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Nichts

Es ist Nacht. Die Droschke rollt lärmend über den weiten, verödeten Platz und hält unversehens vor der kalten Helligkeit der undurchsichtigen Glastür einer Apotheke an der Ecke der Via San Lorenzo. Ein Herr im Pelz stürzt sich auf die Klinke dieser Glastür, um sie zu öffnen.

»Versuchen Sie zu schellen!« rät der Kutscher.

»Wo -- wie schellt man?«

»Sehen Sie, da ist der Knopf. -- Ziehen Sie!«

Der Herr zieht in rasender Wut.

»Schöner Nachtdienst!«

Und die Worte dampfen im Frost der Nacht unter der roten Laterne, als verwandelten sie sich in Rauch. Vom nahen Bahnhof steigt klagend der Pfiff eines abfahrenden Zuges auf. Der Kutscher zieht die Uhr, beugt sich zu einer von seinen Laternen und sagt: »Herrje, fast drei …«

Endlich kommt der Apothekergehilfe, der völlig schlaftrunken ist und sich den Jackenkragen bis über die Ohren gezogen hat, und macht auf.

Und der Herr sofort: »Ist ein Arzt da?«

Wie der Gehilfe die Kälte von draußen an Gesicht und Händen spürt, zieht er sich zurück, hebt die Arme, ballt die Hände und fängt an, sich gähnend die Augen zu reiben:

»Zu dieser Stunde?«

Um Bemerkungen des Besuchers abzuschneiden, der -- mein Gott, gewiß -- mit Recht all die Wut hat -- wer sagt denn das Gegenteil --, aber der auch fühlen müßte, daß einer mit dem gleichen Recht schläfrig ist, nimmt er dann aber wirklich die Hände von den Augen und bedeutet dem Herrn zunächst zu warten; darauf läßt er ihn hinter den Ladentisch in das Laboratorium der Apotheke folgen. Der Kutscher, der draußen geblieben ist, steigt indes vom Bock und gönnt sich das Vergnügen, seine Hose aufzuknöpfen und dort, angesichts des weiten, verödeten, von schimmernden Trambahngleisen überzogenen Platzes das zu tun, was tagsüber ohne gehörige Vorkehrungen nicht gestattet ist.

Denn es ist auch eine Lust, während ein anderer von einer Sorge gepackt sich abmüht, bei seinen Mitmenschen Beistand und Hilfe zu finden, so in aller Ruhe einem kleinen Bedürfnis der Natur zu genügen und zu sehen, daß alles an Ort und Stelle bleibt: die Reihe der dunklen Steineichen, die den Platz säumen, die hohen Eisenstangen, die das Netz der Trambahndrähte halten, all die hohlen Monde oben auf den Straßenlaternen und die Büros des Zollamtes neben dem Bahnhof.

Das Laboratorium der Apotheke, das ein niedriges Dach hat und überall Regale, ist fast finster und durch den üblen Geruch der Medikamente verpestet. Ein schmutziges Öllämpchen, das auf dem Regal gegenüber der Eingangstür vor einem Heiligenbild brennt, scheint nicht einmal sich selbst beleuchten zu wollen. Der Tisch in der Mitte, ganz besetzt mit Karaffen, Schalen, Wagen, Mörsern und Trichtern, läßt zunächst nicht erkennen, ob sich der Arzt auf dem zerfetzten Ledersofa unter dem Regal der Tür gegenüber schlafen gelegt hat.

»Ja, da ist er,« sagt der Apothekergehilfe, indem er auf einen riesigen Mann zeigt, der unter Beschwerden schläft, weil er sich zu einem Bündel zusammengedrückt und das Gesicht gegen die Lehne gepreßt hat.

»Donnerwetter, so wecken Sie ihn doch!«

»Das sagen Sie so -- was glauben Sie? Er ist imstande und gibt mir einen Fußtritt.«

»Aber er ist Arzt?«

»Arzt, gewiß. Doktor Mangoni.«

»Und gibt Fußtritte?«

»Begreiflicherweise. Ihn jetzt zu wecken …«

»Dann wecke ich ihn!«

Und der Herr bückt sich entschlossen über den Diwan und schüttelt den Schlafenden.

»Doktor, Doktor!«

Doktor Mangoni brummt in seinen struppigen Bart, der die Backen bis fast unter die Augen bedeckt. Dann ballt er die Fäuste über der Brust, hebt die Ellenbogen und reckt sich; endlich bringt er es zu einem krummen Sitzen, aber die Augen unter den herabhängenden Brauen sind noch geschlossen. Ein Hosenbein auf der dicken Wade bleibt hochgezogen und läßt die leinene Unterhose sehen, die mit einem Bändchen über dem rohen wollenen Strumpf altmodisch zusammengeschnürt ist.

»Hören Sie, Doktor … Aber bitte sofort«, sagt ungeduldig der Herr. »Ein Fall von Ersticken …«

»Durch Kohlengas?« fragt der Arzt, während er sich umdreht, ohne jedoch die Augen zu öffnen. Er hebt die Hand zu einer theatralischen Gebärde, versucht die Stimme aus der verschlafenen Kehle zu holen und gibt die Arie aus der »Gioconda« an: »Selbstmord? In solchen Augenblicken …«

Der Herr macht eine Bewegung, die Staunen und Unwillen verrät. Aber Doktor Mangoni legt den Kopf schon wieder zurück und sagt, während er anfängt wenigstens ein Auge aufzumachen:

»Verzeihung, ist es ein Verwandter von Ihnen?«

»Nein, mein Herr. Aber beeilen Sie sich doch bitte. Unterwegs werde ich Ihnen alles erzählen. Ich habe einen Wagen hier, für den Fall, daß Sie etwas mitnehmen müssen.«

»Ja, gib mir … gib mir …« fängt Doktor Mangoni, sich an den Gehilfen wendend, einen Satz an und beginnt aufzustehen.

»Lassen Sie mich nur machen, lassen Sie mich nur machen, Herr Doktor«, antwortet der, während er den Knopf des elektrischen Lichtes dreht und sich mit einer fröhlichen Eile abmüht, die dem nächtlichen Kunden Eindruck macht.

Doktor Mangoni senkt den Kopf wie ein Rind, das sich zum Stoßen anschickt, um die Augen vor dem plötzlichen Licht zu schützen.

»Schön, mein guter Junge,« sagt er, »aber Du hast mich geblendet. Oh! und mein Helm, wo ist der?« Der Helm ist der Hut. Er hat ihn, das weiß er. Was das Haben angeht, so hat er ihn. Ganz gewiß. Er weiß, daß er ihn vor dem Einschlafen auf die Fußbank neben den alten Diwan gelegt hat. Wohin ist er geraten? Er macht sich ans Suchen. Das tut auch der Kunde und dann auch der Kutscher, der eingetreten ist, um sich in der warmen Apotheke zu ermuntern. Inzwischen hat der Angestellte Zeit genug, ein ordentliches Paket mit den nötigsten Medikamenten zurechtzumachen.

»Haben Sie die Spritze für die Infektionen, Doktor?«

»Ich?« erwidert, sich umdrehend, Doktor Mangoni mit einem Erstaunen, das bei dem andern einen Lachanfall auslöst.

»Gut, gut! Wie sagt man doch -- Senfpflaster -- genügen acht? -- Koffein … Strychnin … eine »Pravatz« und Sauerstoff, Doktor? Ich denke, Sie werden auch einen Ballon Sauerstoff gebrauchen …«

»Den Hut brauche ich, den Hut, vor allem den Hut«, ruft Doktor Mangoni schnaufend. Und er erklärt, daß er an diesem Hut unter anderm so hänge, weil er ein historischer Hut sei, vor etwa elf Jahren anläßlich des Leichenbegängnisses von Ordensschwester Maria gekauft, der Priorin des Nachtasyls im vicolo del Falco in Trastevere, wohin man sich des öfteren begebe, um eine Schüssel ausgezeichneter und billiger Nudeln zu essen und, wenn man in der Apotheke keinen Dienst habe, auch zu schlafen.

Endlich hat der Hut sich gefunden, aber nicht im Laboratorium, sondern unter der Bank vorn in der Apotheke. Das Kätzchen hat mit ihm gespielt.

Der Besucher zittert vor Ungeduld. Allein es findet noch eine lange Auseinandersetzung statt, denn Doktor Mangoni, der den ganz zerbeulten Zylinder in der Hand hält, sucht zu beweisen, daß das Kätzchen allerdings mit ihm gespielt hat, daß aber auch der Apothekergehilfe ihm überdies unter der Bank mit dem Fuß eine tüchtige Quetschung beigebracht haben muß. genug. -- Die Faust einmal ordentlich in den Zylinder gestoßen, der wie durch ein Wunder nicht auseinandergeht, und Doktor Mangoni schlägt ihn sich schief auf den Kopf.

»Zu Ihrem Befehl, verehrtester Herr!«

*

»Ein armer junger Mensch«, beginnt der Herr sofort, während er wieder in die Droschke steigt und über die Beine des Arztes und über seine eigenen die Decke breitet.

»Ah, ausgezeichnet, danke!«

»Ein armer junger Mensch, der mir von einem meiner Brüder sehr ans Herz gelegt wurde, damit ich ihn unterbrächte. Na ja, Sie wissen. Als ob es das Leichteste von der Welt und im Handumdrehen zu machen wäre. Die alte Geschichte. Es ist, als lebten sie in der andern Welt, diese Provinzler. Sie glauben, man brauche nur nach Rom zu gehen, so finde man eine Anstellung, und zwar sofort. Auch mein Bruder hat mir so eine Aufgabe zugemutet, jawohl. Einer von denen ohne Beruf, Sie kennen sie ja, Sohn eines Gutsverwalters, der vor zwei Jahren im Dienst meines Bruders gestorben ist. Kommt nach Rom, um was zu tun? Nichts. Journalist will er werden. Er zeigt mir seine Ausweise: Das Abgangszeugnis des Gymnasiums und ein Sammelsurium von Versen. Er sagt: ›Sie müssen bei irgendeiner Zeitung einen Posten für mich finden.‹ Ich bin nicht verrückt und setze mich sofort in Bewegung, um bei der Polizei die Zurückbeförderung in die Heimat zu erwirken. Inzwischen durfte ich ihn aber nicht auf der Straße sitzen lassen, noch dazu bei Nacht. Halb nackt war er und in dem alten Leinenanzug, der an ihm herumflatterte, halbtot vor Kälte, und nicht mehr als zwei oder drei Lire in der Tasche. Ich bringe ihn in einem von meinen Häuschen unter, in San Lorenzo, das an Leute gewisser Art vermietet wurde -- na ja -- üble Leute, die zwei Kämmerchen an andre weitergeben. Seit vier Monaten zahlen sie die Miete nicht. Ich mache mir das zunutze und stecke ihn zum Schlafen dorthin. Na schön! Es vergehen fünf Tage. Keine Möglichkeit, den Schein für die Zurückbeförderung bei der Polizei zu bekommen. Die Kleinlichkeit dieser Beamten! Wie die Vögel, überall machen sie hin … Verzeihung! Um den Schein auszustellen, müssen sie Gott weiß was für Erkundigungen erst im Heimatsort und dann hier … Kurz und gut, heute abend war ich im Theater, im Nazionale. Um halb eins kommt ganz verstört der Sohn meiner Mieterin, um mich zu holen. Der Unglückliche, sagt er, habe sich mit einem brennenden Kohlenbecken im Zimmer eingeschlossen. Seit sieben Uhr, denken Sie nur!«

Jetzt beugt sich der Herr ein wenig vor, um in der Wagenecke nach dem Arzt zu sehen, der während der Erzählung kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hat. Er fürchtet, daß er wieder eingeschlafen ist, und wiederholt lauter:

»Seit sieben Uhr abends!«

»Wie gut dieses Pferdchen läuft«, sagt Doktor Mangoni, der sich voll tiefen Behagens im Wagen ausgestreckt hat.

Dem Herrn ist, als habe er im Finstern einen Faustschlag auf die Nase bekommen, »Verzeihen Sie, Doktor, haben Sie nicht gehört?«

»Doch, doch.«

»Seit sieben Uhr abends. Von sieben bis Mitternacht, fünf Stunden.«

»Genau.«

»Aber er atmet noch, denken Sie! Allerdings kaum. Und ganz steif geworden ist er und …«

»Ach, wie schön! Es werden … ja, warten Sie, drei … nein, was sage ich? wenigstens fünf Jahre sein, daß ich nicht im Wagen gefahren bin. Wie gut das doch geht!«

»Entschuldigen Sie, ich erzählte Ihnen …«

»Jawohl, jawohl. Aber, Verzeihung, was soll mir jetzt die Geschichte dieses Unglücklichen?«

»Erzählte Ihnen, daß seit fünf Stunden …«

»Schon gut, schon gut. Wir werden ja sehen. Glauben Sie denn, daß Sie ihm einen Gefallen tun?«

»Was heißt das?«

»Nun ja, ich meine … Eine Verwundung im Duell, ein Ziegelstein auf den Kopf, ein Unfall welcher Art auch immer: wenn man da hilft und den Arzt ruft, das verstehe ich. Aber bei einem armen Menschen, der sich ganz sachte hinlegt, um zu sterben, denke ich?«

»Was heißt das?« wiederholt, immer verwunderter, der Herr.

Und Doktor Mangoni, höchst gelassen:

»Erlauben Sie, das meiste hatte der Arme schon hinter sich. Statt Brot hatte er sich die Kohlen gekauft. Vermutlich hat er die Tür verrammelt, oder nicht? alle Löcher verstopft, sich vorher wohl gar mit Opium eingeschläfert. Fünf Stunden waren vergangen, und da kommen Sie und stören ihn im schönsten Augenblick.«

»Sie scherzen«, ruft der Herr.

»Nein, nein, ich spreche im Ernst.«

»Himmel«, wettert der los. »Mir scheint vielmehr, daß man mich gestört hat, man hat mich gerufen …«

»Ja, ich weiß, im Theater.«

»Sollte ich ihn etwa sterben lassen? Und dann die neuen Scherereien, als hätte ich nicht schon allerhand durch ihn gehabt. So etwas tut man nicht bei andern Leuten, sollte ich denken.«

»Gewiß, gewiß, von dem Gesichtspunkt haben Sie recht«, gibt Doktor Mangoni mit einem Seufzer zu. »Zum Sterben hätte er wo anders hingehen können, meinen Sie. Sie haben recht. Allein das Bett reizt, wissen Sie, reizt gewaltig -- so auf der Erde sterben wie ein Hund -- lassen Sie sich's von einem sagen, der keins hat.«

»Was?«

»Ein Bett.«

»Sie?«

Doktor Mangoni zögert mit der Antwort. Darauf langsam, im Ton von einem, der etwas zum soundso vielten Mal wiederholt:

»Ich schlafe je nach Möglichkeit. Ich esse je nach Möglichkeit. Ich kleide mich nach Möglichkeit.« Und gleich fügt er hinzu:

»Doch glauben Sie ja nicht, daß ich deswegen bekümmert bin. Ganz im Gegenteil. Ich bin nämlich ein großer Mann, daß Sie's wissen, habe aber abgedankt.«

Der Herr gewinnt Interesse an diesem Sonderling von Arzt, mit dem der Zufall ihn zusammengeführt hat, und fragt lachend:

»Abgedankt? Was verstehen Sie unter abgedankt?«

»Ich habe zur rechten Zeit begriffen, lieber Herr, daß es die Mühe nicht lohnt; ja daß man um so kleiner bleibt, je mehr man sich anstrengt, groß zu werden.«

»Notgedrungen.«

»Verzeihung, sind Sie verheiratet?«

»Ich? jawohl.«

»Mich dünkt, Sie haben geseufzt, als Sie jawohl sagten.«

»Aber nein, ich habe gewiß nicht geseufzt.«

»Dann genug davon. Wenn Sie nicht geseufzt haben, wollen wir nicht weiterreden.«

Und Doktor Mangoni drückt sich wieder in die Wagenecke und gibt damit zu verstehen, daß er eine Fortsetzung der Unterhaltung zwecklos findet. Aber der Herr ist nicht zufrieden.

»Sagen Sie, was hat denn meine Frau hiermit zu tun?«

In dem Augenblick dreht sich der Kutscher auf dem Bock um und fragt: »Wo ist es denn eigentlich? Wir sind gleich in Lampoverano.« Friedhof in Rom.

»O je«, ruft der Herr aus. »Umdrehen, umdrehen! Wir sind längst am Haus vorbei.«

»Schade, daß wir zurückfahren«, sagt Doktor Mangoni … »wo wir schon halb am Ziel sind.«

Der Kutscher dreht fluchend um.

*

Eine dunkle Treppe, die einer abschüssigen Höhle gleicht, finster, feucht und stinkend.

»Au, verflucht … Gotto Gotto Gotto Gott!«

»Was ist? Haben Sie sich wehgetan?«

»Der Fuß …au au … Aber gibt's denn kein Streichholz?«

»Tolle Wirtschaft! Ich suche die Schachtel … kann sie nicht finden.«

Endlich zeigt sich ein Schimmer, der aus einer offenen Tür am Treppenabsatz des dritten Stockwerkes kommt.

Wo das Unglück im Haus ist, hat es die Eigentümlichkeit, die Tür aufzulassen, so daß sich jeder Fremde zum Gaffen hereinschleichen kann.

Doktor Mangoni folgt hinkend dem Herrn, der durch ein kümmerliches Vorzimmer geht, wo ein helles Petroleumlämpchen auf dem Fußboden nahe dem Eingang steht, und dann, ohne irgend jemanden um Erlaubnis zu fragen, über einen finsteren Korridor mit drei Türen, von denen zwei geschlossen sind, aber die dritte am Ende des Flurs offen und schwach beleuchtet ist. Der verstauchte Fuß tut ihm so weh, daß er den Sauerstoffballon, den er in der Hand hat, am liebsten dem Herrn an den Kopf würfe, aber er legt ihn auf den Boden, bleibt stehen, stützt sich mit einem Arm an der Wand, ergreift mit dem andern den Fuß und drückt ihn stark am Knöchel, während er ihn mit verzerrtem Gesicht hin und her bewegt.

Inzwischen ist in dem Zimmer am Ende des Korridors, Gott weiß warum, ein Streit zwischen dem Herrn und den Mietern ausgebrochen. Doktor Mangoni läßt den Fuß los und versucht weiterzukommen, denn er möchte wissen, was geschehen ist. Da kommt ihm wie ein Stoßwind der Herr entgegen und schreit:

»Ja, ja, Esel seid ihr, Esel, Esel!«

Er hat kaum Zeit, ihm aus dem Weg zu gehen, dreht sich um und sieht ihn über den Sauerstoffballon stolpern.

»Vorsicht, Vorsicht, um Himmels willen!«

Ach was ›Vorsicht‹! Der gibt dem Ballon einen Fußtritt. Der Doktor bekommt ihn zwischen die Beine und fällt beinahe zum zweiten Male. Fluchend entwischt er. Da erscheint auf der Schwelle des Zimmers am Ende des Korridors dick und tölpelhaft ein Alter in Pantoffeln und Hausmütze. Um den Hals trägt er einen dicken Shawl aus grüner Wolle, und aus dem steigt ein mächtiges, gänzlich geschwollenes, violettes Gesicht, das von einer hochgehaltenen Stearinkerze beleuchtet wird.

»Verzeihung … Ich meine doch … oder wäre es etwa besser gewesen, ihn hier in Erwartung des Arztes sterben zu lassen?«

Doktor Mangoni ist der Meinung, der Alte wende sich an ihn, und erwidert:

»Da bin ich, bin schon da.«

Der aber hebt die Hand mit der Stearinkerze, streckt sie ihm entgegen, sieht ihn und fragt ganz verdutzt:

»Sie? Wer?«

»Sprachen Sie nicht vom Arzt?«

»Ach was Arzt, ach was Arzt!« läßt sich im Zimmer eine schreiende Frauenstimme vernehmen.

Und auf den Flur stürzt die Gattin des würdigen Alten in Pantoffeln und Hausmütze, durch und durch zitternd, mit einem wehenden Schopf dichter, grauer Haare, schwarz umränderten, verdickten und verbeulten Augen und einem schiefen, unanständig gemalten Mund, der krampfhaft zuckt. Sie legt den Kopf auf die eine Seite, um sehen zu können, und fügt gebieterisch hinzu:

»Sie können gehen, Sie können gehen. Sie sind hier nicht mehr nötig. Wir haben ihn in die Poliklinik bringen lassen, weil er im Sterben war.«

Und den Mann tüchtig gegen den Arm stoßend: »Mach, daß er geht!«

Der Mann gibt einen Schrei von sich und tut einen Sprung, weil er beim Stoß gegen den Arm ein paar heiße Tropfen von der Kerze auf die Finger bekommen hat.

»He sachte, heiliger Gott!«

Doktor Mangoni verwahrt sich, jedoch ohne sonderlichen Ärger, er sei weder ein Dieb noch ein Mörder, daß man ihn auf solche Art und Weise herauswerfen müsse. Er sei gekommen, weil man ihn aus der Apotheke geholt habe, vorläufig trage er jedoch nichts als einen verstauchten Fuß davon und bitte deshalb, man möge ihn wenigstens einen Augenblick sitzen lassen.

»Aber natürlich, kommen Sie, nehmen Sie Platz, nehmen Sie Platz, Herr Doktor«, beeilt sich der Alte zu erwidern, während er ihn in das Zimmer am Ende des Korridors führt. Die Frau, die den Kopf immer noch schief hält wie ein aufgeregtes Huhn, mustert ihn neugierig und ist ganz beeindruckt von dem wilden, bis unter die Augen reichenden Bart. »Sehen Sie, da hat man nun Gutes getan,« sagt sie jetzt besänftigt und als eine Art von Entschuldigung, »und wird dafür noch getadelt.«

»Ja getadelt«, fügt der Alte hinzu und steckt die brennende Kerze in die Tülle des Leuchters auf dem Nachttischchen neben dem leeren, unordentlichen Bett, auf dessen Kissen noch der Abdruck vom Kopf des jungen Selbstmörders zu sehen ist. Gelassen entfernt er dann die geronnenen Tropfen von den Fingern und fährt fort:

»Denn er sagt, denken Sie, man hätte ihn nicht ins Krankenhaus bringen dürfen, hätte ihn nicht …«

»Ganz schwarz war er«, schreit auffahrend die Frau. »Ach das Gesichtchen -- wie ausgesogen -- und die Augen! Und die schwarzen Lippen, die hier, sehen Sie hier, die Zähne freigaben, aber nur eben -- und kein Atem mehr …«

Und sie bedeckt das Gesicht mit den Händen.

»Sollten wir ihn denn ohne Hilfe sterben lassen?« fragt noch einmal ruhig der Alte. »Aber wissen Sie, weshalb er so wütend geworden ist? Weil er argwöhnt, daß dieser arme Junge ein Bastard eines seiner Brüder ist.«

»Und zu uns hat er ihn gesteckt,« fährt die Frau fort, indem sie wieder aufspringt, »ja, ich weiß nicht, ob aus Wut oder Mitleid. In meinem Hause hat die Tragödie jedenfalls begonnen, die vorläufig auch noch kein Ende nehmen wird; denn meine Tochter, die älteste, hat sich in ihn verliebt, denken Sie nur. Als sie ihn sterben sah, hat sie ihn -- stellen Sie sich den Anblick vor -- wie eine Verrückte auf die Schultern genommen -- ich weiß nicht wie, und mit Hilfe des Bruders die Treppe hinuntergetragen, in der Hoffnung, auf der Straße einen Wagen zu finden. Vielleicht haben sie auch einen gefunden. Und nun sehen Sie die andere Tochter an, wie sie weint …« Doktor Mangoni hat schon beim Eintreten im anstoßenden Eßzimmerchen ein kräftiges, blondes und zerzaustes Mädchen erblickt, das die Ellenbogen auf den Tisch stützt, den Kopf zwischen den Händen hält und aufmerksam liest. Sie liest und weint, ihr Kleid ist offen, und im gelben Schein der Hängelampe sind die üppigen, runden Brüste fast ganz zu sehen. Der alte Vater, dem Doktor Mangoni sich jetzt ganz befangen zuwendet, macht mit den Händen Gebärden der höchsten Bewunderung. Über die Brüste der Tochter? Nein. Über das, was das Mädchen dort unter Tränen liest, über die Gedichte des jungen Menschen.

»Ein Dichter!« ruft er aus. »Ein Dichter! -- O wenn Sie hörten … Dinge, sage ich Ihnen, Dinge … Ich verstehe mich darauf, denn ich bin Professor der Literatur, jetzt im Ruhestand … Große Dinge, große Dinge …«

Und er geht hin, um ein paar Gedichte zu holen. Allein die Kleine verteidigt sie wütend; denn sie fürchtet, daß die ältere Schwester, wenn sie mit dem Bruder vom Krankenhaus zurückkommt, sie nicht mehr lesen lassen, sondern die Gedichte eifersüchtig hüten wird wie einen Schatz, für dessen einzige Erbin sie sich hält.

»Wenigstens ein paar von denen, die du schon gelesen hast,« beharrt schüchtern der Vater.

Aber das Mädchen legt sich mit der ganzen Brust über die Papiere, stampft mit dem Fuß und ruft: »Nein!« -- Dann rafft es sie vom Tisch, drückt sie mit den Händen gegen den offenen Busen und nimmt sie mit in ein anderes, weiter hinten gelegenes Zimmer.

Doktor Mangoni dreht sich jetzt um und sieht sich noch einmal das leere, traurige Bett an, das seinen Besuch überflüssig gemacht hat. Dann betrachtet er das Fenster des düsteren Zimmers, das trotz der Frostnacht offen geblieben ist, damit der Kohlendunst entweichen kann.

Der Mond scheint auf die Fensteröffnung. Aus der großen Nacht. Doktor Mangoni denkt ihn, wie er ihn manchmal auf seinen weiten Fahrten beobachtet hat, wenn die Menschen schlafen und ihn nicht mehr sehen, als verwaist und in den hohen Himmeln wie verloren.

Die Düsterkeit des Zimmers, des ganzen Hauses, das doch nur eines unter so vielen Häusern der Menschen ist, wo die Versuchung, um das grundlose Elend des Lebens fortzupflanzen, ihr Spiel in Gestalt zweier Brüste einer Frau treibt, wie die, die er soeben im Schein der Hängelampe dort im Zimmer gesehen hat, erfüllt ihn mit so eisiger Entmutigung und mit so scharfer Erbitterung, daß es ihm nicht mehr möglich ist, sitzen zu bleiben.

Schwer atmend steht er auf, um fortzugehen. Aber schließlich ist dies doch nur einer von den vielen Bällen, die ihm begegnen, wenn er in einer Apotheke Nachtdienst tut. Vielleicht ein wenig trauriger als die andern, wenn man bedenkt, daß dieser arme Junge vermutlich -- ja, wer weiß -- wirklich ein Dichter war … Und in diesem Fall doch besser, daß er gestorben ist.

»Hören Sie,« sagt er zum Alten, der sich ebenfalls erhoben hat, um die Kerze wieder in die Hand zu nehmen. »Der Herr, der Ihnen Vorwürfe gemacht und der mich in der Apotheke gestört hat, muß wahrhaftig ein Dummkopf sein. Warten Sie, lassen Sie mich ausreden! Nicht so sehr, weil er Sie getadelt, als weil er auf meine Frage, ob er verheiratet sei, mit Ja erwidert hat, ohne zu seufzen. Verstehen Sie mich?«

Der Alte starrt ihn mit offenem Munde an. Offenbar begreift er nicht. Aber die Frau begreift, denn sie springt auf und fragt:

»Etwa weil, wer sagt, daß er eine Frau hat, Ihrer Meinung nach seufzen muß?«

Und Doktor Mangoni schlagfertig:

»Genau wie Sie, liebe Frau, wahrscheinlich seufzen, wenn jemand Sie fragt, ob Sie einen Mann haben.«

Und er macht es ihr vor. Dann fährt er fort:

»Eine Frage: Wenn der junge Mensch sich nicht getötet hätte, würden Sie ihm Ihre Tochter zur Frau gegeben haben?«

Sie sieht ihn eine Weile mit schiefem Gesicht an und antwortet dann herausfordernd:

»Und warum nicht?«

»Und Sie hätten ihn zu sich ins Haus genommen?« fragt Doktor Mangoni wieder. Und die Frau wie vorher:

»Und warum nicht?«

»Und Sie,« fragt Doktor Mangoni noch einmal, sich an den alten Mann wendend, »Sie, der Sie sich als Literaturprofessor im Ruhestand darauf verstehen, hätten Sie ihm geraten, seine Gedichte drucken zu lassen?«

Um der Gattin nicht nachzustehen, erwidert auch der Alte:

»Und warum nicht?«

»Ja dann«, schließt Doktor Mangoni, »muß ich Ihnen zu meinem Bedauern sagen, daß Sie mindestens zweimal so dumm sind wie der Herr.«

Und er dreht ihnen den Rücken, um fortzugehen.

»Darf man fragen weshalb?« schreit ihm die Frau wütend nach.

Doktor Mangoni bleibt stehen und antwortet gelassen:

»Erlauben Sie! Sie werden mir zugeben, daß dieser arme Junge vermutlich Ruhm erträumte, als er Gedichte machte. Nun überlegen Sie einmal, was aus diesem Ruhm geworden wäre, wenn er die Gedichte hätte drucken lassen. Ein armseliges, unnützes Bändchen Verse. Und die Liebe? Die Liebe, die das Lebendigste und Heiligste ist, das wir auf dieser Erde fühlen dürfen? Was wäre aus dieser Liebe geworden? Eine Frau, ja, noch schlimmer, eine Ehefrau: Ihre Tochter.«

»Oho«, droht jetzt die Alte und ist mit ihren Händen fast in seinem Gesicht. »Hüten Sie sich, so von meiner Tochter zu sprechen!«

»Ich sage ja nichts gegen sie«, verwahrt sich Doktor Mangoni sogleich. »Ich stelle sie mir sogar sehr schön und im Besitz sämtlicher Tugenden vor. Allein sie ist nun einmal ein Weib, meine liebe gnädige Frau, das nach kurzer Zeit … Heiliger Gott, wir wissen ja nur zu gut, was bei der Armut und den Kindern aus ihr würde. Und die Welt, überlegen Sie, bitte schön? Die Welt, in die ich mich jetzt mit diesem Fuß, der mir schrecklich weh tut, begeben werde, die Welt, überlegen Sie, überlegen Sie, liebe Frau, was die für ihn geworden wäre: Ein Haus, dieses Haus. Haben Sie mich verstanden?«

Und während seine Hände wunderliche Gebärden des Ekels und der Verachtung vollführen, geht er hinkend davon und murmelt:

»Ach was, Bücher! Ach was, Frauen! Ach was Haus! … Nichts … Nichts … Nichts … Abgedankt, abgedankt! … Nichts.«


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