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Ist Ninfarosa da?« -- »Sie ist da. Klopft nur!« -- Die alte Maragrazia klopfte und liest sich dann gemächlich auf die abgenutzte Stufe vor der Haustür nieder.
Es war ihr gewohnter Sitzplatz, dieser und so mancher andere vor den Türen der ärmlichen Häuser von Farnia. Sie saß da und schlief oder weinte still vor sich hin. Vorübergehende warfen ihr einen Soldo oder ein Stück Brot in den Schoß, aber sie unterbrach kaum ihren Schlaf oder ihr Weinen, küßte den Soldo oder das Brot, bekreuzigte sich und fing wieder an zu weinen oder zu schlafen.
Sie sah aus wie ein Haufen Lumpen, dicke, schmutzige Lumpen, immer die gleichen, Sommer und Winter, zerrissen und zerfetzt, ohne jede Farbe und durchsetzt mit stinkendem Schweiß und dem Schmutz der Straße. Das gelbliche Gesicht mit den hochgeklappten, infolge ständigen Weinens rotgeränderten und blutigen Lidern war ein dichtes Netz von Runzeln; aber zwischen Runzeln, Blut und Tränen leuchteten die hellen Augen immer noch wie die der zeitlosen Kindheit. Oft heftete sich jetzt eine gierige Fliege an diese Augen, aber die Alte ging so völlig auf in ihrem Schmerz, daß sie sie nicht bemerkte und also auch nicht verjagte. Das spärliche, dürre, über den Kopf verteilte Haar endete in zwei kümmerlichen, über den Ohren liegenden Knoten. Die Ohrläppchen waren durch das Gewicht massiger Anhängsel zerrissen, die sie in der Jugend getragen hatte. Vom Kinn bis unterhalb der Kehle wurde der schlaffe Hals durch eine schwarze Falte geteilt, die bis zum hohlen Brustkorb weiterlief.
Die Nachbarinnen, die auf der Schwelle saßen, achteten ihrer nicht mehr. Sie hielten sich fast den ganzen Tag über dort auf; die eine flickte Zeug, die zweite las irgendein Gemüse, die dritte stopfte Strümpfe, kurz jede war mit irgendeiner Arbeit beschäftigt. Sie schwatzten vor ihren niedrigen ärmlichen Häusern, die durch die Tür Licht erhielten, die oft Haus und Stall in eins waren und denselben Kiesboden hatten wie die Straße. Auf der einen Seite stand die Krippe, an der ein Esel oder ein Maultier stampfte, von Fliegen geplagt; auf der andern das mächtige, breite Ehebett. Dann war da eine lange schwarze Truhe aus Tannen- oder Buchenholz, die wie eine Bahre aussah, zwei oder drei Strohstühle, der Backtrog und ländliche Geräte. An den rohen rissigen Wänden hingen als einziger Schmuck schlechte Stiche zu einem Soldo, die die Heiligen des Ortes darstellen sollten. Auf der durch Rauch und Dünger beschmutzten Straße tummelten sich sonnenverbrannte Jungen, einige nackt wie bei der Geburt, andere nur mit einem schmierigen zerlumpten Hemd bekleidet. Hühner scharrten und die rosigen Ferkel grunzten, während sie mit dem Rüssel im Abfall schnüffelten.
An dem Tage war von einem neuen Trupp Auswanderer die Rede, der am nächsten Morgen nach Amerika abreisen sollte.
»Saro Scoma geht fort«, sagte eine. »Er läßt die Frau und die kleinen Kinder zurück.«
»Vito Scardìa,« fügte eine andere hinzu, »läßt fünf zurück und die Frau in schwangerem Zustand.«
»Ist es wahr,« fragte eine dritte, »daß Làrmine Ronca seinen zwölfjährigen Sohn mitnimmt, der schon in die Schwefelgrube ging? O Heilige Maria, wenigstens den Jungen hätte er der Frau lassen können. Wie wird die arme Seele sich jetzt durchhelfen?«
»Was für ein schreckliches Jammern«, rief mit weinerlicher Stimme eine vierte, die etwas abseits saß, »hört man die ganze Nacht im Hause von Nunzia Ligreci! Ihr Sohn Nico, der gerade vom Militärdienst zurückgekommen ist, will auch fort.«
Als die alte Maragrazia diese Nachrichten vernahm, stopfte sie ihren Mund mit dem Tuch, um nicht in lautes Schluchzen auszubrechen. Aber die Gewalt des Schmerzes bahnte sich einen Weg durch die blutunterlaufenen Augen, und es kamen Tränen ohne Ende.
Vor vierzehn Jahren waren auch von ihr zwei Söhne nach Amerika gegangen. Sie hatten ihr versprochen, nach vier oder fünf Jahren wiederzukommen, aber sie hatten dort ihr Glück gemacht, besonders einer, der Ältere, und die alte Mutter vergessen. Jedesmal nun, wenn ein neuer Trupp Auswanderer von Farnia abging, begab sie sich zu Ninfarosa, damit sie ihr einen Brief schriebe, den einer der Reisenden aus Mitleid dem einen oder anderen ihrer Söhne aushändigen sollte. Darauf folgte sie dem Zug, der sich, mit Säcken und Bündeln schwer beladen, zum Bahnhof der nächsten Stadt bewegte, zwischen verzweifelt weinenden und schreienden Müttern, Frauen und Schwestern ein gutes Stück auf der staubigen Straße und heftete unterwegs den Blick starr auf den oder jenen jungen Auswanderer, der eine lärmende Fröhlichkeit heuchelte, um seiner Erregung Herr zu werden und die Verwandten, die ihm das Geleit gaben, abzulenken.
»Alte Närrin«, rief ihr wohl einer zu. »Warum seht Ihr mich so an? Wollt mir wohl die Augen auskratzen?«
»Nein, mein Schöner, ich beneide dich vielmehr,« erwiderte ihm die Alte, »denn du wirst meine Söhne sehen. Erzähle ihnen, wie du mich zurückließest, und daß sie mich nicht mehr finden werden, wenn sie sich noch lange verzögern.«
Die Gevatterinnen der Nachbarschaft fuhren inzwischen mit der Aufzählung derer fort, die am folgenden Tage abreisten. Ein Alter mit wolligem Bart und Haar, der es sich am Ende der kleinen Gasse bequem gemacht hatte, indem er, seine Pfeife rauchend, den Bauch in die Luft streckte, hatte bisher stillschweigend zugehört; jetzt hob er den Kopf, den er auf einen Eselssattel gebettet hatte, und sagte, während er die großen knochigen Hände auf die Brust legte:
»Wenn ich König wäre,« dabei spuckte er, »wenn ich König wäre, ließe ich keinen einzigen Brief von drüben mehr in Farnia ankommen.«
»Hoch Jaco Spina!« rief eine von den Gevatterinnen. »Und was sollten die armen Mütter und Frauen ohne Nachrichten und ohne Hilfe beginnen?«
»Sie schicken ja auch wirklich genug,« brummte der Alte und spuckte von neuem, »so daß die Mütter dienen müssen und die Frauen auf Abwege geraten. Aber warum berichten sie in ihren Briefen nichts von dem Elend, das sie da drüben finden? Nur das gute erzählen sie, und jeder Brief ist für die dummen Lausbuben hier wie das Rufen der Glucke: Piep, piep, piep; sie locken sie und holen sie samt und sonders weg. Wo sind noch Arme, um unser Land zu bestellen? In Farnia sind nur wir noch geblieben, nur Greise, Frauen und Kinder. Ich habe meinen Acker und muß sehen, wie er zugrunde geht. Was kann ich mit einem Paar Arme schaffen? Und immer noch reisen sie, immer noch reisen sie. Regen im Gesicht und Wind im Rücken, das wünsche ich ihnen. Mögen sie den Hals brechen, die Elenden!«
In diesem Augenblick öffnete Ninfarosa die Tür, und es war, als käme in der kleinen Straße die Sonne zum Vorschein.
Sie war dunkel und gebräunt, hatte schwarze, funkelnde Augen und leuchtende Lippen, und ihr kräftiger, schlanker Körper atmete Heiterkeit und Stolz. Über dem vollen Busen trug sie ein großes Tuch aus roter Baumwolle mit gelben Monden und in den Ohren dicke, goldene Ringe. Das rabenschwarze, glänzende Haar war ohne Scheitel nach hinten gestrichen und endete am Nacken in einem mächtigen Knoten, den eine silberne Nadel zusammenhielt. Ein auffallendes Grübchen mitten im runden Kinn gab ihr eine verschmitzte und verführerische Anmut.
Nach kaum zweijähriger Ehe war sie zum erstenmal Witwe geworden. Der zweite Mann hatte sie vor fünf Jahren verlassen und war nach Amerika gegangen. Nachts bekam sie, was niemand wissen durfte, durch die Hintertür des Hauses, wo der Garten war, Besuch von irgendeinem angesehenen Mann des Ortes. Die ehrbaren und gottesfürchtigen Nachbarinnen sahen sie deshalb scheel an, wiewohl sie sie im geheimen beneideten. Sie wollten ihr auch nicht wohl, weil in der Ortschaft das Gerücht ging, sie habe, um sich für das Fortgehen des zweiten Mannes zu rächen, mehrere anonyme Briefe an Ausgewanderte nach Amerika geschrieben und darin ein paar arme Frauen verleumdet und beschimpft.
»Wer hält solche Reden?« sagte sie, während sie auf die Straße trat. »Aha, Jaco Spina! Besser, Onkel Jako, wir bleiben allein in Farnia. Wir Frauen werden das Land bestellen.«
»Ihr Frauen«, brummte der Alte wieder mit verschnupfter Stimme, »seid nur zu einem gut.«
Und er spuckte. ·
»Und das wäre, Onkel Jako? Sagt es laut!«
»Zum Weinen und zu noch etwas.«
»Also doch zu zwei Dingen. Lustig, Alter! Seht Ihr nicht, Daß ich gar nicht weine?«
»Ja, ich weiß es, Kind. Du hast auch nicht geweint, als dir dein erster Mann starb.«
»Aber, wenn ich zuerst gestorben wäre, Onkel Jaco,« gab Ninfarosa schlagfertig zurück, »hätte er etwa nicht wieder geheiratet? Also! Wißt Ihr, wer hier für alle weint? -- Maragrazia.«
»Das kommt,« urteilte Jaco Spina, während er seinen Bauch wieder in die Luft streckte, »weil die Alte so viel Wasser zu lassen hat, daß es ihr sogar aus den Augen läuft.«
Die Nachbarinnen lachten. Maragrazia schüttelte sich und rief:
»Zwei Söhne, schön wie die Sonne, habe ich verloren, und ihr wollt nicht, daß ich weine?«
»Wirklich schön und der Tranen würdig,« sagte Ninfarosa. »Schwimmen da drüben im Überfluß und lassen Euch hier als Bettlerin sterben.«
»Sie sind die Söhne, und ich bin die Mutter«, entgegnete die Alte. »Wie können sie meinen Kummer verstehen?«
»Ach, ich glaubte nicht, daß sie so viel Tränen und so viel Kummer verdienen,« begann Ninfarosa wieder, »denn dem Gerücht zufolge habt Ihr selbst sie in einer verzweifelten Lage entwischen lassen.«
»Ich?« rief Maragrazia, sich mit der Faust gegen die Brust schlagend und entrüstet aufspringend.
»Alle möglichen Leute haben es gesagt.«
»Verleumdung! Ich hätte meine Söhne, ich, die …« »Laßt Euch nichts weismachen!« unterbrach sie eine der Nachbarinnen. »Merkt Ihr denn nicht, daß sie scherzt?«
Ninfarosa lachte weiter und wiegte sich dabei boshaft in den Hüften. Um den grausamen Spaß wieder gutzumachen, fragte sie darauf die Alte mit freundlicher Stimme:
»Kopf hoch, Mütterchen, was wünscht Ihr?« Maragrazia fuhr mit ihrer zitternden Hand in den Busen und zog ein ganz zerknittertes Stück Papier und einen Umschlag heraus. Beides zeigte sie Ninfarosa mit flehendem Blick und sagte:
»Wenn du mir noch einmal den Gefallen tun könntest …«
»Wieder einen Brief?«
»Wenn du magst …«
Ninfarosa stöhnte; da sie aber wußte, daß sie sie doch nicht loswürde, bat sie sie einzutreten.
Ihr Haus war anders als die benachbarten. Die geräumige Kammer, bei geschlossener Tür ein wenig dunkel, weil sie nur durch ein vergittertes Fenster oberhalb dieser Tür Licht bekam, war schön geweißt, mit Backsteinen belegt, sauber und gut ausgestattet, nämlich mit einem eisernen Bett, einem Schrank, einer Kommode mit Marmorplatte und einem mit Nußholz ausgelegten Tischchen; und wenn es auch ein bescheidenes Mobiliar war, so hatte Ninfarosa den Aufwand dafür allein aus den unsicheren Einnahmen, die sie als Schneiderin auf dem Lande hatte, natürlich nicht bestreiten können.
Sie ergriff Feder und Tintenfaß, legte das zerknitterte Blatt auf die Platte der Kommode und schickte sich an, stehend zu schreiben.
»Was wollt Ihr sagen? Sputet Euch!«
»Liebe Kinder«, begann die Alte zu diktieren.
»Ich habe keine Augen mehr zum Weinen,« fuhr Ninfarosa mit einem Müdigkeitsseufzer fort.
Und die Alte: »Denn meine Augen sind durch die Sehnsucht, Euch wenigstens noch einmal zu sehen, verdorben …«
»Weiter, weiter«, drängte Ninfarosa. »Dies habt Ihr ihnen mindestens schon dreißigmal geschrieben.«
»Schreib es trotzdem. Es ist die Wahrheit, Herzchen, siehst du's denn nicht? Schreib also: Liebe Kinder …«
»Dasselbe noch einmal?«
»Nein. Jetzt etwas anderes. Die ganze letzte Nacht habe ich es mir überlegt. Hör zu: Liebe Kinder. Eure arme, alte Mutter verspricht und schwört Euch -- ja, so war es --, verspricht und schwört Euch vor Gott, daß sie Euch, wenn Ihr nach Farnia zurückkehrt, noch zu Lebzeiten ihr Häuschen überlassen wird.«
Ninfarosa brach in ein Lachen aus: »Auch das Häuschen? Aber was sollen sie denn, wenn sie schon reich sind, mit den vier Wänden aus Lehm und Rohr anfangen, die zusammenbrechen, wenn man nur darauf bläst?«
»Schreib es trotzdem«, wiederholte die Alte hartnäckig. »Vier alte Steine in der Heimat sind mehr wert als ein ganzes Königreich in der Fremde, schreib, schreib.«
»Ich habe es geschrieben. Wollt Ihr noch etwas hinzusetzen?«
»Ja, dies noch: Eure arme, alte Mutter, liebe Kinder, zittert vor Kälte, da der Winter vor der Tür steht. Sie möchte sich ein Kleid machen und kann es nicht. Möchtet ihr doch so freundlich sein und ihr wenigstens einen Fünflireschein senden, damit …« »Genug, genug, genug!« sagte Ninfarosa, indem sie das Blättchen faltete und in den Umschlag tat. »Ich habe es schon geschrieben, genug jetzt.« »Auch das mit den fünf Liren?« fragte, über die unerwartete Eile betroffen, die Alte.
»Alles, auch das mit den fünf Liren, jawohl.«
»Richtig geschrieben … Alles?«
»Herrje, ich sag's Euch doch.«
»Nachsicht -- -- hab ein wenig Nachsicht mit mir armer Alten, mein Kind«, sagte Maragrazia. »Denk daran, daß ich schon ein wenig dumm bin. Gott lohne dir deine Liebe, Gott und Unsere Schöne Heiligste Mutter.«
Sie nahm den Brief und steckte ihn in den Busen. Ihr Plan war, ihn dem Sohn von Nunzia Ligreci anzuvertrauen, der sich nach Rosario di Santa Fé begab, wo ihre Söhne waren. Und sie ging fort, um ihm den Brief zu bringen.
*
Mit dem Hereinbrechen des Abends waren die Frauen in die Häuser gegangen, und fast alle Türen hatten sich geschlossen. In den engen Gassen bewegte sich niemand mehr. Nur der Lampenanzünder machte mit seiner Leiter die Runde und steckte die wenigen Petroleumlämpchen an, deren dünnes, ängstliches Licht die Düsterkeit und Stille der verlassenen alten Straßen noch trauriger machte. Die alte Maragrazia schlich gebückt dahin und drückte mit der einen Hand den Brief für die Söhne an die Brust, als wolle sie diesem Fetzen Papier ihre mütterliche Liebe einverleiben; mit der andern kratzte sie sich bald an der Schulter, bald am Kopf. Bei jedem neuen Brief wuchs ihre Hoffnung, daß es ihr nun endlich gelingen werde, ihre Söhne zu rühren und zurückzurufen. Beim Lesen ihrer Worte, aus denen all die Tränen sprachen, die sie in vierzehn Jahren vergossen hatte, konnten ihre schönen, ihre süßen Kinder doch unmöglich hart bleiben.
Allein diesmal war sie mit dem Schreiben, das sie bei sich trug, eigentlich nicht ganz zufrieden. Sie war der Meinung, Ninfarosa habe die Zeilen zu eilig hingeworfen, und war auch nicht ganz über; zeugt, daß sie das Letzte, das mit den fünf Liren für das Kleid, wirklich geschrieben hatte. Fünf Lire! Was konnte es ihren reichen Söhnen schaden, fünf Lire zu geben, um den Körper ihrer alten, frierenden Mutter zu kleiden?
Durch die geschlossene Tür des einen oder andern kleinen Hauses hörte man das Jammern einer Mutter, die über die bevorstehende Abreise ihres Sohnes weinte.
»O Kinder, Kinder!« seufzte da Maragrazia für sich und drückte den Brief fest an die Brust. »Wie könnt ihr den Mut finden fortzugehen? Wohl versprecht ihr wiederzukommen, aber ihr kommt nicht wieder. O ihr armen Alten, glaubt ihren Versprechungen nicht! Eure Söhne werden nicht zurückkehren, wie die meinen es nicht tun … werden nicht zurückkehren …« Plötzlich blieb sie unter einem Lämpchen stehen, weil sie Schritte gehört hatte. Wer mochte das sein?
Ach, es war der neue Gemeindearzt, der junge Mann, der vor kurzem gekommen war, der jedoch angeblich bald wieder gehen wollte, nicht weil man mit ihm unzufrieden war, aber weil einige Herrchen im Ort ihm nicht wohlwollten. Die Armen hatten ihn jedoch sämtlich sogleich liebgewonnen. Er sah wie ein Junge aus und hatte doch schon die Einsicht eines Alten und war überdies gelehrt. Alles saß mit offenem Munde da, wenn er sprach. Es hieß, er wolle auch nach Amerika gehen. Aber er hatte ja auch keine Mutter mehr, sondern war allein. »Herr Doktor,« bat Maragrazia, »würden Sie mir einen gefallen tun?«
Der junge Arzt machte verdutzt unter dem Lämpchen halt. Er war in Gedanken gewesen und hatte die Alte nicht bemerkt.
»Wer ist es? Ach Ihr …«
Er entsann sich, daß er den Haufen Lumpen mehrmals vor den Haustüren gesehen hatte.
»Würden Sie mir einen gefallen tun«, wiederholte Maragrazia, »und diesen kleinen Brief durchlesen, den ich meinen Söhnen schicken muß?«
»Wenn ich genug sehe«, sagte der Arzt, der kurzsichtig war, während er den Kneifer aufsetzte. Maragrazia holte das Schreiben hervor, reichte es dem Doktor und erwartete, daß er mit den Ninfarosa diktierten Worten »Liebe Kinder« beginnen werde. Aber nichts davon! Der Arzt sah entweder nichts oder konnte die Schrift nicht entziffern. Er hielt das Blättchen unter die Augen, entfernte es, um am Lämpchen besseres Licht zu haben, drehte es um und wieder um und sagte schließlich:
»Was ist denn das?«
»Kann man es nicht lesen?« fragte Maragrazia schüchtern.
Der Arzt fing an zu lachen.
»Aber da steht ja gar nichts. Vier langgezogene Kleckse, in Zickzacklinien. Seht!«
»Nein«, rief die Alte betroffen.
»Aber ja, seht nur. Nichts, wirklich nichts steht hier.«
»Ist es möglich?« hauchte die Alte. »Und wie kann es denn sein, da ich Ninfarosa doch alles, Wort für Wort diktiert habe? Und ich habe auch gesehen, daß sie schrieb …«
»Sie wird so getan haben«, sagte achselzuckend der Arzt.
Maragrazia stand wie festgenagelt. Dann brach mit einem starken Schlag auf die Brust ihr Zorn aus: »O die Elende! Warum hat sie mich so hintergangen? Also deshalb antworten mir meine Söhne nicht. Nichts also, nichts von allem, was ich diktiert habe, hat sie geschrieben … Ja, nun verstehe ich! Meine Söhne wissen also nichts von meiner Lage, und daß ich um ihretwillen dahinsieche. Und ich klagte sie an, während sie die Schuldige gewesen ist; und überdies hat sie sich noch stets über mich lustig gemacht … O Gott, o Gott! Wie kann man eine arme Mutter, eine arme Alte wie mich so betrügen? Nein, das ist ja, das ist …«
Der junge Arzt war gerührt und erzürnt und versuchte anfangs sie ein wenig zu beruhigen. Er ließ sich erzählen, wer diese Ninfarosa sei und wo sie wohne, um ihr am nächsten Tage den verdienten Verweis zu erteilen. Allein die Alte dachte nur daran, das lange Schweigen ihrer fernen Kinder zu rechtfertigen, und peinigte sich mit Vorwürfen, daß sie sie in all den Jahren der Verlassenheit beschuldigt habe; denn jetzt war sie fest davon überzeugt, daß sie zurückgekehrt, daß sie ihr zugeflogen sein würden, wenn nur ein einziger von all den Briefen, an deren Vorhandensein sie geglaubt hatte, wirklich geschrieben worden und in ihre Hände gelangt wäre.
Um diesen Auftritt zu endigen, mußte der Doktor ihr schließlich zusagen, daß er am nächsten Morgen einen langen Brief an ihre Kinder aufsetzen werde. »Kopf hoch, Kopf hoch, seid nicht so mutlos! Kommt morgen früh zu mir! Jetzt gute Nacht! Geht schlafen!«
Ach schlafen! Als der Arzt etwa zwei Stunden später wieder durch die Straße kam, fand er sie noch unter dem gleichen Lämpchen hockend und immer noch in Tränen, ja, wie es schien, untröstlich. Er tadelte sie, hieß sie aufstehen und befahl ihr, sofort nach Hause zu gehen, sofort; denn es sei Nacht. »Wo wohnt Ihr?«
»Ach Herr Doktor, ich habe ein Häuschen, dort unten am Ausgang der Ortschaft. Ich habe diese Elende gebeten, an meine Söhne zu schreiben, daß ich es ihnen noch zu Lebzeiten überlassen würde, wenn sie zurückkämen. Gelacht hat sie, die Unverschämte, weil es nichts ist als vier Wände aus Lehm und Rohr. Aber ich …«
»Schon gut, schon gut«, schnitt der Arzt wieder ab. »Geht schlafen! Morgen werden wir auch das mit dem Hause schreiben. Auf jetzt, kommt, ich begleite Euch.«
»Gott segne Sie, Herr Doktor! Was sagen Sie! Mich begleiten wollen Euer Gnaden? Gehen Sie, gehen Sie nur voran! Ich bin alt und gehe langsam.« Der Arzt wünschte ihr gute Nacht und ging weiter. Maragrazia folgte ihm in einiger Entfernung. Als sie an das Haustor kam, in das sie ihn hatte eintreten sehen, blieb sie stehen, legte sich das Tuch um den Kopf, wickelte sich fest ein, und ließ sich auf der kleinen Stufe vor der Tür nieder, um dort wartend die Nacht zu verbringen.
Bei Morgengrauen schlief sie, als der Arzt, der immer früh war, ausging, um die ersten Besuche zu machen. Da das kleine Haustor nur einen Flügel hatte, fiel ihm die schlafende Alte, die sich dort angelehnt hatte, beim Öffnen vor die Füße.
»O je, Ihr seid es! Habt Ihr Euch weh getan?«
»Ver... Vergebung, Euer Gnaden«, stammelte Maragrazia und nahm die beiden, im Tuch verwickelten Hände zu Hilfe, um sich aufzurichten.
»Habt Ihr die ganze Nacht hier zugebracht?«
»Jawohl … Es macht nichts, ich bin daran gewöhnt«, entschuldigte sich die Alte. »Was wollen Sie, lieber junger Herr? Ich kann mich nicht beruhigen, kann mich über den Betrug dieser Nichtswürdigen nicht beruhigen. Umbringen könnte ich sie, Herr Doktor. Sie hätte mir ja sagen können, daß ich sie mit meinen Briefen langweile. Dann wäre ich zu jemand anderem gegangen. Zu Euer Gnaden wäre ich gekommen, der Sie so gut sind …«
»Nun, so wartet hier ein wenig«, sagte der Arzt. »Ich werde jetzt bei der guten Frau vorbeigehen. Und dann schreiben wir den Brief. Wartet!«
Und eilends ging er, wie die Alte ihm am Abend vorher bedeutet hatte. Der Zufall wollte, daß er Ninfarosa selbst, die schon auf der Straße war, nach der Adresse der Frau fragte, mit der er sprechen wollte.
»Da bin ich, ich bin es selbst, Herr Doktor«, entgegnete Ninfarosa lachend und errötend und bat ihn einzutreten.
Sie hatte den jungen Arzt mit dem fast kindlichen Aussehen mehrmals auf der Straße vorbeigehen sehen, und da sie sehr gesund war und sich auch nicht denken konnte, daß sie ihn einmal für sich gebrauchen sollte, so war sie erfreut, allerdings auch überrascht, daß er von sich aus kam, um mit ihr zu reden. Als sie erfuhr, um was es sich handelte, und ihn erregt und streng sah, beugte sie sich mit einem Ausdruck des Bedauerns über die Sorgen, die er sich, weiß Gott ohne Grund mache, etwas zudringlich vor und unterbrach ihn, sobald es ohne Unhöflichkeit anging:
»Aber verzeihen Sie, Herr Doktor«, sagte sie, ihre schönen, schwarzen Augen halb schließend. »Sie grämen sich im Ernst um die alte Närrin? Hier im Ort kennt sie jeder, Herr Doktor, und niemand kümmert sich mehr um sie. Fragen Sie, wen Sie wollen, und alle werden Ihnen sagen, daß sie verrückt ist, richtig verrückt, und zwar seit vierzehn Jahren, seitdem die beiden Söhne nach Amerika abgereist sind. Sie will nicht zugeben, was die Wahrheit ist, nämlich, daß sie sie vergessen haben, und will immer noch schreiben und wieder schreiben. Um sie nun zufriedenzustellen, begreifen Sie, tue ich so, als schriebe ich den Brief, und die Abreisenden tun so, als nähmen sie ihn mit, um ihn abzugeben; und so gibt die arme Alte sich einer Täuschung hin. Aber wenn wir es alle so machen wollten wie Sie jetzt, lieber Herr Doktor, dann könnten wir uns nicht mehr retten. Sehen Sie, ich bin auch von meinem Mann verlassen worden, jawohl. Und wissen Sie auch, was für eine Frechheit dieser edle Herr besessen hat? Sein Konterfei und das seiner Schönen von drüben hat er mir geschickt. Ich kann es Ihnen zeigen. Die beiden stehen da, lehnen die Köpfe aneinander und verschränken die Hände … so … erlauben Sie! geben Sie mir Ihre Hand! … so … Und sie lachen, lachen dem Betrachter ins Gesicht, das heißt soviel wie mir. Ach, Herr Doktor, die Abreisenden genießen alle Teilnahme, und der Zurückbleibende hat gar nichts. Auch ich habe in der ersten Zeit geweint, das weiß jeder, aber dann habe ich mich abgefunden und jetzt -- ja, jetzt suche ich zu leben, und wenn es sich macht, auch zu genießen, da die Welt nun einmal so ist.«
Durch die aufdringliche Freundlichkeit und das Entgegenkommen, das diese Frau zeigte, verwirrt, schlug der junge Arzt die Augen nieder und sagte: »Ja, vielleicht weil Ihr zu leben habt, während die Arme …«
»Ach was, die?« entgegnete Ninfarosa munter. »Die hätte auch zu leben, ein Schlaraffenleben könnte sie führen, wenn sie nur wollte. Aber sie will nicht.«
»Wieso?« fragte der Doktor, verwundert aufsehend. Als Ninfarosa sein hübsches Gesicht so verblüfft sah, brach sie in ein Lachen aus, und die kräftigen, weißen Zähne, die dabei zum Vorschein kamen, gaben diesem Lachen die strahlende Anmut, die nur Gesundheit hat.
»Es ist so«, sagte sie. »Sie will nicht, Herr Doktor. Sie hat noch einen andern Sohn hier, den jüngsten, der sie aufnehmen und es ihr an nichts fehlen lassen würde.«
»Noch einen Sohn? Sie?«
»Jawohl -- er heißt Rocco Trupìa. Sie will nichts von ihm wissen.«
»Und warum?«
»Weil sie närrisch ist, ich sage es Ihnen ja. Sie weint Tag und Nacht um die beiden, die sie verlassen haben, und nimmt auch nicht ein Stück Brot von dem andern, der sie mit gefalteten Händen anfleht. Von Fremden -- ja.«
Um nicht noch einmal verblüfft zu erscheinen und seine zunehmende Verwirrung zu verbergen, runzelte der Arzt die Stirn und sagte:
»Vielleicht hat dieser Sohn sie schlecht behandelt.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Ninfarosa. »Häßlich ist er allerdings und stets mißmutig, aber nicht schlecht. Und ein Arbeiter! Arbeit, Frau und Kinder, anderes kennt er nicht. Wenn Euer Gnaden Ihre Neugier befriedigen wollen, so haben Sie nicht weit zu gehen. Sehen Sie, Sie brauchen nur dieser Straße zu folgen, dann finden Sie kaum eine viertel Meile nach Verlassen des Ortes zur Rechten ein Haus, das sie Casa della Colonna heißen. Da wohnt er. Er hat ein schönes Grundstück gepachtet, das ihm gut einträgt. Gehen Sie hin, und Sie werden sehen, daß es so ist, wie ich sage.«
Der Arzt erhob sich. Durch das Gespräch ermuntert und durch den milden Septembermorgen angeregt, nahm er mehr Anteil am Schicksal der Alten als vorher und versprach: »Ich werde hingehen.«
Ninfarosa legte die Hände in den Nacken und ordnete das Haar an der silbernen Spange. Dabei blinzelte sie dem Arzt mit ihren lachenden, vielsagenden Augen zu und sagte: »Guten Spaziergang also! Und stets zu Ihren Diensten!«
*
Als der Aufstieg überwunden war, blieb der Arzt stehen und holte Atem. Noch ein paar kümmerliche Häuschen, dann war der Ort zu Ende. Die alte Gasse mündete in die Landstraße, die mehr als eine Meile gerade und staubig durch eine ausgedehnte Hochebene lief, an Feldern vorbei, größtenteils Weizenäckern, die jetzt in gelben Stoppeln standen. Zur Linken erhob sich wie ein riesiger Schirm eine prächtige Seepinie, das Ziel der jungen Herren aus Farnia bei ihren üblichen Abendspaziergängen. Eine lange Kette bläulich schimmernder Berge begrenzte in der Ferne die Hochebene. Dichtes, weiches, schneeweißes Gewölk stand hinter ihnen wie auf der Lauer. Jetzt löste sich eine Wolke, zog langsam über den Himmel und schwebte über den Monte Mirotta, der hinter Farnia aufstieg. Der Berg wurde dabei durch einen tiefen, blauen Schatten verdunkelt, hellte sich aber gleich wieder auf. Die morgendliche Stille wurde hin und wieder durch Schüsse von Jägern unterbrochen, die dem Zug der Turteltauben oder dem ersten Aufsteigen der Lerchen nachgingen, und diesen Schüssen folgte das lange, wütende Gebell der Wachhunde.
Der Arzt schritt rüstig auf der Landstraße dahin und ließ den Blick über das dürre Land schweifen, das des ersten Regens harrte, um bearbeitet zu werden. Allein es fehlte an Händen, und all diese Felder atmeten tiefe Schwermut und Verlassenheit. Da unten lag jetzt die Casa della Colonna, so genannt, weil sie an einer Ecke von der zerschundenen und verstümmelten Säule eines alten griechischen Tempels gestützt wurde. Eigentlich war es nichts als eine elende Hütte, eine »Kate«, wie die sizilianischen Bauern ihre ländlichen Wohnungen nannten. Hinten wurde es durch eine dichte Kaktushecke geschützt; vorne standen zwei mächtige, kegelförmige Strohhaufen.
»Ist jemand in der ›Kate‹?« rief der Arzt, der sich vor den Hunden fürchtete, und blieb vor dem verrosteten und im Umsinken begriffenen Gitter stehen. Ein Bürschchen von etwa zehn Jahren erschien, barfuß, mit einem Wald rötlicher, durch die Sonne verfärbter Haare und einem Paar grünlicher Augen, die an ein Waldtier erinnerten.
»Ist der Hund da?« fragte der Arzt.
»Er ist da, aber er tut nichts. Er ›tennt‹ dich«, antwortete der Junge.
»Bist du der Sohn von Rocco Trupìa, du?«
»Jawohl.«
»Wo ist dein Vater?«
»Er nimmt den Dünger vom ›Tarren‹ mit den Maultieren.«
Auf der Steinbank vor der ›Kate‹ saß die Mutter und kämmte das größere Mädchen, das etwa zwölf Jahre zählen mochte. Es hockte auf einem umgedrehten Milcheimer und hielt ein wenige Monate altes Baby auf dem Schoß. Ein anderes Kind spielte auf der Erde, mitten unter den Hühnern, die ganz zutraulich waren, zum Ärger eines schönen Hahnes, der kerzengerade dastand, den Hals reckte und mit dem Kamm wackelte.
»Ich möchte mit Rocco Trupìa sprechen«, sagte der junge Doktor zur Frau. »Ich bin der neue Gemeindearzt.«
Die Frau betrachtete ihn eine Weile verlegen, weil sie nicht begriff, was dieser Arzt bei ihrem Mann zu suchen hatte. Dann barg sie das grobe Hemd unterm Kleid, das vom Nähren des Kleinen her offen geblieben war, knöpfte dies zu und erhob sich, um einen Stuhl anzubieten. Der Arzt dankte und bückte sich, um das Kind an der Erde zu streicheln. Indessen lief der Junge fort, um den Vater zu rufen, gleich darauf hörte man das Scharren von großen Nagelstiefeln, und zwischen den Kakteen erschien Rocco Trupìa. Er ging gebückt, O-beinig und mit einer Hand im Rücken, wie die meisten Landleute. Die breite Quetschnase und die zu lange, hochgezogene, rasierte Oberlippe gaben ihm ein affenähnliches Aussehen. Er hatte rotes Haar und eine blasse, mit Sommersprossen übersäte Gesichtshaut. In den tiefliegenden, grünlichen Augen zuckte hin und wieder ein finsterer, scheuer Blick auf.
Er hob eine Hand, um die schwarze Strumpfmütze ein wenig aus der Stirn zu schieben. Das war sein Gruß. »Ich küsse Euer Gnaden die Hand. Was für Befehle haben Sie für mich?«
»Ich bin gekommen,« begann der Arzt, »um über Eure Mutter zu sprechen.«
Rocco Trupìa wurde unruhig:
»Geht es ihr schlecht?«
»Nein«, fügte jener schnell hinzu. »Es geht ihr wie immer, aber so alt, so zerlumpt, so ohne Pflege …« Während der Arzt sprach, wurde die Unruhe Rocco Trupìas immer größer. Zuletzt vermochte er nicht länger an sich zu halten und sagte:
»Haben Sie noch andere Befehle für mich, Herr Doktor? Ich bin zu Ihrer Verfügung. Wenn Euer Gnaden aber gekommen sind, um von meiner Mutter zu sprechen, so bitte ich, mich zu entlassen, und ich kehre zu meiner Arbeit zurück.«
»Wartet … Ich weiß, daß es nicht an Euch liegt«, sagte der Arzt, um ihn zurückzuhalten. »Man hat mir sogar erzählt, daß Ihr …«
»Kommen Sie, Herr Doktor«, rief Rocco Trupìa jetzt unvermittelt, während er aufsprang und auf die Tür der ›Kate‹ wies. »Die Behausung armer Leute, aber wenn Euer Gnaden Arzt sind, werden Sie wohl schon viele der Art gesehen haben. Ich will Ihnen das Bett zeigen, das für die … gute Alte immer fertig dasteht. Sie ist meine Mutter, ich darf sie nicht anders nennen. Hier ist meine Frau und hier sind meine Kinder; die können bezeugen, wie ich ihnen ans Herz gelegt habe, der Alten zu Diensten zu sein und sie der Heiligsten Maria gleich zu ehren. Denn die Mutter heilig, Herr Doktor! Aber was habe ich dieser Mutter getan? Warum muß sie mich so vor dem ganzen Ort in Schande bringen und die Leute wer weiß was von mir glauben lassen? Ich bin mit Verwandten meines Vaters groß geworden, Herr Doktor, und eigentlich brauchte ich sie nicht wie eine Mutter zu ehren, denn sie ist stets hart gegen mich gewesen. Aber ich habe ihr trotzdem Ehrerbietung und Liebe bezeigt. Als ihre ungeratenen Söhne nach Amerika abgereist waren, bin ich gleich hingelaufen, um sie zu holen und als die Königin meines Hauses hierher zu bringen. Aber nein! Sie muß die Bettlerin spielen, hier im Ort, muß den Leuten dieses Schauspiel und mir diese Schande bereiten. Ich schwöre Ihnen, Herr Doktor: wenn einer von diesen Herrn Söhnen nach Farnia zurückkehrt, bringe ich ihn um für all die Schande und all den Verdruß, den ich seit vierzehn Jahren um ihretwillen erdulde. Ich bringe ihn um, so wahr ich hier mit Ihnen spreche, im Beisein meiner Frau und dieser vier Unschuldigen!«
Bebend und ganz weiß im Gesicht, wischte Rocco Trupìa sich mit dem Ärmel den schäumenden Mund ab. Seine Augen waren blutunterlaufen.
Der junge Arzt sah ihn eine Weile zornig an.
»Ich begreife,« sagte er dann, »daß Eure Mutter die Gastfreundschaft nicht annehmen will, die Ihr anbietet; nämlich des Hasses wegen, den Ihr gegen Eure Brüder nährt. Das ist klar.«
»Haß?« hauchte Rocco Trupìa, während er im Rücken die Fäuste ballte und sich vorbeugte. »Jetzt ja, Herr Doktor, jetzt hasse ich sie, um dessen willen, was sie meiner Mutter und mir angetan haben. Aber früher, als sie noch hier waren, liebte und achtete ich sie als meine älteren Brüder. Sie dagegen waren wie zwei Kaine für mich. Hören Sie! Sie arbeiteten nicht, ich aber arbeitete für alle. Sie kamen hierher, um mir zu sagen, daß sie für den Abend nichts zum Kochen hätten, daß die Mutter mit leerem Magen zu Bett gehen müsse, ich aber gab ihnen; sie betranken sich und verpraßten das Geld mit Weibern, ich aber gab ihnen; und als sie nach Amerika reisten, zog ich mir das letzte Hemd für sie vom Leibe. Hier steht meine Frau und kann es bezeugen.«
»Warum denn also?« wiederholte, gleichsam für sich, der Arzt.
Rocco Trupìa brach in ein Schluchzen aus:
»Warum? Weil meine Mutter sagt, daß ich nicht ihr Sohn sei.«
»Was heißt das?«
»Lassen Sie es sich von ihr erklären, Herr Doktor, ich habe keine Zeit zu versäumen. Dort erwarten mich die Männer mit den düngerbeladenen Maultieren. Ich muß arbeiten. Sehen Sie, ich bin ganz außer mir. Lassen Sie es sich von ihr sagen. Ich küsse Ihnen die Hand!«
Und Rocco Trupìa ging davon, wie er gekommen war: gebückt, O-beinig und die Hand im Rücken. Der Arzt folgte ihm ein Stück mit den Augen, drehte sich dann um und betrachtete die bestürzten Kinder und die Frau. Diese faltete die Hände, und während sie sie ein wenig schüttelte und die Augen halb zumachte, tat sie den bitteren Seufzer aller Ergebenen: überlassen wir es Gottes Fügung!
*
Am Ort wieder angelangt, wollte der Arzt sich sogleich über diesen seltsamen Fall, der ihn kaum glaublich dünkte, Klarheit verschaffen, und da er die Alte auf der Schwelle seines Hauses noch so fand, wie er sie verlassen hatte, bat er sie mit einer gewissen Härte in der Stimme, zu ihm heraufzukommen.
»Ich habe mit Eurem Sohn gesprochen, in der Casa della Colonna,« sagte er. »Warum habt Ihr mir verheimlicht, daß Ihr dort noch einen Sohn habt?«
Maragrazia sah ihn erst verwirrt, dann halb versteinert an, strich mit den zitternden Händen über Stirn und Haare und sagte:
»Ach junger Herr, mir bricht der kalte Schweiß aus, wenn Euer Gnaden von dem Sohn sprechen. Tun Sie es nicht, um des Himmels willen!«
»Weshalb denn nicht?« fragte der Arzt zornig. »Was hat er Euch getan? Heraus mit der Sprache!«
»Nichts hat er mir getan«, beeilte sich die Alte zu erwidern. »Das muß ich anerkennen, um der Wahrheit willen. Er hat sich mir sogar stets voll Ehrerbietung genähert … Aber ich … Sehen Sie nur, wie ich zittere, lieber junger Herr, wenn ich nur von ihm rede. Ich kann nicht von ihm sprechen, denn dieser Mensch, Herr Doktor, ist nicht mein Kind.«
Der junge Arzt verlor die Geduld und wetterte:
»Wieso ist er nicht Euer Kind? Was redet Ihr denn? Seid Ihr wirklich einfältig oder närrisch? Habt Ihr ihn denn nicht geboren?«
»Doch, doch, und vielleicht bin ich einfältig; närrisch bin ich nicht. Aber, wollte Gott, ich wäre es, dann brauchte ich nicht so zu leiden. Gewisse Dinge kennen Euer Gnaden nicht, weil Sie noch ein Knabe sind. Ich habe weiße Haare, ich leide seit so langer Zeit und habe Sachen erlebt, Sachen, mein lieber junger Herr, die Euer Gnaden sich nicht einmal vorstellen können.«
»Was habt Ihr denn erlebt? Redet!« drängte der Arzt.
»Grausige Dinge, grausige Dinge«, seufzte die Alte kopfschüttelnd. »Euer Gnaden waren von Gott noch nicht einmal beabsichtigt, da sah ich sie mit diesen Augen, die seitdem manche blutige Träne geweint haben. Haben Euer Gnaden je von einem gewissen Canebardo reden hören?«
»Garibaldi?« fragte der Arzt erstaunt.
»Jawohl, er kam in unsere Gegend und wiegelte Dörfer und Städte gegen jedes menschliche und göttliche Gesetz auf. Haben Sie von ihm gehört?«
»Gewiß, gewiß. Fahrt fort! Wieso gehört Garibaldi hierher?«
»Er gehört hierher, weil Euer Gnaden wissen müssen, daß dieser Canebardo, als er kam, den Befehl erließ, sämtliche Kerker sämtlicher Ortschaften zu öffnen. Nun stellen sich Euer Gnaden vor, welche Geißel Gottes da in unserem Lande wütete! Die ärgsten Diebe, die ärgsten Mörder, wilde, blutgierige, durch all die Jahre der Gefangenschaft toll gewordene Bestien. Unter anderen war da einer, der grausamste, ein gewisser Cola Canuzzi, Räuberhauptmann, der die armen Geschöpfe Gottes so zum Vergnügen umbrachte, als wären es Fliegen; um sein Pulver zu erproben, wie er sagte, oder um zu sehen, ob sein Karabiner gut geladen sei. Dieser warf sich aufs Land und in unsere Gegend. Er kam auch durch Farnia, mit einer Bande, die sich aus Bauern gebildet hatte; allein er war nicht zufrieden, wollte mehr und mordete alle, die ihm nicht bereitwillig folgten. Ich war seit wenigen Jahren verheiratet und hatte schon die beiden Kinderchen, die jetzt drüben in Amerika sind, mein Fleisch und Blut. Wir wohnten auf den Ländereien von Pozzetto, die mein seliger Mann in Halbpacht hatte. Cola Canuzzi kam dorthin und schleppte ihn, meinen Gatten, gleichfalls mit Gewalt fort. Zwei Tage später sah ich ihn wie tot heimkehren. Er schien nicht mehr er selbst. Er konnte nicht reden, aber seine Augen sprachen von allem, was er gesehen hatte, und er versteckte die Hände, so schauderte ihn vor dem, was er hatte tun müssen … Ach, mein lieber junger Herr, das Herz drehte sich mir im Leibe um, wie ich ihn so vor mir sah. ›Mein Nino‹, rief ich ihm zu -- dem Seligen! -- ›Mein Nino, was hast du getan?‹ Aber er konnte nicht reden. ›Bist du entlaufen? Und wenn sie dich jetzt erwischen? Umbringen werden sie dich.‹ Das Herz warnte mich, das Herz. Er aber saß unbeweglich am Feuer und hielt die Hände immer so unter der Jacke versteckt, und sein Blick war der eines Irrsinnigen. Als er lange vor sich hin auf den Boden gestarrt hatte, sagte er endlich: ›Lieber tot sein!‹ Sonst sagte er nichts. Drei Tage hielt er sich versteckt. Am vierten ging er aus. Wir waren arm, er mußte arbeiten. So ging er denn an die Arbeit. Es wurde Abend, er kehrte nicht zurück. Ich wartete und wartete. O Gott! Ich hatte es ja gewußt, ich hatte es mir ja so vorgestellt. Trotzdem dachte ich: Wer weiß. Vielleicht haben sie ihn doch nicht umgebracht, vielleicht haben sie ihn nur zurückgeholt. -- Nach sechs Tagen erfuhr ich, daß Cola Canuzzi sich mit seiner Bande im Lehen von Montelusa aufhalte, dem Eigentum der jetzt geflohenen Liguoriner Mönche. Dahin machte ich mich auf, wie eine Wahnsinnige. Von Pozzetto hatte man mehr als sechs Meilen auf der Landstraße zu gehen. Es herrschte ein Wind, junger Herr, wie ich ihn in meinen Tagen nicht wieder erlebt habe. Kann man den Wind sehen? Nein. Aber an dem Tage sah man ihn. Es war, als riefen die Seelen all der Ermordeten den Menschen und Gott Rache zu. Völlig zerzaust überließ ich mich diesem Wind, und er trug mich. Ich heulte lauter als er, ich flog. Kaum eine Stunde werde ich gebraucht haben, um das Kloster zu erreichen, das da oben ganz zwischen lauter dunklen Pappeln lag. Ich gelangte an einen großen ummauerten Hof. Man trat durch eine winzige, seitlich gelegene Tür ein, die, ich weiß es noch genau, von einem üppigen Kapernstrauch halb verdeckt wurde, der in der Mauer Wurzel geschlagen hatte. Ich ergriff einen Stein, um lauter zu klopfen, und klopfte und klopfte. Sie wollten nicht öffnen. Ober ich klopfte so stark, daß sie es schließlich doch taten. Und was erblickte ich da!«
An dieser Stelle erhob sich Maragrazia, von Schauder übermannt, mit weit aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen, und an der Hand, die sie ausstreckte, krümmten sich die Finger vor Grausen. Anfangs fehlte ihr die Stimme, um fortzufahren.
»In der Hand …«, sagte sie dann, »in der Hand … die Mörder …«
Wieder hielt sie inne, wie erstickt, und bewegte ihre Hand, als wolle sie etwas von sich werfen. »Nun?« fragte der Arzt, der ganz bleich geworden war. »Sie spielten Boccia, dort im Hof … aber mit Menschenköpfen … die waren schwarz und voll Erde … bei den Haaren hatten sie sie gepackt … und einen, den meines Mannes … hatte er, Cola Canuzzi, in der Hand … und hielt ihn mir entgegen. Ich stieß einen Schrei aus, der mir Kehle und Brust zerschnitt, einen so lauten Schrei, daß sogar die Mörder zu zittern anfingen, und als Cola Canuzzi mir die Hände um den Hals legte, um mich zum Schweigen zu bringen, fiel einer von hinten wütend über ihn her. Dadurch mutig gemacht, stürzten sich noch vier, fünf, zehn andere auf ihn und nahmen ihn in ihre Mitte. Sie hatten genug, auch sie empörten sich gegen die grausame Gewaltherrschaft des Ungeheuers, Herr Doktor, und ich hatte die Genugtuung, daß der Hund, der Mörder, vor meinen Augen von den eigenen Kumpanen erdrosselt wurde.«
Die Alte ließ sich erschöpft und keuchend auf den Stuhl nieder. Sie war nichts als ein einziges, krampfartiges Zittern.
Der junge Arzt betrachtete sie entsetzt. Mitleid, Schrecken und Grausen hatten sein Gesicht verfärbt. Als jedoch die erste Starrheit vorüber war und er seinen Gedanken wieder zu folgen vermochte, wußte er nicht recht, welchen Zusammenhang diese fürchterliche Geschichte mit dem dritten Sohn haben konnte, und er fragte sie danach.
»Sehen die,« erwiderte die Alte, sobald sie Atem geschöpft hatte, »der sich zuerst empörte und meine Verteidigung übernahm, hieß Marco Trupìa.«
»Ah«, rief der Arzt aus. »Dieser Rocco also …«
»Ist sein Sohn«, ergänzte Maragrazia. »Und nun überlegen Sie, Herr Doktor, ob ich das Weib dieses Mannes werden konnte, nach dem, was ich gesehen hatte. Er wollte mich mit Gewalt. Drei Monate schleppte er mich mit, gebunden und geknebelt; denn ich schrie und biß … Nach drei Monaten fiel er der Gerechtigkeit in die Hände und wurde auf die Galeeren gebracht, wo er bald darauf starb. Allein ich war schwanger. O mein lieber junger Herr, ich schwöre Ihnen, daß ich mir die Eingeweide herausreißen wollte. Mir war, als hätte ich ein Ungeheuer zu gebären. Ich fühlte, daß ich es nicht würde im Arm halten können; bei dem bloßen Gedanken, daß ich es mir an die Brust legen sollte, schrie ich wie eine Wahnsinnige. Ich war am Rand des Todes, als ich es zur Welt brachte. Meine selige Mutter stand mir bei und gab acht, daß ich es gar nicht zu Gesicht bekam. Sie brachte es sofort zu Verwandten von ihm, die es aufzogen. Dünkt Sie nun nicht, Herr Doktor, daß ich sagen darf, daß dies nicht mein Sohn ist?«
Der junge Arzt, in Gedanken vertieft, zögerte eine Weile mit der Antwort. Dann sagte er:
»Aber welche Schuld trifft schließlich Euern Sohn?«
»Keine«, entgegnete sogleich die Alte. »Und hätten meine Lippen je ein einziges Wort gegen ihn geäußert? Nie, Herr Doktor! Im Gegenteil … Allein was kann ich tun, wenn ich es nicht fertigbringe, ihn auch nur aus der Ferne anzusehen? Er ist ganz sein Vater, junger Herr, in den Gesichtszügen, der Statur, sogar der Stimme nach … Ich fange an zu zittern, sobald ich ihn gewahre, und der kalte Schweiß bricht mir aus. Das bin ich nicht, nein, mein Blut bäumt sich dagegen auf. Was kann ich also tun?«
Sie schwieg einen Augenblick und wischte sich indessen mit dem Handrücken die Augen. Da sie aber besorgte, der Zug der Auswanderer möchte von Farnia ohne den Brief für ihre echten, ihre angebeteten Kinder abgehen, faßte sie Mut und sagte zu dem noch immer in Gedanken versunkenen Doktor:
»Wenn Euer Gnaden mir den Gefallen tun wollten, den Sie mir zugesagt haben …«
Und als der Arzt sich schüttelte und erklärte, daß er bereit sei, rückte sie ihren Stuhl an den Schreibtisch und begann noch einmal mit tränenerstickter Stimme zu diktieren: »Liebe Kinder …«