Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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XXI.

Nach all dem geselligen Trubel, den die Woche für ihn gebracht hatte, hoffte Erich von Kriebow am Sonntag mal gründlich ausschlafen zu können. Sehr 372 wenig angenehm berührt war er, als ihn der Hausdiener gegen zehn Uhr weckte. Ein Herr wünsche den Herrn Baron zu sprechen. Auf der Visitenkarte stand »Adalbert Moritz von Kriebow«.

Ah, der Vetter! Er lasse den Herrn ersuchen, ein Viertelstündchen im Frühstückszimmer zu warten, unterdessen wolle er sich ankleiden.

Erich von Kriebow fühlte diesem Vetter gegenüber kein ganz reines Gewissen. Adalbert Moritz hatte ihm zu Neujahr gratuliert mit einem vier Seiten langen Brief voll guter Wünsche; er hatte kein Wort darauf erwidert, und nun kam der Brave noch außerdem ihn besuchen.

Adalbert Moritz von Kriebow hatte einen untergeordneten Posten bei einer Lebensversicherungsanstalt inne. Ursprünglich war sein Ehrgeiz darauf gegangen, Offizier zu werden. Er hatte es jedoch bei dieser Karriere nur bis zum Fähnrich gebracht. Von Grabenhagen bezog er die Zinsen eines kleinen Lehnstammanteils. Davon und von seinem geringen Gehalt bei der Versicherungsanstalt lebte er schlecht und recht als Junggeselle. Die freie Zeit, die ihm das Bureau übrigließ, füllte er mit Forschungen über die Geschichte seiner Familie aus. Das Bewußtsein, einem alten, vornehmen Geschlechte anzugehören, verlieh seinem ärmlichen Dasein einen Schimmer von Glück und Stolz.

Der arme Kerl! Erich von Kriebow entsann sich noch deutlich der Besuche, die Adalbert Moritz ihm Sonntags früh in der Kaserne abgestattet hatte. Gerade wie heute! Er kam immer um diese Zeit, weil er wußte, den Vetter da sicher zu treffen; vielleicht auch wegen des Frühstücks, das ihm Erich dann regelmäßig servieren ließ. Zu Tisch eingeladen zu werden im Kasino, wußte er ja, hatte er keine Aussicht. Sein Bedürfnis war, sich wenigstens 373 für eine Stunde in der Woche in anständiger Gesellschaft zu bewegen. Seine Unterhaltung – die Erich hinterher meist einiges Gähnen zu verursachen pflegte – war von dem feierlichen Bewußtsein getragen, daß es zwei Kriebows seien, die sich gegenübersaßen. Und wenn er dann ging, war er von neuem in seinem Familienstolze bestärkt und zehrte dann während der demütigenden Plackereien der Woche an dem erhebenden Bewußtsein, daß auch ihn mit der vornehmen Welt ein Faden verbinde.

Adalbert Moritz hatte sich nur wenig verändert, seit der Grabenhäger ihn zum letzten Male gesehen. Das war dasselbe kurzgehaltene, graumelierte Haar, das mit Sorgfalt gepflegte Schnurrbärtchen, die vergrämten, von Sorgenfalten durchfurchten Züge, die langaufgeschossene Gestalt, das kurze Röckchen, der bunte Schlips, die hellen karierten Beinkleider und die roten Handschuhe. So stand er da, nicht ganz Leutnant, in seinem Aufzuge seine verunglückte Existenz bekennend. Der Klapphut, den er an Stelle eines Zylinders führte, war auch noch derselbe, mit seinem blauseidenen Futter und der Krone über dem Monogramm.

Er habe es in der Fremdenliste gelesen, daß Erich in Berlin sei, und da habe er sich erlaubt, ihm seine Aufwartung zu machen. Der Grabenhäger entschuldigte sich, daß er ihn nicht aufgesucht habe, denn er glaubte aus den Worten des Vetters, so höflich sie auch gesetzt waren, doch ein gewisses Beleidigtsein herauszuhören. Der alte Kerl war überhaupt leicht gekränkt und mißtrauisch, Erich wußte das aus Erfahrung.

»Aber ich bitte dich, lieber Vetter!« rief Adalbert Moritz, »ich weiß ja, wozu du in Berlin bist! Doch nicht um meinetwegen. Mal en bißchen amüsieren, 374 was? – Ich kann das so gut verstehen. Schon im Klub gewesen?« . . . . . .

Adalbert Moritz von Kriebow liebte es, sich an dem Treiben der vornehmen Gesellschaft, das ihm selbst unzugänglich war, wenigstens von weitem zu sonnen. Es gehörte zu seinen Eigentümlichkeiten, hohe Namen mit möglichst erhobener Stimme in die Unterhaltung hineinzuziehen. Erich kannte das an ihm, er wußte auch, daß sein wackerer Vetter gelegentlich indiskret sein konnte. Die Öffentlichkeit des Gesprächs war ihm daher unangenehm – im Zimmer befanden sich Hotelgäste, die bereits die Ohren spitzten –; er schlug also vor, auszugehen und in einem Restaurant zu frühstücken.

»Mir sehr recht, lieber Vetter!« meinte der andere. »Ich habe sowieso in einer wichtigen Sache unter vier Augen mit dir zu sprechen.« Dabei deutete er auf ein in graues Papier geschlagenes Paket in seiner Hand.

Unterwegs erkundigte sich der Vetter eingehend nach der Cousine; sie zu kennen habe er ja freilich leider noch nicht die Ehre. Erich wußte, worauf diese Bemerkung ziele: er hatte sich ja im vorigen Jahre auf der Rückkehr von der Hochzeitsreise einige Tage mit Klärchen in Berlin aufgehalten und dabei den Vetter nicht herangezogen. Nichtsdestoweniger fragte jetzt Adalbert Moritz, ob die gnädige Cousine etwa auf ihrem Rückwege über Berlin komme, dann würde er sich »eine Ehre und ein Vergnügen daraus machen«, sie auf dem Wege von Bahnhof zu Bahnhof zu beschützen. Erich lehnte das dankend ab.

»Nun und werden wir denn bald zu einem Familienzuwachs gratulieren können?« fragte Adalbert Moritz und lachte dabei erkünstelt ausgelassen.

Erich von Kriebow schüttelte unwillig den Kopf. 375 Er liebte nicht solche vertrauliche Erkundigungen, am allerwenigsten von seiten des Lehnsvetters, dessen Interesse, daß er ohne männliche Nachkommenschaft bleibe, er ganz genau kannte.

»Zu einer Besitzung wie Grabenhagen gehört doch auch ein Stammhalter,« fuhr der Vetter unbeirrt fort. »Die Hoffnung der Familie ruht auf dir, lieber Erich! Tassilo in Wiesbaden hat keine Kinder, Guido und Dedo haben es nur zu Töchtern gebracht, ich werde wohl schwerlich noch heiraten, du mußt also die Ehre des Hauses retten. Es wäre doch ein Jammer, wenn unser alter Name durch Mangel an Nachkommen aussterben sollte. Aber ich denke mir, das wirst du schon nicht zulassen.« –

Wieder ein gezwungenes Lachen, in das Erich einzustimmen nicht in der Lage war.

Man trat in ein Bräu Unter den Linden, das um diese Tageszeit noch leidlich leer war. Adalbert Moritz suchte einen Ecktisch aus, um möglichst unbelauscht zu sein; er schien äußerst geheimnisvolle Dinge vorzuhaben.

Nachdem Adalbert Moritz das Frühstück, das Erich ihm bestellt, bis auf den letzten Happen verzehrt hatte, packte er aus. Ein dickleibiges Manuskript entwickelte sich unter seinen Händen aus einer doppelten Hülle von Papieren. Erich meinte, er hoffe nicht, daß ihm der Vetter das alles vorlesen wolle.

Das sei die »Familiengeschichte«, an der er seit Jahren gearbeitet und die nun endlich abgeschlossen sei, erklärte Adalbert Moritz in bedeutungsvollem Tone, und seine vergrämten Züge klärten sich für einen Augenblick auf vor Stolz und Freude über das vollendete Werk. Dann erzählte er, was alles für Mittel er angewendet habe, um Kriebowsche Urkunden aufzufinden: 376 mit Heroldsämtern habe er korrespondiert, Bibliotheken durchstöbert, Sachkundige zu Rate gezogen, Kirchenbücher und Stadtchroniken durchgearbeitet, keine Mühe und keine Kosten habe er geschont, um das Material heranzuschaffen; und daraus nun sei diese Familiengeschichte entstanden, die ihresgleichen suche.

Er blätterte mit liebevoller Hand in dem Manuskripte, dann begann er zu lesen. Es waren meist trockene Tatsachen, die er ohne jeden Kommentar vortrug: da war ein Kriebow als Zeuge aufgetreten mit elf anderen Rittern bei einem Schiedsspruch, ein anderer hatte seinem Fürsten Urfehde schwören müssen, Frieden zu halten, wieder ein anderer setzte seiner Frau ein Leibgedinge aus, oder es wurde einem Kloster bestätigt von einem Herrn von Kriebow, daß er den Mönchen jährlich am Michelstage fünf Scheffel Getreide abgeben wolle. Ein anderer Kriebow lieh seinem Vetter sechs Schock Groschen, und so weiter. –

Für alle diese Daten waren die Urkunden nicht nur angeführt, sondern auch beschrieben, mit peinlicher Genauigkeit und Weitschweifigkeit.

Adalbert Moritz las und las; seine Augen leuchteten, seine bleichen Wangen hatten sich gerötet, in getragen elegischem Tone deklamierte er. Eine Tatsache wie die: daß ein Hanko von Kriebow seinen Bauern einen Streifen Wiese um einen Erbzins von jährlich einem Kalb, drei Hähnen und zwei Schock Eiern überlassen, trug er mit einem Pathos vor, als handle es sich um ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung.

Erich konnte sich nicht helfen, unter der vorgehaltenen Hand ab und zu einmal zu gähnen; er konnte jenen Käufen und Verkäufen, Täuschen, Belehnungen, Geburts- und Todesfällen, obgleich sie seine eigenen 377 Vorfahren betrafen, wirklich kein solches Interesse abgewinnen, wie der Vetter vorauszusetzen schien. Aber der las unbeirrt weiter. Für ihn handelte es sich ja um das Größte und Heiligste, was er besaß auf der Welt, um die Illusion, die ihn hinwegsetzte über sein ärmliches Dasein, die Idee: teilzuhaben an Reichtum und Macht längst dahingegangener Generationen.

Erich von Kriebow zog, um die Sache abzukürzen, die Uhr, dann sagte er, er habe eine Verabredung, bei einem Bekannten in Potsdam zu Mittag zu essen.

Adalbert Moritz machte sich ein Zeichen an der Stelle, bis zu der er gekommen. Das übrige, sagte er, werde er dem Vetter ein andermal mitteilen. Jetzt aber müsse er noch die Hauptsache mit ihm besprechen: die Drucklegung des Buches.

Man könne doch von niemandem verlangen, so etwas zu kaufen. Daran könnten doch im besten Falle nur die paar Familienmitglieder Interesse haben, meinte Erich.

Der Vetter war sichtlich beleidigt über Erichs Auffassung. Dem müsse er allerdings widersprechen, sagte er, sein Buch sei »allgemein interessant«, es habe »historischen Wert«, ja er behaupte nicht zu viel, wenn er sage, es sei von »kulturhistorischer Bedeutung«.

Um den Aufgeregten zu beruhigen, sagte Erich, er verstehe vielleicht zu wenig von derlei Dingen. Wer das Buch denn verlegen werde. –

Das sei gerade dasjenige, worüber er habe mit dem Vetter sprechen wollen, meinte Adalbert Moritz und rückte dicht an Erich heran. Für derartiges, erklärte er, fände sich ein Verleger äußerst schwer. Die Sache sei natürlich kostspielig, denn es gehörten dazu Abbildungen von Siegeln und Wappen, Stammtafeln, 378 Faksimiles von Handschriften, Urkunden und Porträts. Daher müsse man entweder dem Verleger eine Kautionssumme stellen oder man müsse das Werk im Selbstverlag erscheinen lassen. Er, Adalbert Moritz, sei natürlich nicht in der Lage, das nötige Geld aufzubringen, dazu sei seiner Ansicht nach die Familie verpflichtet, in erster Linie Erich, als der Vertreter der ältesten Linie.

Erich von Kriebow war einigermaßen verdutzt, als der Vetter ihm in dieser Weise die Pistole auf die Brust setzte. Was dachte sich denn Adalbert Moritz! Für seine Marotten wollte er ihm das Geld aus der Tasche ziehen! Er dankte für die Ehre, die Kosten eines Unternehmens zu tragen, an dem er herzlich wenig Interesse hatte.

Aber der Vetter ließ nicht locker. Mit Hartnäckigkeit kämpfte er für seine Idee. Sich mehr und mehr ereifernd, setzte er auseinander, daß es Erichs als eines wohlhabenden Mannes Pflicht sei, für die Betätigung des Familieninteresses eine offene Hand zu haben.

Der Grabenhäger sah ein, daß er den Vetter aufklären müsse über seine wahre Lage. Er deutete ihm an, daß seine Verhältnisse gar nicht so glänzend seien, wie er anzunehmen scheine, ja daß er die größte Sparsamkeit zu üben genötigt sei.

Adalbert Moritz mochte das für eine Ausflucht halten, mit der sich Erich ihm entziehen wollte; er behaupte, der Vetter sei sehr wohl in der Lage, hier etwas zu tun, er wolle nur nicht. Dann ließ er ein Wort von »mangelnder Generosität« fallen. Erich fing das an zu verdrießen, er sagte ziemlich kurz: daß er wohl seine eigenen Verhältnisse besser kennen werde als der Vetter.

Da riß der ein Blatt aus dem Notizbuch und 379 begann es mit Zahlen zu bedecken, zu addieren und zu multiplizieren. Erich sah ihm mit Befremden zu. Das seien die jährlichen Einnahmen aus Grabenhagen, sagte Adalbert Moritz schließlich, und hielt dem Vetter die Zahlen vor's Gesicht.

Erich von Kriebow fühlte einen Augenblick lang das lebhafte Bedürfnis, jenem grob zu werden. Aber er bezwang sich; es lohnte sich wirklich nicht der Mühe, und es wäre auch kein Bravourstück gewesen, den verärgerten Alten zurechtzuweisen, obgleich er es verdient hatte. Rechnete der Mensch da im geheimen nach, was Grabenhagen seinem Besitzer bringe. Es war ein unangenehmes Gefühl, solch hungrigen Zuschauer beim Essen zu haben. Und vorhin seine schlecht verhehlte Neugier wegen des »Familienzuwachses«. – Sollte der alte Kerl sich etwa gar mit der Hoffnung tragen, ihn auszuerben! – Erich mußte unwillkürlich bei dem Gedanken auflachen.

Adalbert Moritz verstand zwar den Grund von Erichs plötzlicher Heiterkeit nicht, aber er nahm sie übel. Mit beleidigter Miene erhob er sich und packte seine Papiere zusammen.

Der Abschied, den die Vettern von einander nahmen, fiel etwas frostig aus.

* * *

Erich von Kriebow hatte Ulrich und Mira, als er ihnen seinen Besuch machte, nicht zu Haus angetroffen. Er war nicht allzu betrübt deshalb. Seine Bewunderung für Mira Pantin hatte sich sehr abgekühlt. Besonders seitdem sie sich mit John Katzenberg in so unverblümter Weise eingelassen, war sie ihrem früheren Verehrer verleidet worden.

380 Eines Abends traf er das Ehepaar im Zirkus. Da konnte er doch nicht umhin, zu Mira in die Loge zu gehen. Sie zeigte sich von großer Aufmerksamkeit für ihn, ja sie ließ um Kriebows willen einen älteren Herrn mit dem Durchlauchtstitel warten. Sie entließ den Grabenhäger nur auf das Versprechen hin, am Abend darauf bei ihnen zu speisen.

Erich von Kriebow kannte das Haus noch recht gut. Wie oft war er die drei Treppen zu Pantins hinaufgestiegen! Manchmal abends spät, wenn er auf dem Weg nach Haus Licht in Miras Salon erblickte, hatte er ein Stündchen Unterhaltung noch mitgenommen.

Die Einladung ging auf ein halb acht Uhr im Frack; er war gespannt, wen er dort finden würde. Im Vorzimmer sah er eine Anzahl dunkle Paletots hängen. Also Zivil! – Kriebow hatte um nicht als Provinziale zu erscheinen, sich Zeit genommen, denn in Berlin ist man unpünktlich, sagte er sich; darüber war er der Letzte geworden.

Mira war, wie immer, wundervoll angezogen. Der Abend war ihre beste Zeit. Wenn möglich, trug sie offenes Kleid, um von ihrer berühmt schönen Büste nicht mehr zu verstecken als irgend anging. Kriebow war doch wieder betroffen durch den Glanz ihrer Erscheinung.

Ulrich machte ihn mit den Anwesenden bekannt, soweit das nötig war. Es waren weniger Damen da als Herren. Der Hausherr entschuldigte sich bei Kriebow, daß er keine Dame für ihn habe, aber sie hätten Absagen bekommen. Mira habe außerdem gewünscht, daß er rechts von ihr sitzen solle, damit sie recht viel von ihm habe.

Kriebow ließ sich schnell noch von Ulrich die 381 Personalien erklären, um im Bilde zu sein. »Wer ist denn der alte Herr dort mit der Platte?« fragte er.

»Kennst du den nicht? Das ist ja dein Nachbar in Groß-Podar, der Kommerzienrat von Katzenberg.«

»Wie Teufel kommt denn der hierher?«

»Er führt seine Töchter aus diesen Winter. Dort die beiden kleinen in Weiß! Und die starke Dame, die eben mit Mira spricht, ist die Mutter dazu.«

»Sieh mal an, das ist ja interessant!«

»Ja, es sind sehr nette Leute. Wir verkehren viel mit ihnen. Die Mädels machen übrigens ziemliches Aufsehen in Berlin.«

Da Ulrich von einem Diener abgerufen wurde, der dem Wirt etwas meldete, hatte Kriebow Muße, die Familie Katzenberg einer genaueren Betrachtung zu unterziehen: der Kommerzienrat war ein kleiner, zur Korpulenz neigender, dabei aber beweglicher Mann, mit scharf geschnittenen, klugen Gesichtszügen. Von dem Weiß des Backenbartes, des spärlichen Haupthaares und der Brauen hoben sich eigenartig lebhaft die dunklen Augen ab. Den Eindruck eines Großgrundbesitzers machte Katzenberg senior sicherlich nicht; man konnte ihn sich schwer auf dem Wirtschaftshofe oder gar auf dem Acker vorstellen, eher schon an der Börse oder im Bankgeschäft.

Die Frau war größer als er; eine stattliche Blondine von stark verblühter Schönheit.

Die Töchter hatten den Gesichtsschnitt und den brünetten Teint des Vaters geerbt. Sie waren, wie Kriebow bei sich feststellte, raffiniert einfach gekleidet; weißseidene, glatte Kleider, fast gar kein Schmuck, das blauschwarze Haar nach japanischer Art frisiert, von Hals und Arm gerade so viel zu sehen, wie es ihrer 382 Magerkeit nach stand. Auffällig waren an diesen Mädchen die großen, mandelförmig geschnittenen Augen, mit den starken, geraden Brauen. Ob die Schwestern hübsch seien, wußte Kriebow nicht zu entscheiden, jedenfalls waren sie schick.

Aus dem Korps der schwarzen Fräcke, die im Nebenzimmer versammelt waren, trat plötzlich eine ihm wohlbekannte Gestalt auf Kriebow zu: Graf Ingelsbrunn. »Sie hier!« rief Kriebow. Er konnte sich nicht entsinnen, dem Grafen jemals in diesem Salon begegnet zu sein. Das mußte seinen besonderen Grund haben.

Die Unterhaltung der beiden wurde unterbrochen dadurch, daß es zu Tisch ging.

Ein Oberregierungsrat führte die Dame des Hauses. Er putzte eine Gesellschaft an mit seinem schönen Bart, seinen Dekorationen und auch mit seiner jugendlichen Frau: einer zierlichen Person, mit niedlichem Vogelgesichtchen. Ihr Trick war, sich auf die kindlich Harmlose zu spielen. Kriebow hatte sie, als eine von Miras Intimen, früher oftmals hier erlebt. Er kannte Paulettes ganzes Getue in- und auswendig: ihren unschuldigen Augenaufschlag, ihre naiven Fragen, ihr helles Gelächter. Nichts hatte sich an der Frau verändert – sie war eine von denen, die sich ewig konservieren –, nur ihre Courmacher wechselten, und das ziemlich schnell.

Kriebow sah sich unwillkürlich nach Paulettes letztem Verehrer um; es war ein Italiener gewesen von der Botschaft. Über das schlechte Deutsch, in das er seine verliebten Redensarten gekleidet, hatte sich Paulette immer ausschütten wollen vor Lachen. Aber heute saß ein anderer neben ihr: Ingelsbrunn. Sollte der etwa den Italiener abgelöst haben? Es schien fast so nach der vertrauten Art, wie sich die beiden unterhielten. – 383 Kriebow schüttelte den Kopf; der Graf war in der letzten Zeit, wie's schien, recht herabgekommen in seinem Geschmack.

Bei einem anderen Ehepaar, das zu den Gästen gehörte, war die Frau der ältere Teil. Die Gräfin kokettierte mit ihrem weißen Haar, das zu dem rosigen Gesicht einen kleidsamen Gegensatz bildete. Auch ihre Lebens- und Liebesgeschichte fiel Kriebow wieder ein. Er hatte diese Frau noch hochblond gekannt. Sie war zum dritten Male verheiratet. Der erste Gatte war gestorben, vom zweiten war sie geschieden, den dritten besaß sie noch. Für jede Ehe hatte sie eine andere Haarfarbe gehabt. Das weiße Haar führte sie, seit sie mit dem Grafen verheiratet war: ein junger, blasser Mensch, bartlos, mit dünnem Haar und hoher Stimme, den man für ihren Sohn hätte halten können.

Mira überließ den Oberregierungsrat, nachdem sie ein paar Höflichkeitsphrasen mit ihm gewechselt, seiner Ruhe und widmete sich dem Grabenhäger.

Er mußte ihr erzählen, was sich, seit sie im Herbste Langendamm verlassen hatte, in der Gegend zugetragen habe. Über jede einzelne Persönlichkeit sollte er Rede stehen; sie knüpfte dann in ihrer unverfrorenen Art Bemerkungen daran.

Mira pflegte also nach wie vor diesen Stil, für den sie in der Gesellschaft den Beinamen »der schöne Gamin« erhalten hatte; immer wieder war man frappiert, wenn die schöne, elegante Frau mit dem ruhigsten Gesichte der Welt Dinge sagte, die man im Munde eines Gassenjungen stark gefunden haben würde.

Während sie nun alle Häuser und Persönlichkeiten der Nachbarschaft durchhechelte und jedem eine saftige Randbemerkung anhing, vermied sie es, von dem Landrat 384 zu sprechen. Kriebow erwähnte ihn einige Male, weil es ihn interessierte, zu erfahren, wie sie neuerdings zu John Katzenberg stehe. Was wollte sie eigentlich? Warum protegierte sie den Menschen so auffällig? Und nun gar noch die Intimität mit seiner Familie! Früher war Mira wenigstens exklusiv gewesen; einen Kommerzienrat hätte man da sicher nicht in ihrem Salon getroffen.

Aber Mira ging nicht auf das Thema ein. »Ach, der kleine Landrat! Habe lange nicht mehr von ihm gehört.« Das war alles, was sie äußerte. – ›Dann lügst du, oder John Katzenberg hat geflunkert!‹ – dachte Kriebow bei sich; denn er hatte den Landrat erst kürzlich sich damit brüsten hören, daß er mit Mira Pantin korrespondiere. –

Um Mira etwas Angenehmes zu sagen, erzählte Kriebow, er habe neulich Kari gesehen in Langendamm und sei überrascht gewesen, wie allerliebst sich ihre Schwägerin herausgemacht habe.

»Ach Gott! Kari, das gute, einfältige Tier! Ja, wir haben ihr hier etwas Manieren beizubringen versucht, denn das war nötig! Sie hatte ja von nichts ne Ahnung. Es gefiel ihr mächtig in Berlin! Das Mädel sperrte Mund und Nase auf. Das viele Militär, die Leutnants, das war Karis ganzes Ideal. Und wissen Sie, auf der Straße, wenn uns Herren begegneten, – so ein Auge wagte sie gerade dran. Ich sage zu ihr: ›Kari, guck' doch den Herren man dreist in die Augen, das ist in Berlin Mode; du gewöhnst dir noch das Schielen an.‹ Da wird das Mädel rot bis über die Ohren. Überhaupt, sie war sehr drollig. Gott, was haben wir über die Kleine gelacht! Hier die Gräfin und Paulette und ich, wir haben sie mal 385 ins Gebet genommen. Da hat sie Ansichten herausgesteckt – die reine Unschuld, sage ich Ihnen! Nein, sie war noch nicht reif für Berlin. Schließlich sehnte sie sich selbst von hier weg. Und da ist sie eines Tages wieder nach Langendamm zurück zu ihren Hühnern und Gänsen. Ja, das war: Kari in Berlin! Bringen Sie mal die Gräfin oder Paulette auf das Thema!« –

Kriebow sah sich die beiden Damen an und dachte bei sich, daß es eine eigentümliche Klasse von Lehrmeisterinnen sei, die man da dem jungen Mädchen gegeben hatte.

»Nun erzählen Sie mir aber mal von sich und Ihrer Frau!« meinte die Dame des Hauses bald darauf. »Noch immer so unaussprechlich glücklich miteinander?«

Kriebow empfand eine starke Abneigung, zu Mira von Klärchen zu sprechen. Er sagte nur in aller Kürze, daß es seiner Frau gut gehe, und daß sie augenblicklich zur Pflege des Vaters in ihrer Heimat sei.

»Und Sie amüsieren sich derweilen in Berlin! – Hab's schon gehört, wo Sie überall gesehen worden sind, und wer weiß, wo Sie noch gewesen sein mögen; was man natürlich gar nicht erfährt. – Habe ich's Ihnen nicht im vorigen Sommer prophezeit, mein Lieber? Besinnen Sie sich doch! Die Herrlichkeit würde nicht ewig dauern, Sie würden sich mopsen so zu Zweien in Grabenhagen. Jetzt haben wir die Bescherung, Sie haben's satt gekriegt; nun sitzt sie bei den Eltern, und der Herr Gemahl erholt sich in Berlin.«

Kriebow wollte sie unterbrechen, aber sie fuhr fort und ließ ihn gar nicht zu Worte kommen.

»Ich hab's noch nie gut ablaufen sehen, wenn sich Eheleute so furchtbar lieben. Nur keine Romanzen in der Ehe, nachher wird man desillusioniert. Und 386 außerdem hat das so was Kleinbürgerliches an sich, dieses ›Liebes Männchen!‹ und ›mein süßes, kleines Frauchen!‹ Gott sei Dank, darüber ist man doch in unseren Tagen hinaus, über diese Art von Turteltaubenliebe. – Sehen Sie mal uns hier an, die Gräfin, Paulette und mich; wir haben unseren Männern von vornherein erklärt, welche Rechte wir ihnen einräumen und welche wir uns reservieren. Und sehen Sie, unsere Ehen gehen ausgezeichnet.« –

Kriebow hatte ein bitteres Wort auf der Zunge – er hätte gern gesagt, daß Männer, die sich einen solchen Ehekontrakt gefallen ließen, solcher Frauen wert seien –, aber er unterdrückte die Bemerkung.

Sie mochte wohl seinen Zügen ansehen, daß ihre Worte ihn gekränkt hatten. »Übelnehmen gilt nicht, mein Lieber, unter so alten Freunden, wie wir sind!« rief sie und legte ihm in alter Vertraulichkeit die Hand auf den Arm.

Er sagte mit einer Stimme, die von innerer Erregung zitterte, halblaut, damit es kein anderer höre: »Ich möchte Sie ein für allemal bitten, meine Frau aus dem Spiele zu lassen; das ist das einzige, wo ich keinen Spaß verstehe, gnädige Frau!« –

Mira blickte ihn starr an, sprachlos, für einen Augenblick völlig überrumpelt durch den ungewohnten Ernst seiner Worte und seines Ausdrucks. Ja, Kriebow erlebte etwas, was er in seiner langjährigen Bekanntschaft mit Mira Pantin noch nie gesehen hatte: sie errötete. –

Von da ab unterhielt sie sich nur noch mit dem Oberregierungsrat; Kriebow schien für sie Luft zu sein.

Es hatte gesessen; er wußte, daß sie ihm das nie 387 im Leben verzeihen würde. Aber er war zufrieden mit sich, daß er ihr das gesagt hatte.

* * *

Nach Tisch begab man sich in Miras Salon. Bald hatte sich die Gesellschaft in einzelne Gruppen verteilt. Die beiden weißgekleideten Schwestern Katzenberg waren von einem Kranz schwarzer Fräcke umringt. Für sich saß Paulette, der übrigen Gesellschaft den Rücken kehrend, im Halbdämmer einer Nische, die von einer rotverhangenen Lampe matt erleuchtet wurde. Hin und wieder hörte man ihr Kichern, Graf Ingelsbrunn befand sich neben ihr und tuschelte ihr ins Ohr. Man sah nicht hin; vor allem der Gatte hütete sich, seine Blicke dahin schweifen zu lassen, wo seine Frau im Tete-a-tete mit ihrem anerkannten Anbeter saß. Die Leute hätten ihn für eifersüchtig halten können, und das wäre doch der Gipfel der Lächerlichkeit gewesen! – Er saß mit dem knabenhaft aussehenden Grafen zusammen, in ein Gespräch über Politik vertieft, das, den überaus wichtigen Mienen der Herren nach zu schließen, von ihnen selbst für ernsthaft gehalten wurde. –

»Nette Leute, die Katzenbergs! Nicht wahr?« sagte Ulrich zu seinem Freund Kriebow. Der murmelte irgend etwas Unverständliches. Der Kultus, der hier mit dieser Parvenusfamilie getrieben wurde, verdroß ihn aufs höchste. Dabei war es klar, daß Ulrich kein reines Gewissen hatte; was mußte er immer wieder versichern: wie »hervorragend anständig« die Leute seien. Und um doch auch etwas zur Beglaubigung dieser Behauptung anzuführen, erzählte er mit großer Wichtigkeit: der Kommerzienrat habe neulich dreißigtausend Mark gestiftet zu einer neuen Kirche in Berlin. Kriebow 388 hatte davon bereits in der Zeitung gelesen und sofort die Vermutung gehabt, Herr von Katzenberg müsse wohl das Bedürfnis nach einer Rangerhöhung oder vielleicht auch Schmerzen im Knopfloch haben. Und wie zur Bestätigung seines Verdachtes berichtete Ulrich: neulich auf dem Opernhausballe, wo Mira die beiden Schwestern chaproniert hätte, habe eine sehr hochgestellte Persönlichkeit sich die Damen Katzenbergs vorstellen lassen und gnädige Worte mit Mutter und Töchtern gewechselt. Und was das Allerneueste sei – das hier bitte er aber Kriebow als strenges Geheimnis zu behandeln – bei dem Manöver des Gardekorps, das bekanntlich im nächsten Herbst ihre Gegend berühren werde, sei Groß-Podar ins Auge gefaßt als Quartier eines Prinzen.

Ulrich brach seinen Bericht hier ab, weil der Kommerzienrat selbst in diesem Augenblicke zu ihnen trat. Er müsse sich doch einmal mit Herrn von Kriebow auf Grabenhagen näher bekannt machen. Es freue ihn sehr, den Herrn Nachbar hier zu sehen. Er habe schon sehr viel von ihm gehört und von seiner Frau Gemahlin. Sein Sohn, der Landrat, habe ihm erzählt, was für liebenswürdige Wirte die Herrschaften wären. Er hoffe auf einen recht lebhaften Verkehr zwischen den beiderseitigen Gütern in Zukunft.

Der Grabenhäger verharrte in absichtlicher Zurückhaltung. Das Tempo war ihm doch etwas zu schnell genommen, in welchem der Herr hier Freundschaft machen wollte.

Herr von Katzenberg ließ sich übrigens durch Kriebows geringes Entgegenkommen nicht im geringsten beirren; er fing an, dem »Herrn Nachbar« sein Herz über allerhand auszuschütten.

»Es ist was Schönes um den Grundbesitz!« rief er, 389 lebhaft gestikulierend. »Es bleibt eben doch das Vornehmste, was wir haben, mit allem, was so drum und dran hängt. Großgrundbesitzer, das ist etwas! – Wenn ich sagen kann: fünftausend, sechstausend Morgen sind mein, das ist etwas! – Ich für meine Person hätte das ja nicht nötig gehabt – wenn ich mal ganz offen zu Ihnen sprechen soll, Herr Nachbar –, ich für mich hätte mir Groß-Podar nicht gekauft. Aber sehen Sie, ich habe einen Sohn! – Ich kann wohl sagen: ich habe Groß-Podar für meinen John gekauft; er soll die Vorzüge genießen, die ein solcher Besitz verleiht. Wer weiß! Vielleicht mache ich es noch mal zum Fideikommiß. Denn der gefestigte Grundbesitz, das ist doch erst das Wahre. John ist ja noch jung und alle Möglichkeiten stehen ihm offen. Er fühlt sich außerordentlich wohl in Ihrer Mitte, ich freue mich immer zu sehen, wenn ich mal hinüberkomme, wie nett er sich eingelebt hat. Na, und er hat ja auch das Zeug zum Landrat und wohl auch noch zu mehr. Ja, es ist eine schöne Sache um den Grundbesitz, ich lasse nichts darauf kommen!«

Dann fing er an von den Änderungen zu erzählen, die er in Groß-Podar vorhabe: neue Stallung für einige zwanzig Pferde, Warmhäuser, ein Ananashaus. Im Herrenhaus wollte er Luftheizung einführen und elektrisches Licht, dazu mußte eine Dynamomaschine aufgestellt werden. Nichts schien er von dem Vorgefundenen bestehen lassen zu wollen. Er habe die Besitzung in einem unglaublich vernachlässigten Zustande übernommen, behauptete er.

Nun kannte Kriebow das Herrenhaus in Groß-Podar einigermaßen. Es war ja richtig, der alte Landrat von Ruhbeck hatte nicht viel tun können für 390 seine Besitzung. Aber »plundrig und absolut unherrschaftlich«, wie der neue Besitzer es hinstellen wollte, war der Sitz nicht. In seinen Anlagen war Groß-Podar ein altes, vornehmes Familiengut, und wenn Herr von Katzenberg es zu schlecht fand für sich, so bewies er damit nur den Sinn des Emporkömmlings, dem für so etwas das Verständnis abging.

Der Kommerzienrat fuhr fort: »Wissen Sie, eigentlich hätte man besser getan, den alten Kasten gänzlich wegzureißen oder das Ding dem Pächter zur Wohnung zu überweisen. Ich hatte nur keine Zeit, ein neues Schloß zu bauen, wie ich gern gewollt hätte. Bis zum Sommer muß alles fix und fertig sein, da wollen wir Einzug halten. Nun muß man eben sehen, was sich noch draus machen läßt durch Renovieren. Meinen Damen konnte ich doch unmöglich zumuten, in ein Haus ohne jeden Komfort zu ziehen. Ich verstehe überhaupt nicht, wie dieser Herr von Ruhbeck gelebt haben muß! Das ist ja die reine Bauernwirtschaft gewesen bei der Familie. Auf ein und demselben Herde ist für die Herrschaft gekocht worden und für die Dienstboten. Stellen Sie sich das mal vor! Und wie ich erfahren habe, ist Frau von Ruhbeck nicht selten selbst mit ihren Töchtern in der Küche zu finden gewesen. Soll das vielleicht ein herrschaftlicher Hausstand sein?«

Kriebow erwiderte darauf: Er könne daran gar nichts Wunderbares finden. In den alten, guten Häusern der Gegend – er betonte das »alt und gut« – sei es Sitte, daß die Damen sich um die Wirtschaft kümmerten. Seine Frau trage auch jeden Morgen die Hausschürze.

Der Kommerzienrat lenkte ein. Das sei ja gewiß reizend als Liebhaberei, sagte er, und wahrscheinlich 391 stehe der gnädigen Frau das Schürzchen allerliebst, aber im allgemeinen wäre es doch wohl ratsamer, dergleichen den Dienstboten zu überlassen.

Kriebow wollte eben widersprechen, als Mira, welche die letzten Worte mit angehört hatte, hinüberrief: »Sie haben sehr recht, Herr von Katzenberg!«

»Ich freue mich, daß wir auch hier einer Ansicht sind, meine Gnädigste!« sagte der Kommerzienrat, mit einer Verbeugung nach der Dame des Hauses hin, die neben seiner Frau und der Gräfin am nächsten Teetisch saß.

»Sie sind ja überhaupt so furchtbar lächerlich, die braven Edelfrauen vom Lande. Das müßten Sie wirklich mal selbst mit ansehen; es verlohnt sich der Mühe.«

»Ach, erzählen Sie uns mal davon!« rief die Gräfin. »Das muß ja komisch sein!«

Ein höhnender Zug lag um Miras Mund, als sie jetzt der Gesellschaft eine Schilderung gab von den »Frauen unserer Krautjunker«. – Sie streifte Kriebow, der noch immer auf seinem Posten an der Tür stand, mit einem schnellen Blick. Es hätte ihres schadenfroh spöttischen Ausdrucks nicht bedurft, um ihm zu sagen, auf wen ihre Worte gemünzt seien.

»Man ist sehr tugendhaft, das ist das erste! Von der großen Welt hat man nichts gesehen, aber man ist trotzdem sehr eingebildet und von sich selbst durchdrungen. Über alles, was modern ist oder ein bißchen Schick hat, redet man sich den Mund zu den Ohren, und was meinen Sie wohl, wovon diese braven Weiber sprechen, wenn mehrere von ihnen zusammenkommen: über Dienstbotennöte klagen sie sich vor, über die Nudel- und Kaffeepreise. Über den Kochtopf guckt so was nicht hinaus, und das bildet sich noch was ein auf seinen 392 häuslichen Sinn! – Und die Herren dazu! Das sind würdige Pendants zu ihren Ehehälften. Von der Jagd reden sie und von den Getreidepreisen. In der Toilette vernachlässigen sie sich und noch mehr in den Manieren. Gelegentlich fährt man wohl nach Berlin, weil's zu Hause auf die Dauer doch zu stumpfsinnig wird, und wenn man zurückkehrt, renommiert man dann natürlich mit seinen Erlebnissen. – Und die Geselligkeit! Das erste ist, daß die Geschlechter sich trennen, die Herren für sich, die Damen für sich! Zusammensein dürfen nur Eheleute und allenfalls erklärte Brautpaare und die nur unter Bewachung. – Als einziges Amusement kennt man das Essen. Und wie schlecht wird gegessen! Aber es schmeckt allen herrlich. Die Diners dauern endlos lange, und alle sprechen gleichzeitig und sehr laut, was man Tischunterhaltung nennt.«

Miras Schilderung wurde mehrfach durch Gelächter unterbrochen. Ihr Gatte hatte ihr durch verstohlene Zeichen bemerklich zu machen versucht, sie solle aufhören – stammte er doch selbst aus Verhältnissen, die sie persiflierte. – Sie hatte sich nicht daran gekehrt.

Eine Art von toller Spottlust erfüllte sie, ein wilder, boshafter Übermut; sie wollte verletzen.

»Und was macht man denn abends?« fragte Paulette aus ihrer Ecke heraus, im naivsten Kindertone.

»Abends!« rief Mira. »Abends da gehen die Leute zu Bett. Ja, man tut sehr tugendhaft und solid; aber trotzdem ist man verliebt – verliebt und schrecklich zärtlich, bei aller Tugend und Sprödigkeit. Aber natürlich nur die verheirateten Leute! Ja, von der Solidität, die da herrscht, macht sich die kühnste Phantasie keinen Begriff.«

393 Hier unterbrach sie wieder lautes Gelächter. Paulette kicherte und suchte Ingelsbrunn, der nicht alles verstanden zu haben vorgab, zu erklären, was Mira gesagt habe.

Erich von Kriebow kochte innerlich vor Empörung. Es war schwer, hier die Haltung nicht zu verlieren; aber die Freude wollte er Mira nicht machen, vor dieser Gesellschaft seinen Verdruß merken zu lassen. Wenn sie ihn hatte beleidigen wollen, dann hatte sie ihren Zweck allerdings voll erreicht. In diesem Hause war er zum letzten Male gewesen, soviel wußte er.

Kriebow verließ als Erster die Gesellschaft. Seine Verabschiedung von der Dame des Hauses war kühl und förmlich. Sie reichte ihm nicht die Hand. Man blickte einander an, und jedes las in des anderen Auge die Feindschaft bestätigt.

Tief verstimmt ging der Grabenhäger aus dem Hause, zu dem er früher so oft und so gern seine Schritte gelenkt hatte. Wie lange war's denn her, daß er sich bei dieser Art von Unterhaltung durchaus behaglich gefühlt! – Und heute konnte er den Anschluß nicht mehr finden.

Erich fühlte das Bedürfnis, sich von den unangenehmen Empfindungen zu befreien, welche die letzten Stunden ihm verursacht hatten. Noch ins Café gehen, die Blätter ansehen? – Oder in den Klub? Dort würde er sicherlich Bekannte treffen. Die Theater waren eben aus. Die Nacht ging ja erst eigentlich an für Berlin.

Er geriet in den Strom von Leuten, die aus einem nahen Theater kamen. Wagen sausten in schneller Gangart an ihm vorbei. Unwillkürlich nahm er den 394 Schritt der anderen auf, ließ sich treiben in der Menschenströmung.

Allerhand abgerissene Worte klangen an sein Ohr. Man unterhielt sich über das Stück, das man gesehen hatte – es schien eine Premiere gewesen zu sein, – debattierte über den Erfolg, erging sich in gespreizten Redensarten, die geistreich sein sollten, höhnte im Gassenjungentone über Autor und Darsteller.

Was kümmerte ihn das! Was ging ihn überhaupt all das an, was ihn hier umgab, was er hörte, was er sah! Die Stadt mit ihrer fremden Menschenherde, ihrem prahlerischen Getue, ihrem vorlauten Wesen, ihren grellen Lichtern! – Das schien so kalt, öde und tot, trotz des blendenden Glanzes und des tosenden Lärmes. Alles hier war übertrieben, unecht, widernatürlich. Ein lächerliches Scheinwesen im Grunde, bei allem Protzen mit Größe und Fortschritt.

Mitten in der Menschenmenge wurde ihm auf einmal ängstlich einsam zumute, als sei er gänzlich allein und verlassen. Eine unaussprechlich bange Sehnsucht packte ihn nach der Heimat.

Was wollte er hier? – Welchen Sinn hatte er hier? Er war ein Fremder in dieser Umgebung. Wie konnte ein Mensch hier wurzeln? Berlin, das war ein Haufen Steine, zusammengeworfen und übereinandergeschichtet ins Riesenhafte, aber wohnlich war das Gebäude nicht. Die Menschen waren fremd und feindlich, stießen aufeinander grandig und rauh, wie die Ziegelsteine.

Er sah die Heimat vor sich mit greifbarer Deutlichkeit: das alte, trauliche Grabenhäger Haus, wie es eingehuschelt lag in die Wipfel seines Parkes. Die hohen, rohrgedeckten Dächer seiner Ställe und Scheunen mit ihren Storchnestern, und das Dorf, die 395 unscheinbaren Katen vom stattlichen Herrenhause bewacht wie Hühnchen von der Glucke. Und darüber hinaus seine Felder und Äcker, die Koppeln mit Pferden und Vieh. Hie und da ein alter Baum weithinschattend. Die Wiesen, den Wald, am Bachrande hin Erlen und Weiden. Die ganze weite Landschaft da draußen. –

Hielt das, was sich ihm hier ins Auge drängte, den Vergleich aus mit der schlichten Größe dessen, was daheim auf ihn wartete, was er sein nannte! –

Er war ein Tor, hier seine Zeit zu vergeuden; morgen noch wollte er nach Hause reisen.

 


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