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Corrado Tranzi war bis zu seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr ein unbekehrbarer Verächter aller Frauen und ein unerbittlicher Verhöhner aller Männer gewesen, die sich in sie verliebten. Als er jedoch, kaum zum Doktor der Medizin promoviert, eines Morgens in der Frühe zu einem dringenden Fall gerufen wurde, während er in der Apotheke eines Freundes eine Jagdpartie vereinbarte -- war es der freundliche Himmel, die Milde des bevorstehenden Frühlings, irgendein Traum der Nacht? -- verliebte auch er sich Knall und Fall, und das bei seinem ersten ärztlichen Besuch.
Was für besondere Vorzüge und Gaben er an dem jungen Mädchen fand, das ihm, ungekämmt, mit halb offenem Kleid und in Tränen schwimmend, die Tür öffnete, muß er als Entdecker am besten gewußt haben. Gewiß ist, daß er es vom ersten Augenblick an wie geblendet ansah, während es ihm, ganz außer Fassung, berichtete, es habe seine Tante vor einer viertel Stunde röchelnd und bewußtlos im Bett gefunden.
In das Zimmer der Betroffenen geführt, sah er am Lager einen jungen Menschen, der vermutlich oder sogar sicher der Sohn war, ferner einen Mann und eine Frau, wahrscheinlich Vater und Mutter des Mädchens. Corrado Tranzi merkte sofort, daß dieses, während er die Krankheit diagnostizierte -- ein klarer und unheilbarer Fall von Embolie der Hirnarterie -- dem Jüngling, seinem Vetter, der das Gesicht in das Kopfkissen unmittelbar neben der sterbenden Mutter vergraben hatte, die Haare streichelte, und ärgerte sich so darüber, daß er ganz plötzlich innehielt und bat, der Sohn möge um Himmels willen fortgehen und woanders weinen. Luft, Luft! Um das ganze Bett herum Luft!
Die Kranke starb nach drei Tagen. In diesen drei Tagen gelang es Corrado Tranzi, manches zu erfahren: daß das junge Mädchen Ebe hieß und Tochter eines gewissen De Vitti, Physik-Professors am Nautischen Institut, war; daß die Verstorbene die Schwägerin des Professors und seit vielen Jahren Witwe, aber mit ihrem Jungen, der sich Marco Perla nannte, im Hause aufgenommen gewesen; daß dieser, der schon einen bescheidenen Posten am Zoll bekleidete, zur Freude der Eltern um die Hand der kleinen Cousine angehalten, sie ihn jedoch abgewiesen hatte, sehr bekümmert und mit dem klaren Bekenntnis, daß es ihr unmöglich sei, ihn zu lieben, da sie ihn, von klein an mit ihm aufgewachsen, wie einen Bruder gern habe und nur so und nie anders werde gern haben können.
Als Corrado Tranzi dies alles wußte, wagte er sich vor, ohne Zeit zu versäumen. In wenigen Monaten würde der Wettbewerb um drei Assistentenposten am größten Krankenhause der Stadt, an dem er teilgenommen hatte, entschieden sein. Er war überzeugt, daß er siegen würde, fest überzeugt sogar. Zudem hatte er etwas eignes Geld und die Privatpraxis. Er konnte heiraten.
Professor De Vitti war anfangs bestürzt über das Ungestüm und die seltsame Art und Sprechweise des gelockten und bärtigen jungen Arztes, über die Raschheit und sprühende Ungebundenheit seines Wesens. Er zögerte und versuchte Zeit zu gewinnen, indem er sich mit der ganz frischen Trauer entschuldigte. Allein Corrado Tranzi, der eben um dieser frischen Trauer willen sorgend erwog, die brüderliche Liebe des Mädchens zu seinem Vetter könne jetzt, wo es ihn auch mütterlicherseits Waise und trostbedürftig wußte, durch die Einwirkung des Mitleids von einem Augenblick zum andern den Charakter wechseln, blieb zäh: sofort ja oder nein! Ebe nahm an, und nach ganz kurzer Zeit wurde die Hochzeit gefeiert.
Es war eine wilde, ungezügelte Liebe, die kaum ein Jahr dauerte. Ebe starb bei der ersten Geburt. Noch am Abend des Unglücks verließ Corrado Tranzi, ohne das kleine Mädchen, das durch seine Geburt die Mutter getötet hatte, auch nur sehen zu wollen, wie ein Wahnsinniger das Haus und verschwand. Man erfuhr dann, er sei zufällig einem jungen Kollegen begegnet, der sich an eben dem Abend als Arzt auf einem transatlantischen Dampfer einschiffen wollte, habe mit dessen Zustimmung diesen Posten übernommen und sei in Amerika geblieben, ohne eine Spur von sich zu hinterlassen.
*
Das Mädchen, mütterlicherseits Waise und vom Vater verlassen, wuchs im Hause der Großeltern auf, die es nach ihrer Tochter Ebe nannten. Und wirklich schien es ihnen, als lebe ihre Ebe in dem Kinde zum zweitenmal; anfangs in ihren Armen, von ihrer Lebenswärme beschützt, dann unter ihrer sorgsamen und ängstlichen Obhut.
Mit dem Heranwachsen wurde Bebè der Mama immer ähnlicher. Es hatte dieselbe kindliche Anmut, dieselben Bewegungen, dasselbe Lächeln. Auch seine ersten Spiele waren die gleichen, so daß die beiden Alten ganz erschüttert waren, weil sie eine wunderbare Auferstehung zu erleben meinten. Ihr Neffe Marco Perla, der sah, wie es in allem der Cousine glich, die er zu der Seinen hatte machen wollen, hatte manchmal, bei dem Aufleuchten eines Blickes oder dem Klang eines Lächelns oder eines Wortes, bei einer Laune oder einer Ungezogenheit der Kleinen, seltsame Eindrücke; wie von einem eigentümlichen inneren Stillstehen, einer geheimnisvollen Rückkehr zu vielem, das jedoch nicht wieder auflebte, sondern in ihm noch lebendig war; einer Rückkehr, jedoch nicht zu Erinnerungen an die mit einem andern Mädchen, dessen genaues Abbild Bebè war, verlebte Kindheit, sondern zu Empfindungen, die den Erinnerungen eben durch das Dasein der Kleinen Anregung und neues Leben verliehen.
Sie wollte mit ihm spielen wie die andere, wünschte ahnungslos dieselben Spiele, die er mit ihrem zweiten Ich, ihrer kleinen Mama, getrieben hatte. Und so geschah es.
Wenn er aus dem Amt zurückkam, versteckte er sich hinter der Tür des dunklen Zimmerchens, wo zwei alte Schränke standen. Der Geruch, der in dem dumpfen Raum ohne Luft und Licht herrschte, rührte in seinem Inneren die Erinnerung an genau den gleichen Vorgang in der Kindheit auf. Mit der Stimme von damals rief er »Kuckuck« und wartete, bis sie, die andere, die noch lebte, in der Kleinen noch lebte, ihn entdeckte, der, ebenfalls klein, hinter der Tür stand; und wenn er durch die Türspalte sah, wie sie neugierig, zögernd und ein wenig ängstlich hereinkam, dann hielt er wie damals zitternd den Atem an, entwischte, wenn möglich, aus dem Versteck, begann zu laufen, umkreiste, um sich nicht fangen zu lassen, den gedeckten Tisch, kroch zwischen den Stühlen unter dem Tisch hindurch und setzte sich auf der anderen Seite auf den Boden, damit die wilde und vor Aufregung ganz rot gewordene Kleine ihn greifen könne.
Wo aber packte sie ihn? Ach, am Schnurrbart, den er damals nicht gehabt, oder an der Brille, die er damals nicht getragen hatte. Und er erschrak über dieses unvermutete Zurückstürzen in die Wirklichkeit, strich verwirrt über der Lippe die zerzausten Haare glatt und wischte sich die kurzsichtigen, traurig gewordenen Augen. Manchmal fand ihn die Tante zu ihrer Überraschung noch am Boden und fragte ihn, was er dort mache.
»Nichts«, erwiderte er mit trübem Lächeln. »Ich spiele mit Bebè.«
Die lebendigste und deutlichste aller seiner Erinnerungen war die an den Tag und die Stunde, wo er, aber nur er, bei einem Kuß der Cousine zum erstenmal plötzlich die Glut einer neuen, ihm bisher unbekannten Liebe gekostet hatte, wo er ganz entflammt gewesen war, als liefe von den frischen, rosigen, unschuldigen Lippen ein süßes Feuer durch alle seine Adern. Sie war zwölf gewesen und er fünfzehn; an einem Apriltag, in den frühen Morgenstunden war es geschehen. Ebe, seine Cousine, hatte damals sofort gemerkt, daß er bei dem Kuß einen andern Reiz empfunden hatte als sonst, war böse geworden und hatte ihm verboten, sie noch einmal auf die Art zu küssen.
Aber die kleine Bebè, die schon das damalige Alter der Mutter erreicht hatte, merkte nichts und konnte nichts merken, wenn sie ihm täglich bei seiner Rückkehr aus dem Amt die Arme um den Hals legte und ihn mit aller kindlichen Inbrunst küßte.
Er duckte sich, riß die Augen auf und biß die Zähne zusammen, um zu verhindern, daß ihm bei all der Wonne, die auch von diesen frischen, rosigen, unschuldigen Lippen ausging, und die für ihn noch mehr als für die Großeltern dieselben waren wie die der ersten Ebe, nicht auch das gleiche Feuer durch alle seine Adern lief.
»Du küßt mich nicht? Wie komisch du bist! Was hast du?« fragte Bebè ihn einmal nach einem Kuß und sah ihm dabei lachend ins Gesicht. »Warum bist du so ungezogen zu mir? Warum küßt du mich nicht?«
Er lief davon, stellte sich vor einen Spiegel und fing zu weinen an.
*
Der unerwartete Tod Professor De Vittis entriß Marco Perla mit Gewalt diesem aufregenden und qualvollen Gemütszustand.
Der Professor hatte sein Lehramt spät angetreten und nicht Dienstjahre genug hinter sich, um pensionsberechtigt zu sein. Der Witwe verblieben daher nur etwa achttausend Lire, die für die Enkelin zurückgelegt wurden.
Somit war er, Marco Perla, jetzt die einzige Stütze der kleinen Familie.
Einerseits war er froh darüber; auf der anderen Seite aber verstimmte ihn der Gedanke, daß Bebè jetzt einen anderen, nämlich das Familienhaupt, gewissermaßen den Vater in ihm sehen und ihn als solchen behandeln werde.
Die Tante bemerkte hin und wieder ein eigentümliches Ausbleiben des Gedächtnisses, seltsame Zornesausbrüche, unvermittelte Anwandlungen von Niedergeschlagenheit an ihm, beobachtete, wie er abmagerte und eine immer auffälligere Blässe und Häßlichkeit zeigte. Sie argwöhnte, er sei verliebt, der Tod des Onkels habe ihm jedoch die Hoffnung genommen, ein Heim zu begründen; oder ihn drücke die Schuld der Dankbarkeit für die von Kind an empfangenen Wohltaten.
Statt dessen litt Marco Perla, der sah, daß Bebè sich wie eine Blume mehr und mehr entfaltete, unter der Befürchtung, ein anderer möchte plötzlich kommen und sie ihm rauben, wie ihm ihre Mutter geraubt worden war, ohne daß er die Möglichkeit hätte, es zu verhindern, wiewohl er sich geliebt fühlte. Geliebt ja; wie damals als Bruder, so jetzt vielleicht als Vater.
Und in der Tat kam bald der Tag, an dem die Tante, im Glauben, ihm eine Freude zu bereiten, ihm ganz entzückt anvertraute, Bebè liebe und werde wiedergeliebt. Sie habe eben an dem Morgen von einem jungen Manne, den man häufig auf der Straße vorbeigehen sehe, einen Brief bekommen. Es sei ein junger Maler, schön wie ein Engel, mit langem, blondem Haar, der binnen kurzem für seinen Künstlerberuf nach Rom gehen werde … Die Tante vermochte nicht fortzufahren, so verzerrt war das Gesicht des Neffen.
»Ah, dieser geht nach Rom, wie der andere nach Amerika ging«, sagte er mit einem gräßlichen Seufzer. »Aber genügt euch denn nicht eine? Müssen es zwei sein? Wollt ihr durchaus zwei opfern und gleich dem ersten besten?«
Er sagte »wollt ihr«, als lebe der Onkel noch, und als wolle der ihm ebenfalls die Qual von damals noch einmal aufbürden. Völlig verwirrt vermengte er sein früheres Unglück mit dem jetzigen, unterschied nicht zwischen der ersten Liebe zu der Cousine und der für ihre Tochter; und für ihn war es ja auch die gleiche Liebe, die noch dauerte, die zweimal da war. Und so erzählte er der Tante die ganze Geschichte seiner Leidenschaft.
Die Alte erschrak, ja, sie war entsetzt, und versuchte alles, um ihn zu beruhigen. Sie sagte, nie und nimmer habe sie ahnen können, daß ihn eine so große Liebe zu der Kleinen gepackt habe. Das sei gewiß verständlich, schwer würde man es jedoch Bebè begreiflich machen können, die nichts davon wüßte. Durfte man ihr zum Beispiel sagen: »Du hast die ganzen Jahre hindurch geglaubt, mein liebes Kind, du lebtest für dich. Statt dessen hast du gelebt, um in mir, in meinem Herzen, die Leidenschaft, die ich für deine Mutter gehabt, neu zu entzünden?«
Sie, die Tante, würde ja glücklich sein, ihm ihre Kleine anvertrauen zu können. Wie glücklich würde sie sein! Aber Bebè? Immerhin sagte sie Hilfe zu; nur dürfe man nichts übereilen. Zunächst müsse man versuchen, Bebès Herzen die törichte Verliebtheit in den jungen Maler zu nehmen, indem man ihr sage, daß man zu ihm, seiner Jahre, seines Berufes und vieler anderer Umstände wegen, kein richtiges Vertrauen haben könne. Dann allmählich … wer konnte wissen?
*
Nun kamen für Marco Perla Monate der Angst und Verzweiflung.
Vielleicht hatte die Tante nicht verstanden zu sprechen. Er schloß das aus dem Benehmen Bebès ihm gegenüber. Allein jene versicherte, sie habe die Rede bisher noch nicht auf ihn gebracht, nicht einmal andeutungsweise, und Bebè sei nur so, weil sie auf ihre, der Tante Veranlassung hin, jegliche Korrespondenz mit dem schon nach Rom gereisten jungen Mann abgebrochen habe. Man müsse noch warten, sie sich beruhigen lassen.
Warten? Bis wann? Je mehr Zeit verstrich, um so tiefer mußten in ihrem Herzen die Erinnerung und die Sehnsucht nach dem Abwesenden Wurzel fassen. Oder fand die Tante etwa nicht den Mut zum Sprechen? Die arme Alte siechte hin, als werde sie durch das ihr anvertraute Geheimnis aufgezehrt.
Erst kurz vor ihrem Ende raffte die arme Frau sich dazu auf, mit Bebè zu reden. Sie rief sie zu sich ans Bett und fragte sie zuerst, ob sie sich darüber im Klaren sei, in welcher Lage sie sich demnächst befinden, daß sie, ein junges Mädchen, mit einem Mann allein im Hause sein werde, der nicht ihr Vater und nicht ihr Bruder und selbst fast noch ein Jüngling sei und keinerlei Verpflichtungen ihr gegenüber habe. Was war er für sie? Sohn einer Schwester der Großmutter. Und sie für ihn? Tochter eines Mannes, der eines Tages wie ein Sturmwind über das Haus hergefallen und es auseinandergerissen hatte. Wie eine zarte Pflanze war sie, die keine Wurzeln hatte. Die Mutter war tot, der Vater verschollen. Es blieb ihr keine andere Stütze als derselbe Marco, der sich für sie geopfert hatte. Es galt jetzt, ihn zu entschädigen, ihm den Lohn für alle seine Opfer zu geben. Er war gut und liebte sie und würde ihr Vater und Gatte zugleich sein. Wenn Bebè wolle, daß sie beruhigt sterbe, müsse sie sich einverstanden erklären.
Schrecken, Schmerz, Grauen und Angst überfielen und erschütterten Bebè bei dieser unerwarteten Enthüllung. Sie umklammerte den Hals der Großmutter, brach in ein Schluchzen aus und beschwor sie, nicht zu sterben, um ihretwillen. Nein, nein! Sie wolle sie immer festhalten, so wie sie es jetzt tue, und ihr nicht erlauben, ihr ganz einfach nicht erlauben zu sterben. Jetzt, wo sie das Entsetzliche wisse, wolle und könne sie nicht mehr mit Onkel Marco allein bleiben. Um des Himmels willen nicht! Eher würde sie zugrunde gehen.
Bebè hatte niemals an ihren verschollenen Vater gedacht, hatte in diesem Punkt nie etwas gefühlt, weder Groll noch Neugier. Er existierte nicht für sie, hatte nie für sie existiert. Er fing erst an für sie dazusein, als die Großmutter gestorben, als sie vom Friedhof nach Hause zurückgekehrt war und sich Marco Perla allein gegenüber sah, dem Vetter, dem sie verbunden und von dem sie doch geschieden, dem sie verbunden und dessen Feindin sie doch war, weil sie ein Gefühl in ihm wußte, das sie nicht erwidern konnte noch wollte.
Es bemächtigte sich ihrer ein dumpfer und wilder Haß gegen den unbekannten Vater, der sie in die Welt gesetzt und verlassen hatte, ohne sie auch nur anzusehen; der ihr, nachdem er ihr das Leben gegeben, jedes Recht abgesprochen hatte, für ihn zu existieren, nur, weil sie, ohne ihre Schuld, durch ihre Geburt die Mutter getötet hatte. War das denn nicht auch für sie ein Unglück gewesen, und hätte der Anblick des kaum geborenen und schon verwaisten Töchterchens ihm an Stelle von Haß und Abscheu nicht im Gegenteil Mitleid einflößen und das Gefühl doppelter Pflichten geben müssen? Aus Abscheu war er vor ihr geflohen und verschwunden, hatte er sich jeder Verantwortung für das Leben, in das er sie gesetzt, entzogen und diese Verantwortung erst zwei armen alten Leuten auferlegt, denen er die Tochter geraubt hatte, und jetzt einem, der durchaus nicht verpflichtet war, sie zu übernehmen.
Bebè wußte nicht, daß der Vater auch dem etwas geraubt, wußte nicht, daß er ihm die Verantwortung für die Tochter gegeben, nachdem er ihm die Liebe der Mutter genommen hatte.
Wo war er jetzt? Lebte er noch? Weshalb dachte er nicht daran, daß nach so viel Jahren die beiden Alten, in deren Händen er die Tochter gelassen hatte, gestorben sein konnten, wie es ja nun auch der Fall war? Weshalb bedachte er nicht, was alles ihr zustoßen konnte, wie es ja nun auch geschah, allein und ohne Beistand, wie sie war. Vielleicht hatte er da drüben noch eine Familie, und der Gedanke an die Kinder, die ihm nahe waren und Liebe und Fürsorge verlangten, nahm ihm die Gewissensbisse darüber, daß er die ferne vergessen hatte.
Ja, und nun war einer da, der sie aufnahm, der für all das, was er für sie getan hatte, bezahlt sein wollte und als Bezahlung sie selbst forderte, ihr ganzes Leben, das ihm gehörte, weil er, der andere, ihn damit belastet hatte.
Diese Gedanken und Empfindungen überfielen Bebè mit schrecklicher Gewalt. Sie versank in Traurigkeit, ihr ungerechtes Schicksal verdunkelte ihren Geist, und sie erkrankte so ernstlich, daß sie mehrere Tage in Lebensgefahr schwebte.
Es begann ein langes und unversöhnliches Ringen zwischen ihrem Wunsch zu sterben und der Liebe Marco Perlas, der sie mit Wachsamkeit, mit dem glühenden Verlangen, sie zu erhalten, und mit beharrlicher, ununterbrochener Pflege umgab, stets bereit, für jeden Atemzug, den sie nicht mehr tun wollte, den eigenen zu geben und das eigene Leben, um ihrem furchtbaren Todeswillen zu begegnen.
Schließlich siegte seine Liebe, und in der weichen Stimmung und dem schwachen Zustande der Genesung gab sie aus Dankbarkeit und Mitleid zuletzt nach und erklärte sich mit der Heirat einverstanden.
Wie sie nun, genesen und Gattin geworden, ihren blühenden, fast noch unreifen, beleidigten Körper betrachtete, der dazu verurteilt war, allzeit der Freuden der Liebe zu entbehren, konnte sie sich der Überlegung nicht entziehen, daß er, der doch eigentlich schon alt war, mit seiner bleichen und dürren Häßlichkeit diesem ihrem Körper einen unschätzbaren Wert verlieh, und daß sein Verlangen, mit ihm bezahlt zu werden, etwas wie ein wucherisches Abkommen war, das nur zum Teil durch die Anbetung, mit der er ihr diente, gemildert wurde.
Diese Verehrung wäre durchaus der des Geizhalses für sein Geld gleich gewesen, wenn sich nicht Begierde bei ihm entwickelt hätte. Es war, als wolle er einen langen Hunger an ihr stillen. Sie aber entsetzte sich davor und dachte an die Küsse, die er ihr in der Kindheit gegeben hatte. Auch machte ihn diese Gier immer häßlicher, von Tag zu Tag wurde er bleicher, struppiger und magerer. Zudem verbiß er sich in die Arbeit, um ihre nicht gerade glänzenden Finanzverhältnisse aufzubessern. Wenige Monate nach der Hochzeit entschloß er sich, an einem Wettbewerb unter den Zollbeamten teilzunehmen, und wirklich gehörte er zu den Siegern. Nun mußte er zu einem zweijährigen Fortbildungskursus auf die Handelshochschule nach Rom gehen. Nach Ablauf der zwei Jahre hoffte er, dort im Finanzministerium bleiben zu können.
Da geschah es, daß Bebè, während das Haus vor der Abreise geräumt wurde, in einem alten Schrank der Großmutter, der in eine Dachkammer verbannt war, ein Bündel Briefe des vor etwa zwei Jahren für seinen Künstlerberuf nach Rom gegangenen jungen Malers fand. Es waren Briefe, die von der Großmutter abgefangen und unversehrt beiseite gelegt worden waren, wohl weil sie sie nicht hatte zerstören mögen oder weil sie sich bis zuletzt vorgenommen hatte, sie der Nichte zu geben, falls Marco von der Vergeblichkeit seiner Hoffnungen zu überzeugen wäre.
Bei dieser Entdeckung hatte Bebè die Empfindung, ihr ganzes Inneres werde zerrissen. Anfangs stand sie regungslos, dann gewannen Zorn und Erbitterung eine solche Gewalt über sie, daß sie sich fast für wahnsinnig hielt, als sie sich mit den Händen im Haar und weit aufgerissenen, starrblickenden Augen im Spiegel des Schrankes erblickte.
Wie hatte die Großmutter sie nach Unterschlagung dieser Briefe versichern können, daß der junge Mann sie, kaum in Rom angekommen, vergessen habe? Die Briefe waren voller Leidenschaft, voller Verzweiflung, voller Anklagen und Beschwörungen. Und sie hatte der Großmutter geglaubt! Der junge Mensch mußte von ihr so viel Schlechtes gedacht haben wie sie von ihm. Ja, so war es! Im letzten Schreiben erklärte er, sie sei seiner Liebe unwürdig, sei eitel, wortbrüchig, kokett und herzlos.
O wie schändlich, O wie schändlich! Also hatten die Großmutter und Marco sich zusammengetan, im Einverständnis hatten sie das Verbrechen begangen, sie auf das Gemeinste zu hintergehen? Natürlich. Mußte sie nicht bezahlen? Das Opfer ihrer Person genügte nicht; auch ihre Liebe mußte sie noch hingeben, um für die empfangene Pflege den empfangenen Unterhalt zu zahlen. O Gott, o Gott, das war ja … o Gott, das war …
Aber in Rom, ja, jetzt in Rom, da wollte sie sich rächen.
Sie würde den anderen ausfindig machen, koste es, was es wolle. Und sollte sie zugrunde gehen, rächen würde sie sich.
*
Drei Monate später, an einem Winterabend, klopfte an die Tür der von Marco Perla in einer düsteren Mietskaserne genommenen Wohnung ein rüstiger Alter mit krausem, stark meliertem Bart, dessen Haar sich mit dem des grauen Pelzkragens vermengte. Es war Corrado Tranzi.
Mit geneigtem Kopf, gerunzelten Brauen und finsteren Augen, die eine furchtbare Erregung aussprachen, stand er da und wartete, daß man ihm öffne. Er grub die Nägel in das Innere der Handflächen und rieb die Daumen nervös am Rücken der übrigen verkrampften Finger.
Als das Mädchen endlich kam und aufmachte und er die Wohnung erblickte, die er betreten wollte, stockte ihm der Atem.
»Herr Perla?«
Das Mädchen sah ihn bestürzt an und sagte zögernd: »Ich weiß nicht, ob der Herr gerade jetzt empfangen kann. Er ist nicht wohl …«
»Und die gnädige Frau?«
»Ist auch nicht wohl.«
»Krank?«
»Sie hat … ich weiß nicht … warten Sie, bitte! Ich will den Herrn fragen.«
Die Magd lief fort und ließ ihn an der Tür stehen, ohne ihn auch nur aufzufordern, wenigstens die Schwelle zu überschreiten. Gleich darauf kam sie mit der Antwort wieder, Herr Perla lasse sich entschuldigen. Er könne ihn krankheitshalber nicht empfangen, und auch die gnädige Frau sei nicht wohl.
»Ich bin Arzt«, sagte der Besuch … »für alle beide.« Und er trat ein.
»Aber gnädiger Herr …!«
»Sagen Sie Herrn Perla, Doktor Corrado Tranzi sei da. Gehen Sie!«
Marco Perla lag in einem kleinen Raum, der Salon und Arbeitszimmer sein wollte, und zwar hockte er noch in dem Sessel, in den er sich am Abend vorher geworfen hatte. Die ganze Nacht hatte er so zugebracht und sich auch mittags nicht erhoben, um Nahrung zu sich zu nehmen. Erst später hatte er sich von der Magd eine Tasse Kaffee mit einer Zitronenschale darin geben lassen. Beim Namen Tranzi entfärbte er sich. Zweimal versuchte er, auf die Beine zu kommen, fiel aber jedesmal in den Sessel zurück. Von dem Mädchen gestützt, konnte er endlich aufstehen. Er eilte in den kleinen Vorsaal.
»Corrado?«
Einen Augenblick standen sie sich gegenüber wie zueinander gestürzt, um sich von dem entfernten Zeitpunkt aus zu betrachten, an dem sie sich zum letztenmal gesehen hatten. In einem Nu blitzte die Erinnerung an alles, was inzwischen geschehen war, in ihnen auf und füllte den Abgrund der langen Zeit, um sie erkennen zu lassen, wie verändert sie waren.
Atemlos, von Bestürzung übermannt, glaubte Marco Perla in Tranzis Augen die Gesinnung zu erkennen, mit der dieser ihm entgegentrat. Mußte Tranzi nicht denken, daß er sich durch das Heiraten seiner Tochter dafür hatte rächen wollen, daß jener ihm die Mutter genommen hatte? Und mußte ein solcher Gedanke ihn nicht mit Haß und Abscheu erfüllen?
Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe, fühlte sich vernichtet. Statt des Erwarteten fand er sich jedoch, liebevoll gestützt, in seinen Armen wieder und vernahm seine Stimme, die sagte:
»Du … so … aber es geht dir ja wirklich schlecht … komm … was hast du? Du glühst ja, hältst dich kaum auf den Beinen. Du hast ja Fieber …«
Das war eine Erleichterung, eine Befreiung und ein Trost. Marco Perla fühlte dies doppelt lebhaft und beglückend, weil er es weder erwartet noch erhofft hatte. Er schluchzte und stöhnte dazwischen, während jener und die Magd ihn in das Zimmerchen zu seinem Sessel zurückführten:
»Gott hat dich mir gesandt, Gott hat dich mir gesandt!«
»So … so …« nahm Tranzi wieder auf, während er es ihm im Sessel bequem machte.»Was ist denn? Sieh mich an, sieh mir ins Gesicht … ich komme aus Palermo. An Land gegangen bin ich in Genua … von dort nach Palermo gefahren. Ich habe gefragt, mich nach allem erkundigt … Du … Du hast meine Tochter geheiratet? Wo ist sie, wo ist sie?«
Matt und gebeugt, mit den Händen vorm Gesicht, schrie Perla wütend:
»Hätte ich es nie getan!«
»Du durftest es nicht tun«, erwiderte Tranzi schlagfertig, mit fremder Stimme, die anscheinend nur Vorwürfe und Kummer ausdrücken wollte, in Wahrheit jedoch vor mühsam zurückgehaltener Heftigkeit zitterte. »Wie, wie konntest du es tun?«
»Du kannst sie dir jetzt wieder nehmen, kannst sie dir wieder nehmen«, sagte Perla hastig, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen. »Du kannst sie mitnehmen … fort … weit fort …«
»Warum? Aber wo ist sie denn?« fragte Tranzi, sich umblickend.
»Da … sie hat sich im Zimmer eingeschlossen«, erwiderte Perla. »Warte … warte!«
Er wandte sich an die Magd:
»Geht und sagt der gnädigen Frau Bescheid …«
Dann führte er eine Hand tastend in die Innentasche seiner Jacke, zog eine zerrissene Brieftasche heraus und entnahm ihr ein Schreiben, das er Tranzi gab:
»Erst lies, lies …«
»Was ist das?«
»Lies … es ist von ihrem Liebhaber …«
Corrado Tranzi ballte die Faust, in der er den Brief hielt, stürzte sich wie eine verwundete Bestie auf Perla und brüllte:
»Und du …«
»Ich?« gab der, ebenfalls schreiend, zurück und hielt dem ehemaligen Nebenbuhler in einem Ausbruch rasender Empörung das ganze Unrecht vor, das er durch ihn erlitten, und all das Gute, das er dagegen getan hatte, um jetzt als Lohn so betrogen zu werden.
Auf das Schreien hin erschien das erschrockene Mädchen in der Tür. Kaum bemerkte Tranzi es, rief er: »Meine Tochter?«
Und auf einen Wink eilte er hin.
Auf der Schwelle des Zimmers, in dem sie eingeschlossen gewesen, empfing Ebe ihn, ungekämmt, mit halb offenem Kleid und in Tränen schwimmend, genau wie ihre Mutter ihn zum erstenmal an jenem Frühlingsmorgen empfangen hatte, als er durch die Fügung des Zufalls aus der Apotheke geholt worden war.
Sie war es, sie war es, seine Ebe, die ihn wieder aufnahm, so wie man etwa einen Fremden in einem Augenblick unvorhergesehener, höchster Not aufnimmt. Und ganz deutlich stand in ihrem feindlichen Blick zu lesen, daß sie ihn nicht aufgenommen hätte, daß sie ihn nicht hätte sehen wollen, wenn sie nicht in der furchtbaren Bedrängnis gewesen wäre.
»Meine Ebe, meine Ebe!«
Da er sie nach der Mutter erkannte, konnte er nicht begreifen, daß sie ihn trotz der Augen eben dieser Mutter nicht zu erkennen vermochte. Als er sie umarmen wollte, fühlte er sich von ihrer Hand zurückgestoßen.
»Du willst mich nicht umarmen? O mein Kind! Laß dir wenigstens das Haar küssen. Du hast ja recht. Aber alles Böse hat deine Mutter mit ihrem Tode getan.«
»Und wer hat es büßen müssen?« fragte Ebe mit einem harten und kalten Blick in seine Augen.
»Nicht nur du, nicht nur du«, erwiderte er sogleich. »Wie kannst du es denn verstehen? Ja, ich habe schlecht an dir gehandelt. Allein ich glaubte nicht, glaubte nicht … erst jetzt, wo ich dich sehe, begreife ich alles.
Ebe beobachtete, wie das Gesicht ihres Vaters beim Aussprechen dieser letzten Worte plötzlich einen Ausdruck von Schrecken und zugleich Abscheu annahm, und hörte ihn leise hinzufügen:
»Ich begreife, ich begreife, weshalb er dich geheiratet hat … Du weißt es nicht, du kannst es nicht wissen …«
Sie schauderte, denn sie begriff. Und, ebenfalls mit unterdrückter Stimme, fragte sie voller Grauen: »Die Mutter … er?«
»Ja, ja …«
Und bei dieser Erkenntnis empfanden sie: er einen furchtbaren Haß, weil jener ihn unter feiger Ausnutzung seiner Abwesenheit gewissermaßen mit der Mutter betrogen hatte; sie Ekel und Entsetzen, weil er eine Art von Inzest an ihr verübt hatte.
Sie zogen sich beide in das Zimmer zurück, verriegelten die Tür und sprachen lange miteinander. Er erzählte ihr von all den Mühen und Kämpfen, die er drüben, verzweifelt und von Gram verzehrt, hatte erdulden müssen. Gewiß war ihr Bild ihm anfangs verhaßt gewesen, weil es ihm nicht gelungen war, es von der Erinnerung an den Tod der Mutter zu trennen. Es hatte seine Wunde fühlbarer gemacht und ihn in Raserei versetzt. Dann hatte er angefangen, sie in ihrer Verlassenheit zu bemitleiden -- wahrhafte Reue hat er nicht verspürt, weil er nie auf den Gedanken gekommen war, daß die Großeltern, die er noch am Leben glaubte, es an Sorge und Liebe fehlen lassen könnten --, hatte die Meinung gewonnen, da er sie so im Stich gelassen und nie ein Lebenszeichen von sich gegeben habe, müsse er sie wenigstens reich machen, um sie für die lange Verlassenheit zu entschädigen. Und reich war er in der Tat zurückgekehrt.
»Zu spät?«
»Zu spät, ja. Den Betrug«, erklärte ihm Ebe, »hatte nicht sie an Perla begangen, sondern die Großmutter und Marco an ihr.«
Er hatte den zerknitterten Brief noch in der Hand, den Perla ihm zum Lesen gegeben hatte.
»Hast du ihn gelesen?« fragte Ebe.
»Nein, noch nicht …«
»Auch ich nicht, aber es muß der Beweis darin enthalten sein, daß er mir noch nichts vorzuwerfen hat. Ich habe ihn weder belogen noch hintergangen. Ich habe nur versucht, mich vor dem jungen Mann zu rechtfertigen, der mir geschrieben hat. Lies nur … lies nur …«
Und sie begann von ihrer unschuldigen Liebe zu sprechen, aus der Zeit, als sie geglaubt hatte, frei über sich und ihr Herz verfügen zu können, und erzählte von den Briefen, die die Großmutter abgefangen und die sie am Abend vor der Abreise nach Rom zufällig entdeckt hatte.
Als sie mitten in ihrem Bericht war, klopfte das Mädchen und meldete, dem Herrn gehe es sehr schlecht, er scheine zu ersticken.
Corrado Tranzi eilte hin. Weshalb fragte er aber zuerst, ob noch kein Arzt gerufen worden sei?
»Nein, noch nicht«, erwiderte die Magd.
Mit deren Hilfe legte er Marco Perla aufs Bett. Dieser phantasierte im Fieber. Tranzi entkleidete ihn und fing an ihn zu untersuchen. Er behorchte lange das Herz, dann, indem er Brust und Rücken beklopfte, die Lungen. Der Kranke, von dem Mädchen gehalten, so daß er im Bette saß, ließ den Kopf hängen, stöhnte, röchelte und murmelte zusammenhangslose Worte. Als die Untersuchung beendet war, befahl Tranzi der Magd, ihn sorgsam zu betten, und begann, in Gedanken versunken, im Zimmer auf und ab zu gehen.
War es nicht ein Wink der Vorsehung, daß er gleich am ersten Abend, kaum angekommen, als Arzt handeln konnte?
Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er reckte sich unter Schmerzen, fuhr sich mit den zitternden Händen durchs Haar, legte einen Finger zwischen die Zähne und starrte eine Weile vor sich hin. Dann blickte er umher, bemerkte das Mädchen, betrachtete den Kranken; setzte sich darauf an ein Tischchen, stützte die Ellenbogen und preßte den Kopf zwischen die Hände.
»Ist es ernst?« fragte die Magd.
Er fuhr zusammen und sah sie an, als habe er nicht verstanden.
»Ja, es ist ernst«, sagte er dann.
»Aber im Augenblick kann man nicht helfen. Geh! Wenn es nötig ist, rufe ich.«
Allein geblieben, erhob er sich, begann wieder im Zimmer hin und her zu gehen und vermied, den Kranken anzusehen.
Seit vielen Jahren war er an gewisse furchtbare Selbstgespräche gewöhnt, die kein anderes Ende haben konnten als eine äußerste Tat. Er wußte seinen Widerstand gegen diese Tat, die Empörung all seiner Lebenskräfte, um sie zu verhindern, den Willen, der diese wieder bändigte, und den Schwung, den sie bekamen, wenn er an das Dasein der anderen nach seinem Tode dachte. Aber jetzt richtete sich die zu verübende Tat nicht mehr gegen ihn selbst: und das Leben, das den anderen blieb, stellte sich ihm nicht mehr als eine trost- und sinnlose Folge eigentlich unausbleiblicher Geschehnisse dar. Jetzt waren die anderen ihm nicht mehr fremd und gleichgültig. Er kannte jetzt seine Tochter, und das Leben, das er nach der Tat vor sich sah, war das ihre. Er hätte nicht einen Augenblick gezögert, wenn er die Tat gegen sich selbst hätte richten müssen; daß er jedoch gegen einen anderen handeln sollte und dazu heimtückisch, machte seinen Widerstand fast unbesiegbar. Während er aber die ganze Nacht hindurch am Krankenlager mit sich kämpfte, befestigte sich wieder der schreckliche Entschluß. Er schien ihm immer notwendiger und gleichsam schicksalsgewollt.
Andere hatten seine Tochter großgezogen, andere sie bisher unterhalten, für andere war sie noch am Leben. Er hatte noch nie etwas für sie getan.
Darum mußte er dies jetzt tun. Es gab keine andere Entscheidung.
Er hatte ihr Reichtümer gebracht. Aber was nutzten sie ihr, solange sie nach Preisgabe ihrer Liebe an den Alternden gebunden war? Damit dieser Reichtum Wert für sie bekomme, damit sie wirklich sagen könne, daß sie ihrem Vater das Leben danke, mußte er zerreißen und vernichten, was sie durch die anderen besaß, auch die Schuld, die sie mit ihrer Person bezahlt hatte. Da die Vorsehung ihn begünstigte, mußte er ohne Zögern den aus dem Wege räumen, der für seine Tochter all das getan hatte, was er selbst hätte tun müssen; der es ihm in allem hatte gleichtun wollen und sich in Ebe eigentlich nur die Mutter genommen hatte. Nur dann durfte er sich Vater nennen. Wenn er sie von allen Fesseln befreite, die ihr in der Zeit angelegt worden waren, in der er für sie nicht existiert hatte, gab er ihr mit dieser Freiheit und dem Reichtum zugleich auch das Leben wieder.
Blitzte in Ebe eine Ahnung des grausamen väterlichen Entschlusses auf, als sie ihn am nächsten Morgen, nach allem, was am Abend vorher zwischen ihnen gesprochen worden war, in höchster Spannung bei der Pflege des Kranken erblickte? Vielleicht; aber sie wollte sich dessen nicht bewußt werden.
Zerschmettert beugte er sich über das Lager, um auf den letzten Atemzug des Sterbenden zu horchen, während sie bestürzt und zitternd neben ihm stand, und zu deutlich sprach sein Blick, als er sich dann erhob und ihr zuwandte.
Dieser Blick besagte, sie brauche keine Furcht zu haben, denn er habe so handeln müssen.
Er zog sie an sich und flüsterte ihr ins Haar:
»Du bist frei. Jetzt darfst du leben.«
Aber sie fühlte, daß sie es nun, wo sie wußte, nicht mehr können würde. Und sie lehnte sich an seine Brust, um das Opfer auf dem Bett nicht zu sehen.