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Es ist längst offenkundig, daß der Bildungsgrad und das moralische Niveau der meisten Leute, die von Beruf Kritiker sind, in vielen Fällen unter dem Gefrierpunkt angelangt sind. Ihr kritisches Können und ihre Gewissenhaftigkeit stehen im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Aufgeblasenheit und Moraltrompeterei; das Gefühl, »des Henkers Schwert« schwingen zu dürfen, und sei es auch nur im Kitzebacher Anzeiger, gibt diesen »Kritikern« eine völlig falsche Meinung von sich und der Wichtigkeit ihres Tuns. Im Kitzebacher Anzeiger schreibt der Redakteur über die gestohlenen Meerschweinchen, über die Geburt des sechsten Pfarrerskindes, über die Fohlenversteigerung in Hupfingen, über das Frauenwahlrecht (zustimmend natürlich!) und über den letzten Roman von Rudolf Stratz. Weil er (nicht Stratz!) schreiben gelernt hat, muß er über alles schreiben können, und das ist nicht nur bei den Schmocks der Fall, die links und rechts schreiben können, sondern bei sehr vielen, die Schmock verlachen und ihn als eine durchaus unanständige Erscheinung betrachten, von der sie weit abrücken. Aber mit der gleichen Kraft, mit der sie Schmock verachten, weil er schreiben kann, wie und was man von ihm verlangt, würden sie sich selber verachten, wenn sie nicht ebenfalls über alles schreiben könnten, was man von ihnen verlangt. Nur in dem »Wie« machen sie einen Unterschied. Aber dieser Unterschied ist nur scheinbar. Ein Redakteur, der aus einer linksstehenden Zeitung austritt und in eine rechtsstehende eintritt (weil er sich vielleicht nicht gestatten kann zu warten, bis er wieder in einer linksstehenden Zeitung eine Stellung findet) wird, selbst wenn er nur als Kunstkritiker verpflichtet wäre, für den die politische Zugehörigkeit doch etwas vollkommen Irrelevantes ist, in einer Kritik die Parteifarbe niemals restlos verleugnen können. Unwillkürlich wird er sich auch politisch auf die Zeitung einstellen, für die er schreibt. Aus dem einfachen Grunde, weil die Kritik der Tageszeitungen mit Kritik, d. h. mit rein sachlicher, künstlerischer Beurteilung eines Kunstwerkes, nicht das geringste zu tun hat. Man kann höchstens von berichterstattendem Feuilletonismus reden; aber das trifft nicht nur für Kitzebach zu. Selbst an Berliner Zeitungen, die eine europäische Verbreitung haben, herrschen die gleichen Zustände. Es sind fixe alerte Herren, die in diesen Redaktionen sitzen, und zum mindesten haben die meisten ihrer Zunft das Talent, ihre Ignoranz geschickt verbergen zu können. Von der Erfüllung der Anforderungen, die ich an einen Kritiker stelle, sind sie weiter entfernt als vom Monde. Sie schreiben mit demselben »heiligen« Eifer über die Kunst der Schauspielerin B., Kartoffelsalat anzurichten, – dies wurde in einer Berliner Zeitung von Weltruf erörtert! – wie über das Mysterium eines Kunstwerkes. Sie verfügen über einen reichen Fundus gestanzter Superlativ-Phrasen, die sie über alle Dinge mit gleicher »Objektivität« ausschütten. Jeder nichtige Roman ist »der bedeutendste«, sein Dichter »der größte«, der Stil »der farbenprächtigste«. Tovote und Schlicht werden mit derselben Phraseologie verherrlicht wie Maeterlinck und Jammes. Wenn sie vor den »Dichtungen« der extremen Expressionisten, Dadaisten oder anderer -isten stehen, wissen sie nie, was dümmer ist: sie selber oder das, was diese Dichter bieten. Um aber in keinem Falle hinter den Zeitgenossen zurückzubleiben, schwatzen sie drauf los. Denn schlimmer als die Angst, sich vielleicht zu blamieren, ist die Angst, nicht sofort obenauf und überlegen zu sein und die wichtigste Anforderung: »über alles in vielen Worten nichts zu sagen«, etwa nicht erfüllen zu können. Sie haben weder Distanz zum Werk noch zu seinem Schöpfer; sie wissen selten, ob es sich um einen Schmöker oder um ein Kunstwerk handelt, und warten immer erst auf die gedruckte Meinung des Anderen, um die ihrige danach einzustellen, und das ergibt dann »die schöne Einstimmigkeit der Kritik«. Sie haben oft keine Ahnung von dem, was sie »kritisieren«; aber sie kritisieren mit eben jener Unbefangenheit drauf los, die man sich nur bewahrt hat, wenn man den Dingen völlig ahnungslos gegenübersteht und vor allem, wenn man kein Gewissen hat.
Charakteristisch ist das Geständnis Richard Muthers, daß er zu Beginn seiner kunstkritischen Tätigkeit die Gemälde der Ausstellungen, über die er zu schreiben hatte, buchstäblich mit der Elle maß und die Bedeutung eines Kunstwerkes nach seinem Quadratmeter-Umfang abschätzte. In literarischen Dingen gibt es nur wenige Kritiker, die nach anderen Maßstäben urteilen.
Ich schreibe all dies ohne jede Bitterkeit nieder, denn ich erhoffe nicht im geringsten, daß diese Zustände geändert werden würden, um so weniger, als die Geschichte der Presse lehrt, daß die Verhältnisse zu allen Zeiten die gleichen waren. Durchblättert man die Zeitungen von säkularem Alter, so findet man in derselben Zeitung während einer Spanne von etwa fünfzig Jahren, daß die Schopenhauer, Richard Wagner, Nietzsche anfangs »die größten Nichtskönner und Humbugmacher, die schlimmsten Betrüger der Menschheit« usw. sind; zehn Jahre später läßt man sie schon gelten, nach wiederum zwanzig Jahren werden sie bereits geachtet, und sobald sie gestorben sind, erfolgen Aufbahrung, Heiligsprechung, Anbetung in konsequenter Reihenfolge, und derjenige würde nunmehr »der größte Nichtskönner und der schlimmste Feind der Menschheit« sein, der auch nur einen Einwand gegen die gefeierten Größen, die fortan in schlechter Gipsausführung auf der Kommode jedes Philisters stehen, vorzubringen sich erdreistet.
Es ist nicht zu verlangen, daß jeder Leser diese Behauptung auf ihre Wahrheit nachprüfe; genug, ich gebe die feierlichste Versicherung, daß jede irgendwie belangvolle Zeitung diese Erscheinung und ihre Wandlungen aufweist; derselbe Künstler, der vor zwanzig Jahren verächtlich gemacht und als der Aussatz der Menschheit geschildert wurde, wird in denselben Spalten heute wie ein Idol angebetet. Wenn ich an das Schicksal Frank Wedekinds erinnere, wird vielleicht jeder, der über dreißig Jahre alt ist, wissen, in wie hohem Grade ich recht habe und daß es heute schon jede höhere Tochter für Ehrensache hält, die »Büchse der Pandora« auswendig aufsagen zu können. Aber Wedekind ist nur ein typischer Fall; es ging allen Künstlern so. Umgekehrt sind in eben diesen Zeitungen vor zwanzig Jahren Pseudogenies mittels der heftigsten Superlative wie Kinder-Gummiballons aufgeblasen worden, die dann sehr bald zerplatzten.
Diese jähen Wandlungen haben ihre Ursachen natürlich nicht nur in der relativen Beschränktheit der Kritiker, die ohne Zukunftsblick und ohne Instinkt ihr Handwerk treiben, sondern erstens in der Tatsache, daß an einer und derselben Zeitung, an der die Kritiker jährlich wechseln, innerhalb von zwanzig Jahren zwanzig verschiedene Kritiker Kunstkritik machen, und jeder Kritiker »darf« natürlich seine »eigene Meinung« haben; zweitens daß die Kunstkritiker zu allen Zeiten ihre Grenzen, Befangenheiten, Aversionen und Sympathien hatten. Goethe ist darum nicht kleiner, weil er Kleist und Heine abgelehnt hat. Goethe hat das gute Recht, auch einmal daneben zu hauen; nur soll man sich nicht auf die Irrtümer und Dummheiten berufen, die Goethe natürlich ebenso gemacht hat wie jeder andere Sterbliche. Es kommt auch gar nicht so sehr auf das Was an, sondern auf das Wie. Wenn ein Tolstoi ein voluminöses Buch schreibt, um Shakespeare und Beethoven abzulehnen, so kann man vielleicht darüber lachen, daß er diese Objekte gewählt hat; aber die Art seiner Ablehnung muß doch unbedingt Respekt einflößen. Denn man fühlt, daß hier ein bedeutender Geist ringt und kämpft und sich seines verantwortungsvollen Tuns durchaus bewußt ist. Und dies ist des Pudels Kern. Aber Verantwortung und Respekt sind eben die beiden wesentlichsten Dinge, die den meisten »Kritikern« fehlen.
Besonders in der Provinz sieht es in dieser Beziehung geradezu grauenerregend aus. Wählen wir einen Fall, den ich besonders gut kenne; er ist typisch.
Der Verfasser dieses Buches ist aus kleinsten Verhältnissen herausgewachsen. Sein Vater war ein armer Hausierer, der mit Vornamen Abraham Jakob hieß und sich Nacht für Nacht sehr schwer plagte, um seinem Weib und seinen Kindern das nötige Brot und das nötige Geld für die Schulausbildung zu schaffen.
Das alles ist – wie mir scheint – Privatangelegenheit. Hat nun ein Kritiker, der zufällig all dies weiß und dem dieses Buch zur Beurteilung seines künstlerischen und kritischen Wertes vorgelegt wird, das Recht, diese Privatangelegenheit in seiner Kritik unterzubringen oder gar sie zum Ausgangspunkt seiner Kritik zu nehmen? Wird der Wert dieses Werkes dadurch gemindert, daß man weiß, sein Verfasser stamme von einem jüdischen Hausierer ab? Oder würde dies Buch an Bedeutung gewinnen, wenn sein Autor zufällig in einem fürstlichen Hause geboren wäre?
Und nun lese man: »Poritzky ist ein kritischer Kopf und seine kritischen Aufsätze und Feuilletone lesen sich angenehm und verraten Geist und Gemüt. Also so weit ist Poritzky nicht unbekannt, wohl aber als Dramatiker. Außerdem aber ist der Dichter auch geborener Karlsruher, aber doch nicht ganz, wie uns der Dichter selbst versichert. In Wirklichkeit ist er in Lomza in Rußland geboren, aber nur geboren, wie er selbst in einer Autobiographie hervorhebt. Dagegen war sein Vater wohlbekannt; wer hätte den alten, guten Abraham nicht gekannt, den bekannten Wirtschaftshausierer, den Hemdenknöpfchenlieferanten für die akademische Jugend, den liebenswürdigen alten Herrn mit seinen grauen Löckchen, der so manchen guten und schlechten Witz über sich ergehen ließ und ruhig von Tisch zu Tisch weiterwanderte und dem Schreiber dieser Zeilen vor Jahren das erste ›Gedruckte‹ seines Sohnes überreichte. Es war ein braver alter Herr, dem wir gern gewünscht hätten, daß er am letzten Samstag den Erfolg seines Sohnes erlebt hätte. Das Lächeln hätten wir sehen mögen. Das würde ihm ein Stückchen von jenem Glück ausgemacht haben, dessen Seligkeiten uns im Stück gepredigt werden.« (Karlsruher Tageblatt vom 26. Oktober 1908).
Ein anderer Fall: Von Robert Prechtl sollte in Karlsruhe »Die Nacht der Jenny Lind« aufgeführt werden, ein Werk, das ebenso warmer Anerkennung wie heftiger Ablehnung begegnet ist und das noch vor seiner Aufführung zu der in literarischen Kreisen bekanntgewordenen »Lindrevolte« der Karlsruher Schauspieler geführt hat. Bei der künstlerischen Beurteilung dieses Werkes kommt es wohl nicht so sehr darauf an, festzustellen, daß der Dichter gelähmt ist oder daß er sehr vermögend ist oder daß er als Industrieller eine führende Stellung einnimmt oder daß sein bürgerlicher Name anders lautet oder endlich, ob andere Werke des Dichters gut oder schlecht sind, sondern ob »Die Nacht der Jenny Lind« ein Kunstwerk ist oder nicht. Aber im »Karlsruher Residenz-Anzeiger« erschien eine Kritik, von der – weil sie charakteristisch ist! – hier gesprochen werden muß. Der – übrigens pseudonyme! – Verfasser dieser Kritik äußert über Wesen und Wirkung der Zeitungen (Residenz-Anzeiger Karlsruhe vom 9. 6. 19) folgende einsichtsvolle Meinung:
»Eine Zeitung wirkt nicht nur durch die Schreibekunst ihrer Erzeuger; sie übt rein mechanisch eine Wirkung aus; sie hat in der Tatsache ihrer Existenz einen Dynamo, der so wirkt wie ein Auto, das böse Buben ankurbeln und fortlaufen lassen. Die Zeitung ist ein Plakat. Wenn auf ihm steht, der Mitbürger X ist ein Lump, so wirkt das mit dem Mittel des mechanischen Druckapparats durch den Umweg über Seh- und Gehörnerven auf unsere Auffassung. Man braucht an die Anzeige ja nicht zu glauben; aber auf alle Fälle ist mal auf der Annoncenabteilung unseres Gedächtnisses die Nachricht festgelegt, daß der gute X ein Lump ist. Da es so viele Lumpen gibt – warum soll der X keiner sein? Die Welt der Schieber und Landesverräter ist groß, und die Seele ist ein weites Land. Die Zeitung zeigt an; das ist ihr automatisch ausgeübtes Verdienst. Ob diejenigen, die sie herstellen, Schmocks oder Ehrenmänner sind, tut nichts zur Sache. Eine Zeitung mag ihre Ansicht wechseln, so oft sie will, gegen bar oder auf kurzfristige Wechsel – sie vermittelt Anzeigen, Tatsachen; sie gibt Kunde und materialisiert Phänomene aus dem Reiche der Vorstellung in die greifbare Wirklichkeit. Sie vervielfältigt Behauptungen. Wenn A für sich sagt: der X ist ein Lump, so ist das so gut wie nichts. Wenn's aber in der Zeitung steht, sagen es 20 000 und 100 000 hören es. Die Zeitung ist also – jetzt hab' ichs, was ich sagen wollte – unabhängig von Geist und Gesinnung – eine Macht. Was Basilio in seiner herrlichen Verleumdungsarie singt – bei Beaumarchais im Lustspiel sagt er das viel geistreicher – daß aus kaum hörbarem »Lüftchen der Verleumdung« ein »Donner der Kanonen« wird, kann durch die Zeitung zur Klassizität höchster Verleumdungswirkung und Kunst erhoben werden. Wenn also die Zeitung in diesem Sinne wirkt, so braucht sich ihr Hersteller nichts darauf einzubilden; der mag noch so dumm oder perfid sein, er kommt als Dynamo nicht in Frage; selbst wenn er gesinnungstüchtig und geistreich ist, soll er sich ja nicht überschätzen, er wirkt erst, wenn die Zeitungsträgerin durch pünktliches Austragen ihrer Blätter die Dinge an den Mann bringt.«
Und derselbe von solchem Berufsernst und solcher Redlichkeit erfüllte Mann kritisiert ein paar Wochen später (29. 8. 19) »Die Nacht der Jenny Lind« von Robert Prechtl folgendermaßen:
»Wie der Dichter, so hat auch selbst der Vorhang nicht so viel Schamgefühl, daß er sich senkt; es geht alles bei offener Szene vor sich, und damit das Publikum die Nacht, die doch auch szenarisch miterlebt werden muß, also eines gewissen Zeitausmaßes bedarf, nicht dazu benützt, sich drängenden Gedanken hinzugeben, ertönt Musik, gerade wie beim Rosenkavalier. Natürlich, wenn es irgendeine Schweinigelei und Schamlosigkeit zu verhüllen gibt, wird die Musik immer als willfährige Kupplerin benützt. Die Musik hat Herr Prechtl natürlich nicht gemacht, denn er ist nur »Dichter«, wie er wiederholt mit dem sonoren Tonfall des Multi-Millionärs aus Berlin WW feststellt. Nun, um es gleich zu verraten – es kann ja doch nicht verschwiegen werden – Herr Prechtl ist gar nicht Dichter, sondern Großindustrieller und heißt gar nicht Prechtl, sondern Friedländer, und hält aus Neigung und Beruf allerhand Theater in Berlin und anderswo über Wasser … Das Stück ist ein Schmarren, eine Farce, eine Unanständigkeit, eine Groteske und ein Dokument dichterischer Impotenz. Von Charakteristik keine Spur. Die handelnden Menschen sind samt und sonders Schablone, Schwank- und Possenfiguren, nicht erlebt und nicht gesehen, blutleere Konstruktion. Die Szenenführung ist durchaus dilettantisch, der Dialog banal und witzlos; neben einer da und dort auftauchenden besseren Wendung erotisches Gestrüpp aus der Tertiär-Sphäre des rückständigen Berliner Feuilletonismus. Das Stück ist als Kunstwerk ganz unmöglich. Wenn Herr Friedländer behauptet, daß es demnächst in München aufgeführt wird, so weiß man, was dieser sonore Goldklang der Berliner Millionärstimme zu bedeuten hat. Man weiß auch, wie man es einzuschätzen hat, wenn er weiter deponiert, daß seine »Alkestis« in Dresden aufgeführt wurde. Nämlich im dortigen Albert-Theater, das seit Jahren einen hartnäckigen Kampf mit der Unausgeglichenheit finanzieller Fragen zu führen hat. Und wenn Herr Prechtl-Friedländer triumphierend weiter meldet, daß das Schauspielhaus in München die »Nacht der Jenny Lind« herausbringt, so wissen Unterrichtete wiederum, daß der Knüppel beim Hund liegt und Frau Hermine Körner, die Besitzerin des Theaters, es schwer haben wird, Knüppel und Hund aus ihrer organischen Verbindung zu lösen … Herr Friedländer mag sich in acht nehmen: auf einmal bietet man ihm das Kultusministerium in Preußen an; es ist heute niemand vor solchen Angriffen sicher … Im übrigen hat er sicherlich auch einen Freund unter den Berliner Ärzten für Geschlechtskrankheiten; einer davon sagt ihm gewiß, daß die von ihm gepriesene Kultivierung von Liebesnächten mit wechselnder männlicher Inszenierung bedenklich ist; Rückenmarksdarre und progressive Paralyse sind die regelmäßigen Begleiterscheinungen dieser fortgesetzten hellen Nächte … Monti.«
Hierzu ist zu sagen, daß Prechtls »Alkestis« zwar mit großem Erfolge am früheren Dresdener Hoftheater, aber niemals am Albert-Theater aufgeführt wurde und daß folglich die Konstruktion zwischen dem »Multimillionär« und dem wirtschaftlich kämpfenden Albert-Theater, die dieser redliche Kritiker vornimmt, eine niedrige ehrabschneidende Unterstellung ist.
Von derselben Qualität sind seine übrigen »rein sachlichen« Einwände. Ist es notwendig auf den Ton dieser Kritik noch besonders hinzuweisen? Goethes berühmtes Wort fällt einem ein: »Schlagt ihn tot, den Hund, es ist ein Rezensent!«, das man gern befolgen möchte, wenn man nur dürfte. Aber es gibt ein hierher gehöriges Zitat, das dieses »Kritikers« verderbliches Tun noch weit besser trifft; und zwar lasse ich wiederum diesen Kritiker selbst sprechen, obgleich er die nachfolgende Stelle gegen seinen Berufskollegen in derselben Stadt gemünzt hat (9. 6. 19): »So geht es in der Welt zu, so wird Kritik gemacht. Und die Kritik wirkt. Denn alle Kritik hat etwas Negatives; das Verneinende ist's, was zündet, denn des Menschen Dichten und Trachten ist böse von Jugend auf. Wer opponiert, hat den Mob für sich. Der ist aber in Theaterdingen nicht beim Arbeiterstand, sondern bei jener geistig-faulen trägen Masse, die sich als »gebildet« vorkommt, weil sie im Theater im Parkett sitzt und aus Hanns Heinz Ewers ein paar laszive Kapitel gelesen und in Berlin und München einige schlüpfrige Stücke absolviert hat. Da wirkt dann die Zeitung; da ist der Boden bereitet, auf dem der Pflug der Niedertracht die Bosheit aufwirft und der Säemann der Lüge die Giftkörner in die Furchen senkt …«
Beispiele solcher Art lassen sich zu Hunderten anführen. Wenn alle die Kritiker, die sich von dieser Art der kritischen Handhabung frei wissen, einen Stein auf diesen ihren Kollegen werfen würden – was er nach meiner Meinung verdiente! – dann bleibt er ungesteinigt.
Aber dies sind nur die Harmlosigkeiten im Sündenregister der Tageskritiker, die sich durch den Wunsch des betreffenden Kritikers erklären, seine Kritik durch Klatsch den »teuren Abonnenten« schmackhaft zu machen, erstens weil der Zeitungs-Philister den Klatsch liebt und der Abonnent auf diese Weise sein unentbehrlichstes Futter findet, und zweitens weil der Kritiker seinen »Kunstbericht« durch andere Mittel nicht interessant gestalten kann.
Hans Reimann, der meine Pappenheimer ebenfalls gründlich kennt, hat unter dem Titel: »Die Kloake« (1920) eine Ausschnittsammlung aus deutschen Zeitungen veröffentlicht, die das Bild, das ich hier vom Wesen und Wirken der Presse gebe, bestätigt und in willkommener Weise ergänzt. Er sagt (S. 10 bis 11):
»Der Presse, wie wir sie haben, fehlt eines: die Kritik. Und während die Zeitungen von ihrem Rechte, Persönlichkeiten, Zustände, Bücher und sonstiges zu besprechen, Gebrauch machen, wird an ihnen selbst keine Kritik geübt, so notwendig es auch wäre. Ein normaler Leser nimmt das, was ihm sein Leibblatt auftischt, als Offenbarung hin. Er bezieht Kenntnisse, Meinungen und Urteil aus der Presse. Presse ist ihm ein mystischer Komplex, etwas Heiliges, Unantastbares, unfaßbar Großes. Ein Begriff, vor dem er erschauert.
Daß eine Zeitung von gemeinen Sterblichen geschrieben wird, und daß alles Gedruckte, ehe es in Druck ging, ein ganz gewöhnliches Manuskript war, und daß ein Manuskript allenfalls der Niederschlag dessen ist, was ein Gehirn gedacht hat, und daß Gehirne mitunter recht primitive Apparate sind, … davon ahnt der normale Leser nichts.
Der normale Leser kann nicht lesen, geschweige denn denken. Und seine Zeitung, weit davon entfernt, ihn zum Denken zu erziehen, zwingt ihn mehr und mehr zur Oberflächlichkeit.
Der Laie ahnt nicht, wie es hinter den Kulissen einer Zeitung aussieht. Ahnt nicht, wie abhängig der Textteil vom Inseratenteil ist. Ahnt nicht, daß der Redaktionsbetrieb (also die Interessen des Verlegers) aufrecht gewachsene Journalisten zu Kautschukmännern macht.
Die Zeitung beeinflußt durch ein schmückendes oder tadelndes Beiwort, durch einen entstellenden Tonfall, durch eine anscheinend nebensächliche Interjektion die Meinung des Meinungslosen.
Die Zeitung darf Lügen oder was weitaus schurkischer ist: Halbwahrheiten drucken. Ohne sie widerrufen zu brauchen.
Die Zeitung darf totschweigen, was ihr nicht in den Kram und in die Spalten paßt.
Die Zeitung färbt und färbt um. Sie färbt giftgrün und sie färbt schön.
Die Zeitung schweigt und schweigt tot. Ein Wink des Verlegers und deine Existenz ist untergraben.
Die Zeitung darf alles. Und unmündige Abonnenten fressen kritiklos, was ihnen in den Mund geschmiert wird. Fressen es kritiklos, da es gedruckt ist.«
Steigen wir eine Stufe tiefer.
Wenn ich aufgefordert bin, ein Bühnenwerk und seine Regie und Darstellung zu beurteilen, halte ich es für meine selbstverständliche Pflicht, der Aufführung bis zum Schluß beizuwohnen. Ein Theaterkritiker wird also erst dann daran gehen, die Kritik über das Stück zu schreiben, wenn der letzte Vorhang gefallen ist. Versteht sich. Unmöglich ist jedoch, daß ein Kritiker (sagen wir von Schillers »Don Carlos«) nur drei Akte sieht und dann davonrast, weil es inzwischen schon 10 Uhr geworden ist und weil der Metteur auf das Manuskript des Kritikers wartet, das spätestens um 10½ Uhr abgesetzt sein muß. Wenn solch ein Kritiker aber in Rücksicht auf den Zwang seines Blattes trotzdem um 10 Uhr davonjagt, seine »Kritik« heruntersudelt, sie absetzen und drucken und die ersten Exemplare der Zeitung bereits dem Publikum zum Verkauf anbieten läßt, das vor 12 Uhr aus der Vorstellung kommt, so daß das Publikum in dem »maßgebenden Blatt« das Urteil über eben das Stück, über dem der Vorhang vor wenigen Augenblicken gefallen ist, schon gedruckt lesen kann, so wird diese Fixigkeit des Kritikers zur infamen Lüge und zum Verbrechen.
Zuweilen wird ein solches Verfahren auch den Berufskollegen zu bunt, und sie nehmen dann dagegen Stellung; so etwa das Karlsruher Fremden-Blatt in seinem gegen das Karlsruher Tagblatt gerichteten Artikel »Mitternachtskritik« (vom 10. 7. 16 Nr. 41). Hier heißt es:
»Freilich, solche Auffassung von der das Kritiker recht begründenden Kritiker pflicht sind augenscheinlich bei unserem Heldenkritiker und den von ihm gemieteten Hilfsschreibern verpönt. Im Lichte solcher Auffassung müßte ja auch eine mit affenartiger Geschwindigkeit hingeschmissene Mitternachtskritik als grober Unfug verschmäht werden. Welchen Grad von Gewissenhaftigkeit, Achtung vor Kunstwerken und – journalistischer Selbstachtung verrät es aber, wenn über die Aufführung eines Schillerschen Riesenwerkes, die erst kurz vor Mitternacht endete, lange vor dem letzten Fallen des Vorhanges die sogenannte Kritik darüber fix und fertig gedruckt ist und dem das Theater verlassenden Publikum noch naß zum Kauf angeboten wird! Der bekannte geölte Blitz wird an Fixigkeit übertroffen von der geschmierten Mitternachtskritik. Berliner Vorbilder finden sachkundige Nachahmung in unserem, nun gewiß nicht mehr »rückständigen« Karlsruhe, das sich ja längst gewünscht hat, endlich einen Führer zu finden, der ihm Sinn und Verständnis für die Schönheit und Größe der Berliner Theaterwirtschaft weckt. Habemus papam artium!
Mich will nur bedünken, daß eine Sorte von Theaterkritikern, die erst lange nach Beginn einer fünfaktigen Vorstellung mit dem Vorsatz erscheint, nur ein Bruchstück, kaum die Hälfte davon zu sehen, um ihr »Urteil« noch vor Schluß der Aufführung der Öffentlichkeit unterbreiten zu können, von vornherein gar keinen Eindruck gewinnen und vorurteilsfrei arbeiten will. Sie will nicht unbefangen beobachten, sondern hämisch belauern, will nicht redlich prüfen und abwägen, sondern möglichst viele Fehler herausklauben und dick anstreichen; und wer so verfährt, ist kein ernst zu nehmender Kunstrichter, sondern ein scheelsuchtiger Beckmesser. Zwischen dem wahren Kritiker und ihm besteht derselbe Unterschied, wie zwischen dem idealen Schulmeister und dem ewig mit dem Bakel fuchtelnden, schnüffelnden Schulfuchs. Ihn treibt, wo er tadelt, nicht eifernder Zorn, sondern geifernde Wut. Er kann zufällig einmal in der Sache recht haben, doch niemals in den entscheidenden Gründen, und wo er sich zu einem stolzen Pronunziamiento aufschwingen möchte, da bringt ers mit Ach und Krach nur – man verzeihe das schnöde Wortspiel – zu der Peinlichkeit eines würdelosen Denunziamiento.«
Und auch in dieser Beziehung behaupte ich, daß der »Kritiker«, gegen den hier polemisiert wird, ungesteinigt bleiben würde; denn auch dieser Fall muß leider bis zu einem gewissen Grade verallgemeinert werden.
Aber wir sind noch nicht auf der Tiefe des kritischen Betriebes angelangt.
Wenn ein Kritiker (ich denke an einen sehr geschätzten, längst toten Schriftsteller!), der eine literarische Zeitschrift herausgab und sehr viele belletristische Bücher zur Rezension eingeschickt bekam (da sich naturgemäß jeder Schaffende darum riß, in dieser Zeitschrift von diesem Kritiker und berühmten Romancier besprochen zu werden), die Bücher nie aufschnitt, sondern etwa folgendermaßen rezensierte: »Vor uns liegt das jüngste Epos des bekannten Novellisten X. Y., im Verlag so und so erschienen, das den zahlreichen Freunden seiner Kunst ein wirkliches Fest bedeuten wird usw. usw.« – und wenn diese »Rezension« mit Hilfe des Waschzettels zu Ende geschrieben wurde, ohne daß das Buch auch nur eines Blickes gewürdigt worden wäre (und zwar weil der Kritiker für jedes Dutzend belletristischer unaufgeschnittener Bücher von seinem bekannten Leihbibliotheken-Buchhändler soundsoviele Mark erhielt), so war dieser Kritiker mindestens ein Betrüger.
Aber auch dieses Kritikers Tun hat viele Nachahmer gefunden, und auch er wird ungesteinigt bleiben.
Manche Zeitungsverleger finden es noch einfacher und billiger, überhaupt keinen Kritiker, zu beschäftigen. Wozu auch? Diejenigen Buchverleger, denen daran gelegen ist, daß im Kitzebacher Anzeiger eine Besprechung ihrer Publikationen erfolge, mögen selber die Kritik liefern und einsenden. Wird aber der Bauer seine eigenen Kartoffeln schlecht machen? Die Kritik des Verlegers (der berühmte Waschzettel) gelangt dann auch in Kitzebach, Hupfingen, Berlinchen und anderwärts zum Abdruck, d. h.: das Publikum wird betrogen, und Autor und Verleger betrügen sich selbst. Es ist eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, wenn eine Zeitung den Waschzettel als »Kritik« ausgibt, und also eine gesetzlich strafbare Handlung.
Eine andere Gruppe von Kritikern, der verlegerische Stupidität oder Ausbeutungssucht oder »Sparsamkeit« das kulturell wichtige Amt des künstlerischen Lynkeus anvertraut hat, ist einfach mit dem Jesu-Wort abzutun: »Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.«
Ein Kritiker muß seine künstlerische, ökonomische und soziale Freiheit besitzen, wenn er das ihm anvertraute Amt vorurteilslos ausüben soll. Solch ein Kritiker ist natürlich für den Verleger ein teures Vergnügen, und ein Laufbursche oder ein junger Kommis ist selbstverständlich billiger. Und schließlich hat er doch auch schreiben gelernt, – kalkuliert mancher Verleger. Oder er sagt sich: »Mein Lokalredakteur, der über gestohlene Meerschweinchen berichtet, hat ja noch Zeit genug; mag er ins Theater gehen und kritisieren; wozu ist er denn Redakteur? Gleichzeitig fördere ich ihn, wenn ich ihn aus der Enge seines Kommunalressorts heraushebe und ihn auch einmal ›künstlerisch‹, sich betätigen lasse. Ich bin doch ein großartiger und fürsorglicher Chef!«
Dann kommen »Kritiken« so erzdummen Kalibers zustande, daß die Feder sich sträubt, sie zu zitieren. Was will man? Selbst in literarischen Zeitschriften, in denen kritisiert zu werden einstmals als Ehre galt (Magazin für Literatur), las man Kritiken folgender Art:
»Zwei wunderfeine Novellen. Viel zu fein für das Publikum. Sie müßten in einem Exemplar gedruckt sein. In scharlachroten Buchstaben auf hellgelber Seide. Und der Einband wäre getriebenes Silber, aus dem sich ein sinnvoller, seltsam süßer Mädchenkopf heben würde mit vollen, allerfreulichen Lippen aus heiligem Rubin, und Amethyste, unergründliche Amethyste, und Perlen, köstlich wehmütige Perlen, wären eingelegt in das begeisternd matte Silber. Wie hinter Milchscheiben regt sich alles Bewegen … Es greift über in die zweite Novelle, die so inbrünstig an die Seele klingt, daß es ist, wie es ist, wenn Schmalfinger, rosigrandige, zartweibliche, an durchsichtigen Spinngeweben rühren. Und der Stil ist einfach wie ein gotischer Bau. Zuweilen sogar wie ein Rohbau. Und es ist so wundersam, daß der Bau wie ein Märchenschloß erscheint im Gesamteindruck. Wundersam und unerklärlich. Doch scheint er so.«
Was erfährt man aus diesem hilflosen, übrigens typischen Gestammel eines impotenten Dekadents über das Buch, von dem er mir einen Begriff geben will? Aber es kommt noch besser. Selbst in Fachzeitungen, die ausschließlich von »Schriftstellern« geschrieben und gelesen werden, findet man zuweilen Aufsätze, die von einer imbezilen Dorfmagd herzurühren scheinen.
So etwa schreibt »Die Feder« (15. Dez. 1906, Nr. 180) in einem Aufsatz, der »Die Fehler der Dramatiker« betitelt ist, das Folgende:
»In jedem Drama, auch in dem genialsten, kommen Unwahrscheinlichkeiten vor, oder wenigstens doch Vorgänge, die auf diesen oder jenen Zuschauer nicht überzeugend wirken. Das tut aber auch den größten Erfolgen keinen Abbruch, im Gegenteil erhöht die Debatte darüber oft das Interesse an dem Stück.
Manche wenden, wie Shakespeare, teils Verse, teils Prosa an, eine sehr unglückliche Form, wie der englische Dichter überhaupt veraltet ist und sehr bald auch nicht mehr durch die reichste Ausstattung wird belebt werden können. Man lese Tolstois Broschüre über Shakespeare.«
Steigen wir tiefer hinab, dorthin, wo die Kritik zu einer Geld- oder Magenfrage wird.
Welche ungeheure Rolle die »Beziehungen« und »Konnexionen« in der Kritik spielen, braucht kaum hervorgehoben zu werden, und es gibt der Sprichwörter so viele, die dies entschuldigen, denn »es ist menschlich so begreiflich«, wobei in Parenthese das Paradoxon festzuhalten ist, daß jede Schweinerei menschlich begreiflich ist.
Balzacs Wort: »Wer sich heutzutage durchsetzen will, muß Beziehungen haben«, ergänzt durch die nicht minder bittere Wahrheit: »Ruhm heißt für 12 000 Franks Artikel und für 1000 Taler Diners«, bleibt für alle Zeiten gültig. In der Tat beeinflußt ein gutes Diner, zu dem er geladen wird, manchen Kritiker, die Güte des Diners auf die des Werkes zu übertragen und dem Künstler anzukreiden, was ausschließlich des Kochs Verdienst ist.
»Es gab eine Zeit in meinem Leben,« erzählt Thakeray in seinem ›Snobsbuch‹, »in der das Bewußtsein, Brot und Salz bei jemandem genossen zu haben, mich blind gegen seine Fehler machte, und wo ich es für eine Gemeinheit und für einen Bruch der Gastfreundschaft gehalten hätte, über ihn herzuziehen. Wie kann einen aber nur ein Hammelrücken blind machen oder ein Steinbutt mit Hummersauce einem den Mund auf ewig schließen?«
Das ist die tapfere Auffassung Justs (in Minna von Barnhelm), der den Wirt, trotz der spendierten Schnäpse, einen Grobian heißt. Aber die Echtheit dieses Charakterzuges wird von unseren »Kritikern« stark angezweifelt.
Allein es ist nicht nur ein Diner, das oft den Ton und Ausfall einer Kritik bestimmt; zuweilen sind auch erotische, wirtschaftliche und andere Beziehungen, die dem Kritiker einen persönlichen Vorteil, ein galantes Abenteuer usw. verschaffen, maßgebend.
Wie ist all diesen Übelständen abzuhelfen?
Ein Autor, der auf sich hält, sollte es zunächst dem Verleger verbieten, seine Bücher dem Kitzebacher Anzeiger zur Kritik einzusenden. Müssen die Kitzebacher unbedingt von dem Werke Kenntnis haben, dann mag der Verleger in dem Anzeigenteil annoncieren.
Da jeder Autor weiß, wie die meisten Kritiken zustande kommen und was sie im Grunde wert sind, sollte jeder anständige Schriftsteller es sich verbitten, daß sein Werk an Kreti und Pleti zur Kritik verschickt werde. Zehn Persönlichkeiten, deren Urteil – wie es auch ausfallen möge! – Förderung bedeutet, sind wichtiger als 200 Provinzzeitungen, die von irgendeinem unberufenen Lokal-Reporter über ein Buch etwas zusammenschreiben lassen oder die gar einen Waschzettel abdrucken.
In Hinsicht der Theaterkritik sollten alle wirklich ernsthaften Kritiker (wozu sind sie sonst organisiert?) sich mit Entschiedenheit gegen die Ausübung der Nachtkritik stellen, da sie eine Unanständigkeit und Unsauberkeit ist; nichts als ein Zugeständnis an den »teuren Abonnenten«, der im Grunde viel zu passiv ist, um sein Leibblatt abzubestellen, wenn er die Meinung über die gestrige Premiere anstatt heute morgen erst morgen abend oder übermorgen vorgesetzt bekommt. Es ist ihm sowieso Jacke wie Hose. Es würde dann bald so weit sein, daß jede Zeitung, die trotz des Übereinkommens Nachtkritik ausüben läßt, in Verruf käme.
Wer ist aber berechtigt, Kritik, zu üben?
Jene Diskussionen der Kunst-Spießer, daß der Kritiker sozusagen ein Examen abgelegt haben müsse, das ihn für seinen Beruf legitimiere, sind natürlich unsinnig; aber diese Wünsche fließen aus einer durchaus berechtigten und verständigen Überlegung. Dadurch, daß man die Schule fleißig schwänzte, keinen ordentlichen Beruf hatte, faul war und gern über Romane schwätzte, wird man ja nicht Kunstrichter.
Nehmen wir an, daß Müller mich beispielsweise einen Schweinehund geheißen hat. Ich finde, daß diese Meinung eine Beleidigung involviert, und bringe die Sache vor den Kadi. Der untersucht auf Grund des vorliegenden Materials, inwieweit eine Beleidigung vorliegt oder nicht. Findet der Richter, daß ich wirklich ein Schweinehund bin, so belobt er den Beleidiger und belegt mich mit den Kosten der Klage. Ergibt die Untersuchung jedoch, daß ich ein Dummkopf, aber kein Schweinehund bin, so wird der Kadi den Beleidiger bestrafen, und diese Strafe bemißt er nach Maßgabe des Bildungsgrades des Beleidigers, wofür dem Richter eine ganze Reihe Paragraphen als Richtschnur und Weisung dienen. Warum gehe ich aber mit der ganzen Angelegenheit vor den Kadi und nicht zu meiner Waschfrau? Erstens weil ich will, daß mir Recht werde; Zweitens weil mir dieses Recht nur die vom Staat hierfür eingesetzte autorisierte Instanz verschaffen kann; drittens weil das Urteil dieser Instanz für beide Parteien so zwingend ist, daß sie sich ihm blind unterwerfen werden. Warum aber werden sie dies tun? Erstens weil die Autorität des Staates schützend hinter dem Kadi steht; zweitens weil der Kadi selbst Autorität ist und hat. Dies wiederum wissen oder glauben wir, weil er vier Jahre lang auf Universitäten studiert hat, Recht von Unrecht zu unterscheiden gelehrt wurde und weil er sechs Jahre lang praktisch gelernt hat, mit Gesetzbüchern umzugehen, sich zu objektivieren und trotzdem zu individualisieren, zu urteilen usw.
Wenn ich aber, um meinem Beleidiger klar zu machen, daß er nicht das Recht hat, mich ungestraft einen Schweinehund zu nennen, vor einen Richter trete, der allein befugt und autorisiert ist, die Frage zu entscheiden, mit wie viel mehr Recht hätte ich Anspruch darauf, daß ein Kunstwerk, das ich geschaffen habe, nur von einem Manne beurteilt werde, der wirklich alle Qualifikationen besitzt, solch ein Urteil auszusprechen, das auch alle Welt als gerecht empfinden und anerkennen wird! Jeder, der diese Tatsache bejaht (und wer könnte sie verneinen?), spricht der Tageskritik das Todesurteil, und in der Tat verdient sie auch nicht, daß sie länger mehr bestehe.
Meine Gründe klingen stark rational und könnten die Meinung aufkommen lassen, ich sehnte mich nach Kritikern, die ein Staatsexamen abgelegt haben, das sie ermächtigt, Kritik zu üben. Ich habe schon an anderer Stelle gesagt, wie ich über Kritik denke, und es kann kein Zweifel darüber herrschen, daß ich vom Kritiker in erster Linie Instinkt für das Irrationale eines Kunstwerkes verlange. Daß der Besitz von Instinkt nicht erst durch ein Staatsdiplom bestätigt werden muß, versteht sich von selbst; aber er muß sich durch Tatsachen erweisen lassen. Allein ich behaupte, daß vom Irrationalen eines Kunstwerkes die Kritiker, von denen ich hier spreche, noch weniger Ahnung haben als von dem Rationalen. Ich bin sogar überzeugt davon, daß sie absolut nicht wissen, was man unter dem Irrationalen eines Kunstwerkes versteht. Sie werden – ich schwöre! – im Meyer nachschlagen und werden dort unter »Irrationalismus« lesen: »Vernunftwidrigkeit, Mangel an Vernunft oder an Anwendung derselben« – und werden dank ihres eigenen Mangels an Vernunft also glauben, unter Irrationalismus der Kunst seien die Kritiken zu verstehen, die diese Kritiker selbst schreiben.