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Der Wert der Anekdote

Achtzehn Jahre alt, schrieb ich ein kleines Buch, das den Titel trug: »Wie sollen wir Heinrich Heine verstehen?« und das mit folgender These schloß, die ich übrigens auch heute noch für richtig halte: »Nie hätten wir das vollständige Bild des sterbenden Dichters in prägnanten Umrissen vor Augen gehabt, wenn wir dem erwachenden nicht in den merkwürdigsten Zügen gefolgt wären. Um das zu verstehen, was in Heine für alle Ewigkeit unsterblich sein wird, mußten wir seine poetische Existenz aus den Jugendeinflüssen erklären, denn aus den frühesten Anfängen erklären sich die spätesten Erscheinungen.‹

Heute darf ich gestehen, daß ich mir, als ich diese Sätze schrieb, nur in dunklem Drange des rechten Wegs bewußt war. Klarer und eindringlicher habe ich 1903 in der Vossischen Zeitung die Anekdote als bedeutsamstes psychologisches Auskunftsmittel gepriesen, und erst einige Jahre später fand ich in der Thomas de Quincey-Biographie Baudelaires meine Ansichten bestätigt. »Alle Biographen« sagt er da, »haben mehr oder weniger die Bedeutsamkeit der Anekdoten begriffen, die sich auf die Kindheit eines Schriftstellers oder eines Künstlers beziehen. Doch finde ich, daß diese Bedeutsamkeit noch nicht genug hervorgehoben worden ist. Oftmals, wenn ich Werke der Kunst betrachtete, nicht in bezug auf ihre erfaßliche ›Materialität‹, auf die allzu verständlichen Hieroglyphen ihrer Konturen oder auf den augenfälligen Sinn ihrer Stoffe, sondern in bezug auf die Seele, mit der sie begabt sind, auf die atmosphärische Ausdruckskraft, die ihnen innewohnt, auf das geistige Licht oder die Dunkelheiten, mit denen sie unsere Seelen überschatten, habe ich eine Vision von der Kindheit ihrer Schöpfer mich überkommen gefühlt. Ein noch so geringer Kummer, eine noch so kleine Freude des Kindes, sie werden, durch eine ausgesucht feine Sensibilität gesteigert, später im erwachsenen Menschen, selbst ohne sein Wissen, der Ausgangspunkt eines Kunstwerkes. Schließlich – um mich bündiger zu fassen –: Wäre es nicht ein leichtes, durch eine philosophische Vergleichung der Werke eines gereiften Künstlers mit dem Kindheitszustande seiner Seele zu erweisen, daß das Genie nur das klar formulierte Kind ist, jetzt, um sich auszudrücken, mit mannbaren, kraftvollen Organen ausgerüstet? Ich maße mir indessen nicht an, diese Idee der Philosophie als irgend etwas Besseres denn eine bloße Konjektur vorzulegen.«

Ich freute mich an diesen Ausführungen, wie man sich über jeden Gleichgesinnten freut, wenngleich Baudelaire sich noch nicht getraute, diese Idee der Philosophie für mehr als eine bloße Konjektur zu halten. Für mich ist sie mehr als eine Vermutung und mehr als eine Wahrscheinlichkeit.

Will man die Eigenart eines Dichters prägnant charakterisieren, in seine geistige Werkstätte eindringen, die Art und Weise seines Schaffens belauschen und endlich die Entstehung seines Werkes bis an die Uranfänge zurückverfolgen, so kann man zwei methodische Wege gehen: den analytischen oder den anekdotischen. Beide führen an dasselbe Ziel. Aus der Summe der gewonnenen Tatsachen lassen sich gewisse psychologische Folgerungen ziehen, die ein ungefähres Bild des zu Beschreibenden geben. Über die Brauchbarkeit der Methoden läßt sich streiten. Die psychologische Analyse, die darin besteht, die menschlichen Werke, insbesondere die Kunstwerke, als Erzeugnisse und Tatsachen aufzufassen, deren Wesen zu bestimmen und deren Ursachen zu erforschen sind, – diese Methode, die wir seit Taine ganz bewußt vertiefen und ausbauen, genügt aber nicht immer, um die dunkelsten Punkte in der Psyche des Künstlers auszudeuten. In solchen Fällen wird man gut tun, sich der authentischen Anekdote zu bedienen. Im menschengeschichtlichen Zusammenhang der Dinge werden tausend Fäden durcheinander gewoben, aber wir wollen und können oft nur einen gleichmäßig verfolgen. Dies ist dann der »rote Faden«, der uns durch die Labyrinthe der komplizierten Dichterseele geleiten soll. Und der einmal gewählte Weg bestimmt unsere Auffassung und Betrachtungsweise. Der eine bevorzugt das Milieu, der andere die Rasse, der dritte die Erziehung usw., d. h., jeder fördert bei seiner Analyse ein und desselben Dichters stets anderes Material zutage, und dies deshalb, weil jeder die Zusammenhänge und Dinge anders sieht. Letzterdings ist der Dichter stets vom differenten Temperament des Kritikers abhängig und davon, ob der Kritiker ein Seelentaucher ist oder nicht.

Ich meine: wenn es mir auf Grund meiner Untersuchung auch gelungen sein sollte, darzutun, daß Eltern und Amme, Ort und Zeit, Luft und Licht, Kost und Kleidung, Gehirnkonstruktion und Erfahrung, Gelegenheit und Studium, Gesundheit und Gesellschaft die Eigenart eines Dichters soundso formen und kristallisieren mußten, so bleibt dennoch oft ein ungelöster Rest, der, wenn ich ihn nicht zu ergründen vermag, mir selbst die gewissenhafteste psychologische Analyse wertlos macht.

Die Anekdote dagegen leuchtet oft blitzartig in das Urwesen des Dichters hinab und erspart das mühselige Nachstapfen des Lesers in die psychologischen, kritischen, analytischen oder ästhetischen Gedankengänge des Kritikers. Die Sonde der Psychologie vermag nicht so tief einzudringen in das dunkle Gebiet der Gehirnfunktionen, das wir Geist nennen; denn die Analyse eines großen Menschen beschränkt sich zuletzt doch immer nur auf eine mehr oder minder glückliche Umschreibung verschiedener Eigenschaften und Merkmale, die wir mit unseren unvollkommenen Sinnen an ihm wahrgenommen haben.

Man vertiefe sich beispielsweise in folgende verbürgte Anekdote, die von Dostojewski erzählt wird. Er begegnet eines Tages einem zerlumpten Kinde, das ihn anbettelt und das, nachdem es ein Geldstück empfangen hat, ohne zu danken, hastig fortläuft, sich ab und zu ängstlich nach dem armen, großmütigen Geber umschauend. Dostojewski ruft das Kind an; es eilt um so schneller davon. Diese alltägliche Episode genügte, um in Dostojewski den ergreifenden Roman »Nettchen Neswanow« entstehen und ausreifen zu lassen. Vernehme ich diese Anekdote, so offenbart sie mir mehr über die Gefühlstiefe, die Schaffensart, die Sensibilität, die Assoziationskraft des Dichters, als selbst die ausführlichste kritische und ästhetische Untersuchung. Vergleiche ich schließlich die Ursache und Veranlassung des Werkes mit dem Werke selbst, so bekomme ich sofort ein absolut deutliches Bild von der dichterischen Phantasie Dostojewskis; ich sehe, was er von dem Eindruck hinzugetan oder hinweggenommen hat; ich sehe, wie seine Phantasie spielt, wie sie Fragmentarisches ausbaut, aus einem augenscheinlichen Nichts eine lebens- und leidensvolle Welt hervorruft; wodurch und wie der Schöpfer in ihm wach wird und was ein Eindruck in ihm auszulösen imstande ist. Dies erklärt mir auch, warum die breite Masse, wenn sie einem Helden oder dichterischen Liebling näherrücken will, zunächst nach seiner rein menschlichen Seite fragt und lieber zu einem zuverlässigen Anekdotenbuche als zu psychologischen Analysen greift, die sich auf eine Aufzählung und Summierung von Tatsachen beschränken, deren Resultat nie ein vollkommenes Bild gibt.

Auf dieser Tatsache beruht auch der große Erfolg Samuel Smiles, dessen populäre Bücher über den Charakter, die Selbsthilfe, die Pflicht usw. nicht eigentlich Analysen dieser Eigenschaften sind, vielmehr nur eine ungeheure Menge zusammengetragener Anekdoten darstellen, die diese Eigenschaften aufs beste beleuchten. Er fragt z. B. was Mut, was Forschungsdrang sei, und antwortet mit der Geschichte des berühmten Anatomen Vesalius, der in seinem Bette Leichen verbarg, die er nur des Nachts sezierte, weil die Zergliederung des Menschen im Mittelalter noch als Zauberei angesehen wurde. Man überraschte ihn aber einmal beim Präparieren und verurteilte ihn denn auch zum Tode. Man verurteilte ihn, weil er kühn genug war, das Wissen der Menschheit zu bereichern, und weil der Wissensdrang ihn trieb, seiner Zeit vorauszueilen.

Man mache den Versuch, und man wird finden, daß man keine der menschlichen Eigenschaften, weder Großmut noch Tapferkeit, List oder Verschlagenheit, Laune, Grausamkeit, Witz, Phantasie, Gutmütigkeit, Liebe, Haß, Freundschaft, Weisheit, Bescheidenheit usw., alle die einzelnen Wesenszüge, die in ihrer Gesamtheit die menschliche Seele bilden, erschöpfender und eindringlicher umschreiben und darstellen kann als mittels der Anekdote. Sie ist vielleicht das psychologisch feinste Hilfsmittel, das wir überhaupt besitzen. Das hat Georg Brandes sicher, wenn auch nicht bewußt gefühlt, als er in seinem Werke »Die Hauptströmungen der Literatur des XIX. Jahrhunderts« folgendes Geständnis niederschrieb: »Ich will mich einerseits bestreben, die Literaturgeschichte so psychologisch wie möglich zu behandeln, so tief hinabzusteigen, wie ich es vermag, die Gemütserregungen zu erfassen, welche weit zurück, tiefst innen die jedesmal in Erscheinung tretende Literatur vorbereiten und erzeugen … Und anderseits will ich versuchen, das Resultat in einer so äußerlichen und handgreiflich plastischen Form wie möglich darzustellen. Gelänge es mir, das versteckte Gefühl und die abstrakte Idee, welche überall zugrunde liegen, in präziser und anschaulicher Form wie in der Silhouette und im Profil zu geben, so wäre meine Aufgabe gelöst. Am liebsten zeigte ich stets das Prinzip gern in der Anekdote verkörpert

Ich lege ein großes Gewicht auf diese Stelle, denn sie bestätigt am treffendsten, was ich eben behaupte: daß, wenn man in die tiefste Tiefe der menschlichen Seele dringen will und »so psychologisch wie nur irgend möglich« sein will, die Anekdote die einzige Fackel ist, die jene mystischen Abgründe erhellt.

Novalis, dieser kranke Prophet, scheint etwas Ähnliches sagen zu wollen, wenn er einmal die Weltgeschichte eine große Anekdotensammlung nennt! Übrigens teilt er die Anekdoten in witzige, bedeutende, sentimentale, moralische, wissenschaftliche, politische, historische, individuelle, charakteristische, drollige, artistische, humoristische, romantische, tragische und poetische. Aber der Dichter, der diese etwas oberflächliche Einteilung vorgenommen hat, ist kein großer Psychologe. Denn ebenso wie es unmöglich ist, die tausenden Eigenschaften, die die menschliche Seele ausmachen, vollkommen aufzuzählen, ebenso unmöglich ist es, alle Spielarten von Anekdoten festzustellen.

Nicht allein für die Deutung der künstlerischen Werke und ihrer Schöpfer ist die Anekdote also von eminentem psychologischen Wert, sie wird uns oft auch der Schlüssel zum Verständnis vergangener Kultur- und Literaturepochen, kühner philosophischer Gedanken, wissenschaftlicher Reformen, militärischer Aktionen, plötzlicher Revolutionen; sie läßt uns komplizierte philosophische Systeme, die wir sonst nur nach langem Studium erfassen würden, blitzartig in ihrer Schlichtheit begreifen. Die Stimmung zu kennen, in der ein philosophisches Werk geboren wird, kann zum Verständnis dieses Werkes oft weit mehr beitragen als ein weitschweifiger Kommentar; denn letzterdings setzt das Schaffen philosophischer Theorien ja auch wieder künstlerischen Sinn, Begeisterung, Überzeugungskraft, kurz, alle Prämissen des dichterischen Schaffens voraus.

Ein Beispiel: die vielberühmten und vielberüchtigten Werke Histoire naturelle de l'âme und l'Homme machine des französischen Arztes Lamettrie haben keine andere Entstehungsursache als ein heftiges Fieber, von dem Lamettrie während eines Feldzuges ergriffen wurde. Genaue Selbstbeobachtung ließ die Anschauung in ihm lebendig werden, daß alle Kräfte der Seele im letzten Grunde doch nur vom Körper abhängen, daß es beispielsweise nur nötig sei, übermäßig zu essen und zu trinken, um einem Vieh gleich zu werden, »um dem vergänglichen Leib die volle Herrschaft über die Seele einzuräumen«. Er fühlt während des Fiebers, wie sich sein Verstand bald verdunkelt, bald – wenn das Fieber steigt – wie die Kraft seiner Phantasie wächst, und er erkennt, daß das Fieber aus einem vernünftigen Menschen einen Irrsinnigen und umgekehrt aus einem Dummkopf ein Genie machen kann. Der menschliche Körper ist ihm demnach nichts als eine Maschine, die tüchtig gespeist werden muß, wenn ihre schöne Seele nicht zum Teufel gehen soll. Stärkt man aber den Körper, so wird auch die Seele stark. Der Soldat, der beim Genuß von Wasser vor dem Feind geflohen wäre, vollbringt mit erhitzenden Getränken im Leibe Heldentaten. Man beobachte nur die Ausschreitungen des Hungers, beobachte denselben Menschen, wenn er krank und wenn er gesund ist, und man wird einräumen müssen, daß die Seele sozusagen im Magen wohnt und daß die Stimmung unserer ganzen Maschine vom Magen abhängig ist.

Vergißt man während der Lektüre dieser Werke nie den ursprünglichen Beweggrund, der sie zur Auslösung brachte, so sieht man, wie es eigentlich nur Verzweiflung ist, die den Philosophen einem krassen Materialismus in die Arme treibt. Er erkennt in seinem Fieberzustande die ganze Erbärmlichkeit und Hilflosigkeit der menschlichen Seele; er sieht sie dem Körper erliegen, fühlt die brutale Übergewalt des Materiellen und – verhöhnt die schwache Seele. Was ist diese eure göttliche Seele, fragt er voll Bitterkeit; gebt einem Menschen ein paar Tropfen Gift, und seine Seele ist nicht mehr, oder gebt einem Hungerssterbenden einen Schluck Wein zu trinken, und ihr habt seine göttliche Seele wieder gerettet.

Um gerade an diesem Beispiel zu zeigen, wie aufschlußreich eine kleine Anekdote für den ganzen Menschen, für seine Lebensart und philosophische Anschauung werden kann, sei noch folgende mitgeteilt, die ich in meinem Werke über »Lamettrie« erzähle. In den Schmerzen des Todeskampfes ruft Lamettrie, dieser geborene Atheist, ein über das andere Mal »Ach Jesus Maria!« aus. Ein anwesender Geistlicher, darob sehr erfreut, sagt zu dem Sterbenden: »Das ist recht, mein Teurer, daß Sie Ihre Zuflucht wieder zu Jesus nehmen,« und prompt antwortet der Verscheidende: »Ach, das ist nur so eine Phrase!«

Kann man – frage ich – eine deutlichere Vorstellung von dem Ideenkreise Lamettries bekommen, als sie durch diese Anekdote gegeben wird, und macht sie in der Tat nicht jede Erläuterung überflüssig?

Man kennt die reizende Anekdote von Friedrich II. Ein Rekrut wurde wegen Gotteslästerung, Majestätsbeleidigung und Beleidigung des Berliner Magistrats angeklagt. Fritz, dem das scharfe Urteil über diesen Fall vorgelegt wurde, änderte es etwa wie folgt ab: Daß der Rekrut Gott gelästert hat, ist nicht meine Sache; Gott wird ihm verzeihen, denn das ist sein Beruf. Daß er seinen König beschimpft hat, lasse ich ihm in Gnaden hingehen, aber daß er den Magistrat von Berlin beschimpft hat, das kann ihm unmöglich verziehen werden; dafür soll der Kujon eine Stunde nach Spandau.

Hört man aus dieser Anekdote nicht den skeptischen Ton Lamettries heraus, der die Ideen Friedrichs des Großen wesentlich beeinflußt hat, und gibt sie nicht im Moment ein vollkommenes Bild vom Geiste und von der Persönlichkeit Friedrichs?

Um noch ein bekannteres Beispiel heranzuziehen, scheint es mir durchaus charakteristisch, wenn man vom Galileischen Pendelgesetz spricht, stets den Kronleuchter im Dom zu Pisa zu erwähnen, der den Anlaß zur Aufstellung dieses Gesetzes gegeben haben soll. Auch diese Anekdote zeigt, wenn man die Distanz zwischen der Ursache und Wirkung bemißt, mit welch starker Phantasie und schöpferischer Kraft Galilei begabt gewesen sein muß und wie sein Intellekt arbeitete.

Das Luthersche »Gott helfe mir, ich kann nicht anders!«, das Giordano Brunosche »Ihr, die ihr mich zum Feuertode verurteilt habt, fühlt vielleicht größere Furcht als ich, über den ihr urteiltet!« sind mir psychologisch viel wichtiger und sagen mir mehr, als die feinsten Analysen.

Ja, ich gehe noch weiter und behaupte, daß die Sucht des Volkes, Anekdoten zu erfinden und selbst zu bilden, hauptsächlich dem Drange entspringt, einen bedeutenden Menschen rasch und gewissermaßen intuitiv begreifen zu können. Solch eine Anekdote, anfangs vielleicht gar nicht charakteristisch für den, um den sie gesponnen ist, charakterisiert doch recht gut den Geist ihrer Erfinder und den Geist der Zeit; allmählich erfährt die Anekdote verschiedene Variationen; diese werden immer mehr zugespitzt, immer prägnanter, bis das Volk endlich bei der Fassung stehen bleibt, die in der Tat authentisch sein könnte, so sehr ist sie dem Wesen des Helden gemäß.

Aus allen Anekdoten wird aber stark und aufdringlich hervorgehen, daß es zuletzt immer nur das rein Menschliche ist, das uns die Großen näher bringt und uns ihre Werke und Taten am besten begreifen läßt. Wir verstehen oft nicht die ekstatische Sprache des Dichters oder die gelehrte des Forschers oder die schwierige des Philosophen, aber wenn wir erst einen rein menschlichen Zug des Dichters oder Forschers kennengelernt haben, sind wir in seiner Seele nicht mehr so fremd und nehmen rascher zu seinem Werke Stellung. Wie ein Licht, das in einen abgrundtiefen Brunnen hinableuchtet, erhellt die Anekdote uns die Seele. Das Licht offenbart uns zwar keineswegs die wirkliche Tiefe; aber der Schauer in uns ist größer, wenn wir die Tiefe kraft des Ahnungsvermögens uns unendlich ausmalen können, als wenn wir diese Tiefe bis auf den Zentimeter mit dem Senkblei ausgemessen haben.

Ist erst unser persönliches Interesse erweckt, so ist unsere Lust, den Autor verstehen zu wollen, stärker, unsere Hingabe an das Werk intensiver und unser Verständnis dafür ein um so tieferes. Je bedeutender der Mensch, desto weniger werden wir ihn mit dem Verstande allein umfassen. Die Anekdote hilft uns hier. Sie berichtet uns etwas allgemein Menschliches, aber Charakteristisches, das uns – wenn auch unbewußt – hellsichtig macht für das Wesen des Dichters. Vermöge der Anekdote überbrücken wir mit Hilfe der Phantasie die Lücke, die zwischen dem Charakteristikum der Anekdote und dem Charakter dessen, von dem sie erzählt wird, klafft. So allgemein gewinnen wir ein persönliches Verhältnis zum bedeutenden Menschen. Die Phantasie rekonstruiert ihn, in der Anekdote erleben wir ihn – und dann wird er uns auch zum lebendigen Ereignis.

Aber nicht allein für das Verständnis der Schaffenden ist die Anekdote bedeutungsvoll; das Geschaffene selbst wird durch die Anekdote beleuchtet, ausgeschmückt und lebendig gemacht. Der Dichter, der seine Personen darstellen und psychologisch vertiefen will, hat gar kein anderes Hilfsmittel als das anekdotische Beiwerk; es ist das Fleisch und Blut um das Gedankengerippe. Seine Menschen bleiben Schemen, wenn sie zu wenig glaubhaft Anekdotisches haben oder wenn das Anekdotische nicht zu den Gedanken paßt, die sie darstellen sollen. Dann kommen wir nie an die Seele dieser Helden heran; es fehlt ihnen dann das Leben, und am Ende glauben wir gar nicht, daß sie eine Seele haben, und wenn, dann sicherlich keine differenzierte. Beim Dichter läuft aber alles auf die Darstellung, auf die Lebendigmachung seiner Probleme hinaus; seine Dichtung ist nichts als ausgeführte Metapher; Metapher, durch anekdotisches Kleid lebendig und wirksam geworden. Goethe will sagen, daß die Werkzeuge des Genies nur in den Händen des Genies gefahrlos ruhen, in den Händen des Stümpers aber diesen vernichten – und er findet, um diesen Aphorismus lebendig zu machen, den Zauberlehrling und die Anekdote mit dem Besen. – Wenn ein schwacher Mensch einer großen Tat nicht gewachsen ist, fällt er selbst als Opfer. Dies so zu sagen, war banal; aber in der Einkleidung der Raskolnikow-Anekdote wirkte die Idee fortreißend. Jedem Roman liegt irgendeine Idee zugrunde – sie kann natürlich dumm sein, banal, neu, gewaltig, raffiniert usw. –, die mit tausend Anekdoten belastet ist; Romane sind ausschweifender Symbolismus, wie die Dramen konzentrierter Symbolismus sind. Und gerade an den Dramen sieht man es am deutlichsten, wie alles Symbolische, Abstrakte in der Kunst nur darstellbar ist im Anekdotischen.

Meine erste Frage bei der Lektüre einer Dichtung lautet nicht: Hat dieser Mensch einen Gedanken? Liegt ihm ein Gedanke zugrunde? sondern: Ist das überhaupt ein Mensch? Und diese Frage wird mir durch die Anekdoten beantwortet, mit deren Hilfe der Dichter seine Gestalt beschreibt und darstellt; z. B. Schiller den Tell in der Hutszene, dem Apfelschuß, dem Sprung vom Schiffe, dem Morde Geßlers usw. Erst wenn mir der Mensch durch die Anekdoten glaubhaft geworden ist, frage ich nach dem Gedanken, den er darstellen soll, – wenn er überhaupt einen darstellen soll. Denn jeder Gedanke ist auch ein Kerker; etwas Begrenztes und Endliches; etwas, das ich ausdenken kann und das ich endlich erschöpfe. Der Mensch aber ist ein Unerschöpfliches. Solange ich auch den Menschen studiere, es bleibt stets ein ungelöster Rest, der mich immer von neuem reizt. Und immer neue Quellen öffnen sich, wenn die alten versiegen. Der Gedanke ist nur das Produkt des Menschen; der Mensch aber ist die Schöpfung eines Allmächtigen.

Der Dichter gibt dem Menschen, den er erschafft, einen leitenden Gedanken, der ihn beherrscht. Hat man diesen gefunden, so hat man den Schlüssel zu seiner Seele. Schließe ich diese auf und finde nur immer wieder Gedanken und Gedanken, so wende ich mich ab, wie von etwas Totem. Ich suche das Menschliche in dieser Seele, das mir der Dichter nur durch Anekdotisches zeigen kann.


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