Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuigkeiten aus der Welt

Drei Stunden mit den Ellenbogen auf dem Tisch, den Kopf zwischen den Händen, und dann im ganzen zwei schmutzige Tränen. So ist es. Lange genug habe ich mein Herz ausgepreßt. Da sind sie nun im Taschentuch; aus den Augenwinkeln gedrückt. Zwei richtige Tränen. Als gute Freunde, lieber Momo, wollen wir sie teilen; eine für den Toten, eine für den Lebenden. Besser wäre es allerdings, glaub mir, ich behielte sie alle beide für mich.

Ich bin wie eine im Umsinken begriffene Mauer, lieber Momo, der eine barbarische Hand die letzte Stütze genommen hat. (Gut gesagt: barbarische Hand, nicht wahr?) Aber du weißt, ich kann nicht weinen. Ich versuche es, aber alles, was ich erreichen kann, ist, daß ich noch häßlicher werde und mich lächerlich mache.

Weißt du, was für ein guter Gedanke mir nun gekommen ist? Mich jeden Abend von hier aus, dem Tod zum Trotz, mit dir zu unterhalten, dich von allem zu benachrichtigen, was in dieser schmutzigen, alten Welt geschieht, die du verlassen hast, was man sich erzählt und was mir durch den Kopf geht. Und es wird mir vorkommen, als verlängerte ich dir das Leben, wenn ich dich durch die gleichen Fäden wieder mit ihm verknüpfe, die der Tod zerrissen hat.

Ich finde kein anderes Mittel gegen meine Einsamkeit. Im Kloster deiner Freundschaft zum Mönch mit Klausurzwang geworden, ist nichts in mir für eine, wenn auch noch so entfernte Beziehung zu andern lebenden Geschöpfen verfügbar geblieben. Und jetzt … Siehst du mich? Jetzt, wo ich für dich nicht mehr so viel zu tun habe wie in den drei Tagen nach deinem Tode, jetzt bin ich allein, allein in dem Hause, das ich nicht als das meine ansehe, denn mein eigentliches Haus war das deine.

Oh, du wirst sehen, was für herrliche Vergleiche ich mache, wenn ich mich richtig ins Zeug lege. Einstweilen denke an die im Umsinken begriffene Mauer, die barbarische Hand, und nicht zuletzt an den Mönch mit Klausurzwang.

Ich habe eine Lampe gekauft. Siehst du sie? Schön ist sie, aus Porzellan, mit einem geschmirgelten Globus. Früher spürte ich kein Bedürfnis danach, denn ich verbrachte die Abende mit dir, und um ins Bett zu finden, genügte mir ein Kerzenstümpfchen, das ich häufig von dir bekam.

Jetzt ist die Stille so groß, lieber Momo, daß ich sie summen höre. Ein Summen, weißt du, wie die Ohren von sich geben, wenn sie verstopft sind. Ach, die deinen sind jetzt regelrecht verstopft, mein alter Momo. Und wirklich bilde ich mir ein, dieses Summen komme aus weiter Ferne, von da, wo du bist. Und nun lausche ich ihm mit Vergnügen, gehe ihm in Gedanken nach, weiter und immer weiter, bis … sieh an, Momo, da ist sie … die dritte Träne der verzweifelten Melancholie. Aber die bleibt für mich, wenn du gestattest; ich fühle mich wirklich recht einsam.

Vorwärts, vorwärts! Ich möchte dich das Leben noch einmal richtig sehen und fühlen lassen, bis zum Wetter, das wir haben, ja, bis zu den kleinsten Veränderungen, die hier vor sich gehen. Denn wenn diese schauderhafte Welt ohne all die leben kann und mag, die sie verlassen, ich kann und mag ohne dich nicht leben; und deshalb will ich, daß die Welt, dem Tod zum Trotz, für dich weiter dauere, und du für sie. Andernfalls werde auch ich auf und davon gehen, und gute Nacht! Ich werde gehen, weil ich dann keinen Grund mehr sehe, hier zu bleiben.

Mein Leben ist ohnehin stets so gewesen: ein Aufblitzen, um eine Dummheit zu beleuchten. Klar zu sehen habe ich nie vermocht. Von Zeit zu Zeit eine Helligkeit, aber um was zu entdecken? Eben eine Dummheit. Das ist das Gewissen, lieber Momo, das plötzlich da ist, das Bewußtwerden einer Gemeinheit, die wir gesagt oder begangen, neben den vielen, die wir im Dunkel nicht bemerkt haben.

Ich will also der neugierigste Mensch der Erde werden, will horchen, spionieren, will den ganzen Tag herumlaufen, um Neuigkeiten und Eindrücke zu sammeln, die ich dir abends dann ordnungsgemäß mitteilen werde. So viel Leben, wie mir entgeht, wird dir auch entgehen; das Leben der andern Länder zum Beispiel. Ich will jedoch, was ich nie getan habe, dir zu Gefallen Zeitungen lesen und werde dir dann berichten, ob unsere teure Schwester Frankreich, ob das übermütige Deutschland …

Ach mein Gott, Momo, vielleicht interessieren dich politische Nachrichten gar nicht mehr. Aber nein, das ist nicht möglich, die waren hier fast dein ganzes Leben, und wir müssen es wieder so machen wie jeden Abend, wenn der Portier dir nach dem Abendessen das Tagesblatt heraufbrachte und du beim Lesen irgendeiner Notiz gewaltig mit der Faust auf den Tisch schlugst, daß ich ganz bestürzt zwischen den tanzenden Gläsern und deinen großen Augen saß, die mich über die auf deiner dicken Nase etwas schief sitzende Brille hinweg anstarrten. Auf mich wurdest du wütend und fuhrst mich an, als stelle ich Ärmster, der ich mich nie um Politik gekümmert habe, in deinen Augen das italienische Volk vor:

»Die Feiglinge! Die Feiglinge!«

Und der Abend, an dem du, schrecklich erbittert, deine Auszeichnungen aus der Garibaldizeit vom Balkon in den Fluß hinunterwerfen wolltest! War das ein Wetter! Es goß in Strömen. Als ich dich so entflammt sah, gab ich die Meinung kund, es verlohne sich für diese Hunde von Italienern nicht, eine Krankheit zu riskieren und bei dem Regen auf den Balkon zu gehen; entsinnst du dich? Wie du mich da ansahst! Aber, weißt du, ich bewunderte dich. Ich bewunderte dich gewaltig, und du kamst mir in solchen Augenblicken wie ein Junge vor. Manchmal konnte ich auch nicht unterlassen, es dir zu sagen, aber dann wurdest du wütend und gingst bis zu Beleidigungen, wenn ich deinen glühenden Zornesausbrüchen mein schönes, rundes, lächelndes und erhitztes Vollmondgesicht entgegenhielt. Zuweilen brachte ich dich ganz aus dem Häuschen, und du warfst mir schöne Dinge an den Kopf. Wenn es am schlimmsten ging, fragte ich dich in aller Ruhe:

»Und wie begründest du das?«

Du darauf krebsrot und mit heraustretenden Augen:

»Ich begründe es damit, daß du ein Esel bist.«

Wie mich das belustigte! Und noch klingt mir deine Stimme in den Ohren, wenn du mir mit geschlossenen Augen sagtest, als habest du es auswendig gelernt:

›Für laue und faule Seelen wie die deine, für Seelen, die nichts aus sich herauszuholen verstehen, muß wahrlich alles stumm und ohne Wert sein.‹ Und dies sagtest du, weil ich in meiner Seele nicht die reine, begnadete Unbefangenheit zu finden vermochte, die du aus der deinen nahmst, um Menschen und Dinge damit zu umkleiden. Ja, wie oft sah ich dich nicht mit dem weißen Gewand deiner Aufrichtigkeit irgendein böses Tier schmücken, das dich erst durch einen Biß oder Tritt über seine wahre Natur belehren mußte.

Allein du wolltest die Welt durchaus vollkommen gut und vollkommen schön sehen. Und zuweilen gelang es dir auch, denn Eigenschaften und Sinn der Dinge sind ja in uns, und eben daraus ergibt sich die Verschiedenheit von Geschmack und Meinung; und es folgt daraus auch, daß ich, wenn ich dich die Welt noch einmal sehen lassen will, mich bemühen muß, sie mit deinen Augen zu betrachten.

Wie mach ich das am besten?

Zunächst denke ich, daß dich das am meisten interessieren wird, was dir am nächsten stand, also dein Haus, deine Frau … O böser, böser Momo! Was für ein Verrat! Ich muß es dir sagen. Vieles im Leben habe ich dir verziehen. Aber das nicht, und ich werde es dir nie verzeihen. Ja, deine Frau! Wenn den Toten in der Muße des Grabes der Einfall käme, ein Register ihrer Sünden und Fehler aufzustellen, die sie im Laufe ihres Lebens begangen haben und nun bereuen, ein Register, das eines schönen Tages am hinteren Teil des Grabes erscheinen müßte, als Gegenstück zu den Lügen, die oft in den Stein geschnitten werden, dann brauchtest du auf deines nur zu setzen:

Ich heiratete mit sechsundfünfzig Jahren eine Frau von dreißig.

Es würde genügen.

Höre, es scheint mir klar wie das Sonnenlicht, daß du nur ihretwegen so voreilig gestorben bist.

Ich will hier jetzt nicht die Gegengründe wiederholen, die ich dir vor fünf Jahren am schlimmsten Tag meines Lebens nannte, und denen zum Trotz du die traurigste aller Erfahrungen gemacht hast. Aber wieder frage ich: Warum? Was fehlte dir? Wir lebten beide so gut zusammen, lebten im schönsten Frieden. Nein. Die Frau. Zu behaupten, das Haus, wie wir es uns allmählich mit meinen alten Möbeln und mit den andern, bei Gelegenheit hinzugekauften, zurechtgemacht hatten, könne dir unmöglich genügen; und der schöne Altersstaub, mit dem sich für uns schon alle Dinge überzogen hatten, damit wir die Freude hätten, mit dem Finger das Wort Eitelkeit darauf zu schreiben; und die lieben stillen Gewohnheiten, die sich schon seit geraumer Zeit bei uns eingenistet hatten, bei uns und unsern kleinen Tieren, den beiden Kanarienvogelpaaren, für die ich sorgte, Ragnetta, für die du sorgtest -- weißt du noch, wie du sie oft streicheltest, wenn sie aufgeregt war, und wie sie dich dann kratzte? -- und den beiden dummen Schildkröten, Mann und Frau, Tarà und Tarù, die uns Anlaß zu hochweisen Betrachtungen dort auf dem blumengeschmückten Balkon gaben! Zu behaupten, heiliger Gott, du habest immer Verlangen nach einer Frau gehabt, wie Tarù, aber ich könne dich nicht verstehen, weil die Frauen für mich …

Verräter, Verräter und Schwärmer!

Hattest du nicht genau die gleiche Ansicht über die Frauen wie ich, bevor die schöne Mademoiselle aus den unteren Zimmern heraufkam, um sie von einem Augenblick zum andern umzustoßen? Sie kam mit der Ausrede, sie würde gern die Blumen auf dem Balkon sehen, die oben bei dir gediehen, während sie unten bei ihr in den Vasen auf dem Fensterbrett nicht gedeihen wollten.

Verwünschter Balkon!

»Nein, wie schön, nein, wie wundervoll! Und wer pflegt all diese Blumen so gut?«

Und du auf der Stelle:

»Ich!«

Als hätte ich mir nicht ganze Tage lang die Füße wund gelaufen, um all die Samen der Reihe nach für dich aufzutreiben, alter Undankbarer! Allein das Verlangen, dich bei der begeisterten Mademoiselle sofort in gutes Licht zu setzen …

Als ich in deinen winzigen Augen auf einmal einen Glanz entdeckte wie bei alten Trunkenbolden, und du in einem Lächeln zerschmolzest wie ein Dummkopf, bei meiner Ehre, da hätte ich dich am liebsten verprügelt. Und als sie erzählte, sie und die kranke Mama täten nichts anderes als von uns beiden und der Harmonie unseres Zusammenlebens sprechen, da beeilte ich mich zu sagen:

»Ja, zwei arme, alte Leute -- weißt du es noch?« -- und sah sie dabei mit einem Blick an, der sie vor Scham drei Fuß tief in den Erdboden versinken lassen sollte.

Du bemerktest es und fielst mir ins Wort, alter Esel -- verzeih, wenn ich offen bin --:

»Aber nein! Alt ist nur er, gnädiges Fräulein, und ein Brummbär und Störenfried dazu. Glauben Sie nur ja nicht an unser harmonisches Leben. Wenn Sie wüßten, wie er mich manchmal in Wut bringt.« Hand aufs Herz, verdiente ich das um dich?

Aber lassen wir es! Ich strafte dich. Das Haus, das ich seit fünf Jahren zur Miete habe, wurde deine Strafe. Trotzdem vermochte ich schon bald nach deiner Heirat nicht länger standhaft zu bleiben und begann wieder, fast den ganzen Tag bei dir zu sein. Aber ein Bett in deinem Hause? Nein, das nie mehr! Und jede Nacht, bevor ich dich verließ, betete ich zu allen Winden der Erde, sie möchten mit einem Orkan über Rom herfallen, damit du Gewissensbisse bekämst, wenn du mich armen Alten allein weggehen sähest, um wo anders zu schlafen, während mein Bett früher neben deinem stand und wir unser kleines Zimmer zusammen warm hielten. Ja, in einer von diesen stürmischen Regennächten, sieh, da wünschte ich, krank zu werden, um deine Gewissensqual zu steigern; sogar sterben wollte ich. Ja, ich habe das Gift dieser Wollust wirklich gekostet. Aber ich habe leider eine zähe Haut, und du bist statt meiner gestorben, durch ihre Schuld. Das ist nun einmal die Wahrheit.

Ach, Momino, Momino! Frankreich ist wirklich verderbt. Ohne es zu wollen, wird man hochtrabend oder süßlich, wenn man französisch redet, zumal wenn man von oder mit Frauen spricht. Das Fräulein von unten hatte kaum erfahren, daß du französischen Unterricht gibst, da wollte sie schon mit dir französisch sprechen:

»O que vous êtes gentil, Monsieur Momino, de m'apprendre à prononcer si poliment le français!«

Da siehst du es. Und jetzt fluche ich wieder dem Augenblick, an dem ich ohne dein Wissen mit Eifer daranging, dir den kleinen Posten an der Realschule zu verschaffen. Bei mir hätte es dir nie an irgend etwas gefehlt. Als Professor des Französischen aber, da wurdest du hochtrabend, glaubtest dir in deinem Alter noch eine Frau erlauben zu können und richtetest dich zugrunde.

Wir wollen nicht mehr daran denken. Du weißt, welche Gefühle ich für deine Frau hege. Sei trotzdem versichert, daß ich dir häufig auch über sie Nachricht geben werde.

Aber ich will die Fäden genau an den Augenblick wieder anknüpfen, an dem die Welt sich für dich auflöste, an den Augenblick, an dem du bei Tisch, während des Abendessens, unvermutet die Hand des Todes spürtest und auf meinen Ausruf: »Es ist nichts, es ist nichts« erwidertest:

»Es gilt, Abschied zu nehmen.«

Das waren deine letzten Worte. Am nächsten Tag warst du um neun Uhr morgens nach dreizehnstündigem Ringen tot.

Stets werde ich im Schweigen der Nacht das fürchterliche Röcheln deines letzten Kampfes zu hören glauben. Schrecklich, Momo, auf solche Art zu röcheln! Es schien mir nicht wahr, daß du das tatest. Und du hast dich ganz … o Gott, das Bett, das Hemd … Du warst sonst immer so sauber! Und das Pfeifen der Atemnot, das jeden, der in der Nähe war, zur Verzweiflung brachte, weil er dir nicht helfen konnte … Und nie, nie werde ich die düstere Wache der folgenden Nacht vergessen, als alle Fenster nach dem Fluß zu geöffnet waren. Nachts Totenwache halten, während man unter sich einen Fluß raunen hört, ans Fenster treten und den ganz kleinen Schatten eines Passanten über die erleuchtete Brücke ziehen sehen …

Übrigens muß ich die Wahrheit gestehen. Deine Frau hat sehr um dich geweint und tut es noch. Ich nicht. Aber dafür habe ich trotz meiner ständigen Benommenheit an alles gedacht.

Es ist Mitternacht, Momino; die gewohnte Stunde. Ich gehe zu Bett.

Wie still es ist! Mir scheint, die Nacht ringsum ist angefüllt mit deinem Tode. Und dieses Singen der Lampe …

Genug. Im Nebenzimmer steht für mich ein warmes, weiches Bett; du liegst, in einen doppelten Sarg geschlossen, in der kleinen Gruft auf dem Pincetto, Nr. 51, mein armer, alter Momo!

Ich habe nicht den Mut, dir gute Nacht zu sagen.

*

Heute habe ich mich überzeugt, daß auch unsere Friedhöfe für die Lebenden gemacht sind.

Der von Verano zum Beispiel ist geradezu eine Stadt im kleinen. Die Armen sind schlechter dran als im Erdgeschoß, die Reichen dagegen haben kleine Schlosser in verschiedenem Stil mit einem Gärtchen herum und einer Kapelle drinnen. Jenes bearbeitet ein lebender, bezahlter Gärtner, in dieser schaltet ein lebender, bezahlter Priester.

Will man gerecht sein, so muß man sagen, daß damit den Toten von Beruf auf ihrem eigen Grund und Boden zwei Posten weggenommen werden.

Dann sind da Straßen, Plätze, Alleen, Gassen und Gäßchen, denen man Namen geben sollte, damit die Besucher sich besser zurechtfinden können, etwa den Namen des bedeutendsten Toten, also Tiziostraße oder -gasse, Gajusallee oder -platz.

Wenn auch ich einer von den euren sein werde, Momo, und wir uns nachts manchmal versammeln, dann will ich den einen oder andern Vorschlag zur Behauptung und zum Schutz unserer Rechte und unserer Würde machen.

Wie dünken dich übrigens heute abend meine Betrachtungen? Bei dem bißchen Leben, das mir noch verbleibt, fühle ich mich hier nicht mehr zu Hause, lieber Momo, seitdem du tot bist; und ich möchte diesen kleinen Rest nach Möglichkeit mit Unterhaltung ausfüllen. Aber ich wette, du erwiderst mir wie gewöhnlich, meine Gedanken stammten nicht von mir. Ja, es war wirklich merkwürdig -- jetzt kann ich es dir sagen -- daß du bei allem, was mir in deiner Gegenwart auf die Lippen kam, behauptetest, du habest es in irgendeinem Buch gelesen, von dem du in der Regel jedoch weder Titel noch Autor zu nennen wußtest.

Ich bilde mir nicht allzuviel ein. Ich lese nicht das geringste, es sei denn hin und wieder irgendein altes Buch. Wenn ich mir an die Stirn klopfe, weiß ich und fühl ich allerdings, daß dort ein Gehirn sitzt, ein ungebildetes jedoch; ja, es dürfte schwerfallen, ein ungebildeteres zu finden. Aber ich weiß auch, daß die, die am meisten zu wissen glauben, die wenigst Klugen sind und die sinnlosesten Dummheiten machen; und wenn ich mich auch schämen sollte, so tue ich es doch nicht.

Aber kehren wir zur Stadt im kleinen zurück.

Deine Frau hat meiner Meinung nach eine von den Torheiten begangen, die ich nie stillschweigend habe geschehen lassen können. Urteile du! Sie hat sich auf den untragbaren Aufwand einer bevorzugten, jedoch zeitlich beschränkten Grabstätte für dich eingelassen.

Ob man in einer Familiengruft oder auf dem Totenacker der Armen oder als nackte Hülle am Fuß eines Baumes oder auf dem Meeresgrunde oder wo sonst immer begraben liegt, ist das nicht ganz gleich? Ugo Foscolo bejaht es, verneint es dann aber auf Grund einiger seiner edlen, sozialen und kulturellen Ansichten. Du denkst gewiß wie Ugo Foscolo. Ich nicht. Je älter ich werde, desto mehr hasse ich die Gesellschaft und die Kultur. Aber lassen wir dieses Gespräch! Wäre es wenigstens ein Grab für die Dauer! Keineswegs. Unter Ausnutzung des Umstandes, daß es in Verano auch ein est locandum gibt, hat deine Frau eine von den Grabstätten für dich gesucht, die man »Plätze« nennt: fünfundzwanzig Lire im Monat und nach Ablauf dieser Zeit für jeden weiteren Monat zehn Lire mehr.

Nun mußt du verstehen, daß deine Frau diese ständig zunehmenden Unkosten schon nach sieben oder acht Monaten nicht mehr wird bestreiten können. Und was geschieht dann?

Sie hofft, sagt sie, auf einen Umzug. Ich will es dir erklären. Weißt du, daß auf Kirchhöfen manchmal auch Umzüge vorkommen, ganz wie in Städten? Es ist so. Die Toten ziehen um. Oder, genauer ausgedrückt, die Überlebenden, wenn sie, sagen wir von Rom weggehen, um sich in einer anderen Stadt niederzulassen, nehmen außer ihrem Gepäck und der Hauseinrichtung auch ihre Toten mit, deren alte Behausung sie abgeben, um ihnen auf dem andern Friedhof eine neue zu kaufen.

Wie dumm ich bin! Ich sage dir diese Dinge, wo du dort bist und sie wissen mußt. Für mich waren sie nämlich eine ganz neue Erfahrung.

Begreifst du jetzt? Deine Frau hofft auf eine von diesen nicht gerade häufigen Gelegenheiten. Ich glaube aber, daß sie auf manches hofft, das ganz gewiß nicht eintreten wird, vor allem, daß mit all ihrer Ausdauer im Französischsprechen auch die Liebe und Sorge für dich weiter dauern werden -- ich bitte dich jedenfalls um die Erlaubnis, dies bezweifeln zu dürfen -- sodann, daß sie so viele Ersparnisse anhäufen wird, um dieses Grab gewissermaßen aus zweiter Hand kaufen zu können. Wer bezahlt aber die ganze Zeit über die Miete für den Platz? Natürlich werde ich sie bezahlen -- ich meine eine zarte Stimme im Kassenschrank zu vernehmen, die mich dazu auffordert -- aber dessenungeachtet ist es eine ausgemachte Dummheit.

Obschon wir bei einem so unerfreulichen Gegenstand sind, laß uns noch ein wenig darüber sprechen. Du weißt, ich liebe die Methode, ich gehe gern gründlich vor und pflege mir über alles Rechenschaft abzulegen. Ich bin bei der Aufstellung der monatlichen Auslagen und finde dabei auch die für dich gemachten. Wollen wir ein bißchen von Geschäften reden wie früher?

Ich habe mich bemüht, lieber Momino, alles: Überführung der Leiche, Bestattung und so weiter mit Anstand geschehen zu lassen, um die Bescheidenheit zu wahren, die du in deinem Testament so sehr anempfohlen hast. Allein, ich habe die Erfahrung gemacht, daß in Rom das Sterben beinahe mehr kostet als das Leben, das, wie du weißt, schon recht teuer ist. Würde ich dir die kleine Rechnung zeigen, die mir gestern der Geschäftsführer der neuen Gesellschaft für Leichenbegängnisse überreichte, dir sträubten sich die Haare. Und das sind noch Konkurrenzpreise, wohlgemerkt! Wer mich aber hat aus der Haut fahren lassen, war der schmierige kleine Priester von der Pfarrei San Rocco, der zwanzig Lire forderte, um ein bißchen Wasser auf deine Bahre zu spritzen und ein Requiem für dich zu meckern. Wenn ich sterbe, nichts von alledem! Sofort ins Feuer! Das geht schneller und ist reinlicher. Doch jeder hat seine eigenen Gedanken, und noch als Tote sind wir schwach genug, um es lieber so als anders zu wollen. Doch genug davon!

Reden wir von Geschäften!

Du weißt, ich besitze noch einen Rest meines Vermögens, weißt auch, daß meine Bedürfnisse sehr beschränkt sind und daß ich kein Verlangen mehr habe, das mich zu Hoffnungen verleiten könnte, es sei denn das eine, bald zu sterben, wobei ich wünsche, es geschähe, ohne daß ich es merke.

Wovon sprach ich doch? Richtig, ich wollte sagen: Was soll ich mit dem wenigen machen, das mir verbleibt? Soll ich es nach dem Tode wohltätigen Zwecken vermachen? Wer weiß zunächst einmal, wohin es geraten würde; und sodann ist mir diese spätreife Zuneigung für den Nächsten im allgemeinen nicht eigen. Beim Nächsten will ich wissen, wie er heißt. Da manche Dinge sich nun besser schreiben als sagen lassen, so habe ich deiner Frau geschrieben, es sei meine feste Absicht, ja, ich erachtete es sogar als meine Pflicht, für die Witwe meines einzigen Freundes fernerhin das gleiche zu tun, was ich stets für ihn getan hätte, nämlich zum Aufwand des Hauses beizutragen.

Bekomm keinen Schrecken, Momo! Weißt du, was deine Frau mir geantwortet hat? Zunächst hat sie mir gedankt, wie man einem fremden Menschen zu danken pflegt. Doch lassen wir das! Dann hat sie hinzugefügt: im Augenblick »sähe sie sich leider veranlaßt«, meine »liebenswürdige Unterstützung« nicht auszuschlagen, denn beim »Entriegeln« des kleinen Schrankes, in dem du »die Frucht deiner Mühen« zu verwahren pflegtest, habe sie nicht mehr als fünfzig Lire gefunden, und es sei natürlich nicht möglich, davon die Hausmiete zu zahlen, die am fünfzehnten fällig ist, mehrere Rechnungen von Lebensmittelgeschäften zu begleichen und sich ein einfaches Trauerkleid machen zu lassen, das sie durchaus nötig habe.

Aus den Wendungen, die ich für dich abgeschrieben habe, wirst du ersehen, wer deiner Frau diesen Brief diktiert hat. Die »liebenswürdige Unterstützung«, das »Entriegeln«, die »Frucht deiner Mühen« können nur aus dem Mund deines Schwagers stammen -- aber nein, er ist ja der Schwager deiner Frau, nicht wahr? -- kurz, des Herrn Postella, der, wie ich dir beiläufig mitteile, mit »seiner Hälfte« endgültig in dein Haus übergesiedelt ist; und zwar wohnen sie in demselben Zimmer, in dem du gestorben bist, und in dem du und ich geschlafen haben.

Fahren wir fort! Der Brief teilt mir in seinem weiteren Verlauf einige Zukunftspläne mit: Deine Frau hofft nämlich oder möchte jedenfalls im Hause Arbeit bekommen oder eine würdige Stellung als Vorleserin oder Lehrerin in einer adeligen Familie finden, um die wertvollen Kenntnisse auszunutzen, die du ihr als einziges und kostbares Erbe hinterlassen habest. Mach dir aber auch darüber keine Gedanken! Solange ich da bin, sei versichert, daß von all dem nichts geschehen wird. Der Brief endet dann mit folgender Floskel: »Ich begrüße Sie vertrauensvoll.« Vertrauensvoll. Wo fischt dein Schwager nur seine Ausdrücke auf? Du mußt mir zugeben, daß es wirklich komisch ist!

Was übrigens das »Entriegeln« angeht: wo hast du den Schlüssel zum Schrank gelassen? Er war nicht aufzufinden, und so hat der Wortklauber da zum »Entriegeln« seine Zuflucht nehmen müssen. O diese Neapolitaner, wenn sie italienisch sprechen! Na, wer weiß! Vielleicht haben sie infolge allzu großer Eile beim Öffnen versäumt richtig zu suchen und ihn deshalb nicht gefunden … Es tut mir für den Schrank leid, denn er war unser gemeinsames Eigentum; der Schrank meiner Mutter, ein ehrwürdiges Andenken für mich. Doch genug davon. Reden wir von etwas anderem!

Vorige Nacht hat meine Jacke, die auf dem Lehnstuhl am Fußende des Bettes lag, mit dem Nachtlicht verschworen, das ich in eine Zimmerecke auf den Fußboden verbannt hatte, sich den Spaß erlaubt, eine Schattenfigur zu bilden und mich gehörig zu erschrecken.

Ich hatte eine Zeitlang mit dem Gesicht zur Wand geschlafen, beim Umdrehen wachte ich halb auf und hatte für einen Augenblick den Eindruck, es säße jemand auf dem Lehnstuhl.

Sofort dachte ich an dich. Aber weshalb habe ich mich erschrocken?

O könntest du mir doch wirklich nachts erscheinen, und wäre es auch als Gespenst, könntest du in welcher Gestalt immer kommen und mir Gesellschaft leisten!

Aber du würdest ja zu deiner Frau gehen, du Undankbarer, wenn dem so wäre. Die würde dir jedoch die Tür vor der Nase zumachen oder vor Entsetzen davonlaufen. Und dann kämest du zu mir, um Trost zu suchen. Ich säße wie jetzt an dem kleinen Tisch, du säßest mir gegenüber, und so würden wir uns unterhalten wie in den schönen Zeiten. Du solltest jeden Abend eine gute Tasse Kaffee bei mir finden, und als Kenner dürftest du urteilen, ob ich ihn besser mache oder deine Frau. Dazu die Pfeife und die Zeitung. Auf die Art könntest du die Zeitung selber lesen; denn, ehrlich gesagt, es geht nun mal nicht, ich werde nicht damit fertig. Dreimal habe ich es versucht, es jedoch stets gleich wieder aufgeben müssen.

Ich habe mich mit dem Gedanken getröstet, daß, wenn ich es als Lebender entbehren kann, du jetzt erst recht ohne das wirst auskommen können. Habe ich recht?

Bestätige es mir bitte!

Als ich heute früh vom Kirchhof zurückkam, hörte ich auf der Via Nazionale meinen Namen rufen: »Herr Aversa, Herr Aversa!«

Ich drehe mich um. Der Neffe von Notar Zanti, einer von den jungen Leuten, die du -- ich weiß nicht, weshalb -- »entfesselt« nanntest. Er drückt mir die Hand und sagt:

»Der arme Herr Gerolamo! Wie traurig!«

Ich schließe die Augen und seufze. Und der junge Mann:

»Sagen Sie, Herr Tomaso … und die Frau … die Witwe?«

»Sie weint, die Arme.«

»Das kann ich mir denken. Noch heute will ich meinen Pflichten nachkommen …«

Viele Beileidsbesuche wird deine Frau bekommen Momino. Und wenn sie alt und häßlich wäre? Nicht einen.

Selbst wenn ich grausam erscheinen sollte, ich muß dich an diese Nachrichten gewöhnen. Ich fürchte, dir mit der Zeit noch schlimmere geben zu müssen. Das Leben ist traurig, lieber Freund, und wer weiß, was für bittere Erfahrungen und wie viele es noch für uns aufspart.

Mitternacht. Schlafe ruhig!

*

Was für komische Leute, lieber Freund, was für komische Leute!

Heute früh besuchten mich der Herr Postella und das »Fleischgebirge«, das er den Mut hat »seine Hälfte« zu nennen. Sie besuchten mich, um, wie er sich ausdrückte, den mir gestern von deiner Frau geschriebenen Brief zu erklären.

Na gut! Du siehst schon, daß er die geheime und wahre Ursache seines heutigen Besuches morgen durch einen zweiten Besuch wird aufklären müssen. Ich wenigstens habe die Sache nicht durchschauen können. Nur soviel glaubte ich verstehen zu müssen, daß der Herr Postella doppeltes Spiel spielen will; und darum habe ich gleich versucht, die Karten aufzudecken.

Wirklich habe ich ihn zuerst reden lassen. Plinius lehrt, daß ein Wiesel, das mit der Schlange kämpfen will, sich vorher wappnet, indem es Raute frißt. Ich mache es besser. Ich wappne mich, indem ich Herrn Postella reden lasse. Ich sauge den Saft seiner Worte ein und dann verwunde ich ihn mit seinem eigenen Gift.

Hättest du doch gesehen, wie betrübt er sich über den Brief deiner Frau zeigte, tief betrübt! Als er nicht aufhören wollte, sagte ich schließlich, um ihn zu trösten: »Hören Sie, lieber Herr Postella, Sie haben, ich weiß nicht ob das Unglück oder das Glück, einen schönen Stil zu schreiben. Eine seltene Gabe. Hüten Sie sie! Aber nun sagen Sie mir: Reut Sie vielleicht, was Sie mir gestern durch die Gattin meines Freundes haben mitteilen lassen?«

Der Arme! Das erwartete er nicht. Wenigstens hundertmal klappte er mit den Augenlidern. Du kennst ja diesen nervösen Tick an ihm. Dann mit dem halben Lächeln eines Menschen, der nicht begreifen möchte, und so tut, als habe er nicht begriffen:

»Wieso, wieso?«

Die Frau sagte nichts, aber dafür knackte der Stuhl, auf dem sie saß.

»Seien Sie unbesorgt, mein lieber Herr,« nahm ich gleichmütig wieder auf, »ich wüßte mir nichts Besseres zu wünschen.«

Und nun erfolgte die Erklärung, während welcher ich Postellas Gattin sehr bewundert habe, die an den Lippen ihres Mannes hing und mit dem Kopf fast jedem Wort beipflichtete, wobei sie mir von Zeit zu Zeit einen Blick zuwarf, als wolle sie sagen:

»Hören Sie, wie gut er spricht!«

Ich weiß nicht, ob dieser Flachkopf je ein Gehirn besessen hat. Falls sie eines hat, übt sie es jetzt jedenfalls nicht mehr; soviel Vertrauen setzt sie in das ihres Mannes, das zwar nur eins ist, aber ihrer Meinung nach für alle beide genügt und sogar noch was übrig läßt.

Um es kurz zu machen: Der Herr Postella hat zugegeben, daß er der Schreiber des Briefes gewesen ist, jedoch wohlverstanden, als ausdrücklich Beauftragter deiner Gattin, die in ihrem Schmerz, durch den sie immer noch benommen ist, angeblich nicht imstande gewesen sei, selbst den Brief aufzusetzen, und ihn zu den Wendungen veranlaßt habe. Ihm, dem Herrn Postella, sei es höchst peinlich, und eben das wünsche er mir durch seinen heutigen Besuch zu beweisen. Er wollte aber auch deine Frau entschuldigen und wünschte, daß ich ihr ebenfalls verziehe, indem ich die kitzlige Lage, wie er sagt, bedächte, die sie veranlaßt habe, sich auf die Art zu äußern.

Und hier hat sich nun ein Irrtum oder besser gesagt ein Mißverständnis herausgestellt. Beim Lesen meines Briefes hat deine Frau die Worte »zum Aufwand des Hauses beitragen« -- es ist da, wo ich verspreche, für sie fernerhin das gleiche zu tun wie bisher für dich -- angeblich so ausgelegt, als wolle ich mein früheres Leben weiterführen, das heißt mehr in deinem Hause sein als in meinen drei Zimmerchen … Während Herr Postella dies vorbrachte, schienen seine Augenlider unter meinen verächtlichen und zornigen Blicken geradezu überzuschnappen.

Ich mache mir über die Art der Gefühle deiner Gattin für mich keinerlei Illusionen. Die Ablehnung ist eine gegenseitige. Aber nicht deine Frau, Momo, sondern er, er, der Herr Postella, hat befürchtet, ich könne meine gewohnte Lebensweise fortsetzen wollen, als seiest du nicht gestorben. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer, glaub mir! Und er wird deine Frau überredet haben, so an mich zu schreiben, indem er ihr eingeredet hat, die Leute würden sonst über sie und mich herziehen.

Ja, und auf die Weise hat er sich die Gewißheit verschafft, daß ihn im Hause deiner Gattin niemand mehr belästigen wird.

Anderseits aber hat er befürchtet, vor die Tür gesetzt, möchte ich meiner Börse das Maul stopfen, und deshalb, verstehst du, ist er so lächelnd gekommen, mit Entschuldigungen und Komplimenten, die nichts als Haken sein wollten, um mir das Geld aus der Tasche zu ziehen.

»Seien Sie unbesorgt, lieber Herr Postella«, habe ich ihm gesagt. »Seien Sie unbesorgt, und versichern Sie auch der gnädigen Frau, daß ich sie nur äußerst selten belästigen werde.« Und fast hätte ich hinzugefügt: »ganz gewiß nur, um für Momino Nachrichten zu holen.«

Aber das ergab die schärfsten Verwahrungen von seiten des Herrn Postella; und auch die Frau hielt es für angebracht, sich zu betätigen, wenn auch nur durch Gebärden, als wolle sie die Bewegungen des kleinen Ehemanns verstärken und erfolgreich gestalten, denn mit Worten brauchte sie ihm nicht zu helfen.

In den heutigen Nachmittagsstunden habe ich mich dann in dein Haus begeben, um mich mit deiner Gattin zu verständigen.

Was für ein Eindruck, Momo, dein Haus ohne dich; unser, unser Haus, Momino, ohne uns! Unsere Möbel gleich hinter dem kleinen Vorplatz im Speisezimmer mit der Glastür, die auf den Balkon hinausführt; der alte gediegene, viereckige Tisch, den wir, ach mein Gott, vor zweiunddreißig Jahren in der Möbelauktion für so wenig Geld gekauft haben … Ihn jetzt unter der Hängelampe mit der Mütze aus rotem Seidenpapier wiederzusehen, die deine Frau als Lichtschirm angebracht hat -- auch eine von den Vornehmheiten der modernen Frauen, die mir, du weißt es, gleich auf die Nerven gingen, als deine Gattin damit ankam, denn abgesehen von allem andern mußte man einsehen, daß sie neben der rauhen Einfachheit eines altväterischen Hauses wie des unsern einen Mißklang bildeten -- genug, wovon sprach ich doch? -- Richtig, den Tisch wiederzusehen -- deinen Platz -- Ragnetta saß auf ihm, denk dir! Das arme Tierchen schien mir viel magerer. Ich kraute ihr ein wenig den Kopf hinter den Ohren, wie du zu tun pflegtest. Dabei entdeckte ich mitten auf der Tischdecke die übliche Blumenvase und in der Blumenvase frische Nelken. Ich konnte nicht umhin, sie zu bemerken, denn du begreifst, in einem Hause, aus dem acht Tage zuvor ein Toter getragen wurde, diese frischen Blumen … Vielleicht waren sie ja den Vasen auf dem Balkon entnommen. Bestehen bleibt immerhin, daß deine Frau den Einfall gehabt hat, sie zu pflücken und auf den Tisch zu stellen und nicht vor dein Porträt auf die Kommode.

Doch genug davon! Kaum erblickte sie mich, brach sie in Tränen aus. Ich hatte etwas wie ein Schluchzen in der Kehle, und gern hätte ich dem Herrn Postella tüchtig eins mit der Faust ins Gesicht gegeben, als er, auf sie deutend, als erläutere er eine »Spezialität« vor einer Jahrmarktsbude, ausrief:

»So geht es seit einer Woche; sie ißt nicht, sie schläft nicht …«

»Lassen Sie sie doch weinen, lieber Herr, solange sie Lust hat -- « schrie ich ihm beinahe zu.

Nun, ich leugne nicht, daß die Mitteilung des Herrn Postella wahr sein kann. Allein weshalb hat er nicht geschwiegen? Argwöhnte er vielleicht, daß ich es nicht glaube? Also kann es auch nicht wahr sein. O Gott, wie dumm sind doch manchmal durchtriebene Personen!

»Ich kann Sie nicht ermutigen, liebe Julia, weil ich untröstlicher bin als Sie«, sagte ich zu deiner Frau. »Weinen Sie nur, weinen Sie nur, da Sie die gesegnete Gabe der Tränen besitzen. Momo hat viele verdient.«

In diesem Augenblick vernahm ich einen gewaltigen Seufzer deiner Schwägerin, die mit über dem Bauch gefalteten Händen dastand, und unterbrach mich, um sie anzusehen. Sie sah indessen mit ihren Kuhaugen zum Gatten hinüber, wie um ihn zu fragen, ob sie nicht hätte seufzen dürfen, und ob sie im übrigen brav sei.

»Perle von einem Menschen«, rief der Herr Postella als Erwiderung auf den Blick seiner Frau und nickte dabei mit dem Kopfe. »Perle von einem Menschen!« ›Bedanke dich beim Herrn Postella, Momino!‹

Ich vermochte es nicht, denn, ich weiß nicht weshalb, aber bei seinem Gesicht und seinem Auftreten habe ich ein solches Jucken in den Fingern, daß ich ihn statt jeder Freundlichkeit mit Wollust ohrfeigen möchte.

Er merkte es und lächelte mich an.

Eine angenehme Beschäftigung übrigens, zu weinen und sagen zu dürfen: ich kann nichts anderes tun. Diesen Gedanken hatte ich beim Anblick deiner Frau, als ich, durch die Seufzer und Ausrufe der Ehegatten Postella benommen, nicht von dir zu sprechen vermochte und überhaupt nichts zu sagen wußte und verlegen und verärgert dasaß. Ich war drauf und dran, mich zu erheben und ohne Abschied fortzugehen, aber da fiel mir der Zweck meines Besuches ein, und ich sagte ohne Umschweife: »Ich bin gekommen, Julia, um Ihnen zu sagen, daß Ihr gestriger Brief mich recht verstimmt hat. Heute früh hat Ihr Schwager in meiner Wohnung das Mißverständnis aufgedeckt, das infolge einer Wendung von mir entstanden ist …«

Hier unterbrach mich der Herr Postella, der schon die Ohren gespitzt hatte, und klappte dabei mit den Augenlidern:

»Ich bitte, ich bitte …«

»Entweder sprechen Sie oder ich«, gebot ich ihm barsch.

»O bitte, bitte, reden Sie …«

»Lassen Sie mich also sprechen! Vor allem, liebe Julia, brauchten Sie mir wirklich für nichts zu danken.«

»Wieso nicht?« hauchte jetzt deine Gattin, ohne das Taschentuch von den Augen zu nehmen.

»Es ist wirklich so«, erwiderte ich. »Das sind Dinge, die Momo und ich später in der andern Welt regeln werden. Sie wissen ja, daß es zwischen ihm und mir Mein und Dein niemals gegeben hat, und ich sehe jetzt keinen Anlaß zu einer Veränderung. Denn für mich ist Momo nicht gestorben. Aber lassen wir dieses Thema! Mißfällt es Ihnen, wenn ich manchmal komme, um Sie zu bitten, sich meiner in Ihren Angelegenheiten zu bedienen, so sagen Sie es offen, dann will ich …«

»Aber wie reden Sie denn nur!« rief, mich unterbrechend, deine Frau. »Dieses Haus gehört Ihnen, das wissen Sie so gut wie ich. Es ist nicht mein Haus.«

Es geschah irgendwie, daß ich den Herrn Postella ansah. Der öffnete gleich die Arme, um mir seine offenen Hände hinzuhalten, nickte ein bißchen mit dem Kopf und lächelte, wie um die Worte deiner Gattin zu bestätigen.

Die Frau saß geduckt und unbeweglich da wie eine Kröte.

»Es ist Momos Haus«, sagte ich schließlich, fast buchstabierend, zu Julia. »Das Haus Ihres Gatten, nicht das meine.«

»Aber wo hier doch alles Ihnen gehört …«

»Verzeihung! Hat Ihr Gatte etwa nicht Ihnen das ganze Haus hinterlassen?«

»Momo«, antwortete mir deine Frau, »konnte mir nicht vermachen, was nicht sein Eigentum war.«

»Aber,« rief ich aus, »was sind denn das für Gedanken?«

»Ich bitte Sie, versetzen Sie sich doch ein wenig in meine Lage. Begreifen Sie denn nicht?«

»Ja, wenn Sie mich, das Haus, das Ihnen gehört, die höchst angenehme Gesellschaft Ihrer Schwester und Ihres Herrn Schwagers so gering achten …«

»Ich danke Ihnen, Herr Tomaso, und ich bin Ihnen mein Leben lang verpflichtet. Allein, ich kann Ihre Wohltaten nicht annehmen. Wenn Sie darüber nachdenken, werden Sie mich verstehen. Im Augenblick fühle ich mich nicht in der Lage, Ihnen mehr zu sagen. Wenn es Ihnen nicht lästig ist, reden wir ein anderes Mal darüber.«

Ich saß ganz verstört da, Momo, als hätte sie mir eine tüchtige Tracht Prügel gegeben. Deine Frau stand auf und verschwand, um einen neuen Tränenausbruch vor mir zu verbergen.

Ich sah den Herrn Postella an, der meinen Blick mit der Miene des Triumphes erwiderte, als wolle er sagen: Sehen Sie jetzt, daß die Wendungen in dem Brief wirklich von ihr stammen? Dann schloß er die Augen und öffnete wieder die Arme, diesmal jedoch mit einem andern Ausdruck, indem er die Achseln zuckte, als meinte er: So ist sie nun. Man muß Mitleid mit ihr haben.

Ein zweiter, tiefer Seufzer deiner Schwägerin.

Ich wollte eben Hut und Regenschirm ergreifen, als der Herr Postella mir geheimnisvoll mit der Hand bedeutete, ich möchte warten. Er ging in das Zimmer, das bereits seines geworden ist, und kam mit einer kleinen Schachtel in der Hand zurück, in der ich deine drei Ringe, die goldene Uhr mit der Kette, zwei Kravattennadeln und die silberne Tabaksdose erblickte.

»Herr Aversa, möchten die nicht vielleicht ein Andenken Ihres Freundes …«

»Nein, danke, bemühen Sie sich nicht«, beeilte ich mich ihm zu sagen. »Lieber Herr Postella, ich brauche die Sachen nicht.«

»Verstehe, verstehe … Da es aber doch stets Freude macht, einen Gegenstand zu besitzen, der einem lieben Menschen gehört hat, so glaube ich …«

»Danke, danke, nein … Legen Sie sie wieder fort, Herr Postella.«

»Tun Sie es für Julia«, drängte ein Schwager.

»Sehen die, es sind Sachen für einen Mann, und ich glaube … Da, nehmen Sie die Uhr!«

»Aber wenn er doch nicht will«, wagte in diesem Augenblick die Gattin Postellas zu seufzen.

»Misch du dich nicht ein«, schnitt der Mann ihr sogleich das Wort ab. »Herr Tomaso spricht aus Förmlichkeit so. Wenigstens die Uhr, kommen Sie, nehmen Sie …«

»Erlaube«, fing die Frau schüchtern wieder an.

»Diese Uhr, lieber Casimir, hat ja Herr Tomaso selbst dem armen Momo geschenkt, als er von seiner Schweizer Reise zurückkam.«

»Wirklich?« sagte Herr Postella, während er sich fast bestürzt mir zuwandte und mir der räuberische Instinkt aus seinen Augen zu leuchten schien. »Wirklich? Verzeihen Sie … aber dann erklären Sie mir doch … Hören Sie nur, was für ein Geräusch sie macht!«

Und ich, Momino, mußte ihm das Getriebe deiner automatischen Uhr erklären: den kleinen Hammer, der mit einer menschlichen Bewegung hochschnellt und das Werk aufzieht, ohne daß eine Feder nötig ist und so weiter und so weiter. Ich erspare dir die bewundernden Redensarten des Herrn Postella.

Man träumt und spricht gern von dem, was man haben möchte, lieber Momo. Wenn du in einigen Monaten, vielleicht auch noch früher, zufällig einmal wissen möchtest, wieviel Uhr es ist, so geh und frag deinen Schwager, geh nur!

Im übrigen teile ich dir mit, daß es auf meiner Uhr Mitternacht ist.

*

Wie fühlst du dich, Momino? -- Sei ehrlich! Du mußt dich schlecht fühlen. Wir haben deinen Sarg heute vom Platz Nr. 51 auf dem Pincetto weggeholt und ihn endgültig in einer bescheidenen Gruft untergebracht, die ich auf meine Kosten habe fertigstellen lassen, um den früheren Fehler deiner Frau wieder gutzumachen. Aber was für ein Bild, lieber Momo, was für ein Bild! Ich habe es noch vor Augen und kann mich nicht davon erholen.

Die Träger sagten, sie hätten nie etwas Ähnliches gesehen. Sie trugen deinen Sarg wie etwas höchst Gefährliches, gefährlich nicht nur für sie, sondern auch für uns, die wir der Handlung beiwohnten, ich meine deine Frau, mich und die Ehegatten Postella, die sie begleitet hatten.

Weißt du, weshalb gefährlich, Momo? Dein Zinksarg war durchweg so gewaltig gequollen und aus der Form geraten, daß er, Gott behüte, von einem Augenblick zum andern hätte platzen können.

Die Träger gaben der Erscheinung eine natürliche Deutung, indem sie sie nämlich einer außergewöhnlich starken Entwicklung von Gas zuschrieben. Die Eile jedoch, mit der Herr Postella über diese Erklärung hinwegging, um der Bestürzung Herr zu werden, die uns alle bei dem Anblick ergriffen hatte, ließ mich plötzlich vermuten, bei dem Eindruck des in die Breite gegangenen Sarges sei ihm heimlich der quälende Gedanke gekommen, daß man dein gewaltiges Anschwellen nicht auf Rechnung des Gases, sondern ganz anderer Gründe zu setzen habe. Und ich will dir gestehen, lieber Momo, daß auch mein Gewissen sich regte wegen all der Dinge, die ich dir erzählt habe. Ich fürchtete wirklich jeden Augenblick, unsere Gegenwart könnte wegen meines Mangels an Verschwiegenheit ein solches Wutschnauben bei dir zur Folge haben, daß uns dein Sarg in einem allseitigen Trümmerregen entgegenflöge.

Übrigens müßtest du jetzt wissen, lieber Freund, weshalb ich dir dies alles mitteile, und wie mir dabei zumute ist, und du darfst nicht wie die andern sein, die durchaus nicht begreifen wollen, warum ich bei allem, was von meinen Lippen kommt, ein scheinbar so unmenschliches Lachen aufsetze. Wie soll ich es denn machen, wenn mir plötzlich der Betrug klar wird, dem jeder, der leben will, nur weil er lebt, infolge seiner Illusionen unterliegen muß?

Der Betrug ist unvermeidlich, Momo, weil es ohne Illusion nicht geht. Es geht ohne die Falle nicht, die jeder, der leben will, sich selbst bereiten muß. Die Menschen begreifen das nicht, du magst noch so laut rufen: Nimm dich in acht, nimm dich in acht! Wer sich die Falle bereitet hat, geht hinein, eben weil er sie sich bereitet hat, und hinterher fängt er an zu weinen und um Hilfe zu rufen. Dünkt dich nun nicht, daß die Grausamkeit bei dem Schabernack liegt, den uns allen das Leben spielt? Dabei sagt man, sie sei bei mir, nur weil ich ihn vorhergesehen habe. Aber kann ich denn, wie so viele es machen, tun, als begriffe ich den wahren Grund nicht, der die andern weinen und um Hilfe rufen läßt, und mich ebenfalls blind stellen, wo ich doch vorausschauend war?

Du sagst:

»Du warst vorausschauend, weil du nichts fühlst.« Aber wie könnte ich und was könnte ich denn wirklich sehen und vorausschauen, lieber Momo, wenn ich nichts fühlte? Und wie könnte mir denn dies Lachen eigen sein, das so unmenschlich scheint? Ja, dies unmenschliche Lachen ist am redlichsten, wenn es am gewolltesten aussteht, weil es mehr als alle andern mich selber peinigt, mag es nach außen auch scheinen, als wolle ich einen grausamen Scherz treiben. So ist es, wenn ich mit dir über all die Dinge rede, die dich bitter stimmen müßten, während sie das in Wahrheit bei mir tun.

Deine arme Frau war übrigens heute sehr zufrieden und sagte es mir auch, als wir von Verano zurückkamen, daß sie dich jetzt in einer deinen Verdiensten angemessenen, sauberen, neuen und dir allein gehörigen Gruft untergebracht weiß.

Ich habe sie bis an die Haustür begleitet; darauf, nach Sonnenuntergang, habe ich einen langen Spaziergang am rechten Tiberufer bis an die militärische Abgrenzung in der Nähe des Polygons gemacht. Dort wohnte ich einer kleinen Szene bei, die rührend war oder auf die Gemütsverfassung, in der ich mich befand, so wirkte.

Auf der weiten, ebenen Fläche, die dem Heere als Übungsplatz dient, vergnügte sich ein paar losgelassener Pferde damit, eines seiner höchst behenden Füllen zu zagen, das durch tausend Seitensprünge und plötzliche Drehungen kundgab, welche Freude dieses Spiel ihm bereitete. Aber auch Vater und Mutter schienen sich durch die anmutige Ausgelassenheit des Kleinen auf einmal wieder jung zu fühlen und ihre getäuschten Hoffnungen zu vergessen. Bald darauf machten sie jedoch plötzlich halt, als habe ein Schatten ihren Lauf gequert, schüttelten mehrmals schnaubend die Köpfe, gingen noch ein paar Schritte mit gesenktem Hals, müde und schwerfällig, und legten sich dann hin. Das Junge suchte vergebens sie aufzurütteln und noch einmal zu Lauf und Spiel zu bewegen. Sie blieben ernst und bedrückt, als hätten sie die Last einer tiefen Schwermut zu tragen, und eines, das der Vater sein mußte, schüttelte zu den Versuchungen des Füllens langsam den Kopf und schien ihm mit dieser Bewegung bedeuten zu wollen: »Du weißt nicht, Kind, was dich erwartet.«

Schon hatten sich Schatten über die weite Ebene gebreitet, und düster zeichnete sich im letzten Schimmer der Monte Mario mit dem Helmbusch seiner schwarzen Zypressen ab, die steil vor einem Himmel aschgrauer Dünste standen. In einem Riß hing wie eine Blase der Mond.

Es gibt morgen schlechtes Wetter, Momino!

Ja, es fängt an kalt zu werden, und ich werde mir einen neuen Mantel und einen neuen Regenschirm kaufen müssen.

Weißt du, daß ich mir angewöhnt habe, jede Nacht lange den Himmel zu betrachten? Dabei denke ich: Etwas von Momino ist vielleicht noch in den Lüften, denn etwas wird sich bei dem neuen geheimnisvollen Schauspiel, das sich vor ihm aufgetan hat, verirrt haben.

Ich lebe nämlich in der Vorstellung, daß von den Sterbenden der eine für ein ferneres Leben reif ist und der andere nicht, und daß, wer auf Erden nicht verstanden hat, zur vollen Reife zu gelangen, so lange zur Wiederkehr verurteilt wird, bis er zur Freiheit geeignet ist.

Du warst aus vielen Gründen für ein anderes, höheres Dasein reif; aber dann hast du zu guter Letzt die Roheit begangen, dich zu verheiraten, und du wirst sehen, daß man dich nur deswegen wird zurückkehren lassen.

Auch ich fühle mich, ehrlich gestanden, für ein anderes Leben nicht reif. Ach Gott, um vollkommen zu werden, müßte ich mit dem elend schwachen Magen, den ich mir zugelegt habe, so manches verdauen, das ich noch nicht mal herunterzuschlucken vermag. Zum Beispiel deinen Herrn Postella!

Wie würde ich mich aber freuen, wenn man uns beide zusammen wiederkommen ließe. Ich bin ja sicher, wir würden uns auch ohne Erinnerung an unser früheres Leben auf der Erde suchen und Freunde werden wie ehedem.

Ich kann mich nicht besinnen, wo ich von einem alten Glauben an das sogenannte »große Jahr« gelesen habe, nach dem das Leben bis in die geringsten Einzelheiten hinein nach dreißigtausend Jahren wieder erstehen soll. Es würden auch dieselben Menschen unter den gleichen Daseinsbedingungen demselben Los unterworfen wie ehedem, und nicht nur mit den ehemaligen Empfindungen ausgestattet, sondern auch auf die gleiche Art gekleidet; kurz eine vollkommene Wiederholung.

Ich neige zu der Einsicht, daß ein solcher Glaube aus dem Traum zweier glücklicher Wesen entstanden ist. Allerdings kann ich mir dann nicht erklären, weshalb sie einen so fernen Zeitpunkt für die Wiederkehr ihres Glückes ausersehen haben. Immerhin kann es nicht der Einfall eines Unglücklichen sein, und heute möchte wohl keinem auf der Welt die Gewißheit Freude machen, daß sich die Lächerlichkeit unseres Daseins nach dreißigtausend Jahren wiederholen soll. Es gehört Mut zum Sterben, aber wer einmal tot ist, möchte, glaube ich, nicht wieder geboren werden. Was sagst du dazu, Momino? Ach du, richtig, du hast ja deine Frau hier. Das hatte ich vergessen. Man redet ja immer nur für sich in dieser elenden Welt.

Während meines Schreibens ist ein häßliches, dünnes Insekt in ein Wasserglas auf dem Tisch gefallen. Es hat glatte Flügel und sechs Beine; von denen sind die beiden letzten lang, sehr fein und zum Hüpfen geschaffen. Es belustigt mich, seinem verzweifelten Schwimmen zuzusehen, und voller Bewunderung beobachte ich, wieviel Vertrauen es in die Beweglichkeit der beiden Beine setzt, Sicher wird es in dem festen Glauben sterben, die könnten auch auf der Flüssigkeit sehr gut hüpfen, es habe sich jedoch an ihrem Ende etwas festgesetzt, das sie beim Springen verwickele. Jedenfalls macht es vergebliche Anstrengungen, sich durch lebhaftes Putzen mit den Vorderbeinen davon zu befreien.

Soll ich es retten, Momino, oder nicht?

Wenn ich es rette, wird es das Verdienst ohne Zweifel seinen Beinen zuschreiben. Mag es also ertrinken! Wäre es jedoch ein lieblicher, in sein Schicksal ergebener Schmetterling, ich hätte ihn schon längst sorgfältig herausgeholt. Das ist die durch Ästhetik verdorbene Menschenliebe.

Ich will dich retten, unglückliches Insekt. Ich tunke die Spitze dieser Feder ins Wasser, dann lasse ich dich ein wenig an der Lampenwärme trocknen, und schließlich setze ich dich ins Freie. Aber das Wasser, in das du gefallen bist, werde ich mit deiner Erlaubnis nicht trinken. Doch nach kurzem wirst du, aufs neue durch das Licht angezogen, vielleicht wieder in mein Zimmer kommen und mich mit dem kleinen giftigen Saugrüssel stechen. Jeder treibt sein Handwerk im Leben. Ich das des Biedermanns, und so habe ich dich gerettet. Leb wohl!

Es ist eine klare Nacht. Ich stelle mich ein wenig ans Fenster, um die funkelnden Sterne zu betrachten.

Ab und zu ein »Zr«, eine unsichtbare Fledermaus, die neugierig vor dem erleuchteten Raum flattert, der sich nach dem dunklen, verlassenen Platz hin auftut. »Zr«, und sie scheint zu fragen: »Was tust du?«

Ich schreibe einem Toten, liebe Fledermaus. Und du, was tust du? Was bedeutet dies schlafwandlerische Leben, das du führst? Du fliegst umher und weißt es nicht; wie ich übrigens auch nicht weiß, was das meine bedeutet, ich, der ich so manches weiß, das mir im Grunde jedoch zu nichts anderem gedient hat, als jenes Dunkel vor meinen Augen und in meinem Innern zu mehren, und zwar eben durch die Kenntnisse der sogenannten Wissenschaft; wirklich ein schöner Dienst!

Was würdest du sagen, liebe Fledermaus, wenn es einem von deinesgleichen einfiele, einen Apparat zu erdenken, den man unter deinen Flügeln anbrächte, damit du höher und schneller fliegen könntest? Anfangs würde es dir vielleicht gefallen, aber dann?

Worauf es ankommt, ist nicht, langsamer oder höher oder niedriger zu fliegen, sondern zu wissen, weshalb man fliegt.

Weshalb sollte die Schildkröte schnell sein, die zu einem sehr langen Leben verurteilt ist?

In unsern Fabeln aber schelten wir sie schwerfällig und träge, weil sie die Zeit, die sie hat, zum Vorwand nimmt, um langsam zu sein, und das Kaninchen ängstlich, weil es entschlüpft, sobald es uns erblickt. Fragten wir jedoch die Fledermäuse, die Grillen, die Eidechsen, die Vögel nach dem Kaninchen, wer weiß, was sie erwidern würden, gewiß nicht, daß es ein furchtsames Tier sei. Oder dürfen wir Menschen etwa beanspruchen, daß das Kaninchen sich auf zwei Beine stelle und uns entgegengehe, wenn es uns sieht, um sich greifen und töten zu lassen? Gut, daß das Kaninchen uns nicht versteht; gut, daß es nicht Überlegungen der Art anzustellen vermag. Sonst möchte es sich zu der Meinung veranlagt sehen, daß bei den Menschen oft kein großer Unterschied zwischen Heroismus und Dummheit besteht.

Und wenn es dem Fuchs, der für klug gilt, in den Sinn käme, Märchen zu schreiben, als Erwiderung auf alle, die seit langer Zeit die Menschen zur Verhöhnung der Tiere ans Licht bringen, wieviel Stoff, liebe Fledermaus, würden ihm die menschlichen Ansichten und das menschliche Wesen bieten.

Allein der Fluchs würde es gar nicht tun, denn bei seiner Klugheit würde er natürlich begreifen, daß, wenn ein Märchenerzähler beispielsweise einen Esel und einen dummen Menschen reden läßt, der Esel nicht der Dumme ist, sondern der Mensch der Esel. Genug. Ich schließe das Fenster, Momino, und gehe zu Bett. Das war Philosophie heute abend, was? Und wahrhaftig eine etwas tierische, mit den Pferden im Anfang und dann dem Insekt und jetzt der Fledermaus und der Schildkröte und dem Kaninchen und dem Fuchs und dem Esel und dem Menschen …

*

Ich verstehe, daß die Zeit, jedenfalls die in Tage, Mondumläufe und Monate zerbröckelte unseres Kalenders, für dich jetzt wie ein Nichts ist. Aber ich hatte mir eingebildet, durch mich könne ein Schimmer von Leben das Dunkel erhellen, in das du versunken bist, und meine Stimme, die so laut ist, käme doch als spinnendünnes Stimmchen zu dir, um die feuchte und unbewegte Stille um dich her ein wenig zu beleben.

Zehn Monate sind vergangen, Momo. Hast du es bemerkt? Zehn Monate habe ich dich im Dunkel gelassen, ohne dir eine Zeile zu schreiben. Sei jedoch versichert, daß ich keine Neuigkeit übergangen habe. Die Welt ist immer noch gleich schmutzig und vielleicht noch ein wenig dümmer.

Und glaube nicht, daß ich dich auch nur einen Augenblick vergessen habe, vom allabendlichen Schreiben hat mich zunächst die Suche nach einer neuen Wohnung abgehalten. Dann dachte ich: Sollte ich mich wirklich nicht an ein Leben in diesen drei Kämmerchen gewöhnen können? Warum suche ich ein geräumigeres Haus? Vielleicht, um noch mehr Einsamkeit um mich zu haben? Und dieser letzte Gedanke hat mich einer unsagbaren Traurigkeit ausgeliefert.

Ach, für die Alten, die allein zurückbleiben, und dazu noch ohne eigenes Heim, ist die letzte Lebenszeit geradezu unerträglich.

Lebendig erneuert sich in meiner Seele der Eindruck, den ich als junger Mensch hatte, wenn ich unterwegs einen alten Mann traf, der die vom Leben entstellten Glieder mühsam dahinschleppte. Ich folgte solchen alten Leuten eine Strecke ganz benommen und beobachtete jede ihrer Bewegungen: die mageren, verkrümmten Beine, die Füße, die sich, schien es, von der Erde nicht mehr trennen konnten, den gebogenen Rücken, die zitternden Hände, den vorgestreckten und wie unter einem grausamen Joch gedemütigten Hals, dessen Lasten und Leiden die glanzlosen Augen ohne Brauen aussprachen, während sie sich schlossen. Und ich empfand einen tiefen Kummer, der dumpfe Bestürztheit und zugleich Zorn auf das Leben war, das sich ein Vergnügen daraus macht, seine armen Geschöpfe in einen so erbarmungswürdigen Zustand zu bringen.

Allen, denen es richtig erscheint, Junggeselle zu bleiben, sollte das Tor des Lebens sich an der Schwelle des Alters schließen, das eine gute und ruhige Herberge nur für Großväter ist, will sagen für den, der von einem lieblichen Gehege von Nachkommen umgeben ist. Alte Junggesellen müßten sich den Eintritt versagen oder zu Brüdern gepaart hineingehen, wie es meine Absicht war. Aber du hast mich im entscheidenden Augenblick verraten. Die Folge deines Verrates war dein beschleunigtes Ende, schmerzlicher jedoch vermutlich für mich, da ich so allein und verlassen zurückgeblieben bin, als für dich, der sich solcher Ungerechtigkeit, um nicht zu sagen Undankbarkeit, gegen den Freund schuldig gemacht hat.

Laß mich dir mein Herz ausschütten! Ich habe eine böse Zeit durchgemacht. Es kam ein Augenblick, da habe ich die Koffer gepackt, und weg!

Ich wollte die drei Seen wieder besuchen, und besonderes Verlangen hatte ich nach dem von Lugano, der mir bei der Gemütsverfassung, in der ich die erste Reise zur Zeit deiner Heirat unternahm, den größten Eindruck gemacht hatte.

Ich war enttäuscht.

Dabei heißt es, daß alte Leute die Dinge nicht mehr sehen können, wie sie sind, sondern nur, wie sie sie früher gesehen haben.

Mehr als alles andere lernte ich eine bestimmte Baumgruppe verachten, die ich als sehr hoch und stolz im Gedächtnis hatte. Jetzt fand ich sie dagegen zwergenhaft und verkrümmt, niedrig und verstaubt. Ich betrachtete sie lange und traute meinen Augen nicht; aber es waren dieselben, ohne jeden Zweifel, und auf dem alten Platz, und es schien mir, als ließen sie folgende Antwort auf meine Enttäuschung vernehmen: »Du hast unrecht getan, wiederzukommen, Greis! Wir waren sehr hohe und stolze Bäume für dich. Aber, siehst du es jetzt? Wir sind immer so gewesen, traurig und kümmerlich …«

Ohne deine Glückwünsche habe ich in Moltrasio am Comer See das sechzigste Jahr vollendet. In einer kleinen Wirtschaft hob ich das Glas und murmelte: »Stirb Tomaso, sobald es geht!«

Vorgestern bin ich nach Rom zurückgekehrt.

Und jetzt müßte ich mit Dingen kommen, die peinlich für dich sind, aber ich fühle, daß es mir nicht mehr möglich ist.

Das Bild deines gequollenen Sarges liegt auf meinem Geist wie ein Alpdruck, und ich glaube, falls es noch nicht geschehen ist, daß er platzen würde, wenn ich dir sagte, was sich in deinem Hause vorbereitet. Und ich kann nichts dagegen tun, lieber Freund. Ich sagte dir, daß mich anfangs die Suche nach einem neuen Heim vom Schreiben an dich abgehalten habe; allein den wahren Grund, der auch der Grund meiner Reise nach dort oben war, habe ich dir nicht genannt.

Es mag dir genügen zu wissen, daß deine Frau den Wunsch geäußert hat, ich möchte die Möbel, die mein Eigentum und noch in dem Hause sind, das uns gehörte, zurücknehmen, und daß sie mir auf meine Versicherung, ich wüßte nicht, was ich damit anfangen und wo ich sie unterbringen solle, und meine Bitte, sie doch zu behalten und als die ihrigen zu betrachten, die monatliche Anweisung mit dem Bemerken zurückgeschickt hat, sie habe sie nicht mehr nötig.

Dein Schwager scheint in der Tat ich weiß nicht was für einen recht gewinnbringenden Medikamentenhandel mit einem seiner neapolitanischen Geschäftsfreunde angefangen zu haben. Für den wird die Gesundheit ein immer kostbareres gut werden; denn bei diesem Handel wird arm, wer sie verliert und wiederzubekommen sucht.

Deine Frau wird mittelbar an diesem Geschäft teilnehmen, denn der Gesellschafter in Neapel scheint einen Bruder zu haben, und dieser Bruder, der nach Rom gekommen ist, um den Handel abzuschließen, scheint bei dem Abschluß für sich deine Frau mit eingeschlossen zu haben.

So ist es, lieber Freund. Binnen kurzem wird sie diesen Bruder des Neapler Geschäftsfreundes ehelichen. Aber ich wäre um eines so gewöhnlichen, verzeih mir, und so leicht vorauszusehenden Ereignisses willen nicht in die Schweiz geflüchtet, wenn …

Kurz und gut, Momo, ich nehme an, daß dein Sarg schon geplatzt ist, und erzähle es dir. Deine Frau hat mit Hilfe des Herrn Postella den Mut gehabt, mir unmißverständlich anzudeuten, daß sie in einem einzigen Fall das Heiratsanerbieten des Bruders des Neapler Geschäftsfreundes zurückweisen würde. Und weißt du, in welchem? Wenn ich sie heiratete. Verstehst du? Ich. Deine Frau. Und weißt du auch, weshalb? Um die letzte Pflicht gegen dein geheiligtes Andenken zu erfüllen.

Aber glaubst du etwa, ich sei aus Erbitterung in die Schweiz geflüchtet? Nein, Momo. Ich bin geflüchtet, weil ich drauf und dran war, in die Falle zu gehen. Ja, lieber Freund; wie ein alter Dummkopf. Und wenn Dummkopf dir nicht genügt, so nenn mich, wie du sonst willst. Ich nehme alles hin. So, nun weißt du den wahren Grund der zehnmonatigen Unterbrechung unserer Korrespondenz.

Wohin war ich geraten, wohin war ich geraten, lieber Freund! Ich war so weit, daß ich mich mit dem Gedanken befreundete, du, du selbst überredetest mich, deine Frau zu heiraten, und mit solchen Gründen, daß ich, wiewohl sie auf einem verzweifelten Entschluß beruhten, dennoch einen glaubte für berechtigter und vernünftiger erklären zu müssen als den andern. So war es. In deinem und ihrem Sinn berechtigter und vernünftiger. In deinem Sinn, weil es dir sehr viel weniger unangenehm sein müßte, wenn ich deine Frau heiratete, als wenn ein anderer es tat; denn so konntest du sicher sein, als Dritter im Geist mit deiner Familie verbunden zu bleiben und nicht dem Vergessen anheimzufallen. Und auch in ihrem Sinne: denn wenn sie einerseits auf den Vorteil verzichtete, jemanden zu ehelichen, der sehr viel jünger war als ich, so standen auf der andern Seite als Gewinn das vollkommen gesicherte Dasein, Ruhe und die Gewißheit, im eigenen Heim bleiben zu können, ohne Verschlechterung oder auch nur Veränderung der Lage. Und du hattest außerdem noch das hämische Vergnügen, mich, obschon älter als du, das tun zu sehen, weswegen ich dich zu Lebzeiten so sehr verurteilte.

Zum Glück habe ich rechtzeitig begriffen, wie grauenvoll das Leben in seiner Beziehung zum Toten ist; und daß es ein wahres Verbrechen ist, Verstorbenen immer noch Mitteilungen aus dem Leben zu machen, dem gleichen Leben, aus dem sich für uns ihre Wirklichkeit zusammensetzte, solange sie da waren, das aber, wiewohl es in unserm Gedächtnis weiterdauert, solange wir da sind, nun doch einmal durchaus und ohne Widerstände abgebrochen werden muß, mag es auch noch so unverdient sein. Bei meinem Reden mit dir konnte es ohne weiteres dahin kommen, daß ich dir zum Beschluß dieser Mitteilungen aus der Welt auf einer lithographisch gedruckten Karte die Nachricht von meiner Vermählung mit deiner Frau übersandt hätte. Hast du begriffen?

Und deshalb genug damit. Machen wir ein Ende.


 << zurück weiter >>