der Chronique scandaleuse, schildert ihn als einen »anbetungswürdigen Jüngling« mit zartem blassen Gesicht, »aus dem zwei große schwarze Augen hervorleuchteten«. Andere, wie Lacroix, machten ihn blauäugig und betonten seine »zierliche Figur und schön frisierten blonden Haare«. Feststeht, daß er ein sehr schöner Mensch war.

Seine ganze Persönlichkeit war bereits zu Lebzeiten von einer legendären Atmosphäre umgeben, und sein schönes Haupt, über dessen Form und Farbe selbst die Zeitgenossen so viel Widersprechendes ausgesagt haben, trug schon früh den Glorienschein des Lasters.

Ein paar Jahre später, und Marquis de Sade genießt einen weitverbreiteten Ruf als Fanatiker der Unzucht, als Philosoph des Lasters, als Lehrer des Verbrechens.

Will man ihm gerecht werden und zum Verständnis seiner dämonisch schillernden Natur gelangen, so muß man zuvor das siècle corrumpu kennen, das Hegel in seiner »Geschichte der Philosophie« als »ein wüstes Aggregat von Privilegien gegen alle Gedanken und Vernunft überhaupt« charakterisiert; als einen widersinnigen Zustand, »womit zugleich die höchste Verdorbenheit der Sitten und des Geistes verbunden ist – ein Reich des Unrechts, das mit dem beginnenden Bewußtsein desselben schamloses Unrecht wird«. Die Werke de Sades sind bedeutsame Dokumente für jene ohnmächtige, müde Zeit, in der alle ethischen Begriffe erloschen zu sein scheinen. Abgestumpfte und verbrauchte Kräfte setzen in aufstachelnder Willkür die Herrschaft der physischen Genußsucht über alle Kultur und über alle seelischen Forderungen. Typisch für jenes »schamlose Unrecht« sind de Sades »Glück des Lasters« und »Die Verbrechen der Liebe«, zwei Werke, die sich mit vollem Bewußtsein zum Unrecht bekennen. Wie tief die Verrottung jener Zeit ging, wie weit der schrankenloseste Egoismus und der Vergnügungstaumel jenes Jahrhunderts um sich gegriffen hatte, läßt uns ein Minister Ludwigs des XV., Saint Foud, ahnen, wenn er sagt: »Der Staatsmann würde ein Narr sein, der sich seine Freudenfeste nicht vom Land bezahlen ließe. Was geht uns das Elend der Völker an, wenn nur unsere Leidenschaften befriedigt werden! Wenn ich den Glauben hätte, daß Gold in den Adern der Menschen flösse, würde ich einen nach dem anderen zur Ader lassen, um mich mit diesem Blute zu sättigen.« Und dieser Egoismus bleibt nicht nur das Privilegium des Königtums und der höheren Stände, sondern greift während der Revolution tief in alle Schichten der Bevölkerung ein. Er verdrängt alle anderen Empfindungen und findet seinen Gipfelpunkt in der sexuellen Genußsucht.

Man hat drei Epochen in der Geschichte der geschlechtlichen Ausschweifungen und Perversitäten unterschieden: die Epoche der römischen Kaiserzeit, die Zeit der großen Epidemien des Mittelalters und den Kult der Satanskirche. Die dritte Epoche fällt aber in das 18. Jahrhundert. Sie ist gekennzeichnet durch die französische Eigenart und durch die Orgien Ludwigs XV. Das, was das 18. Jahrhundert Frankreichs von den anderen Epochen scharf unterscheidet und zu einer ganz besonderen und typischen Erscheinung werden läßt, ist die ausgeklügelte und raffiniert erdachte Klassifikation der sexuellen Liebesbetätigungen. Das gesamte Kulturleben jener Tage erhält überhaupt erst seine Prägung durch das Sexualleben. Kunst, Wissenschaft und alle übrigen geistigen Werte ordnen sich ihm bedingungslos unter und stellen sich in seinen Dienst. Die Revolution zieht den bloßen Sinnengenuß in die Region der erwachten Energien des Volkes, und weichliche Wollust und sinnliche Perversität wandeln sich in blutdurstige und grenzenlose Grausamkeit.

Der Ehegatte jener Epoche ließ es sich angelegen sein, seiner Gattin ein nur allzu eifriger Lehrmeister in den raffiniertesten und schamlosesten Liebeskünsten zu sein. Und die Frauen ließen sich leicht und gern auf einen Weg hinweisen, der durch eine geschickte Sophistik jede Moral aufhob und von vornherein entkräftete. Die Scham wurde für sie nur »jene Tugend, die man mit Nadeln befestigen muß«. Die Befriedigung des geilen Sexus wurde absoluter Selbstzweck, und man bemühte sich, die natürliche und grobe Begierde durch eine wahre Philosophie ausgeklügelter Künste und Variationen zu »verschönern«. Es war der Charme jener Frauen, unter einer sicheren und eleganten Beherrschung der gesellschaftlichen Formen die größte Verderbtheit und wildeste Unzucht zu verbergen; diese sexuelle Taktik erhöhte zugleich den prickelnden Reiz der Schamlosigkeiten und sicherte ihnen andererseits die Achtung der Öffentlichkeit.

Bernards »L'art d'aimer« bekennt sich zu diesem Standpunkt. Die Liebe dieser Zeit wird also zur Verwirklichung aller nur denkbar wollüstigen Phantasien und Träume. Sie ist das Ergebnis einer unnatürlichen und fieberhaft gesteigerten sexuellen Einbildungskraft, das Surrogat orgiastischer Einfälle und nicht zu stillender Lust. Es fehlt jede Scheu vor dem Worte. Das schamlose und dreiste Aussprechen der äußersten Laszivitäten war die Ouvertüre zur eigentlichen Liebesfeier. Die Menschen werden fast alle zu Koprolalen. Der Geist vertiert, die Seele wird faunisch, und alle Sinne umkreisen Tag und Nacht »den einen Punkt«. Für den Marquis de Sade ist das ein sehr wichtiger Faktor, und er vergißt auch niemals in seinen Werken besonders hervorzuheben, daß das rückhaltlose Aussprechen der gröbsten und schamlosesten Worte die Wirkung des Genusses erhöhen.

Die Jugendzeit des phantastischen Marquis de Sade fällt noch unter die Regierung Ludwigs XV., dessen sexuelle Ausschweifungen und grenzenlose Genußsucht auf einen de Sade stark wirken mußten.

Louis XV., dessen Leben eine Kette von Unzüchtigkeiten war, lieferte in seinem berüchtigten Hirschpark in der Eremitage zu Versailles dem jungen de Sade das Muster zu jenen heimlichen Bordellen, die so oft in seinen Werken eine hervorragende Rolle spielen. Die eigentliche Urheberin und Erfinderin der raffinierten und abwechslungsreichen Vergnügungsprogramme des Königs war die Marquise von Pompadour, die durch dieses Talent ihre Macht über den König sich am ehesten sicherte. Das königliche Lusthaus erforderte einen ganzen Trupp von Kupplern und Anwerbern unentdeckter und seltener Schönheiten. Naturgemäß stiegen auch die Kosten für den »Parc-aux-Cerf«, für die Besoldung der Kuppler, Zuführer und Werber ins Ungeheuerliche, und sie trugen wahrscheinlich nicht unwesentlich dazu bei, die Finanzverhältnisse des Reiches zu zerrütten. Gegen die Orgien, die im Hirschpark stattfanden – einige Historiker wollen wissen, daß auch der Marquis de Sade persönlich an den Auftritten, die sich im Hirschpark abspielten, teilgenommen habe – verblassen selbst die Saturnalien der römischen Cäsaren.

Jene Venusfeste waren eine wollüstige Verquickung von Sexualität und Religionskult, stark an den Cybeledienst der alten Römer erinnernd; denn Louis XV. liebte es, die Liebesnächte mit seinen jeweiligen Huren durch Gebete und allerhand religiöse Zeremonien einzuleiten. König und Liebeskönigin lagen bloß und nackt auf dem Erdboden und verrichteten kniend ihre lasziven Gebete, um mit dem Namen aller Heiligen auf den stammelnden Lippen, zur eigentlichen Liebesorgie überzugehen. Wie weit ist es von dieser Lästerung noch bis zur eigentlichen Satansmesse? Eine andere Nuance, wodurch Se. Majestät ihre Lüsternheit anstachelte, war die, daß Se. Majestät sich vom Chef der Pariser Polizei über alle obszönen, perversen, gemeinen Vorkommnisse der Residenz Vortrag halten ließ. Das Wüstlingsleben des engeren Hofes teilte sich natürlich auch den weiteren Kreisen, insbesondere dem Hochadel und Adel mit, der im Faubourg Saint-Antoine sein berüchtigtes Bordell besaß, das von den fürstlichen Roués am meisten aufgesucht wurde. Der Roman de Sades »Justine ou les Malheurs de la vertu« gibt ein getreues Spiegelbild jener wilden Grausamkeiten und bestialischen Wollüste, die dort ihre Befriedigung suchten und fanden. Der Adel und der Klerus spielen nicht ohne Grund in den Romanen de Sades stets die führende Rolle, und da sich der Priesterstand meist aus Mitgliedern der alten adligen Geschlechter zusammensetzte, fand dadurch eine vollkommene Verschmelzung von Adel und Geistlichkeit statt. Am heftigsten nimmt de Sade in seinen Werken die Geistlichkeit mit, die unter dem Deckmantel der Gottseligkeit die entsetzlichsten Greueltaten verübte. Als charakteristisches Merkmal für die Mißachtung, mit der man dem damaligen Priesterstande begegnete, sei nur erwähnt, daß de Sades »Juliette« den Papst immer als »alten Affen« anredet. Unermüdlich ist de Sade in der Darstellung der Schädlichkeit, Gemeinheit und Infamie des Klerus. Er schwelgt in grotesken Orgien und Ausschweifungen; es gibt keine Absurdität, keine Korruptionsform, die er den Geistlichen nicht zuschreiben würde. Der Päderast, der Exhibitionist, der Satanist u. a. m. finden immer ihre Vertreter unter den Mitgliedern der Priesterschaft; auch die wüsten Liebesfeste in den Katakomben, im Karmeliterkloster, bei Pius X. usw. gehören hierher.

Ebenso wie der Priesterstand die Achtung der Mitwelt eingebüßt hatte, wurde auch den Frauen längst nicht mehr die selbstverständliche Rücksicht zu teil, die ihre Scham den Männern gebot. Denn das ganze, mühsam kachierte Leben der Maßlosigkeit auf allen Gebieten, suchte und fand mit wahrer Wonne seinen Ausdruck in den eindeutigsten Gesprächen und unflätigsten Witzen den Frauen gegenüber, und diese wurden sogar noch häufig durch unverkennbare Posen illustriert. Es war ganz natürlich, daß die Frau dieser Zeit sich dieser schwülen, sexuell unsagbar aufreizenden Atmosphäre nicht entziehen konnte. Ihr blieb es nur mehr vorbehalten, die Trägerin der Eleganz unbeschreiblicher Schamlosigkeiten zu sein und sich das Privileg der weiblichen Grazie und spielerischen Anmut auch in den höchsten ekstatischen Augenblicken der Wollust zu sichern. Die altgeprägten Begriffe der weiblichen Zucht und Sitte waren der Frau jener Epoche so vollkommen abhandengekommen, daß sie stolz auf den Verlust ihres guten Rufes war; ja, viele von ihnen bemühten sich, es in jeder Beziehung den Männern nachzutun, und gleich diesen besaßen auch sie ihre »petites Maisons«, wo sie ungestört und unbehindert ihren Lüsten fröhnten. De Sade läßt in seinem Roman »Juliette« mit frechster Schamlosigkeit und mit zynischem Behagen die persönlichen körperlichen Reize beschreiben. Man sieht, daß dem koprolalen Autor selber dabei so kannibalisch wohl wird, als wie fünfhundert Säuen. Und dennoch schildert er nur einen Typ der Frau, die in jener Zeit wirklich gelebt hat. Durch die Gewohnheit der Frauen und Männer, ihr Liebesleben in Bordellen der niedrigsten Sorte zu befriedigen, kamen oft die merkwürdigsten Mesalliancen zustande. Es kam nicht selten vor, daß eine alte Prostituierte einem jungen Edelmann die Hand zum gesetzlichen Bündnis reichte. Die Dubarry war bekanntlich die Tochter eines kleinen Beamten. Ihre kurze Laufbahn als Pariser Modistin endete in dem Bordell der Madame Gourdan, wo sie der Graf Jean du Barry kennenlernte, an dessen Bruder sie später, als sie zur Mätresse Ludwigs XV. erhoben wurde, verheiratet wurde. Selbstverständlich fühlten viele Mitglieder der hohen Aristokratie sich durch dieses Beispiel bewogen, dem König nachzueifern. Denn in dieser Beziehung lag Europa von jeher in China, wo jeder Höfling, um des guten Tones willen, zum Affen seines Kaisers wird.

Der Dämon der Perversität, der die Oberklassen ergriffen hatte, befiel bald auch die breiten Schichten des Volkes, insbesondere die Frauen, Auf dem Medarduskirchhofe, dem Sammelpunkt der von hysterischen Konvulsionen Befallenen, fanden sich ganze Scharen von Frauen und Mädchen jeden Alters ein. Sie warfen sich schreiend zur Erde, verkrampften sich ineinander und beruhigten sich erst, wenn die Last mehrerer Männer auf ihnen lag. In wilde, leidenschaftliche Tänze artete diese Epidemie aus. Kein Liebesgenuß mehr, ohne den starken Einschlag der Grausamkeit, der Folterung und der Verderbtheit. Es gab zu jener Zeit nicht selten Frauen, die ihre geheimste und stärkste Lust darin erblickten, ihre Geschlechtsgenossinnen, die nicht den gleichen Weg des Lasters gingen wie sie selbst, mit allen Künsten maskierter Bestialität und tückischer Lust aus dem Wege zu räumen.

So gesehen, wird es erklärlich, warum Montesquieu, Rousseau, Voltaire und Diderot die Verachtung des Weibes predigen. Für Rousseau ist das Weib nur zum Vergnügen des Mannes geschaffen, Voltaire sah in der Frau nur ein leeres Gefäß, das erst vom Manne gefüllt wird, und Diderot erblickte in ihr eine Courtisane. Rétif de la Bretonne äußert, wo er kann, seine Geringschätzung des Weibes. Überhaupt wird man die ganze schriftstellerische Tätigkeit de Sades milder beurteilen, wenn man stets im Auge behält, daß die französische Literatur des 18. Jahrhunderts die meisten Pornographien hervorgebracht hat. De Sade hat vollkommen recht, wenn er immer wieder den Einfluß hervorhebt, den diese Literatur unverkennbar auf ihn gehabt hat. Alle Federn stehen im Dienste der Wollust, alle predigen den Kultus des Fleisches; denn es gab für die Menschen des 18. Jahrhunderts nur voluptuöse Ziele. Selbst die Philosophie jener Zeit verschmähte es nicht, diese Ziele zu verteidigen und zu rechtfertigen. Lamettrie schreibt ein Werk, das er »L'art de jouir« betitelt; in seinen »ethischen« Schriften, die denn auch auf Diderot und andere stark abfärben, gibt es lange Abhandlungen über die verschiedenen und besten Arten der Wollust. Durch diese Verrückung und Umkehrung aller gesunden Sexualbegriffe konnte von Liebe in irgend einem idealen Sinne natürlich nicht mehr die Rede sein. Von 1770-1800 sehen die Autoren ihren Ehrgeiz darin, neue Variationen des Liebesgenusses zu ersinnen und zu beschreiben. Sie versammeln sich, um den reinen Gedanken zu entweihen und zu besudeln. Die bestehenden Laster genügen ihnen nicht; sie wetteifern miteinander im Aufspüren des neuen Bösen, und wenn sie es finden, so klatschen sie sich Beifall. Perversitäten ersinnen, begründen, rechtfertigen, verherrlichen, ihre Rangordnung feststellen, ihre Vortrefflichkeit nachweisen, steht ihnen höher als die bloße Befriedigung des blinden Triebes. Verruchtheiten ausdenken und lasterhafte Theorien aufstellen und preisen, das erfordert ruhige Geistesarbeit, die noch satanischer ist als das Tun. Für die Autoren jener Zeit ist das Bordell ein Paradies und die Zote das Hallelujah. Ein Buchtitel, der keine Cochonnerien andeutet, zieht nicht.

Crébillon fils beginnt den Reigen mit seinem berühmten »Sopha« und der Pornographie: »La nuit et le Moment«; der Tanz wird fortgesetzt von Andréa de Nerciat in seiner berüchtigten »Félicia« und in der kaum lesbaren sechsbändigen Zote »Le diable au corps«. Mirabeau schreibt die »Éducation de Laure« und die Erlebnisse einer männlichen Dirne in »Ma conversion«. Nicht minder berühmt ist Mirabeaus »Erotica biblion«. Diderots »Jacques le fataliste«, »La religieuse« (in Deutschland unter dem Titel »Die Nonne« viel gelesen), seine »Bijoux indiscrets« sind stark erotisch gefärbt. Choderlos de Laclos' »Liaisons dangereuses« bewegen sich fast ausschließlich auf dem Gebiete des geistigen Sadismus, und das Problem, das hier unter dem Deckmantel der Sittenschilderung auf sechshundert Seiten diskutiert wird, ist das der Vergewaltigung. Ein Spiegelbild des lasterhaften Adels möchte ferner Louvet de Couvrays »Chevalier Faublas« sein. Ein anderer Meister ersten Ranges in der Kunst, literarisch zu zoten, ist Rétif de la Bretonne, der hauptsächlich die sittliche Verderbtheit der niederen Volksklassen darstellt, der von wütendster Sinnlichkeit gepeitscht und durch den Götzendienst des eigenen Ich in eine Art Exhibitionismus hineingetrieben wird. Seine Werke »Nuits de Paris«, »Monsieur Nicolas«, »Pied de Fanchette«, »Ingénue Saxancour ou la femme séparée« und die berühmten »Contemporaines ou aventures des plus jolies femmes de l'âge présent« waren von ganz eminentem Einfluß auf Marquis de Sade, der es eben von Rétif lernte, in seinen Erzählungen nur wirkliche Erlebnisse darzustellen. Natürlich schöpft Rétif de la Bretonne nicht vollkommen aus dem Born eigener Perversität, sondern greift stets auf bekannte Vorkommnisse zurück. Er läßt sich z. B. von Alexander von Tilly, dem einstmaligen schönen Pagen der Königin Marie Antoinette, erotische Abenteuer erzählen, die er zu verwerten gedenkt. Auch de Mérobert ist für Rétif sowohl Quelle als auch Mitarbeiter bei einigen seiner Werke, wie z. B. in der Schrift über die sechzehn Klassen der Prostituierten und über die Zuhälter, die mit dankenswerter Eindeutigkeit »Pornographe« betitelt ist. Erwähnen muß man auch die »Contemporaines hibou« sowie »Maléduction paternel« und ferner die Tatsache, daß in den Gedichten, die für jene Epoche der Lüsternheit geradezu typisch sind, die Rolle, die die Lustseuche in der Liebe spielt, in lebhaften Farben geschildert wird.

Dem Zynismus und der Immoralität in der Literatur schließt sich die Kunst des 18. Jahrhunderts würdig an. Sie erblickt ihr höchstes Ideal darin, die Sinne aufzustacheln und aufzupeitschen. Die Nacktheit ist nur noch ein Motiv erotischer Raffinements. Die Architektur wetteifert mit der Malerei in der Darstellung plastischer Gruppen, deren deutliche Absicht die ist, die Lüsternheit zu reizen. Die Tendenz ist hier unverkennbar. Das cytherische Liebessehnen hat sich überlebt. In der Malerei wird das Üppige und Derbe überstark betont. Die Wollust schwingt auch hier das Zepter. Es handelt sich darum, den erschlafften und blasierten Appetit durch sexuelle Paprika wieder zu heben. Das reiche Können der Watteau, Lancret, Boucher und Fragonard zielt nur auf das eine hin, ihre Sujets in möglichst pikanter Form zu bringen. Selbst ihre Göttinnen werden zu Dirnen, deren Ähnlichkeit mit den Damen der damaligen galanten Welt unverkennbar ist. Die Details, die oft den größten erotischen Reiz ausüben, werden mit raffinierter Koketterie betont. Das wichtigste aber ist, daß die bildliche Darstellung das überhitzte Wort noch überbieten muß, sodaß man den Ausruf Marquis de Sades begreift: »O wie nötig wäre ein Maler, der der Nachwelt dieses wollüstige Bild unserer Zeit überliefern könnte.« Nuditäten und Pornographien werden in erschreckender Weise verbreitet. Die Mätressen lassen sich in aufgeilenden Akten malen und schenken die Bilder ihren Geliebten. Die Courtisane Louis' XV. macht keine Ausnahme. In Bordellen werden laszive Kupfer vertrieben; gemeine Karikaturen auf Louis XVI. und auf Marie Antoinette hängen nicht nur in den Dirnenwohnungen, sondern auch in den Galerien des Palais royale. Bilder, die von Geilheit triefen, päderastische und sodomitische Vorwürfe stehen für jedermann zur Schau. Es ist selbstverständlich, daß die erotischen Bücher der Zeit mit den schändlichsten Bildern geschmückt werden. Die Wüstlinge lassen sich ihre Westen mit frechen Bildern besticken. Am beliebtesten aber sind besonders bei de Sade die Bilder koprophager Natur. Ich drücke mich allzu zart aus, wenn ich sage, daß die menschlichen Ausscheidungen in allen Büchern Marquis de Sades als Delikatesse behandelt werden, die seine Männer- und Frauengestalten gierig verschlingen. Selbst der Akt der Defäkation wird allen Parisern bildlich vor Augen geführt und wird zu einer wollüstigen Nuance. Die Konversation, die Lieder, die Holzschnitte kehren immer wieder zur Lobpreisung der Koprophagie zurück. Die italienischen Novellisten des Mittelalters, die Morlini, Firenzuola, Straparola, Sacchetti, Cornazano, sind die reinen Waisenknaben daneben. Auch die Skulptur ist eifrig beflissen, hinter der Literatur und der Malerei nicht zurückzubleiben. Daß das Theater mit diesen Künsten gleichen Schritt zu halten sucht, ist selbstverständlich. Für das berüchtigte »Théâtre gaillard« schreiben Granval, Caylus, Crébillon, Piron u. a. die schamlosesten Stücke, in denen der Begattungsakt ein öffentliches Schauspiel wird, an dem sich die »Voyeurs« der Stadt ergötzen. »La vue des plaisirs d'autrui nous en donne«, hatte Lamettrie gesagt. Alles, was im Dienste Thalias und Terpsychores steht, stellt einen erheblichen Prozentsatz zur Prostitution.

Wie sehr der Marquis de Sade der Mensch seiner Zeit war, der nur aus ihr erklärt werden kann, hat Eugen Dühren in seinem instruktiven Werke über »Marquis de Sade und seine Zeit« in aller Ausführlichkeit einwandfrei dargestellt; nur daß ich seinen moralischen Standpunkt nicht teilen kann. Daß de Sade aus seiner Zeit heraus zu verstehen ist, beweist die Tatsache, daß alle die sinnlichen Leidenschaften, die man unter dem Namen »Sadismus« zusammenfaßt, alle die aus der Wollust geborenen, wollustverursachenden und wollustdarstellenden Grausamkeiten, die Orgien des Blutes, der Rausch der entfesselten Phantasie, nicht erst dem Gehirn des Marquis de Sade entsprungen sind, als eine originelle oder nie erhörte Ergänzung voluptuöser Möglichkeiten, sondern daß sich in ihm alle uns bisher bekanntgewordenen Grausamkeiten und Unzüchtigkeiten nur wie in einem Brennspiegel sammeln. Und nicht einmal in dem Menschen, sondern nur im Literaten, im Schriftsteller. Denn sein eigenes Leben gibt bei weitem nicht die Belege dafür, daß er selbst etwa ein so maßloses sinnlich schwelgerisches Dasein geführt hätte, wie seine in der Grausamkeit genialischen Helden und Heldinnen.

Donatien Alphonse François Marquis de Sade wurde am 2. Juni 1740 in Paris geboren. Er entstammt einem der vornehmsten und ältesten Geschlechter der Provence. Nachdem er das Gymnasium absolviert hat, tritt er als Vierzehnjähriger in das Regiment der Chevaux-Legers ein. Er avanciert schnell und nimmt als Kapitän eines Kavallerieregimentes am Siebenjährigen Kriege teil. 1763, als Dreiundzwanzigjähriger, finden wir ihn wieder in Paris, und hier sucht ihn sein Vater, dem mehrere von seinem Sohne begangene »Jugendtorheiten« zu Ohren gekommen sind, aus diesem Grunde möglichst schnell zu verheiraten. Diese Heirat hat ihre eigene Geschichte und war von nicht unwesentlicher Bedeutung für die Charakterentwicklung de Sades, wenngleich ihr Einfluß nicht so hoch zu bewerten ist, daß man daraus Schlüsse über den Ursprung der Perversität de Sades ziehen könnte. Sicherlich waren die ungezügelten Sitten und Gewohnheiten des Lagerlebens, die der Marquis während seiner Kriegszeit miterlebte, von weit entscheidenderem Einfluß auf seine Prädestination als seine unglückliche Heiratsgeschichte.

Von seinem Vater war ihm die älteste Tochter seines langjährigen Freundes, des Herrn von Montreuil, zugedacht: eine zwanzigjährige Brünette von hohem Wuchs und imponierender Erscheinung. Aber de Sade war von dem Liebreiz der jüngeren, einer temperamentvollen Blondine, so hingerissen, daß er für die ältere, die ihm zugedacht war, nur noch absolute Abneigung empfand. Seine Liebe wurde aber, trotzdem er die Beweise der Gegenliebe empfing, von den beiderseitigen Eltern vergewaltigt. Man schickte die jüngere Schwester ins Kloster, und de Sades Vater drohte dem Sohne mit Verstoßung und Enterbung, wenn er sich seinem Willen nicht fügen würde. Der junge Marquis unterwarf sich und reichte im Frühling 1763 der älteren Tochter die Hand. In diesem Zwangsverfahren, das den Marquis zu einem so entscheidenden Schritt bestimmte, hat man wohl die Ursache der Ehenfeindlichkeit zu suchen, der der Marquis in seinen Werken so oft Ausdruck gibt. Obwohl er seine Gattin mit Roheiten, häßlichen Verdächtigungen und schimpflichen Reden traktierte, blieb sie ihm treu. Von seiner Persönlichkeit muß jener gefährliche und schwüle Zauber der Sünde ausgegangen sein, den er selbst einmal als »Die Wonne des Lasters« bezeichnet. Denn seine Frau hörte nie auf, ihn zu lieben; trotzdem de Sade durch die großen Skandalaffären und Exzesse, die er hervorrief, längst in der Öffentlichkeit übel beleumundet war und schon im Gefängnis gesessen hatte, blieb sie unentwegt besorgt, ihm durch tausend kleine Liebesdienste Erleichterungen zu verschaffen und zur Flucht aus dem Gefängnis zu verhelfen. Nachdem de Sade sich vergeblich bemüht hatte, seiner ersten Liebe, der jüngeren Montreuil, sich zu nähern, aber nicht einmal ihren Aufenthaltsort ermitteln konnte, stürzte er sich mit leidenschaftlicher Hingabe in die tollsten Ausschweifungen und spielte binnen kurzer Zeit eine führende Rolle in der Gesellschaft der »Roués«. Er verschmähte es ebensowenig, die wüstesten Orgien mit den Domestiken der Herzöge zu feiern, wie er es verstand, als Berühmtheit bei den Saturnalien der Fürsten zu glänzen. Es befriedigte den Ehrgeiz des Marquis am meisten, aus der genauen und persönlichen Kenntnis der versteckten und verborgensten Laster der »Petites Maisons« und verrufensten Häuser ein wahres Studium zu machen und seine Gefährten immer aufs neue durch das Virtuosentum seines sexuellen Raffinements zu überraschen und zu übertrumpfen. Ein seltsames Licht wirft es auf den Charakter de Sades, daß er im Gefängnis, wohin ihn grobe Ausschreitungen in einem Bordell, die er schon im ersten Jahre seiner Ehe beging, gebracht hatten, dringend nach einem Priester verlangt. In einem Brief aus jener Gefängniszeit findet sich der Satz: »Meine Fehler bereuen, meine Irrtümer verabscheuen, soll meine einzige Beschäftigung sein.« Aber keine Angst! Er ist dieser Beschäftigung nicht allzu eifrig nachgegangen. Der Wunsch nach Reue hat ihm nur einen Schimmer von Dämonie verliehen.

Kaum genoß de Sade wieder seine Freiheit, als eine Skandalaffäre großen Stils ihn abermals ins Gefängnis führte. Es war die berüchtigte Affäre der Rosa Keller. Sie hatte ihn eines Tages in einer lebhaften Straße von Paris angebettelt, und der Marquis hatte sie unter dem Vorwande, sie zur Aufseherin einer »Petite Maison« zu machen, in sein abgelegenes Haus gelockt und dort mit vorgehaltener Pistole gezwungen, sich zu entkleiden. Er band ihr dann die Hände zusammen und peitschte und mißhandelte sie, weil es ihm Vergnügen machte. Dieser Akt war aber nur der wollüstige Anreiz zu einer Orgie, die der Marquis im Anschluß daran mit zwei Prostituierten feierte. Die »Feier« trug ihm wieder sechs Wochen Festungshaft ein. Kaum war er wieder auf freiem Fuße, so lebte er in wildester Zügellosigkeit als ein wahrer Fanatiker der Perversität weiter. Seinem Schwiegervater gelingt es, de Sades Verbannung auf das Schloß La Coste zu erwirken, und hier bereitet es dem Marquis ein diabolisches Vergnügen, den Landadel in die Laster einzuweihen. Hier sucht ihn seine Gattin in Begleitung der jüngeren Schwester auf. Kaum steht der Marquis zum ersten Male seiner blonden, bis jetzt im Kloster lebenden Schwägerin gegenüber, als ihn die alte Leidenschaft übermannt. Brennend vor Gier gesteht er ihr aufs neue seine Liebe; sagt, daß er sie besitzen oder sterben müsse! Da er auf ihre Erhörung rechnen kann, faßt er den tollen Entschluß, ein großes Fest zu veranstalten und als Dessert Cantharidenbonbons zu reichen. Die Wirkung dieser mit einem sexuell aufreizenden Gift gemischten Bonbons ist unbeschreiblich. Das Fest artet in eine wilde Orgie aus. Es kommt zu den brutalsten Szenen. Selbst keusche Frauen können sich der Wirkung dieser unheimlichen Süßigkeit nicht entziehen. Die Geliebte ergibt sich ihm. Es kommen sogar mehrere Todesfälle vor, und de Sade entflieht mit seiner Geliebten nach Italien, um der drohenden Todesstrafe zu entgehen. Im September 1772 wird der Marquis wegen Sodomie und Giftmord in Aix zum Tode verurteilt. Aber das Urteil wird, allerdings erst 1778, wieder aufgehoben. Im Dezember 1772 wird de Sade in Piemont verhaftet, nachdem ihm die geliebte Schwägerin nach einem kurzen Liebesrausch stirbt. Während seiner Gefangenschaft in der Festung Miolans erkrankt de Sade, und es gelingt ihm, seine Umgebung durch die Maske eines harmlosen Wesens zu täuschen, was ihm schon dadurch erleichtert wird, daß die Natur diesem mit allen satanischen Energien ausgestatteten Meister der perversen Erotik die sanften Züge eines echten Aristokraten und eine einschmeichelnde, melodische Stimme verliehen hat. Man wird infolge seines reumütigen Verhaltens weniger vorsichtig in seiner Bewachung, und unter der Assistenz von fünfzehn tatkräftigen Männern verhilft ihm seine Gattin 1773 zur Flucht. Er bleibt vier volle Jahre Paris fern. 1777 nach Paris zurückgekehrt, wird de Sade sofort wieder in Gefangenschaft genommen. Den Bemühungen seiner Frau gelingt es, durch einen glänzenden Advokaten das Urteil zu annullieren. Aber seine Schwiegermama bringt es fertig, das Urteil wieder rechtskräftig zu machen; sie will de Sade um jeden Preis unschädlich wissen. Er entflieht dank der Tatkraft seiner Frau nach Lacoste, wird entdeckt und abermals in die Festungshaft von Vincennes zurückgebracht, um 1784 in die Bastille transportiert zu werden. Erst die Revolution bringt ihm 1790 endgültig die Freiheit. In der traurigen Kette der ersten dreizehn Kerkerjahre – denn de Sade brachte im ganzen siebenundzwanzig Jahre im Kerker zu – beginnt de Sades schriftstellerische Tätigkeit. Die einzige Zuflucht, die ihm in dieser Not blieb, war seine nimmer ermüdende, ewig sich erneuernde, sich bis zur Ekstase steigernde Phantasie, die schamlose Schöpferin seiner zahlreichen Werke, die diesem Genie der Wollust den schmählichen Ruhm einer überrascht und begierig aufhorchenden Nachwelt sichern sollte.

 

Nachdem er sich von seiner Frau endgültig scheiden ließ, lebt er in Verbindung mit einer Mätresse und sucht den Anschluß an die großen Politiker jener Zeit. Er beginnt viele Komödien zu schreiben, die er eifrig an die Theater zu vertreiben sucht, um Geld zu verdienen; denn seine Güter und sein ganzes Vermögen sind ihm schon in den ersten Stürmen der Revolution verlorengegangen. Von allen seinen Stücken findet nur »Les malheurs du libertinage« völlig unverdienten Beifall. Aber nun erscheinen in schneller Folge seine berühmtesten Romane, die »Justine«, »Aline et Valcour«, »La Philosophie dans le Boudoir«. Daß de Sade öfter die Vaterschaft seiner Geisteskinder leugnete, kann nicht weiter wundernehmen in Zeiten, die ihn dem Gefängnis nahebrachten. Außerdem geht er auch hier nur mit der Schriftstellermode jener Zeit. Der Roman »Zoeloe et ses deux acolytes« wird ihm aber zum Verhängnis, da das ganze Werk nichts weiter ist als ein Pamphlet gegen Josephine und Bonaparte. Seine Manuskripte und Bücher werden konfisziert. Auf das Betreiben seiner Angehörigen wird er in das Irrenhaus zu Charenton gebracht, wo er als Vierundsiebzigjähriger am 2. Dezember 1814 stirbt.

Man darf eine Erscheinung wie die de Sades nicht vom Standpunkt der Moral aus betrachten; darf überhaupt in Fragen des Sexuallebens nicht von ethischen Wertungen ausgehen. Wenn Eulenburg, der eine ausgezeichnete Studie »Über den Marquis de Sade« geschrieben hat, einmal sagt: »Wir müssen uns fort und fort gewärtig halten, daß auf keinem anderen Gebiete so wie auf dem des Geschlechtslebens Erhabenstes und Gemeinstes, Über- und Untermenschliches dicht beisammen und eng miteinander verknüpft liegen, da sich die feinsten und tiefsten Wurzeln unserer geistig-körperlichen Existenz großenteils aus diesem Untergrunde entfalten; und daß der Mensch nicht so tief bis weit unter das Niveau der Tierheit herabsinken könnte, wenn er nicht zuvor eine unermeßliche Kulturhöhe im Kampfe mit der Natur und mit sich selbst eigenkräftig erstiegen hätte« – so kann man ihm wohl darin beipflichten, daß sich die feinsten und tiefsten Wurzeln unserer geistig-körperlichen Existenz aus dem Erotischen entfalten; nicht beistimmen kann man ihm aber, wenn er ethische Unterschiede macht und von Erhabenem und Hohem, Über- und Untermenschlichem im Sexuellen spricht und wenn er sagt, daß der Mensch im Sexualleben weit unter das Niveau der Tierheit herabsinke. Eine allerdings sehr weitverbreitete Anschauung, die nur darin irrt, daß sie Ursache und Folgeerscheinung verwechselt und von völlig falschen Voraussetzungen ausgeht. Ebenso wie alle anderen Tätigkeiten und Lebensäußerungen des Menschen durch seinen Intellekt erhöht und kompliziert sind, steht auch das Liebesleben des Menschen in seiner gewöhnlichen Form höher als das des Tieres, indem zu den körperlichen und gefühlsmäßigen Reizen intellektuelle und seelische Reize hinzukommen, die in gleicher Weise wie die körperlich-sinnlichen Reize ihren Ursprung im Instinkt nehmen. Erst die erotische Liebe, bei der die Libido ausscheidet, erhebt sich im eigentlichsten Sinne über das Tierische, tritt dem Instinktiven entgegen, richtet zwischen Tier und Mensch die unübersteigbare Scheidewand auf, verneint den Sinn des tierischen Instinktes. Das Tier besitzt nur den physiologischen Sexualtrieb, der Mensch aber, der den Sinn dieses Triebes kennt, hat ihn bewußt zur Liebe erhöht. Einmal von ihrem Hauch berührt, kann er nie wieder seine Bewußtheit verlieren, mag sich sein Liebesgefühl in noch so abseitigen Formen ausleben. Es scheint daher, daß jene Gelehrten recht haben, die wollen, daß der Mensch alle Stadien der Tierwelt durchwandert habe und daß der Sadismus, sowie alle anderen sexuellen Abweichungen von der Norm, die man verächtlich als »tierisch« bezeichnet, sich sehr einfach als Atavismen erklären lassen.

Will man sich auch nicht auf diese Hypothesenjagd begeben, so muß man mindestens aufhören, bei der Sexualität des Menschen von einem Sinken weit unter das Niveau der Tierheit zu sprechen. Denn an zahlreichen Beispielen ließe sich illustrieren, daß die Tiere weit größere, konsequentere, leidenschaftlichere Sadisten sind als die Menschen. Der Satz »l'homme c'est l'animal méchant par excellence« ist in dieser Formulierung falsch; denn es gibt unter den menschlichen Phantasien, die wir als die perversesten, ja monströsesten bezeichnen, nur wenige, die nicht bei dieser oder jener Klasse des Tierreiches Recht und Norm wären. Sexuelle Betätigungen, die der Onanie, ja selbst der Spermathologie und dem Sadismus ganz analog sind (wenn sie auch einen anderen Zweck haben), finden wir selbst bei den tief stehenden Tieren. Wenn Marquis de Sade es liebte, Liebesorgien zu erdichten, bei denen gleichzeitig mit dem Blut auch das Sperma floß, so sind das nur fade Spielereien, wenn man sie beispielsweise mit den Liebesgewohnheiten der Gottesanbeterin vergleicht, jenes ingenieusen Insekts, das zu Gott betet, wie die Landleute sagen. Die Verse Baudelaires, die sich über diejenigen lustig machen, die »Tugendhaftigkeit in Liebesdinge mischen« wollen, haben nicht nur eine moralische, sondern eine vollkommen wissenschaftliche Bedeutung. In der Liebe ist alles schön, alles geadelt, solange es sich, wie bei den allertollsten Tieren, um ein vom Zeugungsdrang inspiriertes Spiel handelt. Jedenfalls ist es erwiesen, daß bei Tieren Sodomie und Onanie auftreten, ja daß sie geradezu dazu gezwungen sind, ihren Trieb in diesen Formen auszuleben, wenn ihnen die Weibchen mangeln. Die sexuelle Ethnographie ist bisher noch ein fast gänzlich unbebautes Feld. Nur das Leben selbst ist es, das diese Fragen zu beantworten weiß und das Dunkel der geheimnisvollen Begattungserscheinungen zu erhellen vermag. Die vielleicht große Entwicklung ist hier durch ein falsches und erkünsteltes Schamgefühl des Christentums im Keime erstickt worden. In blinder Unterwerfung unter ein Gesetz der Scham, das im tiefsten und letzten Grunde die Unnatur selbst ist, werden alle sexuellen Beziehungen zwischen Mensch und Tier, alle noch so zwingenden Beweise für eine vollkommen ursprüngliche Einheit alles lebendig Fühlenden unterdrückt und verborgen. Mit Leichtigkeit würde man aus einer Statistik der Vergehen gegen die Keuschheit, von professionellen Beichtvätern aufgenommen, bald imstande sein, die geheimsten geschlechtlichen Gewohnheiten der zivilisierten Menschheit abzuleiten. Aber die alten Begriffe von der »Sünde« sind hier ebenso zu verwerfen, wie die modernen, die als »Vergehen«, »Delikt«, »Verirrung« gebräuchlich sind. Denn sobald Gewohnheiten ganzen Gruppen von Menschen eignen, gehören sie in das Gebiet des Normalen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Tiere und Menschen, je nach ihrer körperlichen Gewandtheit und intellektuellen Begabung, ein äußerst ausschweifendes Leben führen. Aus dem Bedürfnis nach sexuellen neuen Reizen hat sich bei beiden Geschlechtern ein vollkommenes System herauskristallisiert. Es ist offenbar, daß der Schmerz als Begleiterscheinung des Geschlechtsaktes gänzlich verschieden ist von den passiven Schmerzempfindungen. Mit Sicherheit ist anzunehmen, daß Seufzer und Schreie des Weibes ein Gemisch von Lust und Qual darstellen. Und es ist sicher, daß man aus dem Gekreisch der Katzen beim Begattungsakt keine falschen Schlüsse in bezug auf ihren Schmerz ziehen darf.

Es ist bekannt, daß die Neger, die Dayaken auf Borneo, die Javaner und andere unkultivierte Menschen eine äußerst komplizierte Sexualität haben und sadistische Akte begehen und fordern, die ausschließlich auf eine Steigerung der Wollust hinzielen. Reisende, denen das christliche Schamgefühl nicht verbietet, ihre Augen und Ohren zu gebrauchen, wissen von den wilden Völkerstämmen zu berichten, daß ihr Erfindungsgeist in sexueller Beziehung noch immer Fortschritte macht, daß sie die kunstvollsten Lustapparate besitzen, die lediglich auf Antrieb der Frauen hergestellt werden, die den erotischen Gewinn davon haben. Zerkratzt und zerschunden durch die Sexualinstrumente, sind die Weiber dann gezwungen, wenigstens auf einige Tage die Männer zu fliehen, um im stillen ihre wollüstigen Verwundungen zu kühlen. Die Chinesen und Japaner, deren Frauen nicht weniger wollüstig sind, bedienen sich ähnlicher Hilfsmittel; sie haben ingenieuse Onanierapparate erfunden, die ihnen erlauben, während Ruhe am häuslichen Herde herrscht, ihren Geschäften nachzugehen.

Nicht anders bei den Tieren. Die Gottesanbeterin frißt ihr Männchen. Sie verschenkt sich an zwei, drei, vier, ja sieben Geliebte. Da liegt ein Männchen, das keinen Kopf mehr hat; das andere ist bis zur Brust aufgefressen, und seine traurigen Reste halten das Weibchen umklammert, das aus seinem Gatten die Freuden der Liebe und die Tafelfreuden schöpft. Ebenso läßt sich die Sattelfliege nach vollzogener Hochzeit ihr Männchen gut schmecken und wartet nicht einmal, bis es verendet ist. Es reißt dem Sterbenden ein Glied nach dem anderen aus. Nachdem er das Weibchen mit seinem Herzblut befruchtet hat, muß noch sein Leib zur Nahrung für sie dienen. Die Weibchen der Säugetiere verschlingen nach dem Wurf ihre Nachgeburt.

Bei den Insekten stirbt das Männchen fast immer unmittelbar nach der Begattung. Bei den Heuschrecken ist das Männchen buchstäblich ein leerer Ball, der vom Weibchen gefressen wird. Das eine Insekt sträubt sich gegen die Opferung, das andere unterwirft sich ihr. Dieser Kannibalismus gibt ein glänzendes Beispiel, nicht etwa des dummen Begriffes der Unmoral, sondern der Hoheit der Natur, die alles erlaubt, alles will, für die es weder Laster noch Tugenden gibt, sondern nur Kräfte und chemische Reaktionen. Wie alles in der Natur und wie auch wir selbst, leben die Tiere unter dem Zwang einer Notwendigkeit; sie tun das, was sie tun müssen, soweit es ihre Organe erlauben. Das Leben geht aus dem Leben hervor. Alles lebt nur auf Kosten vernichteten Lebens.

Aber nicht nur bei den Insekten, sondern auch bei den Menschen ist der weibliche Sadismus viel häufiger, als man ahnt. Die Mythologie ist überreich an Beispielen. Die Grausamkeit einer Juno und Medea waren vorbildlich für eine ganze Legion höchst unmythologischer Frauen. Ebenso finden sich Typen des weiblichen Sadismus im deutschen Volksmärchen und im Epos. Die großen Dramatiker der Antike und Moderne haben die weibliche Sadistin in zahlreichen historischen Gestalten zu Heldinnen ihrer Schöpfungen gemacht. Ein evidentes Beispiel des weiblichen Sadismus bietet die Grausamkeit der Indianerin, die ja bekanntlich die ausgesuchtesten Marterideen des Indianers weit überbietet. Ihre eigentliche Spezialität ist das bestialische Martern weißer Weiber. Die Männer überlassen ihre Gefangenen oft genug ihren Frauen zu beliebiger »Behandlung«. Aber nicht nur ihren Geschlechtsgenossinnen gegenüber ist das Weib sadistisch, sondern auch gegen Männer.

Und will man für den Mann selber Beispiele aus der Geschichte der Kulturmenschheit, so wird man nicht lange nach Vorfahren eines Marquis de Sade suchen müssen. Gegen die Taten der Gilles de Rais, Peter der Grausame, Iwan der Schreckliche, Peter der Große u. v. a. verblassen selbst die fürchterlichsten Orgien eines Marquis de Sade.

Was die Zustände in den Bordellen betrifft, so geben uns die authentischen Quellen zeitgenössischer Kulturschilderer die absolute Gewähr dafür, daß alle sexuellen Greuel, die de Sade beschreibt, der Wirklichkeit entlehnt sind. Man hat in den Bordellen Ziegen, Hunde, Truthähne und Enten zu sexuellen Zwecken gehalten. Es gab zur Revolutionszeit, dieser goldenen Zeit der Dirne, wo die Dirne zur Göttin der Vernunft erhoben ward, wo in Paris allein auf sechshunderttausend Einwohner dreißigtausend öffentliche Dirnen kommen und mindestens ebensoviel heimliche, Apachenballsäle, Negerbordelle, eine Infirmerie, den Salon des Vulcan, pornologische Klubs, die Sociétées de cynisme, die Gesellschaft der Aphroditen, die Gesellschaft der Freunde des Verbrechens und andere.

Wenn Diderot es wagen kann, in seinem »Rameaus Neffen« zu sagen: »Meine Gedanken gehören meinen Dirnen« – ich zitiere die Übersetzung Goethes –, so war es für de Sade nur noch eine Frage des Mutes, diese Gedanken auch auszusprechen.

Indessen – ich gestehe: mein Mut reicht nicht so weit, ihn hier auch ausgiebig zu zitieren, um das, was ich über ihn ausgeführt habe, durch seine eigenen Worte zu bekräftigen. Es wäre allzu gewagt, die Kloaken der de Sadeschen Poesie hier zu leeren. Nur so viel kann man sagen, daß de Sade die Studien zu seinen berühmtesten Werken in Paris gemacht hat und daß die Vorbilder für die Schilderungen einzelner Verhältnisse sehr leicht zu finden sind. Darum ist eine Erscheinung wie de Sade auch nicht mit der Erklärung abzutun, er sei pathologisch gewesen. Das mag er nebenbei auch gewesen sein. Pathologisch ist aber schließlich jeder, der von der idealen Norm abweicht, die es ja nirgends gibt. Es ist nur der abweichende Stärkegrad, der hier in Betracht kommt. Und insoweit wir es mit dem Schriftsteller zu tun haben, ist es ganz zweifellos, daß seine eigene Zeit seinen Werken ein sehr großes Verständnis entgegenbringt und daß man damals den Abstand zwischen dem eigenen pathologischen Zustand und dem de Sades bei weitem nicht als so groß empfand, wie der Leser einer gemäßigten Zone und einer prüden Epoche. Die koprolalen Ergüsse de Sades waren nicht für den wohltemperierten Leser des XX. Jahrhunderts berechnet, sondern für den Leser seiner Zeit, der Revolutionszeit.

Bleibt die Frage, ob seinen Werken irgendein etwaiger künstlerischer Wert beizumessen ist. Aber auch das muß man verneinen. Mehr als je trifft hier das Wort zu, daß der Stil der Mensch ist, und dieser Stil de Sades ist die absolute Kaprolalie; es ist der Stil eines Manniakalischen, eines von einer fixen und schmutzigen Idee Besessenen, dessen Phantasie sich nur wohlfühlt, wenn sie im Widrigsten wühlt, und dem jedes Taktgefühl und der letzte Rest von Geschmack abhanden gekommen sind; der nach außen ein eleganter Dandy von sanfter Lebensart scheint, in dessen Blut aber ein toller Wüstling lebt und dessen Geist das Tummelfeld herostratischer Buhlereien ist; der aber gerade deshalb ein Phänomen ist, an dem man nicht vorübergehen darf, wenn man die letzten Möglichkeiten der menschlichen Natur erkennen will.


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