Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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XXXVI.

Nachdem Ulrich von Pantin einige Wochen unter Karis treuer Pflege in Langendamm zugebracht und sich leidlich erholt hatte, sollten die ersten Gehversuche angestellt werden. Dabei stellte es sich heraus, daß 590 das verwundete Bein durch Zerreißung von Muskeln kürzer geworden war. Der Transport in eine Berliner Klinik machte sich nötig. Dort sagten ihm die Ärzte, daß er schwerlich wieder imstande sein werde, zu Pferde zu steigen. Das hieß soviel wie: Abschied nehmen.

Sein Gegner, John Katzenberg, war verreist. Man nahm im allgemeinen an, daß er Mira heiraten werde, sobald sie von ihrem bisherigen Gatten geschieden sein würde. Doch wollten Leute, die John genauer kannten, behaupten, er sei dazu viel zu klug.

Die gerichtliche Untersuchung sowohl wie das Disziplinarverfahren gegen den Landrat, als Beamten, wegen Zweikampfs waren im Gange. Wie auch die Strafe ausfallen würde, eines stand schon jetzt für den Kenner der Verhältnisse fest: Landrat dieses Kreises konnte Herr von Katzenberg nicht bleiben. Zu schwer kompromittiert war er aus den letzten Ereignissen hervorgegangen. Da er wohl selbst etwas Ähnliches empfinden mochte, und da er es auf alle Fälle für gut hielt, zunächst Gras über seine Taten wachsen zu lassen, hatte er um Urlaub gebeten für unbestimmte Zeit, wie er angab zu einer Studienreise, um sich in der Verwaltung anderer Länder umzusehen.

In der Gegend war die Stimmung stark zu seinen und der Seinen Ungunsten umgeschlagen. Diejenigen, welche anfangs die Partei der Katzenbergs ergriffen hatten, waren jetzt am eifrigsten dabei, den Stab über ihnen zu brechen. Der Kommerzienrat hatte mit seinem Manöverfest ungefähr das Gegenteil erreicht von dem was er bezweckt. Von dem Ordenssegen, der nach der Kantonierung in der Gegend zur Verteilung kam, erhielt er nichts. Seine Anstrengung, mit Hilfe des Großgrundbesitzes sich und den Seinen eine Stellung 591 in der Gesellschaft zu erringen, war endgültig gescheitert. Nicht bloß die Nachbarn hatten ihn verfemt, er war auch weiter oben in Ungnade gefallen.

Zwar hatte sich der Prinz, welcher in Groß-Podar in Quartier gelegen, auf dem Ball köstlich unterhalten. – Mira Pantin und ihre Freundin Paulette hatten da den Ton angegeben – aber nachträglich, als durch das Duell Ulrichs mit John Katzenberg der Skandal in seinem ganzen Umfange zutage kam, war man an höchster Stelle unangenehm berührt, daß der jugendliche Träger eines hohen Namens sich in solcher Umgebung aufgehalten habe.

Zwischen den Häusern Groß-Podar und Langendamm war nach den letzten Ereignissen natürlich das Tischtuch zerschnitten. Dadurch hatte sich Major von Pantins Vermögenslage noch ungünstiger gestaltet. Wie zu erwarten, ließ der Kommerzienrat seine Hypothek auf Langendamm kündigen.

Ein Unglück nach dem anderen brach über die Pantins herein. Der jüngste Sohn, vor kurzem erst Leutnant geworden, hatte den Abschied eingereicht, weil sein Vater nicht mehr imstande war, ihm den versprochenen Zuschuß auszuzahlen. Der junge Mensch wollte den Versuch machen, irgendwo in der Landwirtschaft unterzukommen.

Kari hielt tapfer bei dem Vater aus. Es war, als sei bei ihr der Knoten gerissen durch die Erfahrungen der letzten Zeit. Wer sie früher gekannt hatte, in ihrer Unbeholfenheit, unerzogen, nicht wissend, was mit sich anfangen, der erkannte Kari jetzt kaum wieder, wie sie mit Umsicht, Takt und Energie den zerrütteten Hausstand leitete.

Der Zusammenbruch war nicht mehr aufzuhalten 592 in Langendamm. Schon hatte Isidor Feige, einer fälligen Wechselschuld wegen, pfänden lassen, und am letzten Lohntage war Major von Pantin nicht imstande gewesen, seine Leute voll zu bezahlen. Handwerker, Lieferanten und Händler aller Art kamen mit ihren Rechnungen und machten, oft unter anzüglichen Bemerkungen, ihre Forderungen geltend. Der Hausherr zog es vor, sich solchen Belästigungen zu entziehen, indem er sich aufs Pferd setzte und von dannen ritt, seiner Tochter überlassend, wie sie sich mit den Gläubigern abfinden mochte.

In der Wirtschaft und auf den Feldern sah es traurig aus. Noch jetzt im November gab es ungemähtes Futter, und ein Teil der Kartoffeln war auch noch im Acker. Am schlimmsten aber stand es mit den Zuckerrüben. Der Boden von Langendamm, jahrelang extensiv bewirtschaftet, war nicht genügend vorbereitet gewesen für die anspruchsvolle Rübe. Der Zuckergehalt der Langendammer Ernte stellte sich als so gering heraus, daß die Fabrik den Preis bedeutend herabsetzte; ein weiterer schwerer Schlag für den bankerotten Mann.

Die Herbstbestellung stand noch ganz in den Anfängen, wo man doch jeden Tag den ersten Schnee erwarten konnte. Die Schnitter waren in ihre russische Heimat zurückgekehrt. Die übrige Gesellschaft war schwer in Rand und Band zu halten. Mit der Reitpeitsche durfte Herr von Pantin seinen Befehlen nicht mehr Nachdruck verschaffen; die Leute waren ja seine Gläubiger. Er war nicht davor sicher, daß ihn seine eigenen Tagelöhner wegen rückständigen Lohnes verklagten. Für einen Mann, der zeitlebens das Kommandieren gewohnt gewesen, war das hart. Früher, wenn etwas schief gegangen, hatte Malte doch wenigstens 593 an den Leuten seinen Sündenbock gehabt, aber jetzt mußte man allen Ärger in sich hineinfressen.

So unerquicklich die Verhältnisse auch in Langendamm waren, einen gab es dort, dem sie zusagten und der seine Rechnung dabei fand.

Als Fritz Wurten damals durch Vermittlung des Gesindemaklers die Stelle in Langendamm angenommen hatte, war es geschehen, weil ihn die Not trieb, Arbeit zu suchen, wo sie sich bot. Nachdem er einmal die Großstadt kennengelernt hatte, blieb sie für ihn der einzige Platz, wo ein menschenwürdiges Dasein möglich war. Aber da augenblicklich, wie's schien, in der Stadt für ihn nichts zu machen war, mußte man sich auch mal wieder ins Dorfleben schicken.

Einstweilen gedachte Wurten aus seinem Landaufenthalt soviel wie möglich Kapital zu schlagen für die Sache seiner Partei. Er kannte die Verhältnisse auf den Gütern der Umgegend genau von früher her. Die Möglichkeit, politische Agitation zu treiben, war sehr erschwert. Mit den Bauern, soweit es noch welche gab, war nichts anzustellen; die Tagelöhner aber und das Gesinde standen unter Aufsicht ihrer Dienstherren; da war also auch schwer heranzukommen.

In Langendamm nun fand Wurten den Boden für seine Zwecke weit günstiger, als er erwartet hatte. Unzufriedenheit zu erregen, war dort gar nicht erst nötig; die stand schon in voller Blüte. Solch zusammengelaufenes Pack, wie Major von Pantin auf seinem Gute beherbergte: verkommene Existenzen, Menschen, die nichts zu verlieren hatten, fiel Wurten ganz von selbst zu. Die brauchten nur organisiert zu werden, dann hatte man den Anfang einer Parteibildung.

Von Langendamm aus richtete der Agitator sehr 594 bald seine Blicke weiter hinaus auf die Nachbarschaft. Bei Gütern wie Pröklitz und Ragatzin, wo von früher her ein alter Arbeiterstamm saß, der in Einigkeit lebte mit seiner Herrschaft, war für ihn nichts zu erreichen. Das wußte Wurten ganz gut. Da konnte man sich die Arbeit ersparen; Leute, die sich mit ihrem Lose zufrieden fühlten, waren für die Agitation unzugänglich.

Mehr Anklang hoffte er in Groß-Podar zu finden. Der dortige Pächter arbeitete unter schwierigen Verhältnissen; des hohen Pachtgeldes wegen, das er zu zahlen hatte, mußte er seine Leute knapp halten. Die Gemeindeverhältnisse waren auch keine erquicklichen. Im Dorfe lebte eine Anzahl kleiner Hausbesitzer, Kossäten und freier Arbeiter, die auf ihren winzigen Grundstücken nicht recht leben und sterben konnten. Die Prunkliebe, welche der neue Herr entfaltet hatte, trug auch nicht dazu bei, diese Art mit ihrem ärmlichen Lose zufriedener zu machen. Und nun die fremden Arbeiter und Handwerker, die sich plötzlich, als der Kommerzienrat bauen ließ, in dem Orte niederließen, wie ein zugeflogener Bienenschwarm. Da war manch ein ausgetragenes Bürschchen darunter. Nun erfuhren die Leute von Groß-Podar erst, wie es in der Welt eigentlich zugehe und wie schlecht sie es hätten. Kurz, hier war der Same der Aufklärung reichlich ausgestreut worden und die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden fett ins Kraut geschossen.

Dort hatte Wurten also leichtes Arbeiten. Obgleich ein durchaus nüchterner Mann, war er eine Zeitlang fast jeden Abend im Krug von Groß-Podar zu finden, den er zu einer Art von Hauptquartier gemacht für seine Tätigkeit. Bald hatte er einen Kreis von Leuten um sich versammelt, die aus Zechkumpanen allmählich seine Gesinnungsgenossen wurden.

595 Es konnte nicht fehlen, daß Major von Pantin mit der Zeit dahinter kam, welche Farbe der Vogel hatte, der ihm von Berlin aus zugeflogen war. Der Gutsherr befand sich dem Mann gegenüber in einer eigentümlichen Lage. Der Schmied stellte ja auf einem Gute, wo Pferdezucht getrieben wurde, eine wichtige Persönlichkeit dar. Wurten verstand sein Handwerk. Er war in Langendamm der weitaus intelligenteste Arbeiter. Auch die Frau zeigte sich so tüchtig, daß Herr von Pantin sie sehr bald als Meierin angestellt hatte. Das Ehepaar war für Langendamm, wo die guten Leute immer seltener wurden, geradezu unentbehrlich geworden.

Major von Pantin mußte also ein Auge zudrücken. Freilich juckte es ihm oft genug in den Fingern, wenn Wurten, der aus seiner Gesinnung gar keinen Hehl mehr machte, sich allerhand Freiheiten herausnahm. Aber was sollte werden, wenn ihm auch dieser hier den Stuhl vor die Tür setzte! – Das Vernünftigste war immer noch: tun, als ob man gar nichts sähe; mochte der Mensch in seiner freien Zeit treiben, was er wollte, wenn er nur seine Arbeit verrichtete.

Da er sich in seiner Stellung sicher fühlte, wagte sich Wurten immer kühner hervor mit seiner Agitation. Von Berlin aus wurde er unterstützt, an Geldmitteln fehlte es ihm nicht. Sein Briefwechsel mit der Parteileitung war lebhaft. In seiner Wohnung hatte er einen großen Vorrat von Zeitschriften und Flugblättern aufgestapelt, welche ihm seine Freunde vertreiben halfen.

Wurten konnte zufrieden sein. Im Laufe eines halben Jahres war ihm hier im kleinen gelungen, was im großen seine Partei bis dahin vergeblich angestrebt hatte: Fuß zu fassen auf dem platten Lande.

* * *

596 Noch hatte Wurten keine Heerschau über seine Anhänger abgehalten. Die Verbreitung der Parteilehren war bisher nur im geheimen, von Mund zu Mund und von Hand zu Hand, betrieben worden. Weiter hinaus hatte sich ihre Propaganda nicht gewagt.

Nun, meinte Wurten, sei die Zeit dazu gekommen. Er wollte eine Versammlung abhalten.

Schwierig war die Lokalfrage. Er hätte den Krug von Groß-Podar gewählt, aber dann wäre man genötigt gewesen, die Versammlung bei der Behörde anzumelden. Überwachung wollte er um keinen Preis. Man hätte ja am Ende auch im Freien zusammenkommen können, aber dazu war die Witterung schon zu rauh. Schließlich fiel dem Agitator jener Schuppen ein, am Dorfteiche von Langendamm, der den Wanderarbeitern während des Sommers zum Nachtquartier gedient hatte. Dem Auge der Behörde würde man dort noch am ersten entgehen.

Wurten hatte ein richtiges Programm ausgearbeitet für die Versammlung. Er selbst wollte sprechen, ein Statut vorlegen und durchberaten lassen, ein Komitee sollte gewählt, Vertrauensmänner bestimmt werden – alles, wie er es von seinen Oberen in Berlin erlernt hatte, und wie es ein gedruckter Ratgeber, den er besaß, an die Hand gab.

Und nun gingen die Genossen in unauffälliger Weise zur Abendzeit von Dorf zu Dorf und von Krug zu Krug und forderten alle, bei denen man Neigung für ihre Sache voraussetzte, auf, sich am Sonntag früh, während der Kirchzeit, in Langendamm am bezeichneten Orte einzufinden. Ein Kennwort wurde ausgegeben. Verschwiegenheit und Vorsicht waren zur Ehrensache gemacht.

Der Apparat, den Wurten in Bewegung gesetzt, 597 hatte gut gearbeitet. Einzeln oder in Trupps von zweien oder dreien kamen an jenem Sonntagmorgen die Männer herbeigezogen; man konnte sie für Kirchgänger halten. Meist war es junges Volk: Bürschchen, die noch nicht ihrer Militärpflicht genügt hatten, denen die Unreife auf dem Gesicht geschrieben stand.

Die Sache war neu; nie hatte bisher etwas Ähnliches in dieser Gegend stattgefunden. Irgendeine ernste politische Überzeugung hatten die wenigsten. Es war mehr die Lust am Konspirieren und das Bedürfnis, sich wichtig zu machen, was diese knabenhaften Gesellen anzog. Einzelne waren auch schon zum frühen Morgen angetrunken; man hatte die Schnapsflaschen nicht daheim gelassen; wer einen weiten Weg hatte, war unterwegs wohl auch schon eingekehrt.

Wurten hatte mit Hilfe von Brettern und Böcken eine Art von Podium errichtet. In dem Raume fehlten die Fenster, es herrschte Halbdunkel. Ein wenig Tageslicht drang nur durch die vielen Klinzen und Risse ein, die der baufällige Schuppen aufwies. Kaum, daß man sich gegenseitig erkannte; man ahnte mehr die Menge der Versammelten, als daß man sie gesehen hätte. Das Düster, das sie umgab, verstärkte bei den Leuten den Eindruck des Gefährlichen und Unheimlichen. Man wagte nur im Flüstertone miteinander zu sprechen, harrte klopfenden Herzens dessen, was kommen werde. Auf dem Podium war nur Wurten zu erblicken, mit hagerem, bärtigem Gesicht. Vor sich auf dem Tisch hatte er eine Lampe stehen.

Wurten war sich des Außerordentlichen, das er vorhatte, wohl bewußt. Zudem hatte er vor ein paar Stunden eine Nachricht erhalten, die ihn schwer getroffen. Sein Vater, der alte Schmied in Grabenhagen, 598 war in der Nacht zuvor gestorben. Er war ja längst zerfallen mit dem Alten, der, einer anderen Generation angehörend, den Sohn und seine Entwicklung nicht hatte verstehen können und wollen. In Fritz Wurtens Glaubensbekenntnis war kein Raum für sentimentales Beklagen des Unabänderlichen, für irgendein Gefühl der Pietät überhaupt. Aber dennoch hatte es ihn eigenartig gepackt, gegen seinen Willen, als ihm durch seine Frau, die dem Sterbenden die Augen zugedrückt, der Tod des alten Mannes mitgeteilt wurde. Jenes unbehagliche Gefühl des Alleingelassenseins ergriff ihn, das für den selbständigsten Menschen das Hinscheiden des Vaters mit sich bringt.

Doch war er entschlossen, sich von solcher Stimmung, die er als eine Schwäche betrachtete, bei dem Wichtigen, das er heute vorhatte, nicht beeinflussen zu lassen.

Nachdem er sich überzeugt, daß sein Saal gut gefüllt sei, eröffnete Wurten die Versammlung; er erbat sich ein paar Beisitzer, dann begann er seine Rede.

Wurten sprach frei. Er war nicht ganz ohne Übung; in Berlin hatte er schon hie und da das Wort ergriffen, zur Debatte; aber dies hier war sein erster freier Vortrag. Seit Wochen hatte er sich darauf vorbereitet, allerhand zusammengetragen aus Zeitungen und Broschüren. Anfang sprach er ja ein wenig unbeholfen, aber da er sah, daß die Menge andächtig seinen Worten lauschte, wurde er seiner Sache sicherer; seine Rede gewann an Fluß und Nachdruck.

Er sagte ungefähr folgendes:

Von Gegnern würden sie mit Vorliebe als die schlimmsten Missetäter dargestellt, von den Regierungsorganen und von der Kanzel herab werde vor ihnen gewarnt, als vor dem leibhaftigen Gottseibeiuns. Das 599 seien natürlich nur ausgestunkene Lügen, mit denen man den Leuten Angst machen wolle vor ihnen. In Wahrheit sei es gerade umgekehrt; sie seien die Ehrlichen und Anständigen, denn sie wollten nur das Beste der Menschheit, nämlich: Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Die gewalttätigen Menschen seien ganz wo anders zu suchen. Die Räuber und Diebe säßen viel weiter oben.

»Wenn sich Menschen fremder Leute Eigentum mit Gewalt aneignen,« rief er nach dieser Einleitung, »wie nennt man das? Raub!« Und so nennen es auch die Gesetze, und Räuber und Diebe werden streng bestraft. Das heißt, wenn sie sich an dem Eigentum der reichen Leute, der Besitzenden, der Bourgeoisie, vergreifen. Wenn aber die Armen, die Geringen, mit einem Worte das Volk, ausgebeutet wird, da ist man nicht so streng. Gegen diese Art von Raub werden keine Gesetze geschrieben, weil die Räuber mit den Gesetzgebern unter einer Decke stecken.

Wir sind hier auf dem Lande. Wer hat denn hier alle Macht in der Hand? Das sind die Herren Großgrundbesitzer. In der Stadt sind's die Fabrikanten, die Kapitalisten, die sogenannte Hautefinanze. Aber das ist alles eins; hier draußen herrscht das Junkerregiment. Was das für eine Tyrannei ist, das brauche ich euch nicht erst zu erklären; das kennt ihr aus eigener Erfahrung.

Wodurch aber sind denn diese Herren zu solcher Macht gekommen? Durch Diebstahl, Raub, Betrug. Das ist sogar in Büchern nachgewiesen worden. Ihre Vorfahren sind Straßenräuber gewesen. Sie haben in früheren Jahren die kleinen Leute gemißhandelt, gemordet, von ihren Häusern gejagt und sie zu ihren Sklaven gemacht; man nannte das »Frondienste«. Wenn 600 es nach ihrem Wunsch und Willen ginge, dann wäre es auch jetzt noch so, wie damals im Mittelalter. Nur zu gern würden sie uns umbringen, aber sie hüten sich wohl; wer würde ihnen denn ihre Arbeit verrichten? Ohne uns können sie ja nicht leben!

Sie sind aber auch jetzt noch die schlimmsten Tyrannen, die es gibt, wenn die Zeiten inzwischen auch fortgeschritten sind. Auspeitschen lassen und den Leuten Ohren und Nasen abschneiden, wie es die Raubritter früher gemacht haben, das dürfen sie heutzutage allerdings nicht mehr; aber sie treiben es jetzt noch viel ärger auf wirtschaftlichem Gebiet. Die Großgrundbesitzer sind Ausbeuter genau so wie die Fabrikanten. Ja, sie sind eigentlich die schlimmsten. Sie regieren das ganze Land. Je weiter hinaus, desto mehr Junker werdet ihr finden bis in die allerhöchsten Stellen. Sie und ihre Söhne haben alle wichtigen Posten inne. Staat und Gesellschaft und alles soll nach ihrer Pfeife tanzen.

Es muß daher alles aufgeboten werden, um ihre Macht zu stürzen. Wenn das gelingt, dann werden die Leute auf dem platten Lande auch zur Vernunft kommen, wie in der Stadt. Das ist jetzt nicht möglich, denn hier auf dem Lande gibt es ja noch keine Freiheit.

Aber ihr Gebäude, wenn es auch noch so fest aussieht, hat doch schon tüchtige Risse. Im Grunde haben sie nämlich Angst vor uns: die Tyrannen zittern! – Zur Wahlzeit, da möchten sie ja ins Mauseloch kriechen. Da wissen uns diese Herren schön um den Bart zu gehen. Oder wenn sie uns für ihre Partei einfangen wollen, dann sind wir auf einmal gut genug für sie, neben ihnen zu sitzen, während sie uns sonst nicht ansehen. Da kennen sie uns auf einmal bei Namen und titulieren uns »Herr!« und »Sie«, während es sonst per »Schafkopp und »Hei« geht.

601 Nun, wer dumm ist, läßt sich Sand in die Augen streuen. Wir Tagelöhner hier herum sind bisher gewesen wie die Schafe, wir haben uns einfach das Fell scheren lassen und das Maul gehalten. Das muß anders werden, und das wird anders werden! Es gärt schon überall. Die Herren Junker werden sich wundern; noch ein paar Jahre, und wir halten das Heft in Händen. Wir haben bereits . . . . . .

Als der Redner so weit gekommen war, wurde plötzlich die Tür aufgerissen. Licht drang in den halbdunklen Raum, in der Türöffnung erblickte man eine schlanke Gestalt; der Gutsherr stand auf der Schwelle.

* * *

Major von Pantin war an diesem Sonntag zur Kirche gefahren nach Ernsthof, wohin Langendamm eingepfarrt war. Kari hatte ihn begleitet. Als sie am Dorfteiche vorbeikamen, sah Malte mit dem geschärften Blicke des alten Weidmanns in dem weichen Boden eine Anzahl frischer Fußspuren, die nach dem großen Schuppen führten. Die Schnitter waren fort, wer hatte dort etwas zu suchen, jetzt? Auffällig! Er beschloß, das zu untersuchen.

Nachdem er Kari die Zügel übergeben, mit der Weisung, weiter vors Haus zu fahren, stieg er ab und ging auf den Schuppen zu. Näher kommend hörte er den monotonen Klang einer Stimme, wie eine Predigt. Noch hatte er keinen bestimmten Verdacht.

So platzte der Gutsherr mitten hinein in die Versammlung.

Für den ersten Augenblick, aus der Tageshelligkeit in den dunklen Raum tretend, erkannte Herr von Pantin nichts. Das Sprechen hatte jäh 602 aufgehört, tiefstes Schweigen herrschte während einer halben Minute.

»Was treibt ihr Hallunken hier?« fuhr Malte einen der Nächststehenden an. Er erhielt keine Antwort. Dann gewahrte er das Podium, die Lampe, den Vorstandstisch, die Menschenmenge und fing an zu begreifen, um was es sich eigentlich handle.

Für einige Augenblicke war er sprachlos, dann brach er los. Durch die dicht zusammengekeilte Menge machte er sich Bahn, was sich ihm in den Weg stellte, rücksichtslos beiseite schleudernd. Er wollte nach dem Podium zu, das Haupt der Verschwörung dort vermutend. – In diesem Augenblicke löschte Wurten die Lampe aus; völlige Dunkelheit herrschte.

Major von Pantin suchte das Podium zu erklimmen. Mehrere Fäuste reißen ihn zurück. Man drängt und stößt den Eindringling, der nichts sieht, nur ein dumpfes, feindliches Brausen hört. Blindlings schlägt er um sich, wird gepackt, reißt sich mit Riesenkraft los, zu Fall gebracht und mit Füßen getreten, rafft er sich doch wieder empor. Wildes Johlen erklingt von allen Seiten. »Rut, rut!« ertönt plötzlich ein Ruf. Der Gutsherr wird zum Ausgang gedrängt, gestoßen, schließlich getragen. Ohne Hut, mit zerrissenen Kleidern, beschmutzt, blutend, liegt er bald darauf außerhalb des Schuppens.

Alles das war die Sache von wenigen Minuten gewesen.

Wurten stellte die Ruhe wieder her; er richtet noch einige Worte an die Versammlung. Er war besonnen genug, vorauszusehen, daß dem eben Erlebten noch ein ernstes gerichtliches Nachspiel folgen werde. Daher ermahnte er seine Leute, zusammenzuhalten, und 603 sprach die Hoffnung aus, daß sich unter ihnen keine Angeber finden würden. Dann noch ein Hoch auf die Partei, und er schloß die Versammlung.

Herr von Pantin hatte draußen wie betäubt gelegen, in halber Ohnmacht. Dann raffte er sich empor, ging, lief schließlich, kaum wissend, was er vorhatte, seinem Hause zu. Wie ein Rasender stürzte er die Treppe hinauf. Kari, die ihm begegnete, stand erstarrt vor Schreck über den Anblick des Vaters: mit Kot bedeckt, das Gesicht dunkel, die Augen blutunterlaufen.

Er rennt auf sein Zimmer, keuchend; dort reißt er mit zitternden Händen an der Tür zum Gewehrschrank; als sie nicht aufgeht, zertrümmert er sie mit einem Fußtritt. Er nimmt den Revolver heraus, legt ihn auf den Tisch. Dann geht er nach dem Fach, wo die Munition aufbewahrt. Ein paar falsche Kistchen kommen ihm unter die Finger; er wirft alles zu Boden. Eine Schwäche kommt über ihn, er muß sich setzen, furchtbar klingt sein Stöhnen.

Kari fand ihn so. Sie sah den Revolver und erschrak des Todes. Mit Geistesgegenwart ergriff sie die Waffe und verbarg sie.

»Vater!« sagte sie und trat auf ihn zu.

»Die Hunde – diese Hunde!« das war alles, was er noch mühsam hervorbrachte.

Dann steht er auf, will zum Waffenschrank, aber mit einem Male greift er in die Luft, stößt einen Schrei aus, wie von entsetzlichem Schmerz, schwankt, klammert sich an seine Tochter und bricht unter ihren Händen in die Knie zusammen.

Kari wollte ihn aufrichten. Es ging über ihre Kräfte. Sie lief zur Tür und rief um Hilfe.

Der alte Hanning kam als erster. Er hob seinen 604 Herrn vom Boden auf, trug ihn nach dem Schlafzimmer, legte ihn aufs Bett und öffnete ihm die Kleider.

Ein reitender Bote flog zur Stadt, den Doktor zu holen und Wanda und ihren Mann zu benachrichtigen.

Herr von Pantin lebte noch einige Stunden; den Gebrauch der Stimme erhielt er nicht wieder. Der Arzt stellte Herzlähmung fest.

 


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