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Erich von Kriebow hatte in der Knabenzeit manche Freistunde auf dem Schulzengute zugebracht. Bei Tuleveits – so schien es – war alles viel schöner als auf dem väterlichen Gutshofe. Das machte die Ungebundenheit, in der sich der Knabe da ergehen durfte, unbeaufsichtigt von Gouvernanten und Kandidaten, deren Regiment nicht bis hierher reichte. Gar zu gern nur entwischte der Junge der Aufsicht seiner Präzeptoren, und wenn man nicht wußte, wo Erich sei, war das letzte Auskunftsmittel, auf den Schulzenhof zu schicken; dort wurde er dann gewöhnlich aufgefunden, in Gesellschaft seines Freundes Otto Tuleveit, auf dem Heuboden, in 213 Stall, Scheune, oder welchen Schauplatz sich die Knaben nun gerade zu ihren Spielen ausgesucht hatten.
Er wurde dafür gescholten, hie und da auch bestraft. Dem Landesdirektor war Erichs Verkehr auf dem Schulzenhofe ein Dorn im Auge: er befürchtete, daß sein Sohn sich schlechte Manieren und gewöhnliche Redensarten angewöhnen könne von den Bauersleuten. Diese Sorge war unbegründet; Sitte und Ton, die hier herrschten, hätte sich jedes herrschaftliche Haus getrost zum Muster nehmen können. Frau Tuleveit war die Tochter eines Ackerbürgers aus der Kreisstadt. Als Stadtfräulein hatte sie eine bessere Erziehung genossen. Davon war ihrem Wesen etwas Verfeinertes anhaften geblieben. Der ganze Hausstand hatte von der höheren Kultur der Frau etwas angenommen.
Jochen Tuleveit, damals noch ein rüstiger Mann in der Blüte der Kraft, hatte nichts dagegen, daß der Junker bei ihm aus und ein ging. Jochen war nicht nachtragend; er rechnete es dem Knaben nicht an, daß er ein Kriebow war, mit denen seine Familie seit Generationen auf gespanntem Fuße lebte.
Innige Freundschaft bestand zwischen Erich und Mutter Tuleveit. Dieses zarte Verhältnis beruhte allerdings auf ziemlich materieller Grundlage. Der Knabe wußte nur zu gut die vielen guten Dinge zu schätzen, welche diese ausgezeichnete Hausfrau jederzeit in ihren Vorratsräumen aufbewahrte. Wo anders hätte es auch solchen Lebkuchen gegeben, wie er hier gebacken wurde! Die Äpfel, Birnen, Nüsse und Pflaumen aus dem Obstgarten des Schulzengutes waren die besten der Welt. Und nun gar das selbstgebraute Bier, der Stachelbeerwein und die Honigwaben! Selbst das Brot mundete besser als das heimische, denn hier bekam man 214 Leckerbissen dazu, die im Herrenhause verpönt waren: Käse, Quark, Speck, Schnittlauch und dergleichen.
Erich nahm, wie es Kinderart ist, die Guttaten, die ihm geboten wurden, an, ohne tiefere Dankbarkeit zu empfinden. Er nannte Frau Tuleveit »Mudding« und ließ sich mit guter Manier von ihr verwöhnen.
Auch auf Mutter Tuleveits Seite war dieses Verhältnis nicht frei von Egoismus. Ein ganz klein wenig warf die brave Frau auch die Wurst nach der Speckseite. Es war ihr schmeichelhaft, daß ihr Otto einen Edelmannssohn zum Spielgefährten hatte. Der Frau, welcher der Sinn für das Feine und Auserwählte im Blute lag, hatte es das Auftreten des Junkers, sein freies, liebenswürdiges Wesen, die Atmosphäre von Vornehmheit, die er mit sich brachte, angetan. Vielleicht auch hegte sie im Grunde ihres Herzens die geheime Hoffnung, daß die Freundschaft mit dem zukünftigen Gutsherrn ihr und den Ihren einstmals noch nützlich werden könne. Aber von solchen Wünschen ihres leichtbeweglichen Frauengemüts durfte Jochen nichts ahnen. Sie kannte ihren Mann: wenn der etwas derartiges auch nur von weitem geahnt hätte, dann wäre er imstande gewesen, dem Edelmannssohne das Haus zu verbieten.
Es waren drei Kinder im Hause: Karl, der Älteste, und ein Paar Zwillinge: Otto und Grete. Zwischen Karl und den Zwillingen bestand ein großer Abstand in den Jahren; ein paar dazwischen Geborene waren in frühester Jugend gestorben. Die Zwillinge waren ungefähr in einem Alter mit Erich, während Karl bereits, als halberwachsener Mensch, eine Art Hofmeisterstellung in der väterlichen Wirtschaft inne hatte.
Otto Tuleveit, Erichs Intimus, war ein großer, etwas ungelenker Junge mit gutherzigen Augen, 215 pausebäckig; man sah ihm die gute Kost des Schulzengutes an.
Den beiden Freunden, Otto und Erich, gesellte sich gelegentlich noch ein dritter Knabe zu: Fritz Wurten, der Sohn des Schmieds. Das war ein frühreifes, verwegenes Bürschchen. Der Junge hatte zeitig in der Schmiede zugreifen lernen müssen; die Schelte und Schläge, mit denen Vater Wurten schnell bei der Hand war, hatten ihm ein hartes Fell verliehen. Fritz, obgleich der kleinste an Statur, war den beiden anderen in Geschicklichkeit und Selbständigkeit weit überlegen. Er mußte sich dem Junker und dem Bauernsohn in vieler Beziehung wertvoll und unentbehrlich zu machen.
Wenn dieses Kleeblatt zum Spielen noch einen vierten Mann brauchte, dann mußte ihnen Ottos Zwillingsschwester herhalten. Gretchen war ein zierliches Püppchen mit sorgfältig geflochtenem, gelbem Zopf, der nie ohne buntes Band war; denn Mutter Tuleveit hielt auf die Erscheinung des Töchterchens. Jochen schalt gelegentlich, er meinte, das Kind würde zu einer Prinzeß erzogen; aber was half ihm das? Seiner Frau war nun einmal von ihrer städtischen Abkunft her der Hang zu feinerer Lebensart anhängen geblieben.
Otto und Fritz legten keine große Achtung vor dem Mädchen an den Tag; sie stießen sie hin und her und brachten sie wohl auch zum Weinen durch ihre Rauhheit. Anders verhielt sich Erich. In der Brust des jungen Edelmanns war früh die Galanterie erwacht, er ergriff Partei für das Mädchen, nahm sie ritterlich in Schutz. Gerade die Zimperlichkeit dieses kleinen Fräuleins sagte ihm zu; da konnte er sich um so stolzer in der Rolle eines Beschützers gefallen.
Dieser Kreis jugendlicher Spielgefährten flog dann 216 mit einem Male schnell auseinander. Erich bezog das Gymnasium, und auch Gretchen kam aus dem Hause zu Verwandten, um in die Künste des Nähens, Strickens und Klavierspielens, die Mutter Tuleveit für durchaus notwendig hielt, eingeweiht zu werden.
Jahre vergingen, und man bekam sich nicht wieder zu sehen. Wenn Erich als Gymnasiast in den Ferienzeiten nach Haus kam, hatte er andere Gedanken im Kopfe, als Tuleveits und das Schulzengut. Er vernachlässigte die Leute, von denen er so manche Freundlichkeit genossen hatte, denn er war nun schon in das Alter gekommen, wo man Standesunterschiede sieht und beachtet. Die Leckerbissen der Mutter Tuleveit konnten ihn nicht mehr locken; auf ganz andere Genüsse stand der Sinn des heranwachsenden jungen Mannes. Jetzt bildete das Pantinsche Haus einen Anziehungspunkt für ihn. Dort gab es junge Leute seines Standes. Da war Ulrich, mit dem er sich in den Künsten des Rauchens und Biertrinkens übte, und Wanda, in die sterblich verliebt zu sein er sich damals einbildete.
Erst als Erich schon Leutnant war, betrat er wieder einmal das Schulzengut. Er war auf Urlaub von Berlin herübergekommen und leistete seinem alten Vater Gesellschaft, der es für seine Pflicht hielt, einige Wochen im Jahre auf seiner Besitzung zuzubringen.
Vater und Sohn genierten sich bei solchen Gelegenheiten gegenseitig, ohne es sich recht eingestehen zu wollen. Das Lebensalter war zu verschieden und auch die Interessen und der Geschmack. Die Fähnrichszeit lag noch nicht lange hinter dem jungen Manne, gerade hatte er angefangen, die Nase in die große Gesellschaft zu stecken. Berauscht von dem parfümierten Treiben des Salons und auch schon ein wenig blasiert war er 217 in die Heimat zurückgekommen, die ihm in diesem Seelenzustande wenig zu bieten vermochte. Die endlosen Gespräche über Politik, mit der ihn sein Vater regalierte, waren auch keine Belustigung für den Leutnant. Davon verstand er nichts, und von dem, was jetzt sein ganzes Empfinden und Denken erfüllte: Courmacherei und Liaisons, konnte er wieder seinem Vater nicht gut erzählen. Was blieb ihm also übrig, als sich mit Anstand zu langweilen.
Doch sollte er bald etwas finden, das ihn mehr interessierte als das ganze übrige Grabenhagen zusammen. Zu den Dingen, die sein Vater für korrekt hielt, gehörte auch, daß man Sonntags zur Kirche ging. Da saß nun der frischgebackene Leutnant neben dem alten Landesdirektor im Kriebowschen Kirchenstuhl und beschäftigte seine Gedanken mit allem anderen mehr als mit Erbauung.
Eines Sonntags sah er da ein Gesicht, das sofort seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: eine junge Person, die nicht weit von ihm neben dem Tuleveitschen Ehepaare saß. Auch sie hatte schon nach dem herrschaftlichen Stuhle herübergeschielt und, wie bei einer Sünde ertappt, als sich ihr Blick mit dem des Leutnants kreuzte, die Augen gesenkt.
Es war schwer zu glauben, aber dieses Fräulein in städtischer Tracht, mit hoher Frisur unter modischem Hut, konnte keine andere sein als Gretchen, sein kleiner Spielkamerad von ehemals, die er damals wohl in aller Harmlosigkeit geküßt und seine »Braut« genannt hatte. – Ob sie daran wohl noch dachte? –
Als er nun des Nachmittags vom Schulzenhofe her Musik herüberklingen hörte und auf sein Fragen erfuhr, daß dort Erntefest gefeiert werde, schien ihm das 218 eine günstige Gelegenheit, die alte Freundschaft, die seit heute morgen erneutes Interesse bekommen hatte, wieder aufzufrischen; mal aus der Nähe zu sehen, was eigentlich aus seiner Jugendfreundin inzwischen für ein Persönchen geworden sei. –
Zum Erntetanz waren eine Menge Menschen auf dem Schulzengut zusammengekommen. Jochen Tuleveit beschäftigte zur Sommerszeit eine stattliche Zahl Knechte und Tagelöhner. Auch städtische Verwandte und Freunde der Hausfrau waren erschienen zur »Austköst«.
Der junge Offizier wurde mit Freuden aufgenommen. Man ließ es ihm nicht entgelten, daß er sich so lange nicht hatte blicken lassen. Mutter Tuleveit sah es als keine geringe Ehre an, daß er das Fest mit seiner Gegenwart verschönte.
Sein Auge suchte vor allem die Tochter des Hauses; sie war nicht unter den Tanzenden zu entdecken. Schließlich wandte er sich an die Mutter, fragte, wo das Mädchen sei. Die gute Frau war erstaunt: ja, wo war »Greten«? – Den ganzen Nachmittag sei sie dabei gewesen und nun auf einmal verschwunden!
Erich sprach sein Bedauern aus; er hoffe, daß sein Auftreten das Fräulein nicht etwa vertrieben habe. Mutter Tuleveit entschuldigte das Benehmen der Tochter so gut sie konnte: ihr »Greten« sei immer noch solch ein lächerlich ängstliches und empfindliches Ding, wie der Herr Leutnant sie von früher her wohl in Erinnerung habe.
Der junge Herr mußte sich also wohl oder übel darein finden, daß sich diejenige, derentwegen er gekommen war, aus irgendeinem ihm unverständlichen Grunde dem Feste fernhielt. Er war nun aber einmal hier, da hieß es: »mitgefangen, mitgehangen«! Es 219 würde Wirtin und Gäste beleidigt haben, wenn er sich nicht am Tanze beteiligt hätte.
Mädchen waren da die Auswahl: flinke und ungeschickte, leichte und gewichtige, zerbrechliche und handfeste. Der junge Offizier, dem das Treiben hier erst wenig anstand, kam schließlich doch noch auf seine Kosten. Es war zwar kein leichtes Ding, diese Tänzerinnen in Umdrehung zu erhalten, und auch die Unterhaltung floß ein wenig zähe; aber unwillkürlich wirkte der Gegensatz belustigend, in welchem der gravitätische Ernst dieser Leute zu dem stand, was doch ein Vergnügen sein sollte. Sie betrieben das Tanzen wie eine außerordentlich wichtige und ernste Angelegenheit, als sei es Arbeit, die ihnen auferlegt sei. Kein Wort wurde gewechselt; nach den Klängen einer bestimmten Fiedel drehte sich das langsam schurrend, wie ein verrostetes Uhrwerk, auf der Lehmtenne der Scheune.
Nachdem Erich mit allen anwesenden Frauenzimmern einmal getanzt hatte, glaubte er seiner Pflicht genügt zu haben und dachte schon ans Heimgehen. Da erschien eine zierliche Blondine auf der Bildfläche, in der er Gretchen erkannte. Nun natürlich blieb er.
Das Mädchen tat, als gehe sie die ganze Tanzerei nichts an; sie trat zu ein paar älteren Frauen, mit denen sie sich eifrig zu unterhalten begann. Nach dem Leutnant zu blicken, vermied sie.
Erich begriff, daß dies weiter nichts sei als Komödie. Er sollte nicht denken, daß sie sich irgend etwas aus ihm mache; darum tat sie, als kenne sie ihn nicht.
Aber das sollte ihr nicht durchgelassen werden. Nun erst recht! – Er eilte auf sie zu, verbeugte sich vor ihr und fragte sie, ob sie sich seiner denn nicht mehr entsinne. Über und über errötend mußte sie das 220 zugeben. Er machte es ihr im übrigen leicht, sich von ihrer Befangenheit zu erholen, sprach in harmlos vertraulicher Weise von den alten Zeiten, als sei es erst gestern gewesen, daß sie miteinander gespielt und sich seitdem nichts zwischen sie geschoben. Wie eine Dame von Stand behandelte er sie, voll Höflichkeit und Achtung.
Nachdem er so ihr Vertrauen gekirrt hatte, ließ er sich erzählen, wo sie inzwischen gewesen sei und womit sie sich beschäftigt habe. Aus ihren Antworten ersah er, daß sie hochdeutsch sprechen konnte und, nachdem die erste Ängstlichkeit überwunden, sich leidlich sicher zu benehmen verstand. Er betrachtete sich das Mädel mit wachsendem Interesse; sie war wirklich beinahe eine Dame, wenigstens hier in dieser dörfischen Umgebung wirkte sie so.
Jetzt sei sie daheim bei den Eltern, berichtete sie, schon seit einem Jahre. Aus ihren Worten klang geheime Unzufriedenheit und Verachtung ihrer Umgebung heraus. Schließlich gestand sie ganz offen, daß sie sich nicht wohl fühle daheim.
Das wollte Erich glauben, ein Fräulein wie sie, was sollte die unter dem Bauernvolke! – Er erklärte, ihre Sehnsucht nach etwas Besserem vollauf zu verstehen und durchaus berechtigt zu finden.
Sie nahm alles, was er sagte, als bare Münze. Seine Bewunderung, sein Mitgefühl taten ihrem Herzen unendlich wohl.
Konnte es anders sein? – Sie, ein junges, unerfahrenes Ding, herausgerissen durch die Erziehung aus ihrer Sphäre, nicht Bauerndirne, nicht Bürgermädchen, nicht Dame, aber von allem ein wenig, nirgends fest gewurzelt, voll krankhafter Sehnsucht und heimlich zehrendem Verlangen nach dem traumhaften Glanz einer 221 höheren Welt, von der sie, wie durch eine Türritze, gerade nur den Schimmer gesehen hatte. – Und nun kam einer her, einer aus jenem hellerleuchteten Zimmer, ein wirklicher Herr, ein Kavalier, jung, elegant, vornehm, der machte kein Hehl daraus, daß er ihre Schönheit bewundere, ihr Benehmen reizend finde, kurz, daß er sie für ebenbürtig seinen Kreisen ansehe.
War es nicht natürlich, daß sie diesen süßen Trank einsog mit gierigen Zügen, bis er sie berauschte, daß die Wirklichkeit vor ihren träumenden Sinnen schwand, daß sie sich bald in einem Zustande befand, der der Willenslosigkeit ähnelte! –
Erich forderte sie zum Tanze auf. Sie verstand sich darauf, das merkte er nach wenigen Schritten. Das war keine Arbeit, wie bei den Dorftrinen, die er vorher hatte schwenken müssen. Es war Rhythmus in den Bewegungen dieses Mädchens. Er veranlaßte die Musik, schneller aufzuspielen; bei solch einer Tänzerin war nicht Takt zu halten mit der bisherigen schläfrigen Weise. Unausgesetzt tanzte er und war neugierig, wann sie es wohl satt bekommen werde; aber da schien er umsonst zu warten. In dem Frauenzimmer war Art, das mußte man sagen!
Ihr schneller Atem, das starke Pulsen ihres Blutes verrieten ihm ihre Erregung. Mehr und mehr gab sie sich jeder seiner Bewegungen hin, machte ihn dadurch kühner. Schon herrschte eine Art stummen Einverständnisses zwischen ihnen. Alles bekam besondere Bedeutung: der Druck der Hand, der Blick, der Tonfall der Stimme. –
Wo hatte sich ihm je ein solches Glück angetragen? Ein Mädchen, jung, reizend, unberührt, voll von Temperament! – Gegen dieses Abenteuer waren seine 222 bisherigen Erfahrungen in Liebesdingen, auf die er sich soviel eingebildet hatte, ein schaler Trank und dies hier ein starker, duftender Wein, der seine Sinne im bloßen Vorschmack schwindeln machte.
Da gab es kein Bedenken mehr. Skrupel in Liebesdingen hatte er sich sowieso abgewöhnt; dafür hatte Berlin gesorgt. Ein Schlappier wäre er sich vorgekommen, wenn er das, was sich ihm anbot, nicht hätte genießen wollen.
Der Abend war hereingebrochen, die Tanzlust aber nicht versiegt. Bei der spärlichen Beleuchtung einer Hängelampe ging es weiter, und selbst bei diesem ruhigen Volke wurden unter dem Schutze des Halbdunkels die Bewegungen freier, der Tanz lebhafter, Blicke und Umfassen kühner.
Erich wußte das Mädchen zum Hinaustreten in den Garten zu bewegen. Dort im schützenden Dunkel des Hausschattens ein erstes, heißes Umfangen, ein paar gestammelte Worte: Bitte und gewährende Zusage.
Dann nahm er Abschied von seinen Wirten, dem redlichen Jochen, der ihm für sein Kommen dankte, und seiner Hausehre, Mutter Tuleveit, die den Gast noch ausdrücklich bat, bald einmal wieder ihnen die Ehre seines Besuchs zu schenken.
Zu Haus verlebte er eine peinvoll langweilige Stunde mit seinem Vater, der sich's in den Kopf gesetzt hatte, dem Herrn Sohne an diesem Abend aus einem Buche über Nationalökonomie vorzulesen. Dann, als er mit einigem Anstand hatte Gutenacht wünschen können, war er in ein anderes unauffälligeres Gewand geschlüpft, und nun hinaus in die Mondscheinnacht.
Langes, diebsartiges Schleichen um das Schulzengut, in steter Angst vor dem Anschlagen der Hunde und 223 vor dem Aufmerksamwerden der viel zu langsam heimgehenden Festgäste. Endlich Ruhe weit und breit! –
Aufleuchten des Lichtes hinter den Scheiben des niederen Giebelfensters, gleich darauf Verlöschen; das verabredete Zeichen, daß alles sicher sei. Über ihm, der sich dicht an die Wand gedrückt hielt, ein leise knarrender Ton beim Öffnen des Fensters, und er wie ein Kater vorsichtig und schmiegsam da hinauf. –
* * *
Die Tuleveits auf dem Schulzengute hatten durch Generationen hindurch zähe an den Gebräuchen und Sitten der Vorfahren festgehalten. Sie lebten auf bescheidenem Fuße, saßen zu den Mahlzeiten am nämlichen Tische nieder mit ihrem Gesinde, standen im Sommer um vier, im Winter um fünf Uhr auf, gaben ihren Leuten das Beispiel von Sparsamkeit, Nüchternheit und Fleiß, und brachten es auf diese Weise, wenn auch nicht zu Reichtum – das verhinderte der Kinderreichtum –, aber doch zu behäbigem Wohlstande. Mit ihren Heiraten waren sie innerhalb ihres Standes geblieben. Die Kinder hatten die Dorfschule besucht. Jedesmal der älteste Sohn hatte das Gut übernommen; die anderen Söhne waren nach auswärts gegangen, um sich selbständig ihr Brot zu verdienen.
Auch Jochen war ein echter Tuleveit in seinen Anlagen, sparsam mit dem Geld und mit den Worten, jedem Scheinwesen abhold, ein schlichter, ernster, in sich gekehrter Charakter.
Seine Frau hatte Jochen bei Geschäftsfahrten kennengelernt, die ihn nach der Stadt führten. Ihr Vater, der Landwirt und Kaufmann in einer Person war, stand vor allem mit dem Landvolke im 224 Geschäftsverkehr, das diejenigen Bedarfsartikel, für die es auf dem Dorfe keine Quellen gab, durch ihn bezog. Die Tochter half im Geschäft und machte auf Jochen durch adrettes Wesen, Klugheit und praktischen Sinn Eindruck. Dieses Mädchen würde eine treffliche Hausfrau für ihn abgeben, sagte sich der junge Mann, der sich bis dahin unter den Bauerntöchtern, die er kannte, umsonst nach solchen Vorzügen umgesehen hatte. So durchbrach er denn als erster die Tradition der Familie, holte sich seine Frau aus der Stadt.
Damit hielt mancherlei Neues in den Schulzenhof seinen Einzug: die junge Frau brachte eine städtische Aussteuer mit, Möbel, Wäsche, Geschirr; prunkhafter, als man sie je zuvor hier gesehen hatte. Und auch die Bedürfnisse der neuen Wirtin waren anders geartet, höher gestellt als diejenigen der Familie, in die sie geheiratet hatte, bisher gewesen.
Jochen war zwar nicht der Mann dazu, die althergebrachte Sitte seines Hauses von einer Frau mit einem Male um und um kehren zu lassen; aber nach und nach, unmerklich, modelte sich der Charakter des Hausstandes und Familienlebens doch nach dem Wesen der Hausfrau und Mutter um.
Man aß nicht mehr mit dem Gesinde an einem Tische, das ging schon wegen des teuren Porzellans und der feinen Tischwäsche nicht an. Früher hatte sich das ganze Leben der Hauptsache nach in zweierlei Räumen abgespielt, da, wo man schlief und da, wo man aß. Jetzt wurde eine Stube abgetrennt, die eigentlich nur dazu da zu sein schien, von den guten Möbeln der Hausfrau bewohnt zu werden. Dieser Raum durfte nur geöffnet werden, wenn man Besuch bekam, und zwar nur, wenn es vornehmer Besuch war. Passierte das 225 nun auf dem Bauernhofe auch nur alle Jubeljahre einmal, so war doch der Zweck erreicht: das Bewußtsein, gleich den städtischen Freunden und Verwandten seine »gute Stube« zu besitzen.
Aber auch manche wirkliche Verbesserung führte die junge Frau ein: sie legte einen Hausgarten an, der bis dahin gefehlt hatte, mit niedlichen, buchsbaumumfaßten Beeten, in denen sie ihre Rosen an weißgetünchten Stäben zog; in den Rabatten blühten mancherlei farbenprächtige und wohlriechende Blumen; auch Gemüse und Suppenkräuter züchtete sie in reicher Auswahl. In der Ecke erhob sich bald die geißblattumrankte Laube; die Südwände der Gebäude bezogen sich mit Weinreben, und mancher Obstbaum wurde in der Wurte gepflanzt. In einem Schauer standen buntbemalte Bienenhäuschen. In der Vorratskammer gab es Obstwein und allerhand andere auserlesene Genüsse. Die Kinder gingen sauber und mit Geschmack gekleidet einher; das ganze Hauswesen, die Innenwirtschaft, alles, wo der weibliche Einfluß hinreichte, hatte etwas Schmuckvolles und Gewähltes angenommen.
Und selbst Jochen, der wie alle Tuleveits durch und durch konservativ war, konnte sich dem modernisierenden Einfluß, der mit der jungen Frau in das altväterische Wesen des Schulzenhofes Einkehr gehalten hatte, auf die Dauer nicht ganz entziehen.
Auch von anderen Seiten drang das neumodische Wesen ein. Es war, als läge die Veränderungssucht in der Luft. Draußen in der großen Welt vollzogen sich allerhand Neuerungen, um die sich Jochen zwar nicht groß kümmerte, aber er verspürte sie doch schließlich auch in seinem entlegenen Winkel.
Von jeher hatten sich seine Vorfahren zu den 226 Bauern gerechnet, sie hatten nie etwas Besseres sein wollen, und Jochen wäre der letzte gewesen, sich seines Standes zu schämen; aber nun setzten es sich die Leute auf einmal in den Kopf, an ihn zu schreiben: »Herrn Gutsbesitzer Tuleveit«. – Er hatte doch niemals eine solche Titulatur verlangt, mit der er gar nichts anzufangen wußte. Sollte er denn auf einmal ein anderer geworden sein? –
Und so ging es in vielen Dingen. Er sprach nicht über das, was er empfand, das war ihm nun einmal nicht gegeben; aber im stillen schüttelte er den Kopf über die neue Zeit und ihre Erscheinungen und wunderte sich, wo das noch einmal hinführen werde.
Früher hatte kein Bauernsohn jemals daran gedacht, sein Gewerbe anderswo zu erlernen als daheim bei den Eltern, in täglicher Arbeit. Jetzt hatten sie eine Wissenschaft gemacht aus der Landwirtschaft. Die Praxis genüge nicht mehr, hieß es auf einmal, man müsse die Sache auch »theoretisch« erfaßt haben. Wo der Unfug herkomme, ob aus den Zeitungen oder von Universitäten, wußte man nicht. Jochen war der Ansicht, daß die Kenntnisse, die er von seinem Vater übernommen, zusammen mit dem, was er selbst sich an Erfahrungen in täglicher Übung seines Berufes erworben hatte, auch für seine Kinder ausreichen müsse. Aber sein Ältester war anderer Ansicht.
Der Junge hatte jahrelang beim Vater gearbeitet, ohne Gehalt, gerade wie Jochen in seiner Jugend seinem Vater gedient hatte. Aber zwischen der Generation von damals und der von heute war ein großer Unterschied; Karl las viel in Büchern und hatte allerhand unerhörte Ideen. Die Mutter trat dem Jungen die Brücke, leistete seinen ungewöhnlichen Bedürfnissen Vorschub.
227 Eines Tages nun trat Karl vor seinen Vater hin und bat, daß er die landwirtschaftliche Schule besuchen dürfe. Der Alte sträubte sich lange; aber schließlich mußte er dem vereinten Anstürmen von Mutter und Sohn nachgeben.
Karl bezog also die Landwirtschaftsschule der Provinz. Er verlobte sich dort mit der Tochter eines seiner Lehrer. Dem alten Jochen paßte die Braut gar nicht; was wollte der Junge mit solch einem Dämchen anfangen? Um so freudiger wurde das Mädchen von Mutter Tuleveit aufgenommen; die Tochter eines Oberlehrers war in ihren Augen eine Standesperson.
Als nun Karl, von der Anstalt zurückgekehrt, auf dem väterlichen Hofe seine eben erworbenen Kenntnisse zur Anwendung bringen wollte, kam es zwischen Vater und Sohn zu Meinungsverschiedenheiten, aus diesen wurde Streit und aus dem Streit völliges Zerwürfnis. Jochen wollte fortan nichts mehr von dem Jungen wissen, der so aus der Art geschlagen war.
Karl kaufte sich mit erborgtem Gelde einen Bauernhof unweit der Heimat seiner Frau. Sein Schwiegervater, ein Theoretiker von reinstem Wasser, hatte sich zeitlebens danach gesehnt, der Welt seine epochemachenden Erfindungen darzutun. Das Gut des Schwiegersohnes war ihm nun wie gefunden für seine Experimente mit allerhand Salzen, Mehlen, Lösungen und Mischungen, von denen er sich und anderen Wunderdinge versprach. Der Erfolg dieser Tätigkeit war, daß Karl Mißernte auf Mißernte machte und in wenig Jahren das Gut an seinen Hauptgläubiger, den alten Händler Abraham Feige, los wurde.
Jochen Tuleveit war nicht gesonnen, den bankerotten Sohn aufzunehmen. Der hatte nicht hören wollen; 228 mochte er nun sehen, wie er weiter durch die Welt komme! Umsonst bat diesmal die Mutter. Jochen hatte inzwischen mit einem anderen Kinde, mit Greten, schweres Herzeleid erlebt. Das hatte sein Gemüt verhärtet und argwöhnisch gemacht. Die Hoffart, die mit den Frauenzimmern ihren Einzug gehalten in sein Haus, war an den widrigen Geschicken schuld, die ihn jetzt Schlag auf Schlag heimsuchten. Seine Frau mußte er anklagen, daß sie die Tochter nicht besser gehütet hatte. Die überfeine Erziehung, die sie genossen, hatte die Kinder unzufrieden gemacht, daß sie sich heraussehnten aus ihrem Stande.
Beim Vater fand Karl also keine Hilfe; dafür nahm sich seiner ein anderer an: Isidor Feige. Der hatte mit Kennerblick herausgefunden, daß Tuleveit junior gar kein unbrauchbarer Mann sei, wenn man ihn nur richtig verwendete. Feige war damals, nach dem Tode seines Vaters, der ihn zum reichen Manne gemacht hatte, gerade dabei, ein Bankgeschäft zu etablieren in größerem Stile. Den Woll- und Getreidehandel wollte er jedoch auch nicht eingehen lassen. Für diese Branche stellte er Karl Tuleveit an; der mußte für ihn reisen, die Einkäufe besorgen, Kunden herbeischaffen und das Lager verwalten. Die Einrichtung war, wie alles, was Feige in Angriff nahm, nicht unpraktisch; er sicherte sich den Schuldner und gewann gleichzeitig für seine Zwecke eine tüchtige Kraft auf billige Weise.
An seinem zweiten Sohne, Otto, erlebte der alte Tuleveit mehr Freude. Die Erfahrungen, die er mit seinem Ältesten gemacht, hatten ihm zur Lehre gedient. Otto sollte ihm nicht durch die Schulgelehrsamkeit verdorben werden. Er gab ihn zum alten Staberow auf Domäne Kalsin, wo Otto von der Pieke auf dienen 229 mußte. Von da war er auf ein Rittergut gekommen als Wirtschafter. In dieser Stellung befand er sich noch jetzt.
Die bitterste Erfahrung für Jochen Tuleveit blieb das, was er an seiner Tochter hatte erleben müssen. Grete hatte, sobald ihre Schande offenkundig wurde, das elterliche Haus verlassen vor dem Zorne des furchtbar in seiner Ehre gekränkten alten Mannes. Während der Zeit ihrer Schwachheit fand sie Aufnahme bei Verwandten ihrer Mutter. Dann ging das Mädchen in Stellung, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Mutter hatte sie zwar heimlich unterstützt, aber davon konnte sie doch nicht leben.
Was nun mit dem Kinde anfangen? Im fremden Hause konnte sie es unmöglich bei sich haben! Wo war ein besserer Platz als bei den Großeltern? Mutter Tuleveit war natürlich für den Plan eingenommen, aber es gab diesmal einen langen Kampf, ehe sie Jochen so weit herum hatten, daß Hanning auf den Schulzenhof gebracht werden durfte.
Anfangs schien der Alte das Kind überhaupt nicht zu sehen; aber die Zeit machte ihren Einfluß geltend. Die feindliche Stimmung gegen den Enkelsohn räumte allmählich freundlicheren Gefühlen den Platz. Der Knabe, ein frisches, aufgewecktes Kind, schmeichelte sich in das Wohlgefallen des Großvaters ein. Jochen mochte sich dagegen sträuben, es half nichts, er mußte den Jungen lieben.
Es war die Sehnsucht nach dem frischen Grün des Nachwuchses, nach der Verjüngung in Kind und Kindeskind – das letzte starke Bedürfnis, was den alternden Menschen bewegt, wenn alle Leidenschaften längst ausgetobt haben, alle anderen Illusionen begraben sind –, 230 was sich hier mit Naturgewalt bei dem vereinsamten Greise regte. Und in dem Sonnenschein, den die goldene Jugend dieses Kindes verbreitete, verblaßte bald das schmerzliche Bewußtsein seiner Herkunft. Die Wunde, die Jochen geschlagen worden war, konnte ja niemals verharrschen; er war zu tief verletzt in seinem Stolze, um jemals zu vergessen und zu vergeben; sein Ingrimm und sein Haß lebten weiter, aber sie waren gegen andere gerichtet, nicht mehr gegen das unschuldige Kind.
Inzwischen hatte Grete geheiratet, einen Witwer, der aus erster Ehe mehrere Kinder besaß. Mit ihm zog sie in die Nähe der russischen Grenze, wo ihr Mann ein Ansiedlungsgrundstück erworben hatte. Nun, wo sie Mutterstelle bei einer zahlreichen Familie zu vertreten hatte, ließ sie ihr eigenes Kind erst recht gern in der Obhut der Großeltern zurück.
Der kleine Hanning wußte selbst über seine Herkunft nichts; man vermied alles, was dem Knaben vorzeitig darüber hätte Aufschluß geben können, wer sein Vater sei. Darum schickte man den Jungen auch, als er in schulpflichtiges Alter gekommen war, nicht nach Grabenhagen in die Schule, sondern nach Groß-Podar zum Küster. In der Grabenhäger Dorfschule lag die Möglichkeit doch zu nahe, daß eine Neckerei des Kindes Ohr treffen konnte.
Ob Jochen Tuleveit über seinen Besitz durch Testament verfügt und was er da etwa bestimmt habe, wußte niemand. Er sagte darüber nichts, trug das, wie so vieles andere, im Busen verschlossen.
Er litt an Atemnot. Zwar, wenn er sich zusammenraffte, konnte Jochen noch stramm und aufrecht einhergehen wie ein Jüngling, aber oftmals ließ er doch Haupt und Schultern herabsinken, als sei er müde. 231 Das Alter machte seinen zermürbenden Einfluß auch an diesem kernigen Felsblock geltend. Trotzig kämpfte er gegen die Schwäche der Jahre an, stand nach wie vor früh mit dem Gesinde auf, war den lieben ganzen Tag hindurch auf den Beinen, wollte sich nicht von der Mattigkeit werfen lassen; aber es war ein Jammer, ihn zu sehen, wenn ihn sein Leiden übermannte. Von Ärzten und Medizin wollte er nichts wissen; das gehörte zu seinem Eigensinn. Oft rang er Nächte hindurch, daß seine Frau glaubte, es sei das Letzte, und am Morgen erhob er sich, schüttelte die Schwachheit von sich ab und ging seinem Tagewerke nach, als sei nichts gewesen.
Jochen Tuleveit glich einem jener alten wetterharten einzelstehenden Bäumen; den Winden ist es nicht gelungen, den moosbedeckten knorrigen Stamm zu werfen; nur die Krone haben sie ihm zerzaust und die Äste im Laufe der Zeit nach einer Richtung hin gebogen.
* * *
An jenem stürmischen Abende nach der Kirchenratssitzung war Erich von Kriebow zu einem Entschlusse gekommen: er wollte auf das Schulzengut gehen, die alten Tuleveits aufsuchen. Zwischen ihm und diesen Leuten mußte einmal Klarheit werden. Er war sich das selbst schuldig in seiner Stellung als Gutsherr und Patron. Es ging nicht an, daß er stetig vor einer Begegnung zitterte wie ein Schuljunge, der eine Dummheit begangen hat und sich vor Entdeckung fürchtet; das entsprach auch nicht seiner Kavaliersehre. Vertuschen ließ sich ja doch nichts mehr, im Dorfe wußten wahrscheinlich die meisten von der unseligen Affäre; denn das, was ungünstig war für die Herrschaft, wurde ja 232 immer am eifrigsten kolportiert. Auch der Pastor mußte doch unterrichtet sein, wer der kleine Hanning Tuleveit sei. Aus der Welt ließ sich die Tatsache nun einmal nicht schaffen; man mußte, so gut es ging, Stellung dazu nehmen, dem Skandal die Spitze abbrechen durch mutiges Zugreifen.
Einige Tage darauf also trat er den schweren Gang an. Auf den Feldern lag Schnee. Kriebow war den Weg, der vom Dorfe nach dem Schulzengute führte, lange Jahre hindurch nicht gegangen. Verändert hatte sich hier nichts.
Dort lag das Hünengrab, ein Haufen Schutt und Erde, überwachsen von Dornen und Gestrüpp. Das hatte er mit Otto Tuleveit einmal aufzugraben begonnen; es war ihnen auch wirklich nach schwerer Arbeit gelungen, die Steinumfassung der Grabstätte freizulegen und in der Höhlung einige Knochen und Aschenreste und eine Urne aufzustöbern. Jochen Tuleveit, der für dergleichen keine Verwendung hatte, überließ den Fund gern dem Junker.
Jeder Schritt erweckte hier Erinnerungen: dort in der Koppel die alte Eiche mit dem breitverzweigten Geäst; wie oft hatten die Knaben da gelauert mit Erichs Tesching auf Eichelhäher, die hier zahlreich einzufallen pflegten. Das Bild seines Altersgenossen Otto Tuleveit stieg dabei in Kriebows Erinnerung auf; mit dem braven Menschen war er auch auseinandergekommen durch das, was sich inzwischen abgespielt hatte.
Schon näherte er sich dem stattlichen Anwesen. Die Dächer, der Garten mit seinen Obstbäumen waren verschneit; wer es nicht kannte, konnte nicht ahnen, wie lustig das hier im Sommer grünte und blühte.
Wie das alles so ganz anders sich ausnahm heute 233 im nüchternen Tageslichte. Einen scheuen Blick sandte Kriebow hinüber nach dem Fensterchen an der Giebelseite: Alles noch beim alten! Aber es fehlte der Duft jener lauen mondscheindurchleuchteten Herbstnacht. Eines war nicht wieder zu erwecken: die Stimmung, die ihn damals verzaubert gehalten hatte. Das Wunderbare war dahin, der Glanz, der Rausch und noch ein anderes fehlte: der Leichtsinn jener Jahre. Jetzt sah er nur noch das Häßliche und Peinliche, was seine Tat im Gefolge gehabt hatte.
Zwei weitere Male noch war er mit dem Mädchen zusammengekommen, hastig, in verstohlenem Stelldichein, durch die Furcht vor Entdeckung vergällt. Dann hatte er nach Berlin zurückgemußt, und dort war unter allerhand anderen Erlebnissen die Erinnerung an jenes kurze Abenteuer da draußen schnell verblaßt.
Die erste Nachricht über die Folgen des Liebeshandels brachte ihm sein eigener Vater. Erich bekam aus väterlichem Munde scharfe Vorwürfe zu hören: wie hatte er können so unvorsichtig und unbedacht sein! Es war nicht zu verantworten, auf dem väterlichen Besitz einen solchen Skandal zu provozieren! Er hatte seinen Ruf in Grabenhagen geschädigt. Für alle Zeiten war er nun kompromittiert. –
Über das Unrecht, das er dem Mädchen zugefügt, sagte der Vater nichts in seiner Strafpredigt. Es wurde dem jungen Mann verboten, sich in nächster Zeit in Grabenhagen blicken zu lassen; erst sollten sich die Gemüter dort etwas beruhigen, über alles das sollte Gras wachsen; darum müsse sich Erich vorläufig noch vom Orte der Tat fernhalten. Um Mutter und Kind sich irgendwie zu bekümmern, verbot der Vater dem jungen Offizier geradezu. Die Regelung dieser Angelegenheit 234 müsse diskret und außerordentlich geschickt angefaßt werden; Erich werde das nicht verstehen, dazu gehöre Erfahrung.
Später erfuhr dann Kriebow, es sei alles geordnet. Bei diesem Bescheid, der für ihn ja außerordentlich bequem war, beruhigte er sich denn. –
Kriebow trat in das Haus; im Flur war niemand. Mit Herzklopfen pochte er an die Tür, die, wie er wußte, zur Wohnstube führte. Nach geraumer Zeit wurde geöffnet, auf der Schwelle erschien eine alte Frau, die den Fremden erstaunt anblickte. Dann, als sie ihn erkannt hatte, schlug sie die Hände zusammen, keines Wortes mächtig. Kriebow war gegen seinen Willen dunkelrot geworden; daß er gerade der Mutter zuerst begegnen mußte! –
Schließlich überlegte er, daß es wohl das beste sei, um diesem peinlichen Gegenüberstehen ein Ende zu machen, wenn er ihr die Hand biete. Sie schlug ein und ließ die seine nicht sogleich fahren. Die alte Frau stand wortlos da, wie gelähmt vom Schrecken. Immer und immer wieder blickte sie ihm ins Gesicht, schüttelte den Kopf, lächelte, fuhr sich mit der Hand über die Augen. Irgend etwas Feindliches konnte er in ihren Zügen nicht entdecken, keine Spur von Kränkung. Eine große Rührung war über sie gekommen; an was alles mochte die Mutter denken in diesem Augenblicke! – Tränen standen ihr in den Augen, sie suchte nach Worten; mit stockender Stimme bat sie schließlich, Herr von Kriebow möge doch eintreten. Drinnen im Zimmer eilte sie, ihm einen Stuhl herbeizuholen.
Es waren schwüle Minuten für Kriebow. Einen ganz anderen Empfang hatte er erwartet. Mutter Tuleveit war noch die alte, wie er sie gekannt hatte: 235 sauber gekleidet, mit sanften, feinen Zügen, nur eben gealtert, ein weißes, gebeugtes Mütterchen. Was mußte diese heitere, freundliche Seele um seinetwillen geduldet haben? – Wohin waren die Zeiten, wo er sie »Mudding« genannt, wo sie ihm Honigbrot zugesteckt oder ihn mit Zuckerbier regaliert hatte? –
Es würde minder demütigend für ihn gewesen sein, wenn ihm die Frau mit harten Vorwürfen begegnet wäre. Dieses stumme Dulden war ihm der furchtbarste Vorwurf. Wie sie so im Zimmer umherging, ohne ihn anzusehen, mit zitternden Händen hie und da etwas zurechtrückend, gedrückt, scheu, das war fast wie ein Bekenntnis, daß auch sie sich schuldig fühle, als wage sie nicht, vor dem Mitschuldigen an das Vergangene zu rühren.
Jetzt ertönte aus dem Nebenzimmer ein Husten, jemand rief mit schwacher Stimme. Die alte Frau eilte hinüber zum Gatten. Kriebow hörte, wie sie sich in gedämpftem Tone unterhielten. Dann erschien die Frau wieder, der Vater werde bald kommen, er sei nicht wohl seit einigen Tagen und habe das Bett hüten müssen; aber nun werde er aufstehen. Er lasse Herrn von Kriebow bitten, zu warten. Damit ging sie ins Nebenzimmer zurück, um, wie sie sagte, ihrem »Alten« behilflich zu sein.
Es dauerte lange, ehe Vater Tuleveit kam. Kriebow sah sich derweilen im Zimmer um. Zu den Kaiserbildern waren zwei Paar neue hinzugekommen, sonst war auch hier alles beim alten geblieben. Mutter Tuleveits polierte Möbel erglänzten so blank, als sei die Ausstattung von gestern und nicht vierzig Jahre und darüber alt.
Endlich tat sich die Tür auf und Jochen trat ein. 236 Er war bleich und verfallen vom Bettliegen; man konnte ihm die Anstrengung anmerken, die es ihm kostete, sich aufrecht zu erhalten. Seine Miene war ernst und voll bewußter Würde; es war auch für ihn offenbar ein bedeutungsvoller Augenblick, daß Herr von Kriebow ihn aufsuchte. Er hatte dazu seine Kirchenkleider angelegt. Er verbeugte sich, so gut das seinem steifen Rückgrat gelingen wollte, und wies den Gutsherrn, der sich erhoben hatte, mit einer Handbewegung an, wieder Platz zu nehmen, dann ließ auch er sich nieder. Nun blickte er den Besuch fragend an.
Kriebow sagte das, was er sich zu sagen vorgenommen. Er hatte sich überlegt, daß es das beste sei, der Sache ein möglichst harmloses Gewand zu geben. Wozu die Vergangenheit aufrühren! Das wäre doch für beide Teile allzu peinlich gewesen. Wenn der alte Mann nicht selbst davon anfing, wollte er gewiß gern schweigen. Was sein Besuch zu bedeuten habe, daß er Versöhnung bezwecke, müßten ja die Leute auch ohne ausdrückliche Erklärung verstehen. Er begann also vom Nächstliegenden zu sprechen, von der Landwirtschaft, über den Ausfall der letzten Ernte, den Stand der Wintersaaten, die Preise und dergleichen. Das Reden ging ausgezeichnet, leichter und glatter als er es sich zugetraut hatte.
Jochen hörte ihm zu, fast gleichgültig; in seinem verwitterten Gesichte rührte sich nichts, nicht einmal mit einem Kopfnicken unterbrach er den jungen Herrn. War der alte Tuleveit so stumpf geworden in den letzten Jahren? – Kriebow hatte ihn ganz anders in Erinnerung von früher her, als einen energischen Mann, der gelegentlich auch einmal aufzubrausen imstande war.
Kein Wort war aus dem Alten herauszubekommen, 237 welches Thema der Grabenhäger auch anschlug. Mit festgeschlossenen Lippen saß er da, kühl dreinblickend. Dann räusperte er sich. Kriebow vermutete, daß er etwas sagen wolle und schwieg.
Jochen richtete sich ein wenig aus seiner zusammengesunkenen Stellung auf, und dem jungen Manne steif ins Gesicht blickend, fragte er: ob Herr von Kriebow nur zu ihm gekommen sei, um sich mit ihm zu unterhalten.
Kriebow war für einen Augenblick verdutzt über den merkwürdig kalten, ja geradezu spöttischen Ton, in dem die Frage gestellt wurde. Er sah mit einem Male: so billigen Kaufs, wie er gedacht, würde er hier nicht davon kommen. Erwartete der Alte also doch von ihm die Bitte um Verzeihung? Sollte er's wirklich bekennen, mit dürren Worten eingestehen, daß er sich vergangen habe gegen ihn? – So tief sollte er sich erniedrigen, er, der Gutsherr, dem Bauern gegenüber! –
Er erwiderte: absichtlich habe er es vermieden, das Vergangene zu berühren, weil er geglaubt habe, es müsse für Herrn Tuleveit allzu schmerzhaft sein. Doch er sei bereit, um . . . . . . Er stockte, das Wort »Verzeihung« war so furchtbar schwer über die Lippen zu bringen. Schließlich brachte er es doch heraus; er sei hier, Verzeihung zu erbitten.
Nun mußte ihm der Alte doch entgegenkommen: mehr konnte er doch wirklich nicht verlangen.
Jochens Züge blieben hart, er zuckte mit den Achseln; sein Unrecht von damals möge Herr von Kriebow mit dem da oben abmachen, sagte er nur.
Kriebow meinte dagegen: er sei Edelmann, und als solcher fühle er die Verpflichtung, nichts auf sich sitzen zu lassen. Das Bewußtsein, Herrn Tuleveit und den Seinen gegenüber in Schuld zu sein, drücke 238 ihn. Ob er davon nicht abtragen könne? Er sei hierher gekommen in der Absicht, das Verfehlte gut zu machen. Herr Tuleveit möge ihm doch sagen, was er tun könne . . . . .
Hier schnellte der alte Mann plötzlich in jugendlicher Kraft in die Höhe, dunkelrot im Gesicht.
Was? Man wage es von neuem, ihm damit zu kommen! – Der Herr glaube wohl, daß alles mit Geld gut zu machen sei? Damals, als Inspektor Heilmann hier eingetreten, im Auftrage des verstorbenen Landesdirektors, da habe er von seinem Hausrechte Gebrauch gemacht. Ob die Antwort noch nicht deutlich genug gewesen, daß man ihm abermals mit solchem Ansinnen komme? –
Kriebow war zunächst erschrocken über den plötzlichen, ihm völlig unverständlichen Zorn des Alten. Dann fing er an zu begreifen, was jener argwöhne.
Er versuchte zu erklären: Herr Tuleveit habe ihn gänzlich falsch verstanden. Daran, Geld anzubieten, habe er nicht im entferntesten gedacht. Und was damals geschehen, sei gegen sein Wissen und Willen geschehen. Er könne versichern, daß er nichts von dem Besuche Heilmanns, den Herr Tuleveit eben erwähnt, und von seinem Zwecke bisher geahnt habe.
Der alte Mann achtete kaum auf Kriebows Entschuldigungen. Für ihn handelte es sich um mehr. Er hatte noch ganz anderes auf dem Herzen: Ingrimm und Mißtrauen, in Jahren angesammelt und immer wieder durch neue Kränkung mit Nahrung versorgt, wollten sich Luft machen.
»Herr von Kriebow!« sagte er. »Ich halte mich an das, was geschehen ist. Sie haben vorhin so gesprochen, als ob es Sie reute, was Sie mir getan haben. 239 Sie haben von ›Verzeihung‹ gesprochen. Ich will Ihnen sagen, was ich davon denke: Ich glaube Ihnen kein Wort! Sie wollen etwas ganz anderes hier.«
Kriebow fuhr auf: ob man ihn für einen Lügner halte? –
»Ich sehe auf das, was die Leute mir tun, nicht auf das, was sie mir sagen. Sie nennen sich einen Edelmann, gut! Ich habe nichts gegen die Edelleute, sie müssen sich nur wie Edelleute aufführen. Die zehn Gebote Gottes sind auch für Sie und Ihresgleichen geschrieben. Wie heißt es da: ›Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus usw.!‹ Was hat Ihr Großvater getan, und was hat Ihr Vater getan? Sie haben uns treiben wollen von unserem Hofe, auf jede Weise, mit Gewalt und mit List. Und das wollen Christen und Edelleute sein!«
Kriebow war aufgesprungen; das ging ihm zu weit! Er war nicht gewillt, Schmähungen gegen seine Vorfahren mit anzuhören. Er solle zu seinen Worten sehen! rief er dem Alten zu.
»Gut, Herr von Kriebow, wenn Sie das nicht hören wollen! Dann will ich nur von dem sprechen, was Sie mir getan haben. Wenn Isidor Feige, der Händler, zu mir kommt und frägt an, ob ich Wolle oder Getreide zu verkaufen habe und dann bietet er mir allerhand an, was ich nicht gebrauchen kann, dann weiß ich ja, er ist eben ein Jude, und wundre mich nicht weiter. Aber wenn er sich so von hinten herum erkundigt, ob ich mein Gut nicht verkaufen wollte, er habe einen Käufer, den er noch nicht nennen darf, und ich wäre doch nun alt, und mit hinaufnehmen könnte ich's doch auch nicht! da denke ich mir etwas dabei. Denn gerade so hat's Ihr Vater auch schon gemacht! Bloß 240 daß der Mann, den er schickte, nicht Isidor Feige hieß, sondern Abraham Feige.«
Kriebow war errötet und schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? –
Der alte Mann las in der bestürzten Miene des anderen die Bestätigung seines Argwohnes. Er hatte sich erholt von seiner Erregung, sprach ruhiger, aber hart und voll Verachtung.
»Wenn Sie mir damals in die Hände gefallen wären, Herr von Kriebow, wären Sie lebend nicht davongekommen; heute bin ich ein alter Mann. Edelleute schießen sich wohl, wenn ihnen so etwas widerfährt; aber ich bin ein Bauer. Ich tue nichts gegen Sie, ich will auch nichts von Ihnen; aber eines bitte ich Sie: lassen Sie mich in Frieden!« –
Erich von Kriebow griff nach seinem Hute. Nun blieb ihm weiter nichts, als zu gehen. Nie in seinem Leben noch hatte er eine solche Demütigung erfahren. Es war ihm zumute, als müsse er sich verkriechen vor Scham.