Wilhelm von Polenz
Der Grabenhäger
Wilhelm von Polenz

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XVII.

Während Erich der Aufforderung zur Jagd nach Langendamm gefolgt war, hatte sich Klara zu ihrer Freundin, der Pastorin, begeben.

Pastor Grützinger war in Berufstätigkeit außer dem Hause. Die Frauen hatten wichtige Dinge vor: die Kindergarderobe wurde einer gründlichen Durchsicht unterworfen. Es war unglaublich, was die wilden Jungens abrissen. Man stand vor einer schwierigen Aufgabe; es war nämlich in dieser Familie eingeführt, daß die Kleinen immer in die Sachen der Großen zu schlüpfen hatten. Der Älteste aber genoß die Ehre, hin und wieder einen abgelegten Rock von seinem Vater zu erhalten.

So wanderten solche Familienstücke die ganze Reihe durch, bis sie schließlich bei dem jüngsten Gliede in ziemlich fadenscheinigem Zustande anlangten. Da hieß es denn mit Flicken und Stopfen immer wieder nachhelfen. Nicht immer stimmten die eingesetzten Stücke zu Farbe und Muster des schadhaften Kleides; die Frau Pastorin hatte in dieser Beziehung ein weites Gewissen. So kam es, daß die Grabenhäger Pastorsjungen mit den Zicklein, Kälbern und Kätzchen an Buntscheckigkeit wetteiferten.

Die rosige Frau Pastorin hatte im Bewußtsein dessen, daß kein Mensch sie heute stören könne, einen ganzen Wäschkorb voll der kindlichen Garderobe vor der Gutsherrin ausgebreitet; man stand vor der Frage, ob ein Röckchen, aus dem Curt herausgewachsen war, nunmehr an Eberhard übergehen solle, der ihm im Alter der Nächste war und somit nach der Grützingerschen Kleiderordnung ein wohlerworbenes Recht auf dieses 320 Kleidungsstück hatte; oder sollte man sich kühn über das bisher Übliche hinwegsetzen, das Stück zertrennen und damit gleich zwei Kinder, Karlchen und Heini, die dessen erst recht bedürftig waren, damit bekleiden. Das erste schien das Gerechtere, das andere das Praktischere.

Unter Lachen und Scherzen, die das Salz abgaben zu der Nüchternheit der Angelegenheit, wurde die Frage zwischen den beiden Hausfrauen erwogen. Klara überlegte bereits, ob sie die Schwierigkeit nicht dadurch lösen solle, daß sie um die Erlaubnis bitte, die beiden Kleinen mit neuen Kleidchen beschenken zu dürfen. Eben wollte sie diese Frage stellen, als an die Tür geklopft wurde.

Die Pastorin rief »Herein!« halb unwillig. Wer störte sie denn hier bei so intimer Beschäftigung? –

Ein halbwüchsiger Knabe erschien auf der Schwelle, atemlos, mit erhitztem Gesicht. Ob der Herr Pastor zu Haus sei, fragte er.

Klara freute sich über die frischen, offenen Gesichtszüge des Knaben, über seine hellen, strahlenden Augen. War der aus dem Dorfe? Ein solches Gesicht wäre ihr doch aufgefallen unter der Dorfjugend! –

Sie wollte sich an die Pastorin wenden um Auskunft, da fiel ihr eine merkwürdige Veränderung auf an ihrer Freundin: die Pastorin war blaß geworden, schien bestürzt und verwirrt. Die kleine Frau, die sonst alles von der heiteren Seite zu nehmen pflegte, blickte auf einmal furchtbar ernst drein.

Klara sah sie befremdet an; was hatte sie denn?

Die Pastorin gab dem Knaben einen verstohlenen Wink, als wolle sie ihm bedeuten, sich zu entfernen.

Aber das Kind verstand sie nicht; es trat erst recht weiter in die Stube hinein.

Dem Großvater gehe es schlecht, berichtete der 321 Junge. Der Arzt sage: er werde heut abend nicht mehr leben. Da habe die Großmutter zu ihm gesagt, er solle, was er könne, nach dem Pfarrhause laufen; der Herr Pastor möchte doch nach dem Schulzengute kommen.

Nun wußte Klara, wer der Knabe sei.

Sie wurde abwechselnd blaß und rot, mußte sich setzen. Überwältigend waren die Gefühle, die ihr beim Anblick dieses Kindergesichtes kamen.

Seine Augen! sein Haar! Seine Haltung, wie er jetzt so dastand! –

Sie mußte nur immer dieses Gesicht anblicken, wie gebannt. Sie hätte ihn bitten mögen, daß er zu ihr komme, seine Hände zu fassen, ihm ganz nahe in die Augen zu blicken, zu sehen, ob es denn wirklich sein konnte! – Er, wie sie ihn sich vielmal vorgestellt hatte als Kind. Und nun stand er hier vor ihr, so frei und lebensfroh, mit offenem ehrlichen Blick, gar nichts davon ahnend, was er angerichtet, unbewußt all des Kummers, den er gebracht, herzgewinnend in seiner Unschuld.

Die Pastorin hatte inzwischen dem kleinen Boten Bescheid gegeben: der Herr Pastor sei in Groß-Podar beim Lehrer; dort solle er mal schnell hinlaufen.

Hans machte kehrt und eilte fort.

Besorgt kam die Pastorin auf die Gutsherrin zugelaufen. Die saß da und blickte starr nach der Tür, durch die der Junge verschwunden war.

Kein Wort wurde über das Erlebte gewechselt zwischen den Frauen. Gesenkten Hauptes, die Augen voll Tränen, packte die lustige Frau Pastorin die Kleidchen und Flicken und Läppchen zusammen, die noch auf dem Tische ausgebreitet lagen. Hier konnte sie keinen Trost geben, hier wäre jedes Wort zu viel gewesen.

322 Nach einiger Zeit erhob sich Klara; sie hatte ihre Schwäche überwunden. Sie drückte nur der Freundin die Hand und ging dann.

Die Pastorin sah ihr nach durch das Fenster. Jetzt mußte sie in den Park einbiegen, wenn sie zum Herrenhaus wollte. – Nein doch, sie schlug den anderen Weg ein, den übers Feld. Wo wollte sie denn hin? Dort waren doch gar keine Katen. War es möglich! Wollte Frau von Kriebow nach dem Schulzengute? –

* * *

Klara war, nachdem sie den Entschluß gefaßt hatte, ganz ruhig geworden. Es war gut, daß es so gekommen, daß der Knabe sie an ihre Pflicht gemahnt hatte. Nun gab es kein Ausweichen mehr. Es war ja nur ängstliche Scheu gewesen, die sie abgehalten hatte, den längst geplanten Gang nach dem Schulzengute endlich auszuführen. Wozu jetzt noch sich schämen! Niemand konnte ihre Absicht mißverstehen; an ein Sterbelager drängte man sich nicht. Sie hatte dort etwas zu suchen, etwas Großes, Notwendiges. Die Leute mußten das verstehen! –

Sie beschleunigte ihre Schritte, denn sie hatte jetzt nur noch eine Sorge: zu spät zu kommen. Sie mußte diesen Mann noch am Leben finden; starb er unversöhnt, dann traf sie der Vorwurf doppelt schwer, so lange gesäumt zu haben. Sie lief beinahe.

Bald war das einzeln liegende Gehöft erreicht. Klara durchschritt den Hof ohne Aufenthalt und trat in das Haus. Nach kurzem Besinnen klopfte sie an die erste beste Tür.

Von drinnen hörte sie gedämpfte Stimmen. Dann öffnete sich die Tür; ein junger Mann, etwa im Alter 323 von Erich, trat hervor. Er stutzte, eine ihm fremde Dame vor sich zu sehen. Als Klara sagte, wer sie sei, wurde er sichtlich verwirrt und meinte, er wolle die Mutter rufen.

Klara, der nun erst wieder das Ungewöhnliche ihres Unternehmens klar geworden war, stand im Hausflur, klopfenden Herzens. Im Zimmer hörte man jetzt erregtes Flüstern; sie berieten offenbar da drinnen, wie sie sich verhalten sollten. Endlich tat sich die Tür abermals auf, die alte Bäuerin erschien.

Frau Tuleveit machte einen tiefen Knicks vor der Gutsherrin und bat, Frau von Kriebow möge doch eintreten. Klara folgte der Aufforderung. Im Wohnzimmer waren eine Anzahl Menschen versammelt: Erwachsene und Kinder. Die Hausfrau hielt es selbst in dieser Stunde für nötig, zu zeigen, daß sie Lebensart besitze; sie stellte vor, jedes einzelne Mitglied ihrer Familie mit Namen nennend. Es waren da die beiden Söhne und Frau und Kinder des Ältesten.

Die feierlichen Mienen der Leute und die gedämpften Stimmen deuteten an, daß der Tod über dem Hause schwebe.

Klara fragte, wie es stehe. Es gehe zu Ende, erklärte die Hausfrau; dann gab sie ihrem Karl einen Wink, der gnädigen Frau einen Stuhl heranzubringen. Klara dankte. Die Anwesenheit dieser Männer und Frauen, die neugierigen Blicke der Kinder brachten sie wieder ganz in Verwirrung. Vor so vielen Ohren konnte sie doch gar nicht sagen, was sie auf dem Herzen hatte.

Die alte Frau mochte ahnen, daß es etwas Außerordentliches sein müsse, was die Gutsherrin zu dieser Stunde hierhergeführt habe. Sie sagte etwas halblaut 324 zu den Ihren, worauf die Leute aus dem Zimmer gingen, die Mutter mit Frau von Kriebow alleinlassend.

Sowie sie sich von Zuschauern befreit sah, eilte Klara auf die alte Frau zu, ergriff ihre Hände und brachte mit bebender Stimme ihr Anliegen vor.

Es bedurfte nur weniger Worte, und Mutter Tuleveit begriff, was die junge Frau wollte. Sie drückte Klaras Hände und streichelte sie zärtlich. »Das ist schön von Ihnen, Frau von Kriebow, das ist schön! – Aber, Sie zittern ja! Lassen Sie man! Haben Sie nur keine Bange! 's ist ja alles längst gut. Ich habe dem Herrn von Kriebow vergeben. Nur der Alte, der konnte nicht vergessen und wollte auch nicht. Aber der liebe Gott wird ihm das Herz schon weich machen. Er hat immer einen harten Kopf gehabt; aber heute, da ist er so still und ergeben. Kommen Sie man ruhig, Frau von Kriebow; wir wollen sehen!«

Das klang ja ermutigend. Klara folgte der alten Frau, die eifrig redend vor ihr her ging, ins Sterbezimmer.

Hier lag Jochen Tuleveit in seinem Bette, lang ausgestreckt, das Haupt durch untergeschobene Kissen aufgerichtet, die Hände vor sich auf der Bettdecke, mit geschlossenen Augen. Die Wangen waren eingefallen, die Nase hatte bereits eine spitze Form angenommen.

Klara erschrak. Hatte man es denn hier noch mit einem Lebenden zu tun? – »So liegt er schon den ganzen Morgen,« sagte die alte Frau. »Ehe der Herr Pastor nicht dagewesen ist, stirbt er nicht, er will nicht ohne die letzte Speisung hinfahren. – Nicht wahr, Vadding?« Damit rückte sie ihm die Kissen zurecht.

»Ach, wenn er bloß hier bleiben wollte, oder ich könnte mit ihm gehen!« Sie wischte sich mit dem Rücken 325 der Hand über die Augen. Aber mehr Rechte räumte sie dem Kummer nicht ein. »Ich werde ihm etwas von den Tropfen geben,« bemerkte sie zu Klara. »Damit er erst wieder en bißchen zu Kräften kommt.«

Während sie noch die Medizin in ein Wasserglas tröpfelte, öffnete der Kranke die Augen; dann strich er mit der mageren Hand über die Decke, ein-, zweimal.

»Sehen Sie, sehen Sie! Er pflückt schon am Bettlaken!« flüsterte die Alte mit scheuer Miene. Dann gab es eine Pause; sie konnte sich nun doch nicht entschließen, ihn zu stören.

»Jetzt liegt er so still und friedlich; aber in der Nacht, da hätten Sie ihn sehen müssen. O Gott, ist das Sterben doch schwer! Was so einem da alles durch den Sinn geht. Mit dem seligen Herrn Landesdirektor hat er sich unterhalten, als ob der bei ihm wäre, hier im Zimmer. ›Ik lat min Hof nich!‹ und wieder: ›ik lat min Schulzengod nich!‹ und so immer wilder, immer wilder! Und dann war es wieder, als ob er mit Ihrem Herrn Gemahl spräche. So ist es gegangen in einemfort! Die ganzen alten Geschichten hat er nochmal durchgemacht. Aber heut früh ist er ganz still geworden. Dann sind die Kinder gekommen aus der Stadt; da hat er nochmal mit allen gesprochen und von allen Abschied genommen. Und vorhin hat er nach dem Herrn Pastor verlangt.«

Sie beugte sich über ihn. »Vadding,« sagte sie und strich ihm mit der Hand über das kahle Haupt. »Vadding. Sü man, wie hebben Besäuk. Nu wunner di man: wen! Dat hest du di all din Levdag nich drömen laten, Jochen!«

Sie machte Klara ein Zeichen, ein wenig vorzutreten, damit er sie, ohne den Kopf wenden zu müssen, sehen könne.

326 Jochen Tuleveit richtete den Blick auf Klara. Er schien sie nicht zu erkennen. »Mudding!« sagte er mir kaum vernehmbarer Stimme. »Wen ist dor?«

»Dat 's Fru von Kriebow, von 'n Rittergod, Herrn Erich von Kriebow, sien. Se will seen, wuer dat mit di steit. Is dat nu nich ne grote Ihr? Na, gew er drist de Hand, Jochen!«

Der Alte öffnete die Augen groß. Es war etwas wie Leben in seine starren Züge gekommen, sobald er den Namen vernommen. Er arbeitete unruhig mit den Händen, setzte mehr als einmal zum Sprechen an. Dann sagte er langsam, mit Anstrengung, aber vernehmlich: »Ne, Mudding, ik will nich! – Se sälen mi taufreden laten, de – de – Kriebows!« . . .

Damit wandte er sich ab, der Wand zu.

Mutter Tuleveit wollte ihm noch weiter zureden: »Vadding, sü man! dor is doch nu all Gras öwer wussen. Eenmal möt de Minsch doch vergeten. Wi sünd Christenlüd, un Christen sälen äberall vergewen; so steit et ok in de Bibel.«

Jochen gab durch kein Zeichen zu erkennen, daß er höre. Klara bat selbst, sie möge ihn nicht länger quälen. Sie wollte gehen. Was blieb ihr denn noch anderes übrig!

Mutter Tuleveit hatte noch einen Vorschlag: vielleicht wenn der Herr Pastor käme, würde es ihm gelingen, Jochen umzustimmen.

Aber Klara wollte davon nichts wissen. Der Gedanke war ihr zuwider. Nein! Wenn die Verzeihung nicht von Herzen kam, als eigenster freier Entschluß, was konnte sie ihr dann bedeuten? Was fruchtete sie dann für Erich? –

Sie verließ das Zimmer. Mutter Tuleveit folgte 327 ihr. Sie glaubte wohl, die Gutsherrin sei beleidigt, und suchte das Verhalten des Sterbenden zu entschuldigen, so gut sie es wußte: »Er ist sonst so ein guter Mann, er hat ein Gemüt wie ein Kind, Sie können mir's glauben, Frau von Kriebow! Aber das damals mit Greten ist ihm zu tief gegangen. Das Mädchen hat er so lieb gehabt, mehr als mich und die anderen Kinder zusammen. Darum sitzt ihm das so tief.«

Der jungen Frau aber klangen noch die Worte des Sterbenden in den Ohren. Jochen Tuleveit wollte in Frieden gelassen sein; er wollte nichts von ihr und von Erich und von der verhaßten Sippe der Kriebows sehen und hören in seiner Sterbestunde. – Das war niederschmetternd; es hatte sie tief getroffen in ihrem Stolze. Aber durfte sie beleidigt sein? –

 


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